Renate Krüger
Das Zeitalter der Empfindsamkeit
Kunst und Kultur des späten 18. Jahrhunderts in Deutschland
ISBN 978-3-95655-595-4 (E-Book)
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Das Buch erschien erstmals 1972 bei Koehler & Amelang, Leipzig.
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Meinem Lehrer Paul Strömer
Als Zeitalter der Empfindsamkeit, als ein Sammelbecken besonders empfindsamer geistiger Strömungen kann man mit gewissen Einschränkungen und unter bestimmten Vorbehalten die späten Jahrzehnte des so vielschichtigen 18. Jahrhunderts bezeichnen. Der Begriff des Zeitalters ist freilich mit Vorsicht zu gebrauchen, denn diese Zeit wird nicht nur von empfindsamen Strömungen bestimmt, und die Grenzen zwischen ihnen sind fließend. Das Zeitalter der Empfindsamkeit setzt nach verschiedenen Vorstufen in den späten sechziger Jahren ein, erlangt seinen Höhepunkt um die Mitte der siebziger Jahre und reicht mit seinen Ausläufern und Auswirkungen bis in die späten neunziger Jahre, auf einigen Gebieten sogar über das Jahr 1800 hinaus. Seine Struktur ist nicht einheitlich, und der Begriff Empfindsamkeit hat keineswegs dasselbe Gewicht, dieselbe Bedeutung wie der des Barocks oder Rokokos. Er wird vor allem von der allgemeinen Kulturgeschichte beansprucht, lässt sich als Stilbezeichnung auf die Kunst- oder Musikgeschichte nur bedingt anwenden, ist aber auch brauchbar zur Charakterisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Vernünftig und empfindsam - das waren die ideologischen Kampfparolen des Bürgertums gegen politische und geistige Bevormundung. Mit der besonderen Vorliebe für die rührenden und empfindsamen Züge in der zeitgenössischen Kunst erhob der Bürger den Anspruch auf Emotionen, die bisher ein Vorrecht vor allem der Fürsten und des Adels gewesen waren (Nach Friederici, Geschichte der deutschen Literatur von 1700 - 1770, Berlin 1965).
Die im eigentlichen Sinne herrschende und bestimmende Ideologie des Bürgertums war die Aufklärung. Mithilfe der immer höher bewerteten menschlichen Vernunft und des Verstandes bemühten sich die fortschrittlichsten Vertreter des Bürgertums in einem mitunter leidenschaftlichen kämpferischen Prozess, alte doktrinäre Anschauungen zu überwinden. Die Aufklärung förderte die Entwicklung von Wissenschaft und Kultur und belebte somit die eigentliche und wesentliche Selbstdarstellung des fortschrittlichen Bürgertums.
Empfindsamkeit und Aufklärung, Strömungen, die während der letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts nebeneinander herlaufen, bilden keinen echten Gegensatz, obwohl sie auf manchen Gebieten zu gegensätzlich scheinenden Formen führen. Die Empfindsamkeit ist eine Seite der Aufklärung, die mit ihrer antifeudalen Haltung wichtige Voraussetzungen zur Herausbildung einer deutschen Nationalkultur schuf, allerdings ist die Empfindsamkeit gerade die Richtung, an der die Schwäche des deutschen Bürgertums, seine Ohnmacht bei der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Entwicklungen und Widersprüchen besonders deutlich wird. Das deutsche Bürgertum, dessen Schwäche sich insbesondere in der Unfähigkeit zur Herausbildung eines einheitlichen Nationalstaates zeigte, flüchtete in die Innerlichkeit, in die Empfindsamkeit. Insofern charakterisiert das Zeitalter der Empfindsamkeit auch einen ausgesprochen reaktionären Aspekt der deutschen Geschichte am Ausgang des 18. Jahrhunderts.
