Amann: Zwei oder drei Dinge
Novelle
© 1993
HAYMON verlag
Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-7099-7625-8
Einbandgestaltung: Helmut Benko
Diese Novelle erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.
Nachdem mich meine Frau verlassen hatte, war ich zuerst wie tot. Ja, ich muß es so sagen. Mit dem ganzen Pathos des Schmerzes, das meinen damaligen Zustand am genauesten ausdrückt. Und es war auch wirklich nicht sicher, ob ich am Leben bleiben wollte. Als es klar geworden war, daß mein monatelanger Kampf, sie zurückzugewinnen, erfolglos verlaufen würde, fehlte mir für mich selber am Ende die ganze Kraft. Wenn ich sie nicht mehr haben konnte, war ich auch bereit, den ganzen Rest der Welt, was immer er sein würde, mich selber eingeschlossen, der mir neben der Ungeheuerlichkeit dieses unbegreiflichen Verlusts gering vorkam, dranzugeben. Von allem Anfang an hatte ich dieses Gefühl gehabt: der Boden unter mir war ins Rutschen gekommen, ein Stein löste den andern, es war nicht mehr aufzuhalten. Ein Freund sagte, begreif es als Freiheit. Aber ich konnte mit der Freiheit, die ich ja nicht gewollt hatte, nichts anfangen.
Zwar hatte ich meiner Frau, als sie mich verließ, versprechen müssen, daß ich es ihr vorher sagen würde, wenn ich nicht mehr könnte, aber ich hatte das Versprechen bald darauf wieder rückgängig gemacht, mit der Begründung, daß das doch, wenn ich ihm nachkäme, auch wenn es von mir nicht so gemeint wäre, von ihr gar nicht anders denn als eine wehleidige Erpressung aufgefaßt werden könnte. Das hatte sie schließlich akzeptiert.
Zu mir selber hatte ich immer gesagt, du mußt das nicht überleben, niemand kann dich dazu verpflichten, das zu überleben. Du kannst dich später immer noch umbringen. Du bist nicht verpflichtet, am Leben zu bleiben, ungeachtet dessen, was für ein Leben es ist. Das nahm ein wenig den Druck.
Eine Frau, die ich gut kannte, erzählte mir von einem Freund, der sich in einer ähnlichen Lage wie ich befunden habe und der sich vorgenommen hatte, zwei Jahre zuzusehen, um sich nicht im Affekt umzubringen, der sich nach zwei Jahren ganz ruhig umgebracht habe. Und obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, daß überhaupt jemand auf der Welt in einer ähnlichen Lage wie ich sein konnte, blieb mir sein Fall als etwas Tröstliches in Erinnerung.
Da ich heute, zwei Jahre später, immer noch am Leben bin, und darum auch in der Lage, dafür dankbar zu sein, will ich mich in Dankbarkeit der Dinge und Ereignisse erinnern, die daran schuld sind — wenn Schuld hier das richtige Wort ist —, daß es so ist, oder die wenigstens dazu beigetragen haben.
Genaugenommen waren es keine Dinge. Man sagt Dinge, aber man meint etwas anderes. Das eine war etwas Abstraktes, schwer zu Beschreibendes, im Grunde genommen viele Dinge zusammen, alle Dinge, die in meinem Leben noch nicht erledigt waren, das andere waren Menschen.
Ich beginne mit dem Schwierigen, schwer zu Beschreibenden. Mit der Berufung. Das ist ein großes Wort, aber ich komme nicht darum herum, es zu gebrauchen, wenn ich davon sprechen will, was mich am Anfang, als es das Leben selber nicht mehr und noch nicht wieder konnte, am Leben gehalten hat. Und ich verwende das große Wort nicht, um mich selber daran groß zu machen, sondern im Gegenteil, um meine Unbedeutendheit oder Geringfügigkeit neben dem, was es bedeutet, deutlich zu machen, die mir jetzt aber zu Hilfe kam. Ich könnte es auch mein Talent nennen oder das, was ich dafür hielt, das, was mich unterschied von den anderen Menschen mit ihren anderen Talenten, das, was nur ich konnte und sonst kein anderer Mensch auf der Welt, was mir meiner Meinung nach meinen spezifischen, nur durch mich zu besetzenden Platz auf ihr zuwies. Das hast du nicht bekommen, um es jetzt fortzuwerfen, sagte ich mir. Ungebraucht oder nur halb gebraucht, jedenfalls nicht zu Ende gebraucht. Dazu hast du kein Recht. Dazu hast du noch zu viele Pläne im Kopf, die noch nicht ausgeführt sind, die durch dich ausgeführt werden wollen. Sie sind größer und wichtiger als du mit deinem kleinen, privaten Schmerz, auch wenn er noch so groß ist.
Die Schwierigkeit war nur, daß dieses mein Talent mich mit meiner Frau auch verlassen hatte. Als ob sie selbst es gewesen wäre. Als ob alles, was einmal gut an mir gewesen war, nur sie gewesen wäre. Monatelang konnte ich keinen vernünftigen Satz mehr schreiben. Nicht einmal einen klaren Gedanken fassen konnte ich mehr. So daß es nicht einmal wirklich meine Berufung war, sondern lediglich mein Glaube an sie, der mir als einziges, zudem unbegründet und gerade in jener Zeit ohne jeden Beweis, geblieben war, an dem ich mich festhielt oder besser: der an mir festhielt. Du wirst noch gebraucht, lapidar gesagt, war das Gefühl, das mich über die Tage kommen ließ, in denen ich in allem übrigen von nichts anderem so felsenfest überzeugt war wie von meinem vollkommenen, durch nichts zu vermindernden Unwert. Durch nichts als durch sie, wenn sie wiedergekommen wäre. Aber sie kam ja nicht wieder.
Einmal, als wir noch gar nicht lange zusammen waren, hatte sie mich ja wirklich beinahe totgeschlagen. Wir waren aus dem Zug gestiegen. Ich trug das Gepäck. Es war in ihrer Heimatstadt. Ihre Mutter hatte uns vom Bahnsteig abgeholt. Meine Frau ging mit ihr voraus, ich ging hinterher. Beim Ausgang ließ sie mir achtlos die Schwingtür in die Gepäckstücke fallen. Beim Einladen ins Auto der Mutter schlug sie mir blind den Kofferraumdeckel über den Kopf. Sofort ging ich zu Boden. Ich lag auf dem Rücken. Das Blut spritzte aus meiner Stirn und lief mir in die Augen. Da schrie sie verzweifelt nach mir, rief meinen Namen, bat um mein Leben. Ich sah sie über mir stehen. Bevor ich die Besinnung verlor, rief ich zurück: es ist nur Blut, es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.