Alfred Bekker, Bernd Teuber, Horst Bieber, Horst Friedrichs, Thomas West

Krimi Winter 2019

Auswahlband Krimi Winter 2019

Alfred Bekker, Bernd Teuber, Horst Bieber, Horst Friedrichs, Thomas West

Dieses Buch enthält folgende Krimis:



Bernd Teuber: Totentanz für einen Killer

Alfred Bekker: Die Tour des Mörders

Horst Bieber/Bernd Teuber: Beinahe zu spät

Horst Bieber: Das Paradies kennt kein Pardon

Horst Bieber: Anfang und Ende einer Beziehung

Alfred Bekker: Die Sache mit Valentina

Horst Friedrichs: Eine Spur von Blut zieht sich durch die Stadt

Alfred Bekker: Langes Leben, schneller Tod

Thomas West: Wenn du erbst, bist du tot




Ein Serienkiller verbreitet Angst und Schrecken. Sein besonderes Kennzeichen: Er scheint regelmäßig dieselbe Tour zurückzulegen. Ermittler Jesse Trevellian und sein Team heften sich an die Fersen des Unbekannten...

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© Roman by Author/ Titelbild: Nach Motiven von Pixabay, 2018

© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

www.AlfredBekker.de

postmaster@alfredbekker.de

Bernd Teuber: Totentanz für einen Killer

RANOK 3 –

von



IMPRESSUM

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
© Roman by Author/ Titelbild: Nach Motiven von Pixabay, 2018
© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
www.AlfredBekker.de
postmaster@alfredbekker.de



Auftragskiller Ranok wird wegen mehrfachen Mordes zu drei Mal Lebenslänglich verurteilt. Doch er hat nicht vor, lange hinter Gittern zu bleiben und sich von der Brutalität der Wärter zermürben zu lassen. Systematisch plant er seinen Ausbruch.
Bernd Teuber legt hier nun den dritten Band der Saga um RANOK vor. Weitere Romane sind in Vorbereitung.