Dennoch soll der Versuch unternommen werden, dieses Zeitalter zu beschreiben, weil es reich an interes- santen Einzelheiten ist, weil sich eine Beschäftigung mit dieser kurzen Kulturperiode lohnt. Wenige Bei- spiele mögen dies erläutern. Nach wie vor sind die großen Parkanlagen aus jener Zeit gern besuchte Erho- lungsstätten für Touristen und Spaziergänger. Ein aus der Kenntnis der Zeitverhältnisse heraus gewonne- nes Verständnis für diese Art der Naturgestaltung vertieft das Kunsterlebnis. Auch das Betrachten und Sammeln von schönen Gegenständen, vor allem von Antiquitäten, gehört bei vielen heutigen Kunstfreun- den zur Freizeitbeschäftigung. Gerade aus dem Zeitalter der Empfindsamkeit haben sich viele Zeugnisse erhalten. Damals aber wurde auch der Kitsch zu einem Phänomen, das bis in unsere Tage hineinreicht und dessen Einschränkung und Bekämpfung dadurch erleichtert wird, dass man einige Bedingungen, unter denen er einst entstand, erkennen und analysieren kann. Im Zeitalter der Empfindsamkeit entstand in größerem Umfang die Andenkenindustrie, die darauf gerichtet war, erwünschte Assoziationen zu wecken und zu pflegen, dem Menschen die ersehnte bleibende Verbindung mit seiner durch Reisen beträchtlich erweiterten Umwelt zu ermöglichen. Diese Tendenz ist bis zur Gegenwart hin immer stärker geworden. Es ist wichtig, sie zu fördern, aber auch, sie zu steuern und, wenn erforderlich, zu korrigieren, und auch zu diesem Zweck ist eine genaue Kenntnis der Entstehungszeit unerlässlich. Und schließlich ist das Zeitalter der Empfindsamkeit ein Teil des Lebensraumes der großen deutschen Klassiker, es war ihre Umgebung, ihre Umwelt. Dieser Umwelt, die es hier vorzustellen gilt, entnahmen sie das Material für ihr literarisches Schaffen. Eine Kenntnis der zeitgenössischen Kulturgeschichte lässt ihre Werke lebendiger werden.
So hat sich vorliegendes Buch zur Aufgabe gestellt, die Kultur dieses kurzen Zeitalters in einem möglichst weiten Rahmen zu skizzieren und den Begriff der Empfindsamkeit analysierend und differenzierend an den verschiedenen Künsten zu messen. Es verarbeitet die Einzeluntersuchungen zahlreicher Kenner des späten 18. Jahrhunderts, bei denen meist die literarischen Probleme im Vordergrund stehen, während die bildenden und verwandten Künste oft mit dem Odium der Dekorations- oder gar Verfallskunst umgeben und somit abgewertet werden. Auch in diesem Buch soll keine Ehrenrettung der bildenden Kunst um jeden Preis unternommen werden, denn damit müsste man zwangsläufig die Qualitätsmaßstäbe herabsetzen, vielmehr sollen die Wachstumsbedingungen für die bildende Kunst in dieser Zeit untersucht werden.
Die Empfindsamkeit - eigentlich ein psychologischer Begriff - wird nicht nur in ihrer engen Bedeutung eines übertriebenen Gefühlskultes und dubioser Sentimentalität, sondern auch als eine Kategorie angesehen, an der andere Bezeichnungen für die zeitgenössischen Kunstrichtungen, wie Louis Seize, Frühklassizismus, Goethezeit oder Zopfstil, gemessen und mit der sie verglichen werden können. Auf dem Gebiet der bildenden Kunst, aber auch der Architektur hat gerade der Begriff des Zopfstils eine besondere Bedeutung. Mit dieser Bezeichnung charakterisiert man, mit unter ein wenig geringschätzig und durchaus nicht übereinstimmend, gewisse Erscheinungsformen insbesondere in der deutschen Kunst zwischen Rokoko und Klassizismus, etwa zwischen 1760 und 1780, wobei die Zopfmode der männlichen Frisur den Namen bergab. Mit dem Begriff Zopf belegt die Kunst- und Kulturgeschichte das Nüchterne, Trockene, Stimmungslose, den Mangel an Kraft, Größe und Tiefe des Empfindens in manchen Bereichen insbesondere der bildenden Kunst des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Diese Erscheinungen findet man vor allem in der Malerei, der Grafik und im Kunstgewerbe. Der Zopf wurde zwar zum Symbol für Unnatur, Steifheit und lehrhafte Pedanterie, ging aber oftmals eine sehr liebenswerte Verbindung mit den Tendenzen der Empfindsamkeit ein.
Die geschichtliche Entwicklung zwischen 1760 und 1800 ist wechselhaft, widersprüchlich und von heftigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen der feudalen und der bürgerlihen Klasse einerseits und den feudalabsolutistischen Hausmachtkämpfen andererseits gekennzeichnet. Sie lässt kaum auf die Verbindung mit gefühlsseliger Innerlichkeit und allen ihren Erscheinungsformen schließen. Im Zeitalter der Empfindsamkeit drängt sich eine Fülle von Ereignissen zusammen, von denen der Höhepunkt, die Französische Revolution von 1789, die Epoche des Feudalismus abschloss und eine fast unübersehbare Kette von Veränderungen auslöste. Viele Menschen, gerade in den rückständigen deutschen Gebieten, fühlten sich durch die äußeren Verhältnisse zur Flucht in die Verinnerlichung gezwungen. Vielfach wurde die Empfindsamkeit zum Ausdruck des Unvermögens, aktiv und entscheidend in die Zeitverhältnisse einzugreifen, den Fortschritt zu fördern und das Neue zu gestalten.
Der brüchig werdende Feudalabsolutismus trat während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in seine Endphase ein, wobei seine Machtmittel eher an Schärfe und Gefährlichkeit zunahmen als verloren. Die gesellschaftliche Entwicklung wurde mehr und mehr von der industriellen Produktionsweise bestimmt. Eine immer wichtigere wirtschaftliche und kulturelle Rolle innerhalb Europas spielte England, die erste Industriemacht der Welt, die relativ stabile konstitutionelle Monarchie, in der seit 1760 König Georg III. (gestorben 1820) regierte. Am Anfang seiner Regierungszeit wurde Kanada erobert, ein erster Schritt zur Entstehung des Britischen Empire mit seinen für die kapitalistische Produktionsweise unerlässlichen Rohstoffquellen und Absatzmärkten. Der Stolz auf die Leistungen der Gegenwart führte in England ziemlich schnell zu einer neuen Bewertung der eigenen Vergangenheit, die den Dichter James Macpherson (1736-1796) im Jahre 1760 veranlasste, den »Ossian« herauszubringen, eine gefälschte Übersetzung aus dem Gälischen, ein Werk, das eine »schmerzliche Süßigkeit einer nebelhaften Schwermut« atmet (Boehn. Deutschland im 18. Jahrhundert, Berlin 1921). Im gleichen Jahr wurde auf dem Eddystone-Leuchtturm im Kanal der erste Blitzableiter Europas errichtet, ein spektakuläres Ereignis in der Geschichte der Technik und ein Beweis für die neuen Möglichkeiten in der Entfaltung der Produktivkräfte.
Auf dem Kontinent wütete zu dieser Zeit der Siebenjährige Krieg als Folge feudalabsolutistischer Hausmachtpolitik. Erst im Jahre 1763 fand er seinen Abschluss im Frieden von Hubertusburg. Preußen, das am schwersten unter den Kriegsfolgen zu leiden hatte, schloss mit Sachsen und Österreich einen Kompromiss. Im gleichen Jahr ließ sich die erbitterte Gegnerin Friedrichs II., die Kaiserin Maria Theresia, von dem sechsjährigen Wunderkind Wolfgang Amadeus Mozart in Wien ein Konzert geben, das noch ganz im Zeichen der nur unterhaltenden barocken Hofkunst stand. Trotz aller Brüchigkeit der Verhältnisse suchte man mit allen Mitteln den Schein der großen repräsentativen Form aufrechtzuerhalten, ohne der Kunst indessen neue Impulse geben zu können. Im gleichen Jahr gründete der preußische König in Berlin die Königliche Porzellanmanufaktur (KPM), ein Unternehmen, das künstlerische Neigungen mit wirtschaftlichen Interessen verband. Für den König waren die kommerziellen Gesichtspunkte und das Prestigebedürfnis jedoch wichtiger als die künstlerische Qualität.
Im Jahre 1770 wurden die Bindungen zwischen den beiden mächtigsten Feudalstaaten Europas noch enger; Ludwig XVI. von Frankreich, der 1774 König wurde, heiratete die österreichische Prinzessin Marie Antoinette.
»Tu felix Austria nube! - Du, glückliches Österreich, heirate!« Mit dieser Devise charakterisierte man ein für sehr wichtig und erfolgreich gehaltenes Prinzip der österreichischen Diplomatie, durch Heiraten möglichst enge dynastische Verbindungen zu schaffen, durch die man kriegerische Auseinandersetzungen mit den anderen Ländern ausschließen zu können glaubte.
