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© Ali Smith

DIE AUTORIN

Lauren DeStefano wurde in New Haven, Connecticut geboren und war ihr ganzes Leben lang an der Ostküste zu Hause. Sie absolvierte ihren Bachelor-Abschluss am Albertus Magnus College im Fach Kreatives Schreiben. Ihre Chemical-Garden-Trilogie wurde zum New-York-Times-Bestseller.

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www.laurendestefano.com

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@hey_reader

Lauren DeStefano

Zerbrochene Krone

Aus dem Englischen
von Andreas Decker

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1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Juni 2018

© 2016 by Lauren DeStefano

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016

unter dem Titel »Broken Crowns«

bei Simon & Schuster, New York.

© 2018 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der

Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Aus dem Englischen von Andreas Decker

Lektorat: Catherine Beck

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Shutterstock

(Sergey kamenskykh, RedGreen, VicW, MrVander)

he · Herstellung: eR

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-21885-0
V001

www.cbj-verlag.de

Wir werden niemals vom Erforschen lassen,
Und wenn wir alles erforscht haben,
Werden wir wieder am Anfang angekommen sein
Und diesen Ort zum ersten Mal richtig begreifen.
T. S. Elliot

Die Stadt fällt vom Himmel!« Das waren Professor Leanders letzte Worte. Die Medizin des Bodens konnte einen alten Mann nicht von der Sonnenkrankheit heilen. Davon abgesehen lehnte er die meisten Behandlungen ohnehin ab. Er hatte bereits erreicht, was niemand anderem gelungen war. Er hatte uns zum Boden gebracht. Wie er mir verriet, war er gespannt, ob seine Seele im Großen Zufluss oder in dem Leben nach dem Tode enden würde, an das man am Boden glaubte. Oder ob es überhaupt etwas geben würde.

Amy war bei ihm, als er starb, und ihr zufolge schlief er ganz friedlich ein. Ein passender Tod.

Im selben Krankenhaus öffnete Gertrude Piper ein Korridorlabyrinth weiter nach einem Monat des Schlafens die Augen. Als hätten die beiden Götter einen gerechten Handel abgeschlossen – das Leben eines Mannes aus dem Himmel für das Leben eines Mädchens vom Boden.

Wir hatten alle mit Birdie Pipers Tod gerechnet. Nach meiner Landung in Havalais am Anfang des Winters war sie in ihrer seltsamen Welt das lebendigste Wesen. Ohne Vorbehalte bot sie mir und Pen ihre Freundschaft an; sie schleuste uns durch unser Schlafzimmerfenster und zeigte uns die Wunder von Havalais. Die Meerjungfrauen im Meer. Die glitzernden Lichter, die nachts aufs Wasser fielen. Die sich drehenden Metalltassen im Vergnügungspark ihrer Familie.

Und dann überfiel uns plötzlich beim Frühlingsfest der Kalte Krieg zwischen Havalais und dem benachbarten Königreich Dastor. Ich musste zusehen, wie Birdie von einer Explosion verschlungen wurde. Wie ihr blutiger, zerbrochener und verbrannter Körper von irgendeiner Maschine aus Kupfer am Leben erhalten wurde. Sie war noch schlimmer dran als mein Bruder, als er dem Rand zu nahe gekommen war.

Aber nichts ist sicher, nicht einmal der Tod, wenn er über einem Mädchen lauert. Nicht in meiner Welt und auch nicht in dieser. Birdie erholte sich langsam. Im Frieden ihres Deliriums gefangen, brauchte sie einen Monat, um die Augen zu öffnen, und noch länger, um wieder zu sprechen.

Sie erzählte uns von einem Geist, der sie spät nachts in ihrem Zimmer besuchte, um ihr etwas vorzusingen und sich um die Blumen auf dem Tisch am Fenster zu kümmern.

Nachdem sie wieder eingeschlafen war, beugte sich Nim auf seinem Stuhl nach vorn und massierte sich gequält die Schläfen. »Das war kein Geist«, sagte er. »Unsere Mutter war hier.«

Mrs Piper war ein paar Jahre zuvor aufgebrochen, um die Welt zu sehen. Der Wahnsinn, der auf Internment so viele zum Rand führt, sucht auch die Menschen des Bodens heim. Anscheinend ist für niemanden ein Ort genug.

Jetzt ist August und Birdie spricht nicht mehr von ihrem Geist. Stattdessen ist sie mit dem Rest von uns auf festen Boden zurückgekehrt. Sie fragt ihren Bruder nach dem Krieg aus. Sie will das Grab ihres Bruders Riles besuchen. Sie wird wieder gesund und ist bereit, sich den schrecklichen Dingen zu stellen, die das Wachsein oft mit sich bringt. Sie suhlt sich nicht in ihrer Verzweiflung, so wie es sie auch nicht stört, dass ihr schönes Gesicht für immer vernarbt ist.

Pen ist anders. Dieser Tage scheint sie sich nichts stellen zu können. Monate sind vergangen, seit König Ingram nach Internment aufgebrochen ist und Prinzessin Celeste mitgenommen hat, und in dieser Zeit ist Pen immer häufiger für entrückte Augenblicke anfällig. Jack Pipers Wächter haben den Besitz umzingelt; nur selten dürfen wir ihn ohne Eskorte verlassen. Nicht bis König Ingram mit Befehlen für uns zurückkehrt. Aber jede Woche gibt Pen Nimble eine neue Buchliste, die sie gern aus der Bibliothek hätte. Physik. Infinitesimalrechnung. Philosophie. Sie ertrinkt förmlich in Seiten über Dinge, die sie mit keinem von uns teilt. Und das auch nur, wenn sie nicht irgendwo unterwegs ist, wo sie keiner von uns finden kann. Selbst in dem begrenzten Gebiet, das uns zur Verfügung steht.

Die Sonne geht bald unter und nach fast einer Stunde Suche finde ich sie im Themenpark. Normalerweise wäre er laut den Pipers im August voller Menschen, wäre da nicht die Abwesenheit des Königs und der Krieg. Nun ist er geschlossen. Aber Pen und ich schleichen uns manchmal rein.

»Pen?« Ich setze den Fuß auf eine der Querstangen, um über den Gitterzaun zu klettern.

Sie steht hoch oben auf der Plattform mit den Internment zugewandten Teleskopen und dreht sich zu mir um.

»Was tust du?«, will ich wissen.

Sie zuckt mit den Schultern. Dann drückt sie ein Stück Papier gegen das Teleskop, notiert etwas und steckt den Zettel in die Kleidtasche. »Nichts. Steig nicht drüber. Ich wollte gerade gehen.«

Sie läuft die Wendeltreppe runter. Die Stufen hallen unter den hohen Lederabsätzen, die sie größer machen als mich. Zu Hause dürfte ein Mädchen unseres Alters so etwas nicht tragen.

Sie tritt an den Zaun, umklammert die Gitterstäbe und beugt sich vor, bis sich unsere Köpfe beinahe berühren.

»Was machst du hier?«, fragt sie.

»Nach dir suchen. Du bist nicht zum Essen gekommen.«

»Wer kann schon essen?« Sie reicht mir ihre Schuhe und klettert über den Zaun. »Das Essen hier ist widerlich. Jeden Abend ein anderes Tier. Ich würde eher Gras kauen.« Sie landet schwer auf den Füßen und richtet ihren Rock. Ihre Schuhe nimmt sie zurück, macht sich aber nicht die Mühe, sie wieder anzuziehen.

Ich schnuppere nach dem Geruch von Tonikum in ihrem Atem und hasse mich dafür, aber es muss sein. Sie findet stets Möglichkeiten, irgendwo einen Schluck zu stehlen. Wir haben die unausgesprochene Übereinkunft getroffen, dass ich alles wegschütte, was sie zu verstecken versucht. Und keiner wird es je erwähnen.

Aber ich vermag nicht zu sagen, ob sie was getrunken hat. Als sie mich ansieht, wirkt ihr Blick völlig klar. »Hat Thomas versucht, mich zu finden?«

»Versucht er das nicht immer?«

Sie zieht an meiner Hand. »Ich will noch nicht reingehen. Lass uns zum Wasser gehen. Vielleicht sind ja Meerjungfrauen zu sehen.«

So wie es Birdie erzählte, kommen die Meerjungfrauen niemals so nah ans Ufer. Sie ziehen es vor, dort zu bleiben, wo das Wasser tief ist und man sie nicht so leicht fangen kann oder sie sich mit ihren Haaren in irgendwelchen Angelschnüren verfangen. Aber ich habe nichts dagegen, so zu tun, als hätte ich eine von ihnen entdeckt. Ich versuche mit Pen Schritt zu halten, während sie läuft.

Mit der anderen Hand halte ich den Hut auf meinem Kopf fest. Aber schließlich lasse ich ihn los, und er fliegt davon. Anscheinend muss ich immer etwas Kleines zurücklassen, wenn ich mit Pen zusammen bin.

Wir sind in einem grünen Tal, in dem sich helle Blumen schüchtern ihren Weg nach oben bahnen. Im Wind sehe ich gepunktete Reihen. Ich sehe die Karten, die meine beste Freundin bei jeder Bewegung und jedem Gedanken zeichnet.

»Vielleicht trägt uns der Wind in den Himmel, wenn wir die Arme ausstrecken«, sagt sie, und ich bin überzeugt, dass sie es für möglich hält.

Schließlich bleiben wir irgendwo an der Meeresküste stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Pen stützt sich mit den Ellbogen auf meiner Schulter ab und lacht über mein Keuchen. Ich war ihr noch nie gewachsen.

Ihr Gelächter kann ich kaum hören, so laut ist der Wind.

Sie lässt sich ins Gras fallen und zieht mich zu sich runter. Sobald ich wieder Luft bekomme, stemmt sie sich auf die Ellbogen und sieht mich an. »Was ist? Warum dieser besorgte Blick?«

»Der Wind gefällt mir nicht.« Ich spreche laut, um sein Tosen zu übertönen. »Er fühlt sich nicht richtig an.« Auf Internment ist diese Jahreszeit so lieblich. Zu Hause ist es bestimmt wunderschön, sämtliche Wege werden von hellen Blumen gesäumt.

»Der größte Teil dieser Brise kommt vom Meer«, sagt Pen. »Das ist alles.«

»Ich weiß.«

»Morgan, wir sind nicht auf Internment. Es kann nicht gleich sein. Wir sind seit Monaten hier. Wir haben den ganzen Schnee überlebt; das ist nur etwas Wind.«

»Ich weiß.« Die Angst, sie könnte von diesem wirbelnden Wind verschluckt werden, behalte ich für mich. Diese Welt hat schon mal versucht, sie zu töten, und Pen ist furchtlos und dumm genug, sie es erneut versuchen zu lassen.

Weit über uns fliegt ein Vogelschwarm in strenger Formation. Pen streckt die Arme über den Kopf und macht mit den Fingern einen Rahmen. Ich lege den Kopf neben sie und versuche aus ihrer Perspektive durch den Rahmen zu blicken.

»Einmal angenommen, Internment würde vom Himmel fallen«, sagt sie, nachdem die Vögel verschwunden sind.

»Was?«

»Einmal angenommen, es könnte nicht länger schweben und würde schnell nach unten stürzen. Meiner Meinung nach würde es eine Kurve in einem bestimmten Winkel beschreiben, statt einfach gerade runterzufallen. Ich habe mir angesehen, wie Vögel am Boden landen, und meistens geschieht das in einem Winkel von ungefähr sechzig Grad.«

»Darüber habe ich noch nie nachgedacht.«

Sie dreht den Kopf, um mich anzusehen. »Du hast dir noch nie vorgestellt, wie Internment vom Himmel stürzt?«

»Doch, schon.« Ich starre zum sich grau verfärbenden Himmel hinauf, wo sich pinkfarbene und goldene Schatten noch immer an die spärlich gesäten Wolken klammern. »Aber mehr als Albtraum und nicht als etwas, das wirklich passieren wird. Ich grüble nicht über die Wahrscheinlichkeit nach oder versuche mir vorzustellen, wie das wohl aussieht.«

Pen starrt wieder nach oben.

»Ich glaube, es würde auf König Ingrams Schloss fallen«, sagt sie. »Bestimmt würde es ihn und alle seine Männer töten. Aber der Aufschlag würde auch Internment zerstören. Die Fundamente aller Gebäude würden sich verschieben. Vermutlich würden sie einstürzen.«

»Internment wird nicht vom Himmel fallen.« Ich sage es sanft, aber entschieden. Auch Amy hat sich gefragt, ob Internment abstürzt. Als Kind habe ich das auch getan. Aber Pen ist da anders. Für sie werden solche Ideen real. Sie vergisst, was sich vor ihr befindet, und sieht nur noch das, was in ihren Gedanken herumspukt. Und auf diese Weise verliert sie sich.

Irgendwo über uns ertönt ein mechanisches Grollen und stört den friedlichen grauen Himmel. Ich zucke zusammen. Nicht mal das größte Tier auf Internment könnte so einen Laut hervorbringen. Er stammt vom Jet des Königs, der seine monatliche Rohstoffausbeute von Internment zum Boden bringt.

Zu Beginn eines jeden Monats kehrt der Jet des Königs nach Havalais zurück, um noch mehr Phosan zu liefern, das man aus Internments Boden gegraben hat. In Havalais wurde eine Raffinerie gebaut, die das Mineral in Treibstoff verwandelt. Wenn ich morgens vor die Tür trete, sehe ich die schwarzen Rauchwolken aufsteigen. Manchmal rieche ich sie sogar – der Geruch ähnelt Kompost und Metall.

Aber nach sechs Monaten ist König Ingram noch nicht mit seinen Männern zurückgekehrt und nach dem Entladen fliegt der Jet zurück zur schwebenden Insel. Es ist ein Wunder, dass dort oben überhaupt noch was von der Stadt übrig ist.

Das mit dem König im Krieg befindliche Königreich Dastor hat das Kommen und Gehen des Jets verfolgt. Nimble zufolge hat sich der Krieg zur Heimatfront verlagert. Man rekrutiert Jungen für den Kampf, die sogar noch jünger sind als er. Falls Dastor Internment und seine Energiequelle in die Finger bekommen will, muss es erst Havalais erobern.

»Dazu wird es nicht kommen«, hat er uns gesagt. »Havalais ist größer und fortschrittlicher.«

Ich bin mir da nicht so sicher. In den engen Grenzen dieser behüteten Welt, in der Jack Piper seine Kinder großzieht, bekomme ich vom Krieg nichts mit, aber bei Windstille glaube ich, manchmal Schüsse hören zu können.

Pen nimmt meine Hand, und ich merke, dass ich die Luft angehalten habe. Sie versucht mich zu beruhigen. Ihr ist nicht entgangen, wie ich mich nachts in meinem Bett herumwälze, weil ich mich sorge, welche Neuigkeiten dieser König bei seiner Rückkehr von Internment mitbringen wird. Aber in diesem Moment sorge ich mich nicht. Ich fühle gar nichts, nicht mal das Entsetzen, das König Ingram für gewöhnlich in mir auslöst.

»Wir sollten zurück und es den anderen erzählen«, sage ich.

Pen kaut auf ihrer Lippe herum. Sie setzt sich auf, hat das Gesicht aber noch immer dem Himmel zugewandt. »Vermutlich nur eine weitere Lieferung«, sagt sie, womit sie mutmaßlich recht hat. Dieser Jet ist mittlerweile fünfmal zurückgekehrt und wir haben stumm fünfmal auf die Nachricht von der Rückkehr des Königs gewartet. Sie ist nie gekommen.

Ich ziehe Pen auf die Füße und wir gehen zurück zum Hotel. Dabei blicken wir beide über die Schulter und verfolgen, wie sich der Jet auf seiner schrägen Bahn bewegt. Wie ein Vogel. Wie eine Stadt, die vom Himmel fällt.

•••

Augenblicke vor unserem Eintreffen an der Eingangstreppe kommen auch Basil und Thomas. Damals auf Internment hat sie nur Pens und meine Freundschaft verbunden, aber seit unserer Landung haben sie so etwas wie eine unabhängige Freundschaft geschmiedet. Vielleicht, weil sie zu Hause sonst nichts gemeinsam haben.

Sie dürften nicht weit weg gewesen sein. Jack Piper hat uns verboten, den Besitz zu verlassen. Zu unserer eigenen Sicherheit. Der König hat befohlen, uns von allen fernzuhalten, die möglicherweise finstere Absichten gegen uns hegen, wenn sie erfahren, dass wir von der magischen schwebenden Insel über dieser Welt kommen. Aber die Menschen von Havalais haben mehr Grund, ihrem König zu misstrauen, als uns etwas anzutun.

Ehrlich gesagt stören mich die Einschränkungen kaum. Durch sie fühle ich mich sicher. Sie erinnern mich an die Bahngleise, die mich zu Hause umgaben.

Bei anderen Gelegenheiten kommt meine Wanderlust für einen Besuch heraus, und ich frage mich, wann das alles endlich vorbei sein wird.

»Wir sind vom Vergnügungspark zurückgekehrt, als wir den Jet entdeckt haben«, sagt Thomas. »Habt ihr ihn gesehen?«

»Ja«, sage ich.

Als König Ingram Zugang zu Internment brauchte, wurde Prinzessin Celeste zur Schachfigur. König Furlow oben in seinem Himmel hat nur zwei Schwächen: seine beiden Kinder. Für Celestes sichere Rückkehr hätte er König Ingram jede Forderung erfüllt.

Ich habe mich stumm um sie gesorgt. Erwähne ich auch nur ihren Namen, gerät Pen in Wut. Aber ich hoffe, es geht ihr gut, und ihr Urteilsvermögen hat sich gebessert.

Basil steht in der Nähe. Er lässt mich nicht aus den Augen und verursacht immer noch Schmetterlingsgefühle in meinem Bauch, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht.

Wieder streicht eine Bö über uns hinweg und selbst die furchtlose Pen verschränkt die Arme vor dem Körper und fröstelt.

Thomas sieht sie stirnrunzelnd an. »Ich habe überall nach dir gesucht.«

»Überall wohl nicht, sonst hättest du mich ja gefunden«, antwortet sie.

Er steht einen Schritt von ihr entfernt und ich kann die Sorge in seinem Blick sehen. Er versucht herauszufinden, ob ihr Atem nach Tonikum riecht. Als es ihm nicht gelingt, sieht er mich an, und ich schüttle kaum merklich den Kopf, als Pen gerade nicht hinsieht. Sie ist nüchtern.

Der Jet grollt nicht länger am Himmel. Vermutlich ist er gelandet.

»Komm schon«, sage ich zu Pen und halte ihr die Tür auf. »Lass uns nachsehen, ob wir in der Küche etwas für dich zu essen finden.«

Sie folgt mir ins Haus, vorbei an den Piperkindern, die im Wohnzimmer Krieg spielen. Annie ist eine Soldatin, der eine Explosion die Beine weggerissen hat, und Marjorie ist eine Krankenschwester, die die Verletzung abbindet. Dieses Spiel habe ich sie mindestens ein Dutzend Mal spielen sehen, und niemand kann wissen, ob Annie ihre Verletzungen überlebt. Beim letzten Mal wurde ihr imaginäres Lazarettzelt von einer Bombe getroffen und alle Krankenschwestern und Soldaten getötet.

Ich hasse dieses Spiel, aber vermutlich fühlen sie sich dann ihrem toten Bruder Riles näher.

Oben an der Treppe sieht Amy ihnen zwischen den Geländersprossen zu; sie ist noch nicht bereit, sich mit anderen Menschen abzugeben. Seit dem Tod ihres Großvaters ist sie sehr still gewesen, und sie hat ein weiteres Stoffstück zu dem an ihrem Handgelenk hinzugefügt, das ihre Schwester symbolisieren soll.

»Sagen wir, ich habe auch einen Arm verloren«, sagt Annie.

»Welchen denn?«, fragt Marjorie.

»Den linken.«

»Wollt ihr Mädchen mir im Garten helfen?«, ruft Alice oben von der Treppe. Sie erträgt ihr Spiel ebenfalls nicht.

Annie setzt sich auf ihrem Totenlager vor dem Kamin auf. »Warum kümmerst du dich um den Garten? Wir haben einen Gärtner.«

»Vermutlich macht es mich einfach glücklich«, sagt Alice. Sie tritt von der letzten Stufe und streckt den Mädchen die Hände entgegen und sie vergessen ihr Spiel und folgen ihr fröhlich nach draußen.

In der Küche sitzen Pen und ich an dem kleinen Tisch, der für das Personal reserviert ist. Pen beißt in eine Möhre aus dem Kühlkasten.

»Ich wünschte, du würdest aufhören, so besorgt auszusehen«, sagt Pen.

»Vermutlich kann ich mich nicht so kühl geben wie du.«

Sie starrt mich lange an, dann sagt sie: »Du bist nicht die Einzige, die Albträume über die Geschehnisse zu Hause hat. Nur weil ich nicht darüber rede, heißt das noch lange nicht, dass es mir egal ist.«

»Ich weiß, dass du dich deswegen sorgst. Das ist ja so frustrierend. Seit Monaten reden wir kaum miteinander.«

»Was erzählst du da? Wieso reden wir kaum miteinander? Wir teilen uns ein Zimmer. Wir sprechen jeden Tag miteinander. Wir unterhalten uns gerade in diesem Augenblick.«

»Du weißt, was ich meine.«

Sie beißt in die Möhre; ich könnte schwören, dass das Krachen ein Kommentar sein soll. »Du wirst mir verzeihen, wenn ich dir im Moment nicht blindlings vertraue, was meine Geheimnisse angeht.«

Ich weiß genau, was sie meint. Das ist eine Quelle des Streits, die in den vergangenen Monaten nie völlig versiegt ist. Sie hat entdeckt, dass Internments Erde die Energiequelle enthält, die König Ingram für sein Königreich begehrt. Dieses Geheimnis hat sie mir anvertraut. Aber nachdem sie beinahe ertrunken wäre, habe ich der Prinzessin alles erzählt, in der Hoffnung, man könnte zwischen Internment und Havalais eine Allianz schmieden, die uns allen die Chance auf eine Heimkehr ermöglicht.

Stattdessen hat Ingram die Prinzessin als Geisel genommen und sich nach Gutdünken bei Internments Erde bedient.

Ich habe nicht die geringste Ahnung, welches Ausmaß die Geschehnisse bereits angenommen haben und was noch auf uns zukommen wird – trotzdem würde ich nichts von dem ungeschehen machen, was ich getan habe. Ich hege noch immer die Hoffnung, Pen wieder mit ihrer Familie vereinen und in die Stadt zurückbringen zu können, die sie so sehr liebt, dass sie ohne sie innerlich zerbricht.

Also sage ich nichts, und Pen entgeht nicht, wie sehr sie mich verletzt hat. »Birdie hat ihre letzte Operation hinter sich gebracht, hat Nimble erzählt, und sie kommt bald wieder nach Hause«, sagt sie, um das Thema zu wechseln. »Sie ist immer noch auf ihren Rollstuhl angewiesen, aber wie ich sie kenne, bestimmt nicht mehr lange.«

Ich schiebe den Stuhl vom Tisch zurück. »Ich mache Lex einen Tee.«

»Ach, Morgan, sei nicht böse. Ich habe es nicht so gemeint. Dieser verfluchte Jet hat mich nur nervös gemacht.«

»Ich weiß«, sage ich leise.

Hoffentlich ist der König dieses Mal zurückgekehrt und hat die Prinzessin gesund und unversehrt mitgebracht. Welche Neuigkeiten die beiden auch immer haben, sie werden sicherlich besser sein als diese ständige Furcht und Ungewissheit.

•••

Als ich die letzte Stufe hinaufsteige, weiß ich nicht, welche Laune Lex haben wird, denn in letzter Zeit war er besonders mürrisch. Ihm geht langsam das Papier für seine Transkriptionsmaschine aus, und bald wird er seine Tage nicht mehr damit verbringen können, sich in seinen Fantasiewelten zu verstecken.

Ich klopfe an.

»Alice?«

»Nein, ich bin es.« Zu Hause hat er immer gewusst, wenn ich mich ihm näherte, aber etwas an diesem Haus und seinen Geräuschen desorientiert ihn. »Ich habe Tee gebracht.«

»Oh.« Es klingt nicht gerade begeistert. »Komm rein.«

Er sitzt in der Nähe des geöffneten Fensters in einem Sessel und die Sorge in seiner Miene ist das genaue Spiegelbild meiner Befürchtungen. Er hat nicht viel für den Wind übrig; vielleicht erinnert er ihn zu sehr an den Rand. »An das Wetter hier unten muss man sich erst mal gewöhnen«, sage ich, drücke ihm die Teetasse in die Hand und lasse nicht los, bis ich sicher bin, dass er sie auch wirklich hat.

»Ich habe ein schlechtes Gefühl«, sagt er.

»Ich auch.«

Wie ich da vor ihm stehe, zögere ich und kann mich nicht entscheiden, ob ich ihm erzählen soll, was ich am Himmel gesehen habe.

Aber am Ende bleibt mir keine Wahl. Selbst ohne sein Augenlicht spürt Lex meistens, wenn was nicht stimmt. »Was ist, Schwesterchen? Was ist passiert?«

Ich kralle die Hände in meinen Rock. »Vor einer Stunde haben wir den Jet gesehen. Pen, Basil, Thomas und ich. Wir warten darauf, dass jemand kommt und uns sagt, was seine Ankunft zu bedeuten hat.«

Lex schweigt lange. »Ich habe ihn gehört.« Er nimmt einen Schluck Tee und stellt die Tasse dann ohne großes Tasten auf der Fensterbank ab. »Also fängt es an.«

»Es gibt keinen Grund, so theatralisch zu sein. Vielleicht sind es ja gute Neuigkeiten.«

»Ein gieriger König in einer Einöde aus Reichtum hält eine Prinzessin als Geisel gefangen, damit er in eine winzige schwebende Stadt einmarschieren kann, und du glaubst noch immer, er würde mit guten Neuigkeiten zurückkehren. Meine Schwester, die Optimistin.«

Ich bin es so leid, Optimistin genannt zu werden, als wäre das etwas Schlechtes. Pen hat dieses Wort ebenfalls gegen mich benutzt. »Ich versuche lediglich, nicht in Panik zu verfallen, Lex.« Ich beherrsche mich und sage nichts zu Aggressives. Ich will mich nicht streiten, und ich habe lange dafür gebraucht, meinen Bruder nicht mehr zu hassen, weil er mich zum Tod unseres Vaters angelogen hat. Ich möchte gern vernünftig mit ihm umgehen.

»Wo ist Alice?« Vielleicht will auch er einen Streit vermeiden.

»Sie ist im Garten.«

»Und sie weiß von dem Jet?«

»Als wir reinkamen, habe ich es ihr gesagt. Wir alle warten jetzt. Trink deinen Tee, ja? Alice kommt gleich wieder rauf, um nach dir zu sehen.«

Als ich an der Tür bin, ergreift er wieder das Wort. »Morgan?«

Ich drehe mich um.

»Sei vorsichtig.«

»Ich gehe nur nach unten.«

»Ich weiß nie, zu welchen wilden und verrückten Abenteuern du aufbrichst, wenn es dir in den Sinn kommt.«

Der Gedanke lässt mich lächeln. Wilde und verrückte Abenteuer. Zu Hause, als ich sicher in unsere kleine schwebende Welt eingehüllt war, hätte er mich dessen nie beschuldigt.

Die Bäume atmen niemals aus. Das war auf Internment nicht anders; an einem sehr windigen Tag rascheln die Bäume und atmen ein, und dann zittern die Blätter und Äste, als würde etwas versuchen, das Leben aus ihnen zu schütteln. Der dunkle Himmel sieht voller Erwartung zu und fragt sich, ob es eine großartige oder schreckliche Nacht werden wird. Oder gar die letzte Nacht der Welt.

»Morgan.« Basils Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Er gesellt sich am Fenster zu mir, und als sein Arm mich streift, bekomme ich eine Gänsehaut. »Du stehst jetzt seit einer Stunde hier.«

Mein Körper lässt etwas von seiner Anspannung los und ich beuge den Kopf zu ihm herüber. »Ich habe ein schlechtes Gefühl. Lex auch. Als stünde etwas Großes unmittelbar bevor.«

»Nehmen wir mal an, das stimmt. Und dann?«

Ich schüttle den Kopf. »Ich bin es leid, von diesem Ratespiel in den Wahnsinn getrieben zu werden. Ich will es einfach wissen. Ich will, dass der König zurückkommt und uns sagt, was passiert. Ob es nun gut oder schlecht ist. Damit endlich mit dieser Grübelei Schluss ist.«

Basil schweigt ein paar Sekunden lang. Dann sagt er mit einiger Mühe: »Ich habe das gleiche Spiel gespielt und an meine Eltern und Leland gedacht.«

Ich blicke ihn an.

»Es dürfte ihnen gut gehen«, sagt er und deutet mit dem Kopf zum Himmel, wo sich unsere schwebende Stadt irgendwo in der Dunkelheit außer Reichweite unserer mürrischen Betrachtungen versteckt. »Sie werden bestimmt die Befehle des Königs befolgen. In dieser Hinsicht waren sie immer sehr schlau.«

»Die Befehle welches Königs?«

»Des Königs, der heutzutage den Befehl hat.«

»Vielleicht haben König Ingram und König Furlow ja tatsächlich eine Art Bündnis geschlossen. Vielleicht gibt es gute Neuigkeiten.«

Er wirft mir einen Seitenblick zu. Ein Lächeln tritt auf seine Lippen. »Ich habe deine optimistische Seite schon immer geliebt.«

»Da bist du der Einzige. Alle anderen scheinen mich deshalb für dumm zu halten.«

Er legt den Arm um meine Schultern und der letzte Rest Anspannung in mir verschwindet. Ich lehne die Schläfe gegen seinen Arm. »Basil, ich bin müde. Und ich mache mir so schreckliche Sorgen, dass meine Entscheidungen alle falsch waren.«

»Diese Könige haben falsch entschieden. Und falls es dir nützt, ich hätte das Gleiche getan wie du. Hätte ich über das Phosan Bescheid gewusst, hätte ich es erzählt.«

»Wirklich?«

»Wäre es dir wie Pen ergangen, wäre ich zu dem Schluss gekommen, dass dich diese Welt umbringt? Dann ja. Ich hätte alles getan, um dich wieder nach Hause zu schaffen.«

»Du hast mich immer verstanden, Basil.«

Sein Arm fasst mich fester und ich schließe die Augen. Ist er in der Nähe, erscheint die Unruhe so fern. Weit weg und noch kleiner am Himmel als unsere vor langer Zeit verloren gegangene schwebende Stadt.

Dann höre ich, wie sich die Haustür öffnet, und mein Magen verkrampft sich.

Die jüngeren Pipers sind schon lange im Bett. Alle anderen halten sich seit Stunden in der Lobby auf und warten auf Neuigkeiten. Sämtliche Augen sind auf die Tür gerichtet, als Nimble mit hängenden Schultern und müdem Blick eintritt. Er ist immer der Erste, der bei der Rückkehr des Jets zur Landebahn läuft, von der Hoffnung getrieben, etwas von Celeste zu hören. Und er ist stets tief betrübt, wenn er keine Nachricht bekommt.

Wir alle warten schweigend. Nim hebt den Kopf und sieht uns an. Sein Blick bleibt an mir hängen. »König Ingram ist zurück. Mein Vater ist jetzt bei ihm. Ich weiß nicht, ob es etwas zu bedeuten hat. Es tut mir leid.«

Er geht in Richtung seines Zimmers, und bei der Schwere seiner Schritte kann ich mir denken, wie die Antwort lauten wird. Trotzdem muss ich fragen. »War Celeste bei ihm?«

Er bleibt mit mir zugewandtem Rücken stehen. »Nein. Mein Vater hat mir nur gesagt, der König habe einen besonderen Besucher mitgebracht, aber nicht sie.« Er holt tief Luft, und seine Stimme ist so angespannt, dass er vielleicht gegen die Tränen ankämpft. »Mein Vater kommt heute bestimmt nicht mehr. Ihr solltet alle ins Bett gehen.«

Er kann nicht schnell genug von uns wegkommen.

Pen steht neben dem Sofa, Thomas an ihrer Seite. Aber sie starrt Nimble besorgt hinterher und nimmt gar nicht wahr, wie Thomas drei- oder viermal ihren Namen sagt. »Pen.« Überrascht zuckt sie zusammen.

»Bestimmt erfahren wir morgen mehr«, meint Basil.

•••

Das Hotel verfällt in seine nächtliche Stille. Nachdem alle zu Bett gegangen sind, bleibe ich noch lange in der Wanne liegen. An diesem Ort können die Vormittage so laut sein, weil die Kinder herumlaufen und vor Lachen kreischen, während sie ihre Spiele spielen, von denen die meisten mit Explosionen zu tun haben. Schritte gehen in diese und jene Richtung, Besteck klirrt auf Porzellan, Stimmen dröhnen.

Aber die Nächte sind still. Ich kann das Schweigen aller so sicher fühlen, wie ich ihre Stimmen am Tag höre.