Ein greller Blitz zuckte über den Himmel. Gleich darauf grollte der Donner. Sintflutartig stürzten die Wassermassen herab. Außerhalb der Gefängnismauern der Fishkill Justizvollzugsanstalt wütete ein Sturm. Und drinnen stürmte Geflüster von Zelle zu Zelle. Die Insassen fürchteten eine andere Art von Sturm, der gerade aufzog.
Auslöser war der Gefangene mit der Nummer 26378. Steve Talbot lächelte, während er vor dem Wärter herging. Im Zellentrakt herrschte plötzlich eine ungewohnte Stille. Jedes einzelne Geräusch war weithin und überdeutlich hörbar. Die Schritte des Wärters und Talbots eigene dröhnten durch die Gänge. Sie passierten die Schleuse, die das Hauptgebäude von dem Zellentrakt trennte. Ein Mann saß in der Glaskabine.
Vor ihm befand sich ein Pult mit zahlreichen Schaltern und Knöpfen. Das Innere der Kabine lag im Dunkeln. Der Wärter war nur schemenhaft im Widerschein der Kontrolllampen zu erkennen. Plötzlich flammte ein Scheinwerfer auf. Geblendet schloss Talbot die Augen. Dann verlöschte das Licht wieder. Es war ein automatischer Scheinwerfer gewesen – eine der neuen Sicherungseinrichtungen, die jeden Versuch eines Gefangenen, sich unbemerkt der Kabine zu nähern, zum Scheitern verurteilte.
Das letzte Gittertor zwischen dem Hauptgebäude und dem Zellentrakt lag vor ihnen. Der Wärter gab dem Mann in der Kabine ein Zeichen, worauf dieser einen Knopf an seinem Pult drückte. Das Gitter glitt zur Seite. Talbot ging hindurch. Sein Begleiter folgte ihm. Nachdem sie das Tor passiert hatten, schloss es sich wieder.
Wie regungslose Statuen standen die Gefangenen im Halbdunkel ihrer Zellen und beobachteten jede Bewegung des Neuzugangs. Im Aufnahmezentrum hatte man Talbot seine wenigen Habseligkeiten abgenommen. Danach wurde er gründlich untersucht und ausgequetscht, allerdings ohne den hohntriefenden Sadismus, mit dem sich die Polizisten bei seiner Verhaftung ausgezeichnet hatten. Anschließend musste er die Gegenstände in Empfang nehmen, die ihn für den Rest seines Lebens von Zelle zu Zelle begleiten würden.
Talbot wurde im Block C untergebracht. Seine Zelle war die fünfte in einer Reihe von dreißig Zellen, deren Stahlgittertüren automatisch geöffnet und geschlossen werden konnten. Talbot musste sich die Zelle mit einem weiteren Häftling teilen. Er war ein großer, dünner Kerl, der aus dem Fenster starrte und die Gitterstäbe umklammerte. Als Talbot eintrat, wandte er den Kopf, musterte den Mann desinteressiert und widmete sich dann wieder den Blitzen, die über den Himmel zuckten.
„Was ist mit meinem Abendessen?“ wollte Talbot wissen.
„Essenszeit ist vorbei“, erklärte der Wärter barsch.
Dann verschwand er. Talbot verteilte seinen Besitz auf die dafür vorgesehenen Regale und Ablagen. An der linken Wand stand ein Etagenbett. Talbot warf das Laken über die dünne Matratze im unteren und hob deren Ecken etwas an, um die Enden darunterzustopfen. Nach dem er fertig war, ließ er sich auf das Bett fallen. Gelangweilt betrachtete er sein neues Domizil. Die Zelle war nicht gerade luxuriös eingerichtet. Die Toilette hatte nicht mal einen Deckel. Der saure Gestank von Desinfektionsmitteln verdarb Talbot den Appetit. Doch er wollte sowieso nicht allzu lange hier bleiben.
Die „Fishkill Justizvollzugsanstalt“ in Dutchess County im US-Bundesstaat New York war ein Gefängnis der mittleren Sicherheitsstufe und auf die Unterbringung von 1800 Häftlingen ausgerichtet. Bei den Insassen handelte es sich hauptsächlich um Gewaltverbrecher. Nur ein geringer Teil war wegen Straftaten in Zusammenhang mit Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt worden.
Die Verfassung garantierte jedem Amerikaner ein schnelles Verfahren sowie das Recht, von einem Geschworenengericht gehört zu werden. Soweit die Theorie. Die Praxis sah anders aus. Die New Yorker Gerichte hatten gar nicht die Kapazitäten, um pro Jahr so viele Tausend Fälle zu verhandeln. Deshalb wurde sich meistens außergerichtlich auf einen Vergleich geeinigt.
Man bedrängte die Untersuchungshäftlinge so lange, bis sie sich schuldig bekannten. Viele Häftlinge fanden sich damit ab, ihre Zeit abzusitzen, wenn sich die Gefängnistore hinter ihnen geschlossen hatten. Doch Talbot sann vom ersten Augenblick an auf Flucht. Er hasste es, eingesperrt zu sein, und war bereit, für die Freiheit alles zu tun.
Hinzu kam, dass er nichts mehr zu verlieren hatte. Sein Urteilsspruch lautete drei Mal lebenslänglich wegen zwölffachen Mordes. Talbot hatte jahrelang als Profikiller gearbeitet. Ein Menschenleben bedeutete ihm gar nichts. Eiskalt tötete er – ohne die geringsten Gewissensbisse. Er bereute nichts von alledem – außer einem, dass man ihn erwischt hatte. Deshalb musste er einen Weg finden, um aus Fiskill herauszukommen. Sobald das Gefängnis hinter ihm lag, wollte er sich an dem Mann rächen, der ihn verraten hatte.
Er wusste allerdings, dass eine Flucht nicht so einfach sein würde, andererseits dürfte es auch keine großen Probleme geben. Im Grunde genommen verdankte er es nur einem glücklichen Umstand, dass man ihn hier eingesperrt hatte und nicht in einem Hochsicherheitsgefängnis. Ursprünglich sollte er seine Haftstrafe im Clinton Correctional Facility nahe der kanadischen Grenze verbüßen. Wegen der hohen, langen Gefängnismauer an einer der Hauptstraßen des Ortes und seiner Lage im nördlichen Teil der USA trug es den Beinamen „Little Sibiria“.
Erst im letzten Moment wurde die Entscheidung über seine Unterbringung geändert, weil es in Clinton keinen freien Platz mehr gab. Das Gefängnis war hoffnungslos überfüllt. Nur deswegen hatte man ihn nach Fishkill verlegt. Hier waren die Sicherheitsvorkehrungen nicht so hoch. Früher oder später würde er eine Schwachstelle finden, die ihm eine Flucht ermöglichte.
„Steh auf“, sagte der dünne Mann am Fenster.
Talbot antwortete nicht. Er drehte sein Gesicht zur Wand und versuchte, zu schlafen. Doch seinem Zellengenossen schien das nicht zu passen.
„Ich sagte, du sollst aufstehen.“
Seine Stimme klang müde und hatte einen leichten Akzent. Talbot blickte ihn kurz an, zuckte mit den Schultern und legte sich wieder hin. Der Mann am Fenster starrte weiterhin durch die Gitterstäbe. Die Lampe unter der Decke leuchtete auf. Erst jetzt wandte sich der Dünne gemächlich um und kam auf Talbot zu. Seine fettigen Haarsträhnen glänzten im schwachen Lampenlicht.
„He, du da unten“, sagte er. „Spiel bloß nicht den Eingebildeten, du Arschloch. Hier kann man ganz schnell unter die Räder kommen. Aber für zehn Scheine die Woche und deinen ganzen Nachtisch halte ich dich aus dem Schussfeld raus.“
Talbot reagierte nicht.
„Mein Name ist Chris Harper. Ich habe in diesem Schuppen was zu sagen“, fuhr sein Mitgefangener fort. „Also sei klug. Verhalte dich ruhig und ich beschütze dich, kapiert?“
Doch Talbot reagierte immer noch nicht.
„He, bist du tot?“ fragte Harper, während er nach Talbots linkem Handgelenk griff. „Ich schlage dir die Zähne aus der Schnauze, wenn du nicht antwortest.“
Er packte Talbots Daumen und bog ihn nach hinten. Fragend sah er ihn an. Als Talbot sich nicht rührte, bog er den Daumen noch ein Stück zurück. Die beiden Männer sahen sich in die Augen. Nach ein paar Sekunden ließ er Talbots Daumen los.
„Na, antwortest du immer noch nicht?“ wollte er wissen.
„Doch.“
Talbot sprang vom Bett, packte den Mann am Handgelenk, rammte ihm das Knie in den Magen und schlug seinen Kopf gegen die Zellenwand. Harper stieß einen lauten Schrei aus. Doch er gab nicht auf, sondern trat um sich. Talbot packte ihn an den Ohren und schmetterte seinen Kopf abermals gegen die Wand. Harper versuchte, sich mit wilden Zuckungen aus dem Griff zu befreien. Seine Augen flackerten. Speichel rann aus seinem Mund.
Talbot verpasste ihm einen gezielten Schlag an die Schläfe. Harper rutschte an der Wand nach unten. Während er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden herumwälzte, ging Talbot zum Fenster und beobachtete die Blitze, die über den Himmel zuckten.
Im Gang hallten Schritte. Talbot wandte sich kurz um und beugte sich zu dem Mann hinunter.
„Wenn du den Wärtern auch nur ein Wort erzählst, schlag ich dich tot. Kapiert?“
„Ja … ja ...“, stammelte er.
„Gut.“
Die Schritte kamen näher. Talbot setzte sich aufs Bett und machte ein unbeteiligtes Gesicht. Sekunden später wurde die Zellentür geöffnet.
„Häftling 26378! Los, rüber an die Wand!“ rief der Wärter. „Mit dem Gesicht zum Fenster!“
Talbot tat ihm den Gefallen. Der Wärter betrat in die Zelle. Sein Kollege stand in der Tür, einen Schlagstock unter den Arm geklemmt. Talbot hörte, wie man Harper herumdrehte. Der Wärter stellte ihm einige Fragen, doch anstatt zu antworten, stöhnte er nur.
„Los, umdrehen!“ befahl der Wärter.
Talbot folgte der Anweisung und sah, wie sich Harper auf dem Boden wand.
„Was ist passiert?“ wollte der Uniformierte wissen.
„Er ist hingefallen“, antwortete Talbot.
„Ich verstehe das nicht“, sagte der Wärter. Er schien mehr verwirrt, als verärgert zu sein. „Jetzt ist der Kerl schon seit zwei Wochen hier. Und er hat nie mehr Schwierigkeiten gemacht, als ein dreijähriges Waisenkind. Und zehn Minuten, nachdem Sie hier hereinspaziert sind, ist er ein Krüppel.“
Als Talbot nichts sagte, marschierte der Wärter aus der Zelle und schloss die Tür hinter sich. Sein Kollege mit dem Schlagstock blieb stehen und beobachtete Talbot mit wachsamen Augen. Nach einigen Minuten erschienen zwei Männer mit einer Bahre und brachten den stöhnenden Harper hinaus. Talbot warf sich auf das untere Bett und drehte sich auf die Seite. Durch das vergitterte Fenster drang ein undefinierbares Summen. Er versuchte, einzuschlafen, doch es gelang ihm nicht.
Die Ereignisse der vergangenen Monate drangen immer wieder in sein Bewusstsein. Und wenn es ihm doch gelang, wenigstens in eine Art Halbschlaf zu versinken, tauchten kurz darauf Polizisten vor ihm auf, um ihn mit ihren Gewehren in Stücke zu schießen.
Das Licht wurde gelöscht. In der Zelle war es nahezu dunkel. Talbot wälzte sich auf den Rücken und starrte die Gitterstäbe an, die sich schwarz gegen den sonderbar grauen Himmel abhob. Der Smog, dachte er müde. Ein Scheinwerfer nahm seine Arbeit auf und beschrieb einen langsamen Kreis. Er begann im Norden, schwenkte nach Osten und kam zum Fenster herüber.
Talbot kniff die Augen zusammen, um nicht geblendet zu werden, wenn der Lichtkegel die vergitterte Öffnung erfasste. Er wollte die Augen zusammenkneifen; aber dann ließ er es sein. Er drehte sich auf die linke Seite und betrachtete die Wand. Im Licht des Scheinwerfers konnte er einige obszöne Schmierereien erkennen. Irgendjemand hatte in zittrigen Buchstaben Fuck you daran geschrieben.



In der Nacht erwachte Talbot plötzlich.
Er hatte einen Alptraum gehabt, in dem eine Tür aufging und zuschlug. Immer und immer wieder, mit entnervender Unregelmäßigkeit. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Es war dunkel, und aus den anderen Zellen konnte er die verschiedensten Geräusche hören. Einer schnarchte. Einer schrie im Schlaf. Einer hustete.
Plötzlich vernahm er etwas, das nicht dazugehörte. Ein Geräusch, das nur entstehen konnte, wenn man wach und bei vollem Bewusstsein war. Jemand klopfte, rhythmisch, in bestimmten Abständen. Jemand sandte einen Code, verständigte sich mit jemand anderem. Einen Moment lang verwarf Talbot die Idee eines Codes wieder. Vielleicht waren die Klopfgeräusche gar nicht als Zeichen gedacht, sondern unvermeidlicher Lärm beim Durchbohren einer Mauer.
Vielleicht wurde einige Zellen weiter ein Ausbruchsversuch unternommen. Aber das wäre Irrsinn gewesen. Niemand konnte aus einem modernen Gefängnis ausbrechen, indem er einen Tunnel grub und so in die Freiheit gelangte. Auf einmal ertönten irgendwo Schritte. Die Nachtwärter machten zu zweit ihre Runde. Sofort hörte das Klopfen auf. Die Wärter schritten die Zellen ab, verließen den Gang am anderen Ende und schlossen die Tür hinter sich.
Wenig später setzten die Klopfgeräusche wieder ein. Es musste doch ein Code sein. Ein paar Mal tauchte ein Schlagmuster auf, das Talbot mit etwas Fantasie als F-L-U-C-H-T-P-L-A-N entzifferte, aber alles andere war unverständlich. Talbot schlief wieder ein.



Nach dem Wecken, als die Wärter wie jeden Morgen die Lebendkontrolle durchführten, blieb einer von ihnen vor Talbots Zelle stehen. Er war sehr groß und schlank. Sein Gesicht hatte eine rote Färbung, als ob er an zu hohem Blutdruck leiden würde. Seine Augen blickten wässrig. Vielleicht hatte er am frühen Morgen schon ein paar Bier getrunken.
„Häftling 26378?“ fragte er scharf.
„Ja“, antwortete Talbot.
„Zufrieden mit deiner neuen Behausung?“
„Ja.“
„Gut geschlafen?“
Sein siebter Sinn, der Talbot bei solchen Gelegenheiten nie zu trügen schien, signalisierte ihm plötzlich Gefahr. Er sah den Wärter an und bemerkte, dass das Gesicht des Mannes nicht den Ausdruck freundlichen Interesses zeigte, sondern kalt wirkte. Der Schlagstock wippte in der Hand auf und nieder.
„Danke, ja“, sagte Talbot.
Er hütete sich davor, sein Gegenüber zu reizen. Der Wärter sah ohnehin aus, als hätte er größte Lust, Talbot eine Abreibung zu verpassen.
„Nicht gestört worden?“
Kein Zucken verriet Talbots Überraschung. Seine Miene blieb gleichgültig wie zuvor.
„Ich habe einen guten Schlaf“, erklärte er, fügte aber dann noch hinzu: „Wenn Vollmond ist, wachsen mir Krallen und Haare. Das ist ein wenig schmerzhaft. Aber gestern war ja keiner ...“
Mit zwei Schritten war der Wärter bei ihm, stieß ihn gegen die Zellenwand und presste ihm den Schlagstock gegen die Kehle.
„Deine blöden Witze werden dir noch vergehen. Darauf kannst du dich verlassen. Ich persönlich werde sie dir austreiben.“
„Dazu gehören immer zwei“, erwiderte Talbot.
Er wusste, dass es ein Fehler war, den Wärter zu reizen, aber er wollte sich auch nichts gefallen lassen. Von niemandem. Der Wärter schwieg einige Sekunden, dann versetzte er Talbot einen brutalen Schlag mit dem Knüppel in die Seite. Der Killer stürzte auf das Bett, verlor das Gleichgewicht und rutschte auf den Boden.
Der Wärter stand breitbeinig über ihm. Sein Gesicht war jetzt dunkelrot. Er schwitzte. Die Augen waren schmal geworden und hatten sich fast völlig in die Höhlen zurückgezogen. Wütend ließ er den Schlagstock in seiner Hand auf und ab wippen.
„Das dürfen Sie nicht!“ rief Talbot. Im selben Moment war ihm klar geworden, dass der Wärter krank sein musste. Der langjährige Dienst in Haftanstalten wie Fishkill hatte ihn fertiggemacht.
„Ich darf mehr, als du dir in deinen verrückten Träumen vorstellen kannst“, brüllte er.
Ein zischendes Geräusch ertönte, als er den Schlagstock durch die Luft sausen ließ. Mit einer unglaublichen Geschwindigkeit schoss der lange Knüppel auf Talbots Kopf zu, schien direkt aus den funkelnden Augen des Wärters zu kommen. Erst im letzten Moment konnte Talbot sich zur Seite werfen. Er hörte, wie der Schlagstock gegen das eiserne Bettgestell krachte. Wäre er nicht ausgewichen, hätte er wahrscheinlich einen Schädelbasisbruch erlitten.
Es gab ein metallisches Nachhallen, das verstärkt wurde, weil das Bett direkt an der Wand stand. Das Geräusch war sehr laut und sorgte dafür, dass der Wärter wieder zu sich fand. Jedenfalls schlug er nicht noch einmal nach Talbot. Schwer atmend schob er den Knüppel wieder in den Gürtel.
„Warum gebe ich mich eigentlich mit dir ab? Einmal kommt der Tag, da bist du sowieso dran. Polizistenmörder stehen auf meiner Liste ganz oben. Ich behalte dich im Auge. Denk dran, bevor du eine krumme Tour versuchst.“
Er stolperte aus der Zelle. Am Eingang wandte er sich kurz um.
„Noch was“, sagte er grinsend. „Hier in Fishkill herrscht Disziplin und Ordnung. Verstanden? Schlampereien werden nicht geduldet.“
Er deutete mit dem ausgestreckten Arm auf die zerwühlte Decke.
„Sehe ich noch einmal so ein unordentlich gemachtes Bett, wanderst du in Einzelhaft. Kapiert?“
Talbot nickte.
„Das will ich hoffen.“
Er wandte sich ab und ging. Talbot wusste, dass er Glück gehabt hatte. Verdammtes Glück. Aber dieser Wärter konnte ihm gefährlich werden.



Zwei Tage später wurde Chris Harper wieder in die Zelle zurückgebracht. Mit einem düsteren Blick ging er an Talbot vorbei zum Fenster. Der Killer saß erwartungsvoll auf dem unteren Bett, doch sein Mithäftling ignorierte ihn und starrte durch die Gitterstäbe.
„Wenn ich noch einmal was höre, kommt ihr beide in Einzelhaft“, drohte der Wärter, bevor er die Zellentür absperrte.
Niemand antwortete.
„Habt ihr verstanden?“ fragte er mit erhobener Stimme.
„Klar“, sagte Talbot und nickte. Besänftigt sperrte der Wärter die beiden Männer ein und ging wieder.
Ein Verband zierte Harpers Kopf und war ein deutliches Zeichen dafür, dass er eine ziemlich harte Bekanntschaft mit der Zellenwand gemacht hatte. Talbot beobachtete den Mann. Harper verließ das Fenster nur, wenn er pinkeln musste. Das geschah ziemlich häufig. Talbot fragte sich, ob er mit seinem Knie nicht vielleicht empfindlichere Teile als seinen Magen getroffen hatte.
Bevor die Lampe an der Decke aufflammte, lag am späten Nachmittag eine Zeitlang Dämmerlicht über der Zelle. Als es dunkel wurde, sah Talbot zum ersten Mal, dass Harper sich bewegte, ohne aufs Klo zu gehen. Ein Zucken lief durch seinen Körper. Er umklammerte die Gitterstäbe. Und seine rechte Hand zitterte unkontrolliert. Dann wandte er sich vom Fenster ab. Er hatte nur eine Braue, die quer über seine niedrige Stirn lief,
„Na, Arschloch!“ sagte Talbot leutselig. „Hast du noch was anderes auf Lager, als den Trick mit dem Daumen?“
Harper antwortete nicht. Doch er sah ganz so aus, als wolle er sich gleich etwas Besonderes einfallen lassen. Aber diesmal hatte Talbot nicht vor, seine sadistische Show abzuwarten. Er würde ihn rechtzeitig an einer besonders empfindlichen Stelle treffen. Während ihn abwartend ansah, sank Harper plötzlich auf die Knie. Seine Züge entgleisten und er begann, am ganzen Körper konvulsivisch zu zucken.
„Scheißkerl!“ keuchte er. „Du hast mir den Schädel gebrochen ...“
„Selbst schuld. Wer wollte denn hier unbedingt den großen Boss mimen?“
Er presste die Hände an den Kopf, spreizte die Finger, stöhnte und heulte. Talbot beachtete ihn gar nicht.
„Du wirst es noch bereuen, dass du dich mit mir angelegt hast“, sagte Harper.
„Ach ja?“
„Ja. Ich stehe unter den Schutz von Fabio Palvetti. Der wird dir dafür den Arsch aufreißen.“
„Palvetti?“ wiederholte Talbot. „Sollte mir dieser Name irgendetwas sagen?“
„Er ist der Boss hier drin. Er bestimmt die Regeln. Wer ihn zum Feind hat, der lebt nicht mehr lange.“
„Aha.“
„Du solltest mir ein wenig Respekt entgegen bringen.“
„Und wenn nicht?“
„Du scheinst mich nicht zu verstehen“ flüsterte Harper. „In diesem Knast ist es besser, sich auf eine Seite zu schlagen. Einzelgänger haben keine große Überlebenschance.“
Talbot zeigte sich nicht im Mindesten beeindruckt. In jedem Gefängnis gab es jemanden, der sich als absoluter Herrscher aufspielte. Meistens sorgten diese Kerle aber auch dafür, dass es eine gewisse Ordnung gab. Natürlich war es keine gesetzliche Ordnung. Es war die Ordnung, die ihnen in den Kram passte.
Sie machten ihre eigenen Gesetze und diktierten sie. Wer sich an diese Ordnung hielt, hatte nichts zu befürchten. Die anderen wurden systematisch fertiggemacht oder landeten irgendwann auf dem Friedhof. Diese selbsternannten Herrscher verbreiteten Terror, Angst und Schrecken. Entweder war man für sie oder man ging zugrunde.
Talbot blickte zu Harper hinüber. Sein Gesicht war schweißüberströmt. Eine seltsame Unruhe ergriff von ihm Besitz. Er schien irgendwie unter Strom zu stehen. Seine Schultern fingen an zu zittern. Warum? Was rief diese merkwürdige Unruhe in ihm hervor? Irgendetwas schien mit ihm zu passieren.
Ein lautes, gequältes Schluchzen entrang sich seiner Kehle. Er stützte sich wimmernd an die Wand und trommelte mit den Fäusten dagegen. Schließlich ging der Krampf vorüber. Er machte sich am Fußende seines Bettes zu schaffen. Dort gab es eine kleine Öffnung in der Matratze, die mit einem scharfen Gegenstand hineingeschnitten worden war.
Harper holte ein kleines Plastikröhrchen und einen Beutel mit einer weißen Substanz heraus. Talbot vermutete, dass es sich um Kokain handelte. Harper schüttete die Hälfte des Inhalts auf die Handfläche und zog ihn sich durch das Plastikröhrchen in die Nase. Aus glasigen Augen starrte er Talbot an. Das Zittern ließ nach. Er beruhigte sich allmählich. Sein Blick ging ins Nichts.
Na großartig, dachte Talbot. Jetzt haben die mich ernsthaft mit einer Koksnase in eine Zelle gesteckt.



Pünktlich um zwölf Uhr ertönte das Signal zum Mittagessen. Harper und Talbot stellten sich an der Gittertür auf und warteten, bis sie rasselnd zur Seite glitt. Mit den anderen Häftlingen gingen sie in den riesigen Speisesaal, der mit dröhnendem Lärm angefüllt war. Mit seinem Menütablett ließ sich Talbot an einem Tisch in der Mitte nieder. Er wusste, dass er demnächst jede Kraftreserve seines Körpers brauchen würde, aß doppelt so viel wie gewöhnlich, obwohl das Essen von den meisten Gefangenen als „Schweinefraß“ bezeichnet wurde.
„Schmeckt es?“, fragte sein Nachbar, der ihn von der Seite beobachtete. Er war ein schmaler Mann mit blonden Haaren und noch jugendlich weichen Gesichtszügen. Er sprach mit dem breiten Akzent des Südstaatlers. Alabama oder Georgia, vermutete Talbot.
„Es ist genießbar“, antwortete der Killer.
„Man sagt, der Koch würde regelmäßig reinspucken.“
„Aha.“
„Scheint dich nicht zu stören.“
Talbot schüttelte den Kopf.
„Andere auch nicht.“
Der junge Mann studierte die Menschenschlange, die sich an ihnen vorbei schob, fand offenbar nicht, was er suchte und drehte sich zu den langen Tischen auf der rechten Seite um.
„Da“, sagte er. „Siehst du den letzten Mann am anderen Ende des dritten Tisches?“
Talbot hob den Kopf. Der Kerl, den er meinte, war klein und dick, hatte eine Glatze und lächelte leicht. Er starrte zu den Behältern hinüber, in denen das Essen dampfte. Daneben stand eine Kiste, in die jeder Häftling das schmutzige Besteck warf, wenn er zu Ende gegessen hatte.
„Na und?“ fragte Talbot.
„Warte mal ab.“
Er aß weiter und beobachtete den Dicken. Plötzlich sprang er wie von der Tarantel gestochen auf, rannte zu einem der Behälter, tauchte die Arme bis zu den Ellbogen hinein und schlürfte den Kartoffelbrei aus den hohlen Händen.
„Scheiße!“ stöhnte Talbot.
Der Dicke schlürfte weiter, warf gehetzte Blicke auf die Wärter, bis endlich zwei angerannt kamen und ihn von dem Behälter wegzerrten.
Talbot war der Appetit vergangen. Er legte den Löffel beiseite und erhob sich, um das schmutzige Geschirr in die bereitgestellte Kiste zu legen. Genau in diesem Moment stieß er mit einem anderen Häftling zusammen. Der Mann war zwei Köpfe größer. Er hatte einen breiten Oberkörper, ein verstümmeltes Ohr, die Nase eines erfolglosen Boxers und Oberarme, die so dick waren wie ein Elefantenbein. Das Tablett mit dem Mittagessen rutschte ihm aus den Händen und landete auf dem Boden.
„Kannst du nicht besser aufpassen, blöder Wichser?“ schnauzte ihn der Muskelprotz an.
„Warum passt du nicht besser auf, wo du hingehst?“ fragte Talbot ruhig.
Jeder Mann im Speisesaal hatte inzwischen bemerkt, was vorging, und alle hielten unwillkürlich den Atem an.
„Los, heb‘s auf!“ forderte der Muskelprotz.
„Leck mich am Arsch, du fette Sau!“
„Was war das?“ fragte der Kerl verblüfft. „Hast du mich gerade eine fette Sau genannt?“
„Allerdings. Und du bist ein solcher Idiot, dass dein Gehirn bequem in einer Blattlaus Platz hätte. Der einzige Unterschied besteht darin, dass es nicht hüpfen kann.“
Talbot wusste genau, was auf diese Worte folgen musste, und dass es verdammt hart werden würde. Aber nur so konnte er sich gegenüber den anderen Gefangenen ein für alle Mal Respekt verschaffen. Man musste schon verrückt oder lebensmüde sein, wenn man es wagte, solch einen Kerl dermaßen zu beleidigen.
Der Riese brauchte einige Zeit, bist er Talbots Worte verstanden hatte. Seine Augen blickten angestrengt und konzentriert. Dann wurden sie plötzlich leer und ein tierischer Schrei löste sich aus seiner Kehle. Talbot wusste, dass er dem Mann an Körperkraft unterlegen war. Allerdings hatte er auch nicht vor, sich auf einen fairen Kampf einzulassen. Er konnte es sich nicht leisten, von diesem Kerl zusammenschlagen zu werden.
Mit der Wucht eines olympiareifen Hammerwurfs kam die Faust des Mannes auf Talbots Gesicht zugeschossen. Der Killer trat einen Schritt zurück und wich durch eine leichte Drehung nach links aus. Von der Wucht seines Schlages nach vorn gerissen, geriet der Muskelprotz ins Taumeln und rannte in Talbots hochgerissenes Knie.
Aber der Kerl schien einen Unterleib aus Eisen zu haben. Jeden anderen Mann hätte der Stoß auf der Stelle umgehauen, jedoch nicht diesen Gegner. Er packte den Killer und schleuderte ihn durch den Raum. Als Talbot auf den Betonboden krachte, glaubte er, einen Augenblick die Besinnung zu verlieren. Halb im Unterbewusstsein hörte er die anderen Häftlinge johlen. Sie hatten einen Kreis gebildet, der es den Wärtern zunächst unmöglich machte, zum Kampfplatz vorzudringen.
Der Muskelprotz stand breitbeinig über ihm und grinste. Talbot kam mühsam wieder auf die Füße. Seit dem Wortwechsel waren nur wenige Sekunden vergangen, doch bis jetzt hatte noch keiner der Wärter in die Auseinandersetzung eingegriffen. Aus dem Stand hechtete Talbot vor und verkrallte sich mit beiden Händen in der Häftlingsjacke des Gegners. Scharf hörte er den Stoff zerreißen.
Erneut stieß er sein Knie hoch, prallte aber gegen die Kniescheibe des anderen. Ein heftiger Schmerz zuckte durch sein Bein bis hinauf in die Leistengegend. Mit beiden Fäusten bearbeitete er Hals und Brust des Mannes. Dann spürte er, wie der Muskelprotz sein Bein hinter Talbots Kniekehlen hakte und ihn langsam aber sicher nach hinten drückte. Er verlor das Gleichgewicht.
Der Gegner fiel auf ihn und erdrückte ihn fast, während seine Hände nach oben wanderten und sich um seinen Hals schlossen. Talbot schlug zu. Mit beiden Händen traf er die Ohren des Muskelprotzes. Der Mann bäumte sich auf und schrie. Gleichzeitig lockerte er den Griff um Talbots Hals. Der Killer wollte aufstehen, doch plötzlich tauchten drei Paar Stiefel auf, und der Mann wurde von ihm heruntergerissen.
Die Wärter hatten sich einen Weg durch den Kreis der Zuschauer gebahnt und schlugen mit ihren Stöcken auf den Muskelberg ein. Talbots Kopf fiel zurück, als sich die Hände von seinem Hals lösten. Zu den Stiefeln gesellten sich andere, und jetzt wimmelte es von Wärtern, die den Muskelprotz festhielten, ihn hochrissen und immer wieder auf ihn einschlugen. Die anderen Häftlinge standen unbeteiligt dabei.
„Dieser Scheißkerl muss wahnsinnig geworden sein“, keuchte der große Mann. „Ohne Grund ist er plötzlich aufgesprungen und hat auf mich eingeschlagen.“
„Na klar, Coley“, entgegnete einer der Wärter. „Den Blödsinn kannst du deiner Großmutter erzählen.“
Talbot wollte aufstehen, doch er wurde mit einem schmerzhaften Griff in die Knie gezwungen und festgehalten. Ein Wärter packte seine Haare.
„Häftling 26378“, brüllte er schwer atmend. „Wenn du den Ehrgeiz hast, hier für Ärger zu sorgen, sag es lieber gleich, damit wir Bescheid wissen. Dann lassen wir dich die nächsten Jahre auf Knien durch die Zelle kriechen.“
Talbot und Coley wurden von den Wärtern aus dem Speisesaal gezerrt.
„Ihr seit in ernsthaften Schwierigkeiten“, sagte einer der Männer. „Die Sache nimmt jetzt den Dienstweg. Für euch wird es richtig hart. Ihr kommt zum Direktor. Ich kann mir denken, dass er sich liebend gern mit euch unterhalten wird.“
Er wandte sich an seinen Kollegen. „Ist schon jemand zum Boss unterwegs?“
„Ja, Lewis macht Meldung“, antwortete der Angesprochene.
„Okay, dann bin ich mal gespannt, was Anderson dazu sagen wird.“
Talbot stellte fest, dass er eine Kopfwunde hatte und blutete. Er wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte. Wenn es in Gegenwart von Wärtern zu Unruhen kam, konnte sich das für die Karriere der entsprechenden Männer ausgesprochen nachteilig auswirken. Talbot würde dafür büßen müssen. Vier Wärter brachten ihn in den Krankenbereich. Er bekam eine Spritze, seine Wunde wurde mit Jod behandelt und anschließend verbunden. Nach der Behandlung wurde er zum Büro des Direktors gebracht.