Im Jahre 1772 wurde Polen zwischen Österreich, Preußen und Russland aufgeteilt, eine politische Operation, die noch mehrfach wiederholt wurde und zu permanenten Spannungen und Unruhen in Osteuropa führte. Nicht zuletzt suchten die Großmächte dadurch den Blick von den eigenen Unsicherheiten und Schadenstellen abzulenken. Diese Teilung beschleunigte jedoch die Entwicklung des Nationalbewusstseins insbesondere in Polen.
Im gleichen Jahr wurde als einer der letzten Barock-Rokoko-Bauten die Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen fertiggestellt. Kennzeichnend für die offizielle Kirchenpolitik dieser Zeit war die Aufhebung des Jesuitenordens im Jahre 1773, ein Entgegenkommen des Papstes gegenüber den feudalabsolutistischen Interessen der einzelnen Staaten, die die internationale Macht der Jesuiten fürchteten.
In diese Zeit fällt die beginnende Verlagerung wirtschaftlicher und politischer Schwerpunkte nach Übersee mit einer im feudalistischen Europa noch nicht möglichen gewaltigen Entfaltung und Entwicklung der Produktivkräfte. Im Jahre 1775 begann der nordamerikanische Unabhängigkeitskampf, ein Krieg, der bis 1783 anhielt und mit der Niederlage der britischen Regierung endete. Voraufgegangen war die Erklärung der Menschenrechte, die der Französischen Revolution als Vorbild dienten, und die Annahme der Unabhängigkeitserklärung durch den amerikanischen Kongress im Jahre 1776. Der neue Staat gab sich von vornherein die Regierungsform der Republik.
Im Jahre 1780 starb Maria Theresia, und ihr Sohn Joseph II. wurde deutscher Kaiser. Er versuchte, die gesellschaftlichen Widersprüche wenigstens auf einigen Gebieten durch Reformen von oben zu lösen. Im Zuge eines umfangreichen neuen Regierungsprogramms wurden Leibeigenschaft und Folter abgeschafft. Die Religionsfreiheit wurde als staatsbürgerliches Recht garantiert. Der Kaiser ließ alle Klöster aufheben und die Einwanderungsgenehmigung nach Österreich auch an Nichtkatholiken erteilen. Dadurch wuchsen die Staatseinnahmen, denn zahlreiche Fachleute aus dem Ausland förderten die Entwicklung des Gewerbes.
Kennzeichnend für die Widersprüchlichkeit dieser Zeit ist es, dass noch im Jahre 1782 in der Schweiz die letzte Hexenhinrichtung mit dem Schwert stattfand, während schon drei Jahre später in Preußen die erste deutsche Dampfmaschine arbeitete, der erste Freiballon den Kanal überquerte und in England die noch heute bestehende Zeitung »The Times« gegründet wurde.
Das Jahr 1789 stellt einen bedeutsamen Markierungspunkt in der Menschheitsgeschichte dar: Am 14. Juli erstürmte das Volk von Paris das Staatsgefängnis, die Bastille, und leitete damit die Französische Revolution ein. In Frankreich wurden nach dem Vorbild Amerikas die Menschenrechte auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verkündet. Durch zahlreiche, mitunter recht einschneidende Maßnahmen wurden die alten, längst erschütterten Machtgrundlagen schließlich zerstört. Das Kirchengut wurde verstaatlicht. Viele Priester leisteten den Eid auf die neue Verfassung. Die Kirche war eine der wichtigsten Stützen der königlichen Macht gewesen. Im Jahre 1791 erhielt das Land die Regierungsform der konstitutionellen Monarchie, die dem König noch zahlreiche Rechte beließ. Das französische Volk jedoch, mit der konstitutionellen Monarchie nicht einverstanden, erstürmte die Tuilerien, den Sitz des Königs, und der Nationalkonvent erklärte Frankreich zur Republik.
Die Stärke der Französischen Revolution, an deren Spitze die Bourgeoisie stand, lag darin, dass sie von den Volksmassen, der Bauernschaft und dem städtischen Proletariat, getragen und angetrieben wurde. Ihr Ausmaß und ihre Auswirkungen unterscheiden sie beträchtlich von anderen bürgerlichen Revolutionen. Sie erschütterte die feudalabsolutistische Ordnung und förderte die Herausbildung bürgerlich-demokratischer Verhältnisse nicht nur in Frankreich, sondern auch in anderen europäischen Ländern, insbesondere durch den revolutionären Krieg, der seit 1792 geführt wurde. Der Hauptgegner Frankreichs war zunächst das von Preußen unterstützte Österreich. Dieser Krieg veränderte in seinem langen Verlauf nach und nach das Antlitz Europas. Die französischen Soldaten trugen die revolutionären Ideen in fast alle europäischen Gebiete. Fast alle fortschrittlichen Vertreter des europäischen Geisteslebens äußerten sich positiv über die Ideale und Ziele der Französischen Revolution. Der historisch-fortschrittliche Charakter der Französischen Revolution war jedoch begrenzt. Innere Auseinandersetzungen schwächten ihre Stoßkraft. Der ehrgeizige General Napoleon Bonaparte nutzte die innere Unsicherheit Frankreichs zum Aufbau eigener Machtpositionen.
Die politische und ökonomische Situation in den deutschen Gebieten war nach der Mitte des 18. Jahrhunderts denkbar schlecht, und sie verbesserte sich auch zum Jahrhundertende hin nur unwesentlich. Die deutschen Gebiete wurden von annähernd 24 Millionen Einwohnern bewohnt und setzten sich aus nicht weniger als 1800 Eigenhoheiten zusammen. Davon waren 314 reichsständisch, die übrigen reichsritterschaftlich. Ihrem Status nach waren diese Eigenhoheiten Königreiche, Erzherzogtümer, Herzogtümer, Erzbistümer, Bistümer, Abteien, Propsteien, Markgrafschaften, Grafschaften, Herrschaften, ritterschaftliche Gebiete und Reichsdörfer. Welch ein unentwirrbarer Katalog von eigenstaatlichen Rechtsansprüchen mit dem gemeinsamen Ziel, das formale Reichsoberhaupt, den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, in seinen Ansprüchen zu schmälern und zu beeinträchtigen, und sei es in den winzigsten Herrschaftsbereichen! Die 1475 reichsritterschaftlichen Gebiete umfassten insgesamt nur 10 000 Quadratkilometer.
Aufgrund der rückständigen wirtschaftlichen und politischen Zustände war das wirtschaftliche und politische Denken im Gegensatz zu Frankreich und England unentwickelt, und es gab zunächst keine Schicht, von der irgendwelche Impulse hätten ausgehen können. An der Spitze des gesellschaftlich-politischen Lebens standen die oftmals sehr sterilen Höfe, der Rangfolge nach an erster Stelle der Kaiserhof in Wien, der seine Bedeutung jedoch weniger als Sitz des römisch-deutschen Kaisers, sondern als Zentrum habsburgischer Hausmachtpolitik gewann. Dem Namen nach war das ausführende Organ der kaiserlichen Macht in Wien die Reichskanzlei, deren Mitglieder jedoch nicht vom Kaiser, sondern von Kurmainz ernannt wurden. Neben ihr stand der Reichshofrat. Über diese traditionellen, arbeitsunfähigen Behörden verkehrte der Kaiser mit den Fürsten und Ständen des Reiches. Niemand erwartete von dieser Zusammenarbeit irgendwelche Ergebnisse, und jedermann hatte sich damit abgefunden, dass Kaiser und Reichstag machtlos und untätig waren.
Das Leben an den Höfen war teils protzig aufwendig, teils betont einfach. Friedrich II. von Preußen und Joseph II. von Österreich galten als recht sparsame Hofhalter, die vom reichen Adel weit in den Schatten gestellt wurden. Dieser genoss alle nur denkbaren Vorrechte: Er allein durfte Güter besitzen und erwerben, war steuerfrei und trug keinerlei staatliche Lasten. Er durfte die erbliche Gerichtsbarkeit über die Leibeigenen ausüben. Er allein besaß das Recht zu jagen und wurde vom Gericht anders behandelt als Bürger und Bauer, falls es überhaupt vorkam, dass ein Adliger vor dem Richter stehen musste. In Österreich war man entrüstet, als Joseph II. im Zuge seiner Reformen den Adligen vor dem Gesetz dem Bürger gleichstellte. In Mainz erhielten zu den Assembleen, den Zusammenkünften der vornehmen Gesellschaft, nur solche Adlige den Zutritt, die mindestens 16 adlige Ahnen nachzuweisen vermochten. Im Theater blieben Adlige und Bürgerliche getrennt. Dieser Zustand hielt sich in einigen Gegenden Deutschlands, zum Beispiel in Mecklenburg, bis ins 20. Jahrhundert hinein. Goethe, dem ja selbst der Adelstitel verliehen worden war, verurteilte die tiefe Kluft zwischen den Ständen: »In Deutschland ist nur dem Adel eine gewisse, wenn ich sagen darf personale Ausbildung möglich. Ein Bürger kann sich Verdienste erwerben und zur höchsten Not seinen Geist ausbilden, seine Persönlichkeit aber geht verloren, er mag sich stellen, wie er will.«
Eine gewisse Ausnahme bildete der Hof von Weimar, wo sich unter dem Patronat der Herzoginmutter Anna Amalia eine positive Entwicklung vollzog. Anna Amalia war 1756 mit kaum 17 Jahren als Gattin des 18-jährigen Herzogs Ernst August Constantin nach Weimar gekommen. Ihr Erzieher Johann Friedrich Jerusalem charakterisierte sie mit den Worten: »Sie hat die brillante Lebhaftigkeit nicht, aber eben den soliden Verstand, die feine Empfindung, das edle Herz ...« Sie berief Wieland als Prinzenerzieher, Wie- land zog Knebel nach sich, und dieser machte den jungen Goethe mit Karl August, dem späteren Groß- herzog, bekannt. Goethe brachte Herder nach Weimar, ihm folgten Jean Paul und Schiller. In Weimar lebten ferner Bertuch, Bode, Böttiger, Hufeland, Musäus und viele andere junge bürgerliche Intellektuelle, die der Weimarer Geistigkeit eine bürgerliche Note gaben. Ähnliche kulturelle Tendenzen, wenn auch in kleinerem Umfang, gab es an den Höfen in Gotha, Dessau, Meiningen, Darmstadt, Karlsruhe und Bückeburg,
Das Bürgertum lebte in sehr ärmlichen Verhältnissen, wie aus den zahlreich erhaltenen Lebensbeschreibungen vor allem von Künstlern dieser Zeit hervorgeht, von den Bauern ganz zu schweigen, abgesehen von den wenigen, die von der Leibeigenschaft und ihren Auswirkungen frei geblieben waren. In Preußen waren zwei Drittel der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig und lebten auf dem Lande, die übrigen wohnten in den 1016 Städten, davon die meisten in Berlin, das um 1800 153 128 Einwohner aufwies. Diese Stadt machte auf die Zeitgenossen keinen repräsentativen Eindruck. Ein Kriegsrat von Cölln hinterließ folgende Schilderung von der preußischen Hauptstadt: »Man findet in Wien keine stinkenden und unreinen Rinnsteine, wie in Berlin ... Es ist schändlich, wie wenig in diesem Punkt in Berlin von der Polizei geschieht. In die Rinnsteine leert man die Nachtstühle und allen Unrat der Küche aus und wirft krepierte Haustiere hinein, die einen unleidlichen Gestank verbreiten ... In Berlin kannst du unaufhörlich deine Nase im Schnupftuch tragen, denn gegen Morgen duften noch die Ausbeuten der erst in die Rinnsteine entleerten Nachtstühle dir entgegen, oder ladet erst ein Dorfbewohner den gesammelten Mist seines Hauses auf, so ist die Luft der ganzen Straße verpestet. Wenig sieht man darauf, tote Hunde und Katzen zu entfernen, und ich habe oft einen halben Tag tote Pferde in einer sehr lebhaften Straße liegen sehen. Es gibt auch einige Orter, die man zum öffentlichen Abtritt gemacht hat, und wehe dem Fußgänger, der im Finsteren sich hierher verirrt. Hat es geregnet, so werden die Kothaufen in den Straßen zusammengeworfen, und da diese oft Tag und Nacht auf den Abholer warten müssen, so kann man es im Finstern sehr leicht versehen, hineinzugeraten und bis an die Knie verunreinigt zu werden.«
Im Jahre 1772 wurden in Berlin auch Klagen über die 34 Pferdedroschken der Stadt laut, deren Kutscher durch ihr »ruchloses und unsittliches Benehmen«, vor allem aber wegen ihrer ständigen Trunksucht immer wieder Anlass zur Beschwerde gaben.