Jemand klopft an der Tür. »Morgan?« Das ist Pen. »Alles in Ordnung mit dir? Du bist schon ewig da drin.«

»Ich dachte, du würdest schlafen.«

»Das konnte ich nicht, und ich wollte mich vergewissern, dass du nicht ertrunken bist.«

»Ich komme in einer Minute.« Das Wasser ist sowieso kalt. Ich wringe mein nasses Haar aus, trockne mich ab und schlüpfe in mein Nachthemd.

Als ich die Tür öffne, steht Pen mit einer Laterne im Korridor. Der orange Lichtschein betont die Ringe unter ihren Augen, und obwohl sie sich bemüht, es zu verbergen, erkenne ich sofort, wie beunruhigt sie ist.

»Ich bin nicht müde«, flüstert sie. »Du?«

»Nein«, erwidere ich, obwohl das eine Lüge ist. Ich würde die ganze Nacht wach bleiben, falls die Chance besteht, dass sie endlich ehrlich zu mir ist. Sie wird ihre Geheimnisse eher bei Nacht enthüllen, wenn ihr Flüstern in der schlafenden Welt keine Aufmerksamkeit erregt.

Sie lächelt. »Wie wäre es mit einem Mitternachtsspaziergang?«

Wir verzichten auf unsere Schuhe. Auf Zehenspitzen huschen wir barfuß die Treppe hinunter und dann durch die Haustür.

Im Gegensatz zu vorhin ist der Nachtwind sanft und warm. Der Mond scheint heller als unsere Laterne; er steht fast voll am Himmel und ist sehr weiß.

Nach dem ersten Schritt auf das Gras spüre ich die kühle Erde unter meinen Füßen, die erstaunlicherweise dem Boden zu Hause ähnelt. Pen geht zielstrebig, und als ich ihr nicht folge, dreht sie sich zu mir um. »Kommst du nicht?«

Ich grabe die nackten Zehen ins Gras und starre es an. Die ganze Erde, die von Internment nach unten geflogen wird, habe ich nie zu Gesicht bekommen. Davon hat mir nur Nim erzählt. In meiner Vorstellung ist Internment von Kratern übersät, die groß genug sein müssen, um durch sie hindurch zum Boden blicken zu können.

»Ich habe nur an zu Hause gedacht«, sage ich. »Und was uns König Ingram sagen wird, falls er uns überhaupt etwas mitteilen will.«

Pen nimmt meine Hand und führt mich vom Hotel weg. »Komm schon. Ich muss dir was zeigen.«

Sie führt mich zum Vergnügungspark und ich klettere hinter ihr über den Zaun. Ich stelle keine Fragen, denn ich bin froh, mir ansehen zu können, was sie mir zeigen wird. Vielleicht ist es dieses Mal etwas anderes als ein Tonikum. Vielleicht verschafft es mir eine Einsicht in diese Distanz, die sie zwischen sich und allem anderen in dieser Welt erschaffen hat.

Ich erwarte, zu den Teleskopen geführt zu werden. Dort finde ich sie manchmal. Aber stattdessen führt sie mich zu den riesigen Teetassen, die unbeweglich im Mondlicht stehen. Neben einer etwas angeschlagenen, aber immer noch hellgrünen Tasse geht sie mit der Laterne in der Hand in die Knie und greift darunter, hinein in den Drehmechanismus.

Schließlich findet sie, wonach sie gesucht hat: mehrere zusammengefaltete Stücke Papier. Was auch immer auf diesen Seiten steht, es muss wichtig sein, wenn sie sie an diesem abgelegenen Ort versteckt.

Tut sie das, weil ich vor diesen vielen Monaten ihr Wunschpapier entdeckt habe? Glaubt sie, ich würde ihre Sachen durchsuchen, wenn sie nicht in unserem Zimmer ist? Das habe ich nicht. Das würde ich auch niemals tun. Aber wenn ich manchmal zuhören muss, wie sie sich in ihren Albträumen umherwälzt und stöhnt, würde ich alles tun, um zu erfahren, was in ihrem Kopf vorgeht.

»Hier.« Sie drückt mir die Laterne in die Hand und schwingt ein Bein über den Tassenrand, dann zieht sie das andere nach. Sie nimmt mir die Laterne wieder ab, damit ich ebenfalls einsteigen kann.

Am Innenrand der Tasse befindet sich eine Sitzbank aus Metall, und Pen setzt sich so nahe neben mich, dass mein feuchtes Haar ihre Schulter nass macht.

Sie breitet die Seiten auf dem kleinen Tisch vor uns aus – da sind die Kontrollen, mit denen wir die Tasse einschalten, falls wir sie sich drehen lassen wollen. »Da der König nun zurück ist, müssen wir eine Möglichkeit finden, ihn aufzuhalten«, sagt sie. Ihr Blick ist auf das Papier gerichtet. »Gelingt uns das nicht, stecken wir meiner Meinung nach in echten Schwierigkeiten.«

Ich starre die vom Mond und der Laterne beleuchteten Seiten an und verstehe wie immer nichts. Da sind Pens sauber gezogene Linien. Ich entdecke einen Kreis und eine kleine, schwebende Silhouette, die Internment sein könnte. Ringsherum schweben Zahlen wie Vögel.

Pen blättert die Seiten wie eine Verrückte durch. »Ich habe den Sonnenuntergang nachgeschlagen. Jeden Tag geht die Sonne eine Minute früher unter, ausgenommen einmal die Woche oder so, da geht sie zwei Minuten früher unter.«

Fragend sieht sie mich an, um sich zu vergewissern, ob ich folgen kann. »Okay«, sage ich. Ich habe dem Sonnenuntergang nie viel Aufmerksamkeit geschenkt, aber wir haben gerade die Jahreszeit, in der wir jeden Tag etwas Licht einbüßen. »Und?«

»Also«, sagt sie. »In den vergangenen Monaten habe ich auf einem Koordinatennetz festgehalten, wo sich Internment am Himmel befindet und wo die Sonne sein sollte. Jeden Tag habe ich mir das mit demselben Teleskop im selben Winkel angesehen.«

Sie zeigt auf Internments Umriss auf jeder der Seiten vor uns, als sollte ich wissen, was wir uns da ansehen.

»Ich verstehe nicht.«

Sie sieht mich an, und ich erkenne deutlich, wie müde, wie besorgt sie ist. Aber in ihren Augen liegt ein Funkeln, so wie immer, wenn sie einer wichtigen Sache auf den Grund geht. »Internment sinkt. Nicht sehr viel, aber jeden Monat ein bisschen. Falls das so weitergeht, genügt es, um zu einem Problem zu werden.«

Während die Worte sacken, kann ich die Seiten nur anstarren. Pen hat mit ihrer sicheren Hand die Umrisse des Uhrenturms gezeichnet, der die Masse der Wohnhäuser überragt. Aus der zerklüfteten Unterseite der schwebenden Stadt ragen knorrige Wurzeln. Die perfekt kreisrunde Sonne ist ein Stück entfernt und wird von winzigen Berechnungen, die ich nicht entziffern kann, am weißen Himmel gehalten.

Von Pen gibt es zwei Versionen. Da ist das alberne, spontane und brutal ehrliche Mädchen, das ich kenne, und dann ist da diese Seite, die solche Geheimnisse auf brillante Art lösen kann. Es ist Furcht einflößend, wozu sie fähig ist.

»Bist du dir sicher?«

»Der Professor hat mir mit den Algorithmen geholfen.« Sie kaut schuldbewusst auf der Unterlippe herum. »Ich habe ihn vor seinem Tod besucht.«

Vermutlich glaubt sie, ich könnte mich verraten fühlen, und in gewisser Weise tue ich das auch. Aber ich bin auch erleichtert. Sie war immer irgendwo unterwegs; ich bin froh, dass es nicht mit einer Flasche war.

»Es muss der Bergbau sein«, sage ich. »Wir wissen nicht, wie viel Erde König Ingrams Männer bei jeder Ladung zurückbringen.«

»Um Internments Gewicht zu beeinflussen, müsste das schon eine Menge Erde sein«, erwidert Pen. »Mehr Erde, als in diese Jets passt. Internment ist tausendmal größer als sie. Daran liegt es meiner Meinung nach nicht.«

»Was ist es dann?«

Pen blättert in den Papieren herum, bis sie eine ganzseitige Zeichnung von Internment findet. Maßstab und Genauigkeit sind verblüffend, so als hätte sie im Himmel gesessen und die Insel abgezeichnet. Mit groben, sich überschneidenden Linien hat sie eine Blase um die Stadt gezogen.

»Als dein Bruder zum Rand ging, hat ihn der Wind zurückgeschleudert. Der Wind bewegt sich seitwärts, und zwar wie eine Strömung um die Stadt. Ist dir je aufgefallen, wie Wolken, die Internment zu nahe kamen, an uns vorbeizurasen schienen?«

»Diese Wolken landen in dem Wind, der die Stadt umgibt. Also ist dieser Wind ein Bestandteil dessen, was Internment schweben lässt?«

»Ich habe mehrere Theorien, was Internment schweben lässt, aber der Wind ist meiner Meinung nach ein großer Faktor«, sagt Pen. »Als wir die Stadt in dem Metallvogel verlassen haben, sind wir unter der Stadt durch den Erdboden gereist. Aber König Ingrams Jet landet und startet von der Oberfläche.«

Ich verstehe. »Er fliegt durch den Wind.«

Sie nickt eifrig. »Und bringt ihn durcheinander. Schwächt ihn vielleicht sogar. Im Augenblick ist das nur eine geringfügige Veränderung, aber im Lauf von Jahren könnte es Internment vom Himmel holen.«

Sie klingt aufgeregt, so wie immer, wenn sie etwas erklärt. Aber in der folgenden Stille wird sie sich des Ausmaßes dessen bewusst, was sie gesagt hat, und ich fühle es auch. Internment wird nicht nur von dem gierigen König dieser Welt ausgeplündert; es könnte vom Himmel geschlagen werden.

»König Ingram wäre das egal, wenn er es wüsste«, sage ich.

»Warum sollte ihn das auch interessieren? Er bekommt, was er will. Selbst wenn Internment direkt auf Havalais stürzt, wird er sich rechtzeitig entfernen und die Menschen sterben lassen, so wie er es im Hafen getan hat.«

Ich sehe Pen an. »Wie sollen wir das verhindern?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Töten wir König Ingram.«

»Sei ernst.«

»Das ist mein Ernst.«

»Ja, klar. Wir gehen einfach zu seinem Schloss und klopfen an die Tür, dann erstechen wir ihn mit dem Messer, das du unter deinem Kissen versteckst. Ich sehe keine Schwierigkeiten. Aber mal angenommen, uns fällt ein Ersatzplan ein.«

»Ich vertraue nur einer Person, die Zugang zum König hat. Und ich würde ihr auch ein Geheimnis anvertrauen. Schließlich hat er allen sein ganzes Leben lang verschwiegen, dass er der dritte in der Reihe der Thronfolger ist.«

»Nimble?« Eines Nachts hat uns Birdie nach ein paar Gläsern zu viel anvertraut, dass ihr Vater der geheim gehaltene Bastard des Königs ist und sie und ihre Geschwister Prinzen und Prinzessinnen sind. Als sie nach der Bombardierung im Koma lag, hat Nim es bestätigt.