Talbot musste mehr als zehn Minuten warten, bis sich die Tür öffnete und er in das geräumige Zimmer eintreten durfte. Greg Anderson thronte hinter einem massiven Schreibtisch aus Eichenholz. Er war mittelgroß und wirkte durchtrainiert. Sein Gesicht besaß ein scharfes Profil mit einer schmalen Nase und einem markanten Kinn.
Sein blondes Haar war kurz geschnitten. Anderson trug einen hellen Anzug, ein weißes Hemd und eine korrekt gebundene, dunkelblaue Krawatte. Seine Kleidung war keine billige Konfektionsware, sondern maßgeschneidert. Das sah man auf den ersten Blick.
Sein Grinsen zeigte deutlich, wie er die Situation genoss. Er lehnte sich nach vorn und griff mit den Händen quer über den Schreibtisch, als wollte er sich an der Vorderkante festhalten. Seine Augen leuchteten voller Triumph und Schadenfreude, und er fuhr sich mit der Zunge ein paar Mal über die Lippen. Er hatte ein puterrotes Gesicht vor lauter Vorfreude auf das, was jetzt kam, und der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Man sah ihm richtig an, wie er in Fahrt kam und Talbot verkrampfte unwillkürlich die Muskeln.
„Wie lange sind Sie jetzt bei uns?“ fragte Anderson.
„Drei Tage, 14 Stunden und 35 Minuten.“
Der Direktor lächelte jovial. „Sehr genau. Äußerst akkurat. Eigenschaften, die ich sehr schätze. Anders erreicht man nichts im Leben. Und wie gefällt es Ihnen bei uns?“
„Als wäre ich hier zu Hause“, antwortete Talbot.
Binnen weniger Sekunden hatte er sich ein genaues Bild von Anderson gemacht. Er war ein karrieresüchtiger, ehrgeiziger Mann, mit dem man gut auskam, wenn man rangmäßig eine Stufe über ihm stand. Den Gefangenen gegenüber spielte er sich gerne als großer Bruder auf.
„Ich bewundere Ihren Humor“, meinte er. „Galgenhumor, würde ich sagen. Warum haben Sie die Schlägerei angefangen?“
„Ich habe mich nur verteidigt.“
Anderson sprang auf, aber er war längst nicht so wütend, wie er es eigentlich hätte sein müssen. Er ging zu dem großen vergitterten Fenster, das ihm einen Ausblick auf den Innenhof gestattete. Mit dem Rücken zu Talbot stieß er einen leisen Seufzer aus.
„Der Bau dieser Vollzugsanstalt hat fast 20 Millionen Dollar gekostet“, sagte er nach einer Weile. „Diese Summe können Sie sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen. Ich kann es auch nicht. Aber diese 20 Millionen wurden vom Staat ausgegeben, um die Öffentlichkeit, die normalen, ehrbaren Bürger vor Männern wie Ihnen zu beschützen. Vor 1800 straffällig gewordenen Kerlen, vor Mördern, politischen Wirrköpfen oder professionellen Killern. Und ich habe vom Staat den Auftrag, dafür zu sorgen, dass diese 20 Millionen nicht umsonst ausgegeben worden sind, etwa dadurch, dass plötzlich einige Gefangene das Weite suchen. Ich nehme an, Sie verstehen mich.“
„Sollte ich?“ erwiderte Talbot.
„Im allgemeinen Interesse bin ich gezwungen, eine strikte Disziplin durchzuführen und keinerlei Ungehorsam zu dulden. Nachlässigkeiten werden als Vergehen betrachtet. Jeder Ausbruchsversuch hat ernsthafte Konsequenzen. Diejenigen, die sich an die Regeln halten, werden von mir nichts zu befürchten haben und ebenso wenig von den Wärtern.“
Er wandte sich um und musterte Talbot eingehend.
„Die Disziplin muss aufrecht erhalten bleiben. Wenn sich gewisse Leute vorgenommen haben, ihren Kopf durchzusetzen, werde ich nicht zögern, von meinem Recht Gebrauch zu machen, diese Männer in Einzelhaft zu stecken.“
Mehrmals erhob er beim Sprechen die Stimme, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen oder um sich in einen überreizten Zustand zu versetzen und sich die Wut zu erhalten, die er offenbar für unentbehrlich hielt. Er wirkte grotesk. Sein Kopf bewegte sich hin und her wie bei einem Hampelmann.
Obwohl dieser Redeschwall schmerzhaft an seinen Nerven zerrte, hörte Talbot ungerührt zu. Gleichzeitig suchte er nach Motiven für diese rechthaberische Vermessenheit. Schließlich kam er zu der Überzeugung, dass Andersons Ansprache viele grundsätzliche Bestandteile einer universellen Geisteshaltung entlehnte.
Sie beinhaltete den mystischen Autoritätsglauben und die Angst, nicht ernst genommen zu werden. Daher rührte auch der bizarre Komplex, der ihn veranlasste, einen argwöhnischen und unruhigen Blick auf Talbots Gesicht zu werfen, so als fürchte er, dort ein Lächeln zu sehen. Er wusste natürlich, dass er es hier mit einem Mann zu tun hatte, dem ein Menschenleben nichts bedeutete. Er würde ihn bei der ersten Gelegenheit umbringen. Vielleicht war das der Grund für sein Verhalten.
Talbot hatte, als er ihn von Disziplin sprechen hörte, eine seltsame Verwirrung empfunden; als er ihn aber wie einen Hampelmann herumzappeln sah, war er beruhigt zu der Schlussfolgerung gekommen, dass dieser Mann mehr Angst hatte, als er sich anmerken ließ.
Wann würde Anderson die Maske fallen lassen und auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen kommen?
„Durch Ihr Verhalten haben Sie mir die Möglichkeit gegeben, Ihnen sämtliche Vergünstigungen zu streichen und Sie zusätzlich noch in Einzelhaft zu stecken“, fuhr Anderson fort. Sein Ton wurde ruhiger, fast feierlich, und einen Augenblick lang hoffte Talbot, vernünftige Worte zu hören.
„Ich habe aber auch die Möglichkeit, die ganze Sache zu vergessen. Mir persönlich wäre diese Lösung lieber. Dafür brauche ich aber ein paar Informationen, verstehen Sie?“
Talbot antwortete nicht.
Mit einer lässigen Handbewegung entfernte Anderson ein unsichtbares Staubkorn, von seinem Aufschlag, während ein unverbindliches Lächeln seine Lippen umspielte. Er neigte fast anmutig den Kopf zur Seite und musterte Talbot amüsiert.
„Ich weiß, dass ein Ausbruchsversuch geplant ist. Finden Sie heraus, wann er stattfinden soll und ich vergesse Ihre Verstöße gegen die Hausordnung.“
Talbot überlegte einen Moment. Anderson hegte lediglich einen Verdacht, aber er hatte keinen einzigen Beweis. Und Talbot dachte gar nicht daran, ihn zu unterstützen. Warum sollte er das tun? Er hatte dabei nichts zu gewinnen, oder zu verlieren. Für Anderson ging es um weit aus mehr. Er brauchte Erfolge. Wenn es ihm gelang, einen großangelegten Ausbruch zu vereiteln, würde das für seine Karriere äußerst förderlich sein.
Talbot schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Ich weiß nichts von einem geplanten Ausbruch. Wenn Sie einen Spitzel suchen, müssen Sie sich nach jemand anderem umsehen.“
Der Direktor blickte ihn durchdringend an. Offenbar hatte er sich viel von Talbots Mitarbeit versprochen.
„Ist das Ihr letztes Wort?“
„Ja.“
„Schade“, sagte er kopfschüttelnd. „Das ist wirklich sehr schade.“
Talbot bemerkte das leichte Flattern seiner Augenlider und den angestrengten Zug, der sich in seine Mundwinkel grub.
„Ich wollte Ihnen eine Chance geben. Aber offenbar legen Sie darauf keinen Wert.“
„Warum sollte ich?“ fragte Talbot. „Ich habe lebenslänglich.“
„Ich weiß.“ Anderson behielt den Tonfall eines Staubsaugervertreters bei, als er weitersprach. „Aber es liegt an Ihnen und Ihrem Verhalten, ob diese Zeit für Sie angenehm wird oder nicht.“
„Ich verstehe.“
„Tun Sie das wirklich?“
Talbot wurde in Einzelhaft gesperrt. Es war die schärfste Bestrafung für schlechte Führung. Es bedeutete völlige Isolation, absolutes Alleinsein. Man war von allem ausgeschlossen, so, als existiere man überhaupt nicht mehr. Talbot hatte zwei Wochen Zeit zum Nachdenken. Eine Zeit, die ihm doppelt so lange erschien. Nur der Gedanke an eine mögliche Flucht hielt ihn aufrecht.
Er warf sich auf die Matratze und starrte zu dem schwachen Lichtschein an der Decke empor. Nach einer Weile begann er sich zu ärgern, weil er nichts zu lesen hatte. Aber das wäre wohl zu viel verlangt gewesen. Irgendwo draußen ging ein heiseres animalisches Gebrüll los, dann hörte er hastige Schritte, einen hitzigen Wortwechsel. Das Geschrei wurde erstickt, und noch lange hallte klagendes Heulen durch den Gang.



Zwei Wochen wusste Talbot nicht, welches Wetter draußen herrschte. Zwei Wochen lang hörte er kaum ein Geräusch, außer, wenn ihm das knapp bemessene Essen gebracht wurde. In Kopfhöhe befand sich ein Spion. Mehrmals hatte Talbot den Eindruck, als würde er durch das kleine, mit einer Linse verschlossene Loch intensiv gemustert. Aber er wusste es nicht genau. In seiner Zelle gab es weder einen Tisch, noch einen Stuhl, sondern nur eine schmale Matratze, auf der er sich ausstrecken konnte, sobald er vom Stehen ermüdet war.
Während der ganzen Zeit sah er nur die Gesichter der Wärter, die ihm die Mahlzeiten brachten. Er zwang sich, einige Mundvoll zu essen und schüttete dann mit einem einzigen Schluck seine Wasserration herunter. Anschließend legte er sich auf die Matratze, wo er versuchte, über seine Lage mit Geringschätzung hinwegzukommen.
Als die zwei Wochen um waren, brachte ihn ein Wärter zurück in seine Zelle. Er fand alles so, wie er es verlassen hatte. Harper stand am Fenster, ohne ihn zu beachten. Talbot ließ sich auf sein Bett fallen und schwor sich, den Wärtern nie wieder einen Anlass zu bieten, ihn in Einzelhaft zu stecken. Er blieb auf dem Bett liegen, bis er mit den anderen Häftlingen zum Mittagessen gehen musste – vier Stunden lang.
Nach dem Essen tauchte ein Wärter an der Zelle auf.
„He, Häftling 26378. Mitkommen. Da hat jemand Sehnsucht nach dir.“
„Nach mir?“ fragte Talbot, während er sich vom Bett erhob.
„Ja.“
„Ich erwarte keinen Besuch.“
„Das interessiert mich nicht. Also los, beweg dich!“