Das Zeitalter der Empfindsamkeit wurde in hohem Maße aus den Quellen des Pietismus gespeist, der im Protest gegen die rationalistische Gefühlskalte der kirchlichen Orthodoxie entstanden war und die innere Erweckung, das Gefühl, die Empfindung, nicht die äußere Zucht, Organisation und Institution in den Mittelpunkt des Lebens stellte. Im Gegensatz zum lutherischen Landeskirchentum beruhte die Gemeindeverfassung auf einer weithin demokratischen Grundlage, und das Laienelement bildete den wichtigsten Faktor, nicht die auf die alte Amtsautorität gegründete geistliche Obrigkeit. Die Träger der pietistischen Bewegung kamen vor allem aus dem mittleren und unteren Bürgertum.
Der Pietismus erlebte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen Höhepunkt und zugleich eine Endphase seiner Entwicklung. Diese protestantische Laienbewegung, die sich vom 17. ins 18. Jahrhundert hinüberzog, wurde von bedeutenden religiösen Persönlichkeiten geprägt: Philipp Jakob Spener (1635- 1705), August Hermann Francke (1663-1727), Graf Zinzendorf, dem Begründer der Herrnhuter Bewegung (1700-1760), und Gerhard Tersteegen, dem niederrheinischen Mystiker und Dichter (1697- 1769). Der Pietismus forderte ein persönliches, das gesamte Gemüt und Gefühl umfassendes Christentum, eine echte, von einer starken Erlösungssehnsucht erfüllte Frömmigkeit ohne Einschränkung durch dogmatische Starre. Folgerichtig negierte er viele kultische Gewohnheiten, die ihren Ursprung in der Gemeinschaft, in der Gemeinde hatten. Eine wichtige Rolle spielte die Persönlichkeit des Predigers, seine Fähigkeit, den einzelnen immer wieder neu zu erwecken und zu bekehren. Diese Entwicklung führte allmählich zu einer Umwertung der alten gemeinschaftsbetonten reformatorischen Frömmigkeit. Das Wort »Wir« verschwand nach und nach aus den geistlichen Liedern, die nun nicht mehr als gemeinsames öffentliches Bekenntnis, sondern als subjektive, empfindsame Erbauung verstanden wurden und in denen immer vom »Ich« die Rede ist. Diese Umwertung führte auch zu Übertreibungen: Die persönliche Gotteserfahrung und die damit verbundenen Gefühlswerte steigerten sich zur Gefühlsüberreizung, zu theatralischer Ekstase, nicht selten auch zur Selbstgerechtigkeit. Die neue, undogmatische Frömmigkeit schloss die Entstehung eines erneuerten Dogmatismus nicht aus, dem jedoch keine neue Theologie zugrunde lag. Die Erlösungssehnsucht ließ viele Menschen alle Erdenlust und Erdenfreude als Teufelswerk verachten. Nicht selten entwickelte sich ein absurdes Nebeneinander von strenger Askese und unersättlicher Lebensgier, von Selbstüberschätzung und devoter Untertänigkeit. Der Mut zu gewagten Entschlüssen vertrieb nicht die Scheu vor Verantwortung.
Dennoch soll man den Pietismus nicht nur von diesen negativen Extremen her beurteilen, denn es sind ihm auch viele positive Züge und fruchtbare Impulse eigen. Er befreite die Menschen aus der Gefühlsstarre, er befähigte sie zu künstlerischen Höchstleistungen wie auch zum lebendigen Erlebnis der Kunstwerke. Schillers und Kants Eltern waren Pietisten, desgleichen die Mutter Goethes und die Mutter des Freiherrn vom Stein, wie überhaupt die Frauen einen großen Anteil an dieser Bewegung hatten und nicht zuletzt von hier entscheidende Eindrücke und Anregungen zu ihrer Emanzipation empfingen. Auch zur Kultur der Empfindsamkeit leisteten gerade die Frauen einen bedeutenden Beitrag. Der Pietismus prägte auch die weltliche Lyrik der empfindsamen Dichter. Seinen direkten Einfluss auf die Literatur findet man vor allem im Werk von Samuel Gotthold Lange (1711-1781) und Immanuel Jakob Pyra (1715-1744), die in Halle eine »Gesellschaft zur Förderung der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit« gründeten. In ihrem von der Empfindsamkeit gekennzeichneten Werk wichen sie gesellschaftlichen Fragen aus und beschäftigten sich vorwiegend mit religiösen Themen, mit den Musen, mit dem Phänomen der Freundschaft und der Tugend.
Der Pietismus förderte auch die neue, tief verinnerlichte Art des Todeserlebnisses, die ihren Ausdruck in den noch zu behandelnden Grabmalen und Grabinschriften fand.
Der Anstoß zur pietistischen Bewegung kam aus der reformierten Kirche Hollands. Sie breitete sich rasch rheinaufwärts aus, nahm auch französische Elemente in sich auf und erfasste breite Volksschichten. Der lutherische Zweig des Pietismus hingegen wirkte stärker in den Kreisen des höheren Bürgertums und des Adels. Dort fand er eine scharfe Konkurrenz in den zahlreich entstandenen Geheimgesellschaften, die vor allem von rationalistischen Ideen bestimmt wurden. Auch den Geheimgesellschaften liegt eine Flucht vor der gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihren objektiven Aufgaben zugrunde. Man zog sich in geheime, private Zirkel zurück und erschöpfte sich in subjektiver Geheimniskrämerei.
Die bedeutendste dieser Geheimgesellschaften waren die Freimaurer, in deren Anliegen und Bestrebungen sich bei aller Betonung der Vernunft auch empfindsames Gedankengut ausbreitete, verbunden mit dem Rückgreifen auf ältere Traditionen: auf die ägyptischen Mysterienkulte, die Bundesriten der Pythagoreer und die kultischen Gebräuche der Essener; auch die Anschauungen der Kabbala und der Druiden spielten eine Rolle. Für die Betrachtung des Zeitalters der Empfindsamkeit sind weniger die Ideen der Freimaurer als vielmehr ihre wenigen künstlerischen Zeugnisse wichtig.
Eine den Freimaurern verwandte Geheimgesellschaft waren die Illuminaten, die »Erleuchteten«, die 1777 von dem Ingolstädter Professor Adam Weishaupt gegründet worden waren und »freisinnige« Ideen pflegten: die Veredelung des Menschen auf dem Wege reiner Sittlichkeit, ohne Rücksicht auf das kirchliche Bekenntnis. Zu den Mitgliedern zählten Fürsten, Minister, Professoren, Hofmeister, Bibliothekare und Offiziere. Auch Goethe, der in seiner Jugend für Ritterromantik und mystisch-rosenkreuzerische Bestrebungen geschwärmt hatte, wurde 1780 in die Weimarer Illuminatenloge »Amalia« aufgenommen, erlangte bald höhere Grade, wandte sich aber später unter dem Einfluss Lessings von dieser Geheimgesellschaft ab. Als der Illuminatenorden im Jahre 1785 wegen zu großen Machtstrebens aufgelöst wurde, hatte er gegen 2 000 Mitglieder.
Die katholische Kirche stand den Geheimgesellschaften ablehnend, ja feindlich gegenüber, weil sie sich der Kontrolle und Aufsicht durch die Kirche entzogen. In ihrem Einflussbereich, der noch allzu stark vom Feudalismus bestimmt wurde, fand auch die Welle der Empfindsamkeit kaum Verbreitung, wenn sich auch hier und da kleine pietistisch-empfindsame Gruppen bildeten, so zum Beispiel im Münsteraner Kreis der Fürstin Amalie von Gallitzin (Bild 66 S.145). Diese ungewöhnlich geistvolle Frau, Tochter des preußischen Generalfeldmarschalls Graf von Schmettau, seit 1768 mit dem russischen Fürsten von Gallitzin verheiratet, stand in persönlicher Verbindung mit Voltaire und Diderot, studierte Platonsche Philosophie, Naturwissenschaften und sogar Anatomie. Im Jahre 1779 kam sie nach Münster, um für die Erziehung ihres Sohnes den Rat des bischöflichen Ministers von Fürstenberg einzuholen. Unter seinem Einfluss konvertierte sie zum Katholizismus. Sie versammelte um sich einen Kreis von Gelehrten und Künstlern und pflegte eine mystisch-pietistische Geistigkeit, die auch von platonischem Gedankengut erfüllt war. Sie selbst nannte sich Diotima. Auch Goethe und Jacobi berührten diesen Kreis, der zeitweilig den Charakter einer Akademie annahm, desgleichen der holländische Philosoph Hemsterhuis und Johann Georg Hamann, der »Magus des Nordens«, der sogar sein Grab im Garten der empfindsamen Fürstin in Münster fand.