RANOK 3 –
von
IMPRESSUM
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und
BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
© Roman by Author/ Titelbild: Nach Motiven von Pixabay,
2018
© dieser Ausgabe 2018 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau,
herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
www.AlfredBekker.de
postmaster@alfredbekker.de
Auftragskiller Ranok wird wegen mehrfachen Mordes zu drei Mal
Lebenslänglich verurteilt. Doch er hat nicht vor, lange hinter
Gittern zu bleiben und sich von der Brutalität der Wärter zermürben
zu lassen. Systematisch plant er seinen Ausbruch.
Bernd Teuber legt hier nun den dritten Band der Saga um RANOK
vor. Weitere Romane sind in Vorbereitung.
Ein greller Blitz zuckte über den Himmel. Gleich darauf
grollte der Donner. Sintflutartig stürzten die Wassermassen herab.
Außerhalb der Gefängnismauern der Fishkill Justizvollzugsanstalt
wütete ein Sturm. Und drinnen stürmte Geflüster von Zelle zu Zelle.
Die Insassen fürchteten eine andere Art von Sturm, der gerade
aufzog.
Auslöser war der Gefangene mit der Nummer 26378. Steve Talbot
lächelte, während er vor dem Wärter herging. Im Zellentrakt
herrschte plötzlich eine ungewohnte Stille. Jedes einzelne Geräusch
war weithin und überdeutlich hörbar. Die Schritte des Wärters und
Talbots eigene dröhnten durch die Gänge. Sie passierten die
Schleuse, die das Hauptgebäude von dem Zellentrakt trennte. Ein
Mann saß in der Glaskabine.
Vor ihm befand sich ein Pult mit zahlreichen Schaltern und
Knöpfen. Das Innere der Kabine lag im Dunkeln. Der Wärter war nur
schemenhaft im Widerschein der Kontrolllampen zu erkennen.
Plötzlich flammte ein Scheinwerfer auf. Geblendet schloss Talbot
die Augen. Dