IMPRESSUM
Wenn sich das Herz nach Liebe sehnt erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
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© 2015 by Harlequin Books S.A.
Originaltitel: „The Maverick’s Accidental Bride“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA EXTRA
Band 32 - 2016 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Meike Stewen
Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A.
Veröffentlicht im ePub Format in 05/2017 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733778262
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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„Irgendwie erinnerst du mich an ein Mädchen aus meiner Kindheit“, raunte eine wohlbekannte tiefe Stimme in Jordyn Leigh Cates Ohr. „Ein niedliches kleines Ding war das, ist mir ständig hinterhergelaufen …“
Jordyn fuhr herum. Ihr gegenüber stand ein umwerfend gut aussehender Cowboy. Einer, den sie schon ihr ganzes Leben lang kannte. „Will Clifton!“, rief sie aus. „Du spinnst ja wohl. Ich bin dir bestimmt nicht hinterhergelaufen. Nie im Leben.“
„Bist du wohl.“
„Bin ich nicht.“
„Doch!“
Sie lachte. „Wir klingen wie zwei Kindergartenkinder!“
„Du vielleicht!“, erwiderte er und schenkte ihr sein berühmtes schiefes Lächeln, mit dem er schon zahlreiche Mädchenherzen gebrochen hatte. Damals, in ihrem Heimatort Thunder Canyon. „Hat immer Spaß gemacht, dich ein bisschen zu ärgern.“
Jordyn trank einen Schluck Hochzeitsbowle aus ihrem Pappbecher. „Ich habe schon gehört, dass ihr auch hier auf der Hochzeit seid, du und deine Brüder.“
„Ja, wir sind draußen im Maverick Manor untergekommen.“ Das imposante Holzhaus im Südosten der Stadt hatte lange leer gestanden, bis es im letzten Jahr zu einem Hotel mit rustikalem Charme umgebaut worden war.
Sie warf ihm einen herausfordernden Blick zu. „Außerdem habe ich so ein Gerücht gehört. Du sollst dir eine Ranch hier in Rust Creek Falls gekauft haben, stimmt das?“
„Ja, allerdings.“ Stolz schwang in seiner Stimme mit, und seine strahlend blauen Augen leuchteten. „Ein wundervolles Stück Land in der Talebene, ein paar Meilen östlich von der Stadt. Am Dienstag ist Schlüsselübergabe.“
Jordyn freute sich für ihn. Sie konnte sich gut daran erinnern, dass er schon immer von einer eigenen Ranch geträumt hatte. „Herzlichen Glückwunsch!“
„Danke.“
Schweigend lächelten sie sich an. Will trug ein weißes Hemd, darüber eine schokobraune Weste und eine typische Westernkrawatte: Sie bestand aus einem schmalen Stück Schnur, das von einer Spange zusammengehalten wurde. Ein schwarzer Cowboyhut, schwarze Jeans und schicke schwarze Stiefel vervollständigten das Outfit.
Er zupfte an einer blonden Locke, die sich aus ihrer Hochsteckfrisur gelöst hatte. „Gut siehst du aus.“
Ihr wurde angenehm warm. Will war fünf Jahre älter als sie und hatte sie früher immer wie ein kleines Kind behandelt. Aber wenn er sie jetzt so ansah, fühlte sie sich ganz anders wahrgenommen. Sie klimperte kurz mit den Wimpern. „Danke, Will.“
Er tippte sich an den schwarzen Cowboyhut. „Ich sage doch nur die Wahrheit. Du siehst wirklich toll aus und passt auch farblich sehr gut ins Bild.“
„Tja, heute ist alles rot-weiß-blau“, erwiderte sie und blickte an ihrem knielangen, trägerlosen Brautjungfernkleid aus Chiffon hinunter. Es war so blau wie das blaue Rechteck der US-amerikanischen Nationalflagge. Da die Hochzeit am 4. Juli, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, stattfand, war die ganze Feier farblich darauf abgestimmt.
Vor etwa zwei Stunden hatte Braden Traub, der zweitälteste Sohn einer alteingesessenen Rancherfamilie, der blonden, elfengleichen Jennifer MacCallum das Jawort gegeben. Die beiden jungen Leute hatten beschlossen, ihre Hochzeit mit einem großen Picknick im Park der Kleinstadt Rust Creek Falls zu feiern. Auf allen Picknicktischen lagen rot-weiß-karierte Decken aus Wachstuch. Rote, weiße und blaue Sonnensegel spendeten Schatten.
Außerdem hatten die Veranstalter eine mobile Holz-Tanzfläche aufgebaut. Die sechsköpfige Band, die gerade spielte, war gar nicht mal schlecht. Jordyn wippte im Takt zur Musik. In diesem Augenblick tanzte ein großer Mann mit weißem Cowboyhut an ihnen vorbei. Er hatte eine kurvenreiche Brünette im Arm. Plötzlich blinzelte er Jordyn zu.
Und Jordyn blinzelte zurück. „Hey, Cowboy!“, rief sie und winkte mit ihrem Brautjungfernstrauß aus roten Rosen.
„Wer ist das denn?“, wollte Will sofort wissen.
Ruhig erwiderte sie seinen Blick. „Ach, ich habe vorhin mal mit ihm getanzt …“ Und sie hatte vor, das sehr bald zu wiederholen. Allmählich spielte sich Will ihr gegenüber wieder viel zu sehr als großer Bruder auf. Gerade wollte sie noch einen Schluck Bowle trinken, da nahm er ihr den Pappbecher aus der Hand. „Hey, was soll das?“, protestierte sie.
Grinsend schnüffelte er an dem Getränk. „Was ist da eigentlich drin? Etwas Härteres?“
Sie atmete hörbar aus. „Nein, das ist nur Bowle. Ein bisschen Saft, ein bisschen Limo und noch viel weniger Sekt. Aber wenn dir das auch schon zu viel ist, kannst du dich ja da drüben am Kindertisch anstellen.“ Schwungvoll wies sie mit ihrem Rosenstrauß auf den Tisch, an dem gerade die jüngeren Partygäste bedient wurden.
Will betrachtete sie aufmerksam und ziemlich argwöhnisch. „Ich frage ja nur, weil du so ausgesprochen gute Laune hast, Jordyn Leigh. Viel zu gute Laune, könnte man fast sagen.“
„Viel zu gute Laune gibt es nicht.“ Verärgert funkelte sie ihn an. „Und sag bitte nicht noch mal Jordyn Leigh zu mir.“
„Warum denn nicht? So heißt du doch.“
„Schon, aber du sagst das so, als wäre ich immer noch eine achtjährige Göre mit Zahnlücke und Rattenschwänzen, die die alten Jeans und Hemden ihrer älteren Geschwister auftragen muss.“
„Dabei bist du inzwischen eindeutig erwachsen“, sagte Will und prostete ihr mit dem Pappbecher zu, den er ihr eben weggenommen hatte, und trank ihn in einem Zug aus.
Sollte sie sich darüber etwa ärgern? Ach, was. Ärger und Frust brachten einfach nichts. Das hatte sie sich auch schon in der Kirche gesagt, als sie ein kleines bisschen wehmütig geworden war. Weil sie auch auf dieser Hochzeit wieder nur Brautjungfer war und keine Braut.
Aber das war kein Grund, sich hängenzulassen. Da freute sie sich lieber über den schönen Sommertag hier in Montana und den blauen, wolkenlosen Himmel. Außerdem hatte sie heute schon mit einem sehr attraktiven Cowboy getanzt. Wer weiß, was noch alles passieren würde? Will hatte recht: Sie hatte wirklich ausgesprochen gute Laune, und die wollte sie sich von ihm auf keinen Fall verderben lassen.
Daher nahm sie sich einen neuen Pappbecher mit Stars-and-Stripes-Aufdruck und füllte ihn randvoll. Als Will ihr den Becher hinhielt, den er ihr eben abgenommen hatte, schenkte sie ihm ebenfalls großzügig ein.
Dann prosteten sie sich zu und tranken ihre Bowle.
Der Rest dieses Nachmittags zog wie ein verblichener, schlecht zusammengeschnittener Farbfilm an Jordyn vorbei. Sie und Will waren die ganze Zeit zusammen, und das genoss sie. Sehr sogar. Bisher hatte er sie immer wie ein unreifes kleines Mädchen behandelt. Aber seit sie sich mit der Hochzeitsbowle zugeprostet hatten, war plötzlich alles anders gewesen.
Auf einmal begegneten sie sich auf Augenhöhe und verstanden sich dabei ganz wunderbar. Gemeinsam bedienten sie sich am Grillbüfett und bei der Hochzeitstorte. Dann schauten sie bei seinen Brüdern vorbei, beim Brautpaar und bei Jordyns Freundinnen, den anderen Brautjungfern.
Schließlich lernten sie Elbert und Carmen Lutello kennen, ein ziemlich ungleiches Paar. Der kleine, schmächtige Elbert mit der Hornbrille war Verwaltungsbeamter. Seine Frau Carmen arbeitete als Amtsrichterin. Sie war breitschultrig und einen Kopf größer als ihr Mann. In der Ehe hatte offenbar sie die Hosen an. Erstaunlicherweise passten Elbert und Carmen wunderbar zusammen. Sie liebten sich sehr und waren berührt von der romantischen Hochzeit.
Jordyn fand die beiden einfach nur toll. Sie und Will tranken noch ein paar Becher von der leckeren Bowle und tanzten mehrmals miteinander. Mit dem Cowboy mit dem weißen Hut tanzte sie nicht noch einmal. Tatsächlich hatte sie ihn längst vergessen. Für sie gab es jetzt nur noch Will. Der Park, das Hochzeitspicknick und die anderen Gäste wurden immer mehr zur wohlig-nebligen Hintergrundkulisse ihrer magischen Begegnung.
Plötzlich küsste Will sie. Mitten auf der Tanzfläche. Vorsichtig hob er ihr Kinn mit einem Finger an, und dann drückte er seine sinnlichen Lippen sanft auf ihre. Und während sie sich im Takt der Musik bewegten, küsste er sie immer weiter.
Er konnte hervorragend küssen. Jordyn kam sich dabei vor wie eine Märchenprinzessin, die gerade aus ihrem hundertjährigen Schlaf erwachte und jetzt eine ganz neue Welt für sich entdeckte – endlich! Von so einem Kuss hatte sie inzwischen nicht mehr zu träumen gewagt.
Außerdem hatte er ihr gesagt, wie wunderschön er sie fand.
Oder hatte sie sich das nur eingebildet?
Inzwischen war sie sich nicht mehr so sicher. Je mehr es in Richtung Abend ging, desto diffuser wurde ihre Wahrnehmung. Als es schließlich dunkel wurde, passierten einige wirklich seltsame Dinge. Zum einen wurde eine junge Frau aus der Dalton-Familie abgeführt, weil sie sich nicht davon abbringen ließ, im Springbrunnen zu baden.
Und zum anderen fanden sich Jordyn und Will plötzlich Hand in Hand auf dem Parkplatz wieder, der zwischen dem Park und der Tiermedizinischen Klinik lag. Vor ihnen stand Elbert Lutello, der gerade einen Aktenkoffer aus seinem pinkfarbenen Cadillac holte. „Als Staatsdiener bin ich immer gut vorbereitet und habe lieber ein paar Dokumente zu viel dabei“, verkündete er feierlich. „Man weiß ja nie, ob man sie nicht mal dringend gebrauchen kann …“
Im nächsten Moment waren Jordyn und Will schon wieder im Park, immer noch Hand in Hand. Um sie herum funkelte die Partybeleuchtung, während sich immer mehr Gäste um sie versammelten. Vor ihnen stand Carmen Lutello und lächelte sie warmherzig an.
Ja, und dann?
An den Rest konnte Jordyn sich nicht mehr erinnern. Sie wusste nur noch, dass die Party irgendwie weitergegangen war und dass Will sie immer wieder geküsst hatte – lange, intensiv und sehr, sehr gefühlvoll. Und dass ihr jeder Kuss einen wohligen Schauer durch den Körper gesandt hatte.
Sie waren nicht die Einzigen, die sich küssten. Wo auch immer sie entlanggingen, überall kamen sie an eng umschlungenen Paaren vorbei. Kein Wunder, in einer so wunderschönen Nacht nach einer so romantischen Hochzeitszeremonie …
Als Jordyn am nächsten Morgen in der Pension Strickland’s Boarding House aufwachte, fühlte sie sich nicht mehr so wunderbar leicht wie am Abend davor. Stattdessen lag sie bleischwer in ihrem Bett, während eine Horde winziger Bauarbeiter ihr Gehirn mit Presslufthämmern traktierte. So kam es ihr jedenfalls vor. Außerdem war ihr speiübel.
Eine Weile lang blieb sie einfach still liegen und hielt die Augen geschlossen – in der Hoffnung, dass die Bauarbeiter irgendwann von ihrem Projekt abließen und ihr Magen sich wieder beruhigte. Irgendwann zwang sie sich, tief durchzuatmen und die Augen zu öffnen. Ihr Blick fiel auf die Zimmerdecke.
Und die gehörte bestimmt nicht zur Pension Strickland’s Boarding House.
Schmerzlich verzog Jordyn das Gesicht. Sie drehte den Kopf zum Nachttisch: ein wunderschönes Stück, das offenbar aus recyceltem altem Holz gefertigt war. Ihr Nachttisch in der Pension war dagegen ein billiges Spanplattenmodell gewesen. Auch die Uhr auf dem Nachttisch kam ihr vollkommen unbekannt vor.
Und – Moment mal! – war es wirklich schon nach zwölf Uhr mittags? Sie schluckte die Magensäure hinunter, die ihr gerade die Speiseröhre hochstieg. Dann drehte sie den Kopf quälend langsam zur anderen Seite.
Du liebe Güte, das konnte doch wohl nicht wahr sein! Das war ja … Will!
Sie blinzelte und schaute schnell weg. Und dann wieder hin.
Doch, da lag er neben ihr auf dem Bauch und schlief tief und fest. Das Gesicht hatte er abgewandt, und sein Haar hob sich pechschwarz vom weißen Kissen ab. Die kräftigen Arme und die breiten, muskulösen Schultern waren nackt, sein durchtrainierter Rücken auch, und zwar bis zur schmalen Taille. Die Bettdecke verbarg seinen restlichen Körper.
Wie bitte? Sie lag in einem fremden Bett neben Will Clifton, der dazu noch möglicherweise vollkommen nackt war? Das war zu viel! Das hielt ihr Magen nicht mehr aus!
Mit einem entsetzten Aufschrei schlug sie die Bettdecke zurück und stürmte ins angrenzende Badezimmer.
Will fuhr hoch, als die Badezimmertür mit einem lauten Knall ins Schloss fiel.
„Huch?“ Er drehte sich auf den Rücken und setzte sich abrupt auf. „Was ist denn hier …?“ Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Kopf, und er presste beide Hände vors Gesicht.
Dann erst hörte er die Geräusche.
Offenbar war er nicht allein. Irgendjemand war im Bad, und diesem Jemand ging es gerade gar nicht gut.
Will stöhnte und strich sich das zerzauste Haar aus der Stirn. Dann ließ er den Blick durchs Zimmer gleiten. Am Stuhl neben dem Bett blieb er hängen. Dort lagen zusammengeknüllt seine Sachen von gestern. Darüber war ein hübsches blaues Kleid drapiert, zusammen mit einer glitzernden Damenhandtasche und einem verwelkten Strauß roter Rosen.
Erneut hörte er ein Röcheln und Würgen aus dem Badezimmer. Er ließ den Blick am Stuhl entlang nach unten schweifen und entdeckte auf dem Boden ein Paar blau funkelnde Brautjungfernschuhe mit roten Sohlen.
Das Kleid, die Schuhe, der Strauß … das alles kam ihm verdammt bekannt vor.
Und dann durchfuhr es ihn: Jordyn?
War das Jordyn Leigh Cates, die sich gerade im Bad übergab? Hatte das kleine Mädchen etwa … die Nacht in seinem Bett verbracht?
Er rieb sich die Augen und versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, was gestern Nacht passiert war.
Immerhin konnte er sich daran erinnern, dass sie den ganzen Nachmittag und auch den ganzen Abend zusammen gewesen waren und sich dabei bestens verstanden hatten. Aber was war danach geschehen? Und wie waren sie beide zusammen in seinem Hotelzimmer gelandet?
Er schlug die Bettdecke zurück und stellte fest, dass er nur noch seine Boxershorts trug – sonst nichts. Sollte das heißen …?
Und die arme Jordyn! Nach den Geräuschen aus dem Bad zu urteilen, ging es ihr gar nicht gut. Will stand schnell auf und zog seine schwarze Jeans unter ihrem zarten blauen Kleid hervor. Auf dem Weg zum Badezimmer streifte er sie sich über. Dann klopfte er leise an die Tür. „Jordyn? Ist alles …?“
Sie stöhnte. Offenbar war überhaupt nichts in Ordnung. „Lass mich in Ruhe, Will. Komm bloß nicht hier rein!“
„Aber ich …“
„Nein, bleib draußen. Ich bin sofort fertig.“
Er ließ den Kopf nach vorn sinken, bis seine Stirn die Tür berührte. Hatte er heute Nacht etwa wirklich mit der kleinen Jordyn Leigh geschlafen? Was hatte er da bloß angerichtet! Wenn ihre Eltern oder ihr jüngerer Bruder Wind davon bekamen, dann war er dran. Aber richtig. „Jordyn, es tut mir so leid …“
„Lass mich einfach in Ruhe!“
„Sag Bescheid, wenn ich irgendetwas für dich tun kann …“
Darauf antwortete sie gar nicht erst. Stattdessen hörte er wieder Würgen und Röcheln.
Schließlich schleppte er sich zurück zu dem zerwühlten Bett und setzte sich auf die Kante. Er stützte die Ellbogen auf die Knie und ließ den Kopf hängen. In diesem Moment fiel sein Blick auf das Dokument, das vor ihm auf dem Boden lag.
„Wie bitte?“ Er hob es auf. Mehrere Minuten lang starrte er fassungslos darauf. Aber da konnte er so lange starren, wie er wollte: Das Papier war und blieb eine Heiratsurkunde, samt Stempel und Unterschrift der Stadtverwaltung.
Hatten sie nicht gestern einen Verwaltungsbeamten kennengelernt?
Einen kleinen, schmächtigen Typen mit Hornbrille? Elton oder Eldred oder so. Und war der nicht mit so einer großen Frau verheiratet gewesen, einer Richterin?
Will blinzelte, aber dadurch lichtete sich der Nebel in seinem Kopf nicht. Er konnte sich beim besten Willen an keine Trauungszeremonie erinnern.
Trotzdem war er sich ziemlich sicher, dass sie gestern wirklich mit einem Verwaltungsbeamten und seiner Frau gesprochen hatten, die Richterin war. Es war also nicht ausgeschlossen, dass seine schlimmsten Befürchtungen zutrafen. Immerhin hielt er den amtlichen Beweis dafür in den Händen.
In diesem Moment blieb sein Blick an seinem Ringfinger hängen und an dem schmalen goldenen Reif, den er trug. Oder war er bloß aus Messing?
Letztlich spielte die Materialfrage keine Rolle, es lief doch auf dasselbe hinaus: Er trug einen Ehering. Außerdem stammte die Unterschrift auf der Heiratsurkunde eindeutig von ihm. Und Jordyn hatte ebenfalls unterzeichnet.
So unwahrscheinlich es sich auch anfühlte: Allem Anschein nach hatten er und Jordyn Leigh gestern geheiratet.
Will hörte ein Klicken von der Badezimmertür; offenbar kam Jordyn gerade zurück ins Zimmer. Er legte die Heiratsurkunde auf seinen Nachttisch und stand langsam auf, um sich der Frau zuzuwenden, mit der er offenbar seit gestern Abend verheiratet war.
Jordyn Leigh stand noch im Türrahmen. Unter ihren großen blauen Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet. Ihr sonst so rosiger Teint wirkte leicht grünlich, und ihre vollen Lippen zitterten.
Sie trug einen Frotteebademantel des Hotels. Die Hände hatte sie in die Taschen geschoben und den Kopf so weit eingezogen, dass sie ein bisschen wie eine Schildkröte aussah, die in ihrem Panzer Schutz suchte. Das goldblonde Haar fiel ihr in glänzenden Wellen über die Schultern.
Bei ihrem Anblick fühlte Will sich noch viel schlechter. Unwillkürlich musste er an ihre gemeinsame Kindheit denken: daran, wie sie als Kleinkind mit ihren hellen Löckchen unter dem Rasensprenger im Vorgarten durchgelaufen war. Er sah sie als Neun- oder Zehnjährige vor sich, wie sie mit Rattenschwänzen und in alten Jeans auf den Pferden der Nachbarranch geritten war.
Und dann kam ihr Abschlussball …
Will wusste nicht mehr, warum er ausgerechnet an diesem Abend bei den Cates vorbeigeschaut hatte. An ihren Anblick konnte er sich aber nur zu gut erinnern. Sie hatte eine Hand auf das Treppengeländer gelegt und war ganz langsam die Stufen zum Eingangsbereich heruntergekommen. Sie trug ein rosafarbenes Satinkleid, das Haar hatte sie mit Clips hochgesteckt, die mit funkelnden Strasssteinen besetzt gewesen waren.
Eine so wunderhübsche junge Frau hatte etwas viel Besseres verdient als den Schlamassel, in den sie gerade hineingeraten war.
Er räusperte sich. „Jordyn, ich …“
„Ich ziehe mich jetzt an“, unterbrach sie ihn. „Dann fahre ich sofort in meine Pension. Und wenn du weißt, was gut für dich ist, dann erzählst du niemandem, was heute Nacht passiert ist.“
Was dachte sie eigentlich von ihm? Gut, gestern Abend hatte er sich ihr gegenüber wohl nicht besonders zuvorkommend verhalten, aber sie glaubte doch wohl nicht im Ernst, dass er damit auch noch angeben würde? „Jordyn, ich würde nie …“
„Hör auf, mir reicht’s jetzt.“ Mit der linken Hand zog sie den Ausschnitt des Bademantels ein Stück zusammen. Sofort erkannte er, dass sie keinen Ehering trug.
Gerade wollte sie zu dem Stuhl gehen, über dem immer noch ihr blaues Kleid lag, da stellte er sich ihr in den Weg. „Hey, warte doch mal! Ich möchte gern noch mit dir sprechen, bevor du wieder gehst.“
„Das ist jetzt wirklich das Letzte, wonach mir ist.“ Sie versuchte sich an ihm vorbeizudrücken, aber er hielt sie an den Schultern fest.
„Lass mich bitte los!“
Ihre schlanken Arme fühlten sich zart und verletzlich an. „Du zitterst ja am ganzen Körper!“
„Mir geht’s bestens.“
„Das stimmt nicht.“
„Doch.“ Jetzt hörte sie gar nicht mehr auf zu zittern. Will hätte sie am liebsten an sich gezogen, befürchtete jedoch, sie damit nur noch mehr zu verschrecken. Sie mussten unbedingt in Ruhe über das reden, was zwischen ihnen geschehen war. Im Moment wirkte Jordyn aber so verwirrt und nervös, dass er ihr lieber erst mal nichts von der Heiratsurkunde erzählen wollte.
Oder wusste sie etwa längst, dass sie jetzt verheiratet waren? Vielleicht konnte sie sich ja noch an den letzten Abend erinnern? Aber darüber konnten sie sich später immer noch unterhalten. Jetzt musste er erst mal dafür sorgen, dass sie sich entspannte und vielleicht einen Happen aß.
Jordyn versuchte sich aus seinem Griff zu lösen. „Lass mich gefälligst los!“
Stattdessen schob er sie sanft zum Bett. „Nein, du setzt dich jetzt bitte hin, bevor du mir noch umkippst.“
Als er ihr einen vorsichtigen Schubs gab, gaben auch schon ihre Knie nach, und sie sank auf die Matratze. „Oje!“, seufzte sie. Jetzt war es endgültig vorbei mit ihrer gespielten Tapferkeit. Sie ließ die Schultern sinken und vergrub das Gesicht in den Händen. „Ach, Will, was ist hier eigentlich los? Ich kann mich an gar nichts erinnern!“
„Entspann dich erst mal ein bisschen“, beruhigte er sie. „Leg die Füße aufs Bett und den Kopf aufs Kissen und mach dir keine Sorgen, okay?“
Auf einmal befolgte sie doch seine Anweisungen.
„Sehr gut“, sagte er und deckte sie behutsam zu. „Möchtest du ein Glas Wasser?“
Mit ihren großen blauen Augen blickte sie ihn besorgt an. Dann biss sie sich auf die Lippen und nickte. Will holte eine Wasserflasche aus der Minibar und schob Jordyn ein paar Kissen in den Rücken, während sie sich aufsetzte. „Ich hole dir gleich noch eine Kopfschmerztablette und bestelle beim Zimmerservice Frühstück“, schlug er vor. „Danach können wir uns in Ruhe unterhalten.“
Sie trank einige Schlucke Wasser. „In Ordnung“, brachte sie leise hervor. „Eine Kopfschmerztablette wäre jetzt wirklich nicht schlecht. Und du hast schon recht. Wir sollten dringend über diese Sache reden.“
Will brachte Jordyn das Essen ans Bett, das der Zimmerservice gebracht hatte. Sie aß ein Stück trockenen Toast und trank etwas Tee – mehr bekam sie nicht herunter. Will setzte sich mit seinem Tablett neben das Bett und ließ sich sein Frühstück aus Eiern, Speck, Bratkartoffeln und einem Muffin schmecken. Dazu trank er mehrere Tassen Kaffee.
Schließlich stellte er die beiden Tabletts draußen auf den Gang vor ihre Zimmertür ab.
Als er wieder ins Zimmer kam, zupfte Jordyn nervös an der Bettdecke. „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, Will. An die Hochzeit kann ich mich ja noch erinnern …“
Er zuckte zusammen. „Wie bitte, die Hochzeit hast du mitbekommen?“
Sie betrachtete ihn, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. „Ja, darum ging es doch die ganze Zeit: Braden Traub und Jenny MacCallum haben geheiratet. Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass ich das nicht mehr weiß!“
Allmählich beruhigte sich sein Herzschlag wieder. „Doch, doch, natürlich.“
„Hattest du das etwa vergessen?“
„Nein.“
„Ich verstehe dich nicht, Will.“
Wie sollte sie auch? Er verstand ja selbst nicht, was passiert war. „Gibt es noch etwas, an das du dich erinnerst?“
Sie zog sich den Frotteebademantel zurecht und atmete tief durch. „Na ja, an das Picknick im Park zum Beispiel. Jedenfalls zum Großteil. Und dass wir miteinander getanzt haben …“ Verlegen zupfte sie an der Bettdecke. „Aber je später es geworden ist, desto weniger kriege ich von dem Abend zusammen. Da habe ich nur noch ganz verschwommene, komische Bilder vor Augen.“
Plötzlich kam ihm ein düsterer Gedanke. „Vielleicht hat dir ja jemand etwas in deine Bowle gekippt?“
„Ach Quatsch, das ist doch völlig abwegig.“
„Ist es eben nicht. So was passiert immer wieder, obwohl das für uns erst mal schwer vorstellbar ist. Aber was ist zum Beispiel mit diesem selbstverliebten Typen mit dem weißen Cowboyhut? Der dir zugezwinkert hat, als er an uns vorbeigetanzt kam?“
„Das war kein selbstverliebter Typ. Ich fand ihn sogar sehr nett. Und so etwas kann ich mir von ihm nicht vorstellen.“ Sie schaute aus dem Fenster. Von hier aus hatte man einen guten Ausblick auf das Hotelgelände.
„Jetzt schließ das nicht gleich automatisch aus“, beharrte Will. „Weißt du noch, ich habe doch auch ein paar Schlucke aus deinem Becher getrunken. Vielleicht hat es uns beide dadurch erwischt. Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“
Sie begegnete zwar seinem Blick, schien in Gedanken aber woanders zu sein. „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass mir der Mann etwas in die Bowle geschüttet hat. Das war ein durch und durch anständiger Mensch.“
„Und woher weißt du das so genau?“
Sie wandte sich ab. „Also gut, dann hat er auf mich eben einen anständigen Eindruck gemacht. Außerdem hatte er gar nicht die Gelegenheit, etwas in meinen Becher zu tun. Wir haben ein einziges Mal miteinander getanzt, und als ich mir den Becher mit der Bowle geholt habe, war er ganz woanders.“
„Sicher?“
„Ja. Der Einzige, der mir problemlos etwas in die Bowle hätte schütten können, bist du.“
Entsetzt starrte er sie an. „Du glaubst doch wohl nicht im Ernst …“
„Natürlich nicht. Aber ich glaube auch nicht, dass der Cowboy mit dem weißen Hut so etwas getan hat.“ Inzwischen hatte Jordyn nicht mehr die Bettdecke in Arbeit, sondern knetete sich stattdessen die Hände. „Ehrlich gesagt mache ich mir im Moment eher Gedanken, ob …“ Sie drehte sich weg und räusperte sich. „Na ja, ob du und ich …“ Schließlich sah sie ihm doch ins Gesicht. Aus ihren großen Augen sprach die Angst. „Haben wir miteinander geschlafen, Will?“
Mist, dachte Will. Das war eine klare und sehr direkte Frage, aus der er sich nicht so einfach herauswinden konnte. Aber wie sollte er Jordyn möglichst schonend beibringen, dass er das selbst nicht wusste?
Weil er nicht schnell genug reagiert hatte, sprach sie gleich weiter: „Hoffentlich weißt du das wenigstens, ich habe nämlich keine Ahnung. Ich weiß auch nicht, wie wir in deinem Hotelzimmer gelandet sind, sondern kann mich nur schemenhaft an den letzten Abend erinnern. Ich erinnere mich, dass wir getanzt haben und viel gelacht. Und irgendwann haben wir uns auch geküsst …“ Ihre viel zu blassen Wangen erröteten.
Auch erinnerte er sich an die Küsse. Daran, wie Jordyn geduftet und wie süß sie geschmeckt hatte … und wie gut sich ihr schlanker Körper in seinen Armen angefühlt hatte. „Das weiß ich auch noch – dass wir uns geküsst haben.“
„Ja, aber haben wir letzte Nacht …? Sag mir bitte die Wahrheit!“
Damit musste er jetzt wohl rausrücken. „Das weiß ich leider auch nicht, Jordyn.“
Sie starrte ihn an, als hätte er ihr gerade ins Gesicht geschlagen. „Na, toll.“ Das Blut schoss ihr verstärkt in die Wangen. Diesmal nicht vor Scham, sondern vor Wut. „Dann habe ich wohl keinen bleibenden Eindruck hinterlassen.“
„Jetzt werd bloß nicht ungerecht. Du kannst dich doch auch an nichts erinnern“, gab er schroff zurück; immerhin war er selbst ziemlich frustriert. Doch als ihr die Tränen in die Augen schossen, bereute er seinen scharfen Tonfall sofort. „Hey, bitte nicht weinen …“
Zu spät. Dicke Tränen liefen ihr über die Wangen. „Ich … ich kann nicht anders. Ich bin doch noch Jungfrau.“
Ihm blieb der Mund offen stehen.
Sie seufzte traurig. „Jedenfalls war ich das bis gestern“, fügte sie hinzu und wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. „Jetzt sieh mich nicht so an! Oje, ich kann gar nicht glauben, dass ich dir das eben wirklich gesagt habe …“
„Mach dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung …“
„Ist es eben nicht, also tu bitte nicht so, als ob.“
„Glaub mir doch bitte, dass ich so eine Situation nie ausgenutzt hätte“, sagte er eindringlich. Aber sicher war er sich trotzdem nicht, denn schließlich konnte er sich selbst an nichts erinnern.
„Na wunderbar, jetzt habe ich mich so richtig bloßgestellt. Nun weißt du auch, dass ich noch Jungfrau bin … oder war.“ Sie schlug sich die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich. Ihre Schultern hoben und senkten sich bei jedem verzweifelten Schluchzen.
Will wusste nicht, wie er sie wieder beruhigen konnte, und so blieb er einfach neben ihr sitzen und wartete ab. Dabei kam er sich unheimlich schäbig vor. Als ob es nicht schon schlimm genug war, dass er möglicherweise mit der kleinen Jordyn Leigh geschlafen hatte: Erschwerend kam hinzu, dass sie auch noch Jungfrau gewesen war.
Sie schlug die Bettdecke zurück und untersuchte das Laken. Dann zog sie mehrere Taschentücher aus der Schachtel, die auf dem Nachttisch stand, und putzte sich die Nase. „Blut habe ich keins gefunden, und es fühlt sich auch nicht so an, als wäre etwas passiert“, stellte sie fest, warf die Taschentücher in Richtung Papierkorb und zog sich wieder die Decke über den Körper.
Was wohl gerade in ihrem Kopf vorging? Will hatte nicht die leiseste Ahnung. Verzweifelt suchte er nach aufmunternden Worten. „Na ja, immerhin haben wir vorher noch geheiratet“, sagte er schließlich.
„Wie bitte?“, schrie sie auf. „Wir haben – was? Bist du jetzt völlig verrückt geworden?“ Sie schleuderte ihm ein Kopfkissen entgegen.
Er fing es mit beiden Händen auf.
Erneut schrie Jordyn auf. „Will, was hast du da am Finger?“
Vorsichtig nahm er das Kissen zur Seite und schaute sie an. „Wie bitte?“
„Du hast ja auch auf einmal einen Ring!“
„Was meinst du mit ‚auch‘?“
Sie murmelte etwas Unverständliches, schlug wieder die Decke zurück und stand auf.
„Wo willst du jetzt hin?“, wollte er wissen.
Statt einer Antwort verschwand sie im Badezimmer. Kurze Zeit später kam sie zurück, setzte sich auf die Bettkante und hielt ihm einen Ring vor die Nase, der seinem extrem ähnlich sah – er war nur ein bisschen kleiner. „Der hat heute an meinem Finger gesteckt, und ich habe einen Riesenschreck bekommen“, gestand sie. „Da habe ich ihn schnell abgenommen und erst mal unter den Stapel mit den Ersatzhandtüchern geschoben.“
Sie legte das Schmuckstück auf dem Nachttisch ab und sah Will wieder an. „Ich kann mich an keine Trauungszeremonie erinnern …“, begann sie. „Das heißt … da war doch dieser kleine Mann mit der schwarzen Hornbrille. Dieser Verwaltungsbeamte. Kannst du dich an den auch noch erinnern?“
„Allerdings. Er war mit seiner Frau da, und die war Richterin.“
Jordyn nickte. „Ich habe neben dir gestanden, das weiß ich noch. Und wir haben uns an den Händen gehalten. Um uns herum standen lauter Menschen, und vor uns die Richterin. Und dann …“
„Ja?“
Sie stieß einen langen Seufzer aus, der sehr traurig klang. „Dann habe ich einen Filmriss.“
Will konnte es kaum ertragen, sie so deprimiert zu erleben. Er stand auf und ging zu ihr. Immerhin wich sie nicht zurück, als er sich neben sie setzte. Daher nahm er seinen restlichen Mut zusammen und legte einen Arm um sie. „Sieh es doch einmal positiv.“
„Gibt es an der Sache überhaupt etwas Positives?“
„Klar. Du hast dich doch für die Ehe aufgespart. Und wenn überhaupt etwas zwischen uns passiert ist, waren wir immerhin verheiratet.“
Zunächst erwiderte sie darauf gar nichts, sondern löste sich nur aus seiner Umarmung und blickte ihn fassungslos an. „Und das soll positiv sein?“
Also hatte er schon wieder mitten ins Fettnäpfchen getreten. „Ist es das nicht?“
„Ach, du verstehst das einfach nicht. Ich habe nicht auf die Ehe gewartet, sondern auf die große Liebe. Oder wenigstens auf ein ganz besonderes Gefühl.“
Will kratzte sich nervös am Hals. „Wie bitte?“
„Ja, ich wollte warten, bis ich etwas ganz Besonderes für einen einzigartigen Menschen empfinde. Und, nein, im bewusstlosen Zustand mit dir zu schlafen ist nicht das, was ich mir unter ‚etwas Besonderes‘ vorstelle. Und die Ringe beweisen noch lange nicht, dass wir wirklich verheiratet sind. So etwas ist doch erst durch eine Heiratsurkunde rechtskräftig, oder?“
Mehrere Sekunden lang sah er sie schweigend an, während er darüber nachdachte, ob er ihr sein Fundstück zeigen sollte. „Aber wenn es so eine Heiratsurkunde gibt, würdest du glauben, dass wir wirklich verheiratet sind?“, hakte er nach.
Sie kniff die Augen zusammen. „Ist das jetzt eine Fangfrage?“
„Warte mal kurz.“
„Hey, wo willst du hin?“, rief sie ihm hinterher, als er über die Matratze auf die andere Seite kroch. „Was machst du denn da?“
Er krabbelte zurück und schwang die Beine über die Bettkante, sodass er wieder neben Jordyn saß. Dann hielt er ihr das Dokument entgegen. „Schau dir das mal an. Die Urkunde ist echt.“
„Tja, das Standesamt hat übers Wochenende geschlossen“, sagte Will, als er seinen Pick-up kurze Zeit später vor Jordyns Pension parkte. „Aber morgen ist wieder ganz normaler Betrieb. Dann fahren wir am besten ganz früh nach Kalispell. Vielleicht ist die Ehe ja noch gar nicht amtlich, und wir können alles wieder rückgängig machen.“
Jordyn starrte durch die Windschutzscheibe nach draußen. Im Moment war noch nicht viel los auf der Straße. Wenn sie sich beeilte, konnte sie schnell in der Pension verschwinden, bevor irgendjemand mitbekam, dass sie immer noch das gleiche Kleid trug wie gestern auf der Feier.
Gerade wollte sie die Tür öffnen, da griff Will sie am Arm. „Also bis morgen dann, okay?“
Sie schluckte, dann nickte sie. „Ja, gleich morgen früh fahren wir los. In Ordnung.“
Er sah ihr tief in die Augen, als erwartete er noch etwas von ihr. Aber sie hatte keine Ahnung, was das sein könnte. Zum Glück klingelte genau in diesem Moment sein Handy, und er ließ sie wieder los.
„Bis morgen also“, wiederholte er und hielt sich das Telefon ans Ohr.
Jordyn nutzte die Gelegenheit, aus dem Auto zu steigen und zu dem baufälligen alten Haus zu laufen, in dem sie untergebracht war. Drinnen rannte sie die Treppe zum zweiten Stock hoch und in ihr Zimmer. Kaum hatte sie die Tür geschlossen und sich von innen dagegen gelehnt, da klingelte auch schon ihr Handy.
Sie zog das Telefon aus der Handtasche und warf es dann auf die Kommode. „Will“ stand auf dem Display. Irgendjemand musste gestern seine Nummer einprogrammiert haben. Und er hatte offenbar auch ihre. „Woher hast du meine Telefonnummer?“, sprach sie in den Hörer.
„Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich haben wir gestern noch Nummern ausgetauscht.“
Natürlich, warum auch nicht? Schließlich hatten sie gestern schon eine ganze Menge anderer Dinge ausgetauscht: Ringe, Eheversprechen, Küsse, möglicherweise noch mehr … Sie stöhnte auf.
„Ist alles in Ordnung, Jordyn?“
„Nein, überhaupt nicht. Wo bist du jetzt eigentlich?“
„Immer noch draußen vor der Pension, in meinem Wagen.“
„Und warum bist du noch nicht weitergefahren?“
„Weil Craig mich eben angerufen hat.“ Craig war Wills ältester Bruder.
„Das klingt aber gerade nicht gut, oder täusche ich mich da?“
„Na ja, Craig war gestern dabei, als wir geheiratet haben. Er und die halbe Stadt.“
Die halbe Stadt? Na toll. „Ich hatte dir ja schon gesagt, dass gestern ein paar Menschen um uns rumgestanden haben.“
„Schon, aber das ist noch nicht alles.“ Seine Stimme klang erschreckend düster.
Jordyn schleuderte sich die blauen Glitzerschuhe von den Füßen und ließ sich an der Tür entlang zu Boden gleiten. „Nicht?“
„Craig meinte, dass inzwischen die ganze Stadt über uns spricht. Über die Hochzeit im Park und unseren, ähm, heißen, leidenschaftlichen Kuss nach der Trauung …“
Schlagartig waren ihre Kopfschmerzen wieder da, noch viel schlimmer als vorher. „Na und? Das ist doch ganz normal, dass man sich nach einer Trauung küsst. Ist das jetzt endlich alles?“
„Leider immer noch nicht.“
„Was gibt es denn noch?“
„Wir stehen in der Rust Creek Falls Gazette.“ Das war die Tageszeitung der Kleinstadt.
„Wie bitte?“
„Na ja, da erscheint doch immer diese Klatschkolumne, die irgendein anonymer Reporter zusammenschreibt …“
Das sagte ihr allerdings etwas. Niemand wusste, wer hinter der Kolumne steckte, die immer wieder die intimsten Neuigkeiten aus dem Privatleben der Stadtbewohner ans Licht brachte. Jordyn seufzte. „Oh, nein …“
„Oh, doch. Craig hat mir erzählt, dass es im heutigen Bericht ausführlich um dich und mich und unsere Überraschungshochzeit geht.“
„Und was steht genau drin?“
„Das kann ich noch nicht sagen, dafür muss ich mir erst mal die Gazette kaufen.“
Sehnsüchtig ließ Jordyn den Blick über ihr Bett mit dem gehäkelten Überwurf gleiten. Am liebsten würde sie sofort darin verschwinden und sich die Decke über den Kopf ziehen.
„Wir müssen unbedingt noch mal über alles reden und uns genau überlegen, wie wir mit der Sache umgehen wollen, Jordyn. Wir müssen …“
„Will?“
„Ja?“
„Ich muss mich jetzt erst mal ausruhen.“
„In Ordnung.“ Er seufzte.
„Danke.“
„Aber vergiss nicht, dass wir gleich morgen früh zusammen nach Kalispell fahren, ja? Um acht hole ich dich ab.“
„Alles klar.“ Sie legte auf. Als Nächstes rief sie ihre Vorgesetzte im Kindertagesheim Sara Johnston an. Wenn sie morgen nach Kalispell wollte, musste sie sich den Tag freinehmen. Das erwies sich zum Glück als unproblematisch – im Gegensatz zu manchen anderen Dingen, die ihr noch bevorstanden …
Zuerst legte Will einen Stopp bei dem Gemischtwarenladen Crawford’s General Store ein, um sich eine Ausgabe der Rust Creek Falls Gazette zu organisieren. Im Laden waren schon zwei Frauen mittleren Alters damit beschäftigt, sich lautstark über den neuesten „Skandal“ auszutauschen.
Will schlüpfte an ihnen vorbei nach draußen, setzte sich in seinen Wagen und fuhr direkt zum Maverick Manor, seinem Hotel außerhalb der Stadt. Erst als er in seinem Zimmer angekommen war und die Tür hinter sich abgeschlossen hatte, schlug er die Seite mit der Klatschkolumne auf. Zunächst ging es darin um alle möglichen kuriosen Ereignisse aus der Stadt. Erst gegen Ende der Kolumne widmete sich der mysteriöse Autor Wills und Jordyns Hochzeit.
Will fand, dass sie in dem Bericht gar nicht so schlecht wegkamen, viel besser, als die beiden tratschenden Frauen im Gemischtwarenladen es hatten aussehen lassen. Wenn er nicht direkt betroffen gewesen wäre, hätte er die Geschichte vielleicht sogar romantisch gefunden.
So oder so wusste jetzt offenbar jeder im näheren Umkreis, dass er und Jordyn verheiratet waren. Und in einer so konservativen Kleinstadt wie Rust Creek Falls nahmen die Leute ein Eheversprechen sehr ernst. Wenn er und Jordyn also jetzt nicht richtig handelten, würden sie beide bald sehr dumm dastehen.
Je länger er über die Angelegenheit nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass er und Jordyn sich genau überlegen mussten, was sie als Nächstes tun wollten. Sie konnten eben nicht so einfach nach Kalispell fahren und alles rückgängig machen – dafür war es inzwischen zu spät.
Als Will am nächsten Morgen vor Jordyns Pension hielt, wartete sie bereits vor der Eingangstür, in ausgeblichenen Jeans und einem kurzen weißen T-Shirt. Sobald sie ihn erblickte, sprang sie auf und lief die Stufen hinunter. Dabei zauberte die Morgensonne bronze- und kupferfarbene Reflexe in ihr goldblondes Haar.
„Hi.“ Sie schenkte ihm ein etwas unsicheres Lächeln und zog dann die Beifahrertür hinter sich zu. Ein leichter Duft nach Blumen, frischem Gras und reifen Pfirsichen wehte zu ihm – ein Duft, den er schon Samstagabend an ihr wahrgenommen hatte.
„Guten Morgen“, begrüßte er sie. „Hast du gut geschlafen?“ Kaum hatte sie sich angeschnallt, fuhr er auch schon los.
Statt einer Antwort warf sie ihm bloß einen Seitenblick zu. Du spinnst ja wohl. Dann starrte sie geradeaus auf die Straße.
Auf dem Highway versuchte Will sie in ein Gespräch über belanglose Dinge zu verwickeln, etwa über das Wetter und ihre Tätigkeit im Kindertagesheim. Aber sie reagierte nur sehr einsilbig auf seine Fragen.
Dann fragte er sie, ob sie schon einen Blick in die Gazette geworfen hätte.
„Ja.“ Das war alles, was sie dazu zu sagen hatte.
Die restliche Fahrt saßen sie schweigend nebeneinander.
In Kalispell stellte Will den Wagen vor der Bezirksverwaltung ab. Gemeinsam gingen sie in das Gebäude. Das Büro des zuständigen Verwaltungsbeamten befand sich im zweiten Stock. Allerdings war er ausgerechnet heute offenbar nicht da.
„Vielen Dank auch, Elbert“, murmelte Jordyn.
Von der Frau, die sich stattdessen um ihr Anliegen kümmerte, erfuhren sie, dass ihre Heiratsurkunde tatsächlich der Verwaltung vorlag und ihre Heirat damit rechtskräftig war.
Sprachlos starrte Jordyn sie an.
Will blieb bei ihrem ursprünglichen Plan und erkundigte sich nach der Möglichkeit, die Ehe zu annullieren.
Die Frau blickte sie mitfühlend an, um ihnen dann zu erklären, dass es sehr schwierig würde. So etwas sei nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen möglich, zum Beispiel wenn ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen den Eheleuten bestand. „In Ihrem Fall wäre eine einvernehmliche Auflösung der Ehe ratsamer“, fuhr die Frau von der Verwaltung fort. „Das würde bedeuten, dass Sie beide gemeinsam die Scheidung einreichen – ein einfaches und faires Verfahren.“
Sie überreichte ihnen einen Riesenstapel Dokumente. „Wenn Sie alles ausgefüllt haben, kommen Sie bitte gemeinsam wieder hierher. Dann erhalten Sie innerhalb von zwanzig Tagen einen Termin für eine Anhörung, aber das ist eine reine Formsache. Unterm Strich sind Sie also spätestens zwanzig Tage nach Abgabe des Antrags geschieden.“
Als sie wieder in Wills Pick-up saßen, war Jordyn immer noch erschreckend still.
Wie kann ich bloß zu ihr durchdringen? fragte sich Will. „Ich glaube, wir müssen uns noch mal in Ruhe über alles unterhalten“, schlug er ihr vor.
Sie schüttelte bloß den Kopf. „Ich möchte jetzt so schnell wie möglich wieder in die Pension“, erklärte sie. „Bitte.“
Er fuhr die Hauptstraße entlang und bog rechts in Richtung Zentrum ein. Zwei Querstraßen weiter lenkte er den Wagen auf einen Parkplatz, der zu einem hübschen, kleinen Café gehörte.
Jordyn warf ihm einen mürrischen Blick zu. „Was soll das denn werden?“
„Ich muss jetzt erst mal frühstücken. Hast du schon was gegessen?“
Sie blitzte ihn verärgert an. „Ich habe dir doch eben gesagt, dass ich sofort wieder zur Pension möchte.“
Er legte den Arm um ihre Rückenlehne und beugte sich zu ihr. „Dann hast du also noch nichts gegessen.“
Wortlos starrte sie ihn an. Ihre volle Unterlippe zitterte leicht.
Am liebsten hätte Will sie jetzt an sich gezogen und ihr versichert, dass sie die Sache schon in den Griff bekämen. Doch sein Gespür sagte ihm, dass sie auf seine Berührung sehr empfindlich reagieren würde. „Wir müssen beide dringend etwas essen. Und außerdem sollten wir uns noch mal unterhalten.“
Sie biss sich auf die Lippe. Schließlich nickte sie. „In Ordnung.“
Im Café nahmen Will und Jordyn an einem Tisch ganz in der Ecke Platz. Sofort kam die Serviererin, um ihnen Kaffee einzuschenken. Will bestellte sich ein Steak mit Spiegeleiern. Jordyn orderte eine Portion Pfannkuchen mit Bacon – aber nur weil Will sie so eindringlich ansah, dass sie sich nicht traute, nur bei ihrem Kaffee zu bleiben.
Schweigend nippten sie an ihren Tassen, bis die Bedienung das Essen servierte.
Jordyn goss etwas Ahornsirup über die Pfannkuchen, knabberte an einer Bacon-Scheibe und hoffte insgeheim, dass Will sich inzwischen doch nicht mehr ausführlich über ihre ungeplante Eheschließung unterhalten wollte.
Aber da hatte sie sich getäuscht: Kaum hatte er sich ein halbes Steak und zwei von drei Spiegeleiern einverleibt, beugte er sich zu ihr. „Wir müssen uns eine bessere Strategie überlegen“, raunte er ihr zu.
Jordyn legte die Gabel mit dem halben Bacon-Streifen zurück auf den Teller. „Was meinst du damit?“
Er schnitt sich noch ein Stück Steak ab und trank einen Schluck Kaffee. „Jordyn … ich weiß ja, wie sehr dich die Sache belastet, und ich will es bestimmt nicht noch schlimmer machen … Aber hast du schon mal darüber nachgedacht, dass du schwanger sein könntest?“
Ihr zog sich der Magen zusammen. Dann schob sie ihren Teller zur Seite. „Nein, ich …“, wisperte sie. „Um Gottes willen, nein!“ Über diese Möglichkeit hatte sie noch gar nicht nachgedacht!
Er sah ihr ins Gesicht. „Ich habe für den Fall der Fälle immer ein Kondom dabei“, erklärte er. „Und das ist noch in meiner Brieftasche.“
„Oh.“
Er hob eine Augenbraue. „Du nimmst nicht zufällig die Pille?“ Als sie den Kopf schüttelte, fuhr er fort: „Möchtest du dir vielleicht vorsichtshalber die Pille danach besorgen?“
Auch das verneinte Jordyn. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich schwanger bin. Und wegen der Pille danach … nein, das kommt für mich nicht infrage.“
„Okay. Trotzdem können wir eine Schwangerschaft nicht ausschließen. Es ist ja nicht völlig abwegig, dass wir Samstagnacht miteinander geschlafen haben.“
Plötzlich begannen ihre Wangen zu glühen. „Was willst du eigentlich von mir?“
„Ganz ehrlich?“ Will wartete kurz, bis sie erneut nickte, dann erwiderte er: „Ich finde es gut, wenn wir noch ein bisschen verheiratet bleiben.“
„Aber ich …“
„Moment mal, hör mir doch erst mal zu.“
Sie legte beide Hände um ihre Kaffeetasse. „Ja?“
„Wenn du wirklich ein Kind von mir bekommen solltest, würde ich nicht in eine Scheidung einwilligen. Dann möchte ich zusammen mit dir daran arbeiten, dass wir eine gute Ehe führen.“
Am liebsten hätte Jordyn behauptet, dass eine Schwangerschaft absolut ausgeschlossen war. Aber das konnte sie nicht. Falls sie wirklich schwanger sein sollte, dann würden sie eben gemeinsam dafür sorgen, dass das Kind ein gutes Zuhause bekam. Da hatten Will und sie die gleichen Wertvorstellungen. „Okay, das sehe ich genauso“, sagte sie. „Wenn es um ein Kind geht, dann bin ich auch dafür, dass wir verheiratet bleiben.“
Er atmete langsam aus. „Gut.“
„Aber ich bin mir ganz sicher, dass ich nicht schwanger bin.“
„Schön, aber du kannst die Möglichkeit im Moment trotzdem nicht ausschließen.“
„Ich weiß, aber … ich hatte mir meine nähere Zukunft eigentlich anders vorgestellt. Die meisten Leute glauben immer noch, dass ich nur nach Rust Creek Falls gezogen bin, um hier meinen zukünftigen Ehemann kennenzulernen. Und vielleicht stimmt das sogar. Jedenfalls habe ich auch ein bisschen darüber nachgedacht. Ehrlich gesagt bin ich nämlich eine hoffnungslose Romantikerin.“
Will bestrich ein dreieckiges Stück Toast dick mit Erdbeerkonfitüre. „An dir ist überhaupt nichts hoffnungslos, Jordyn Leigh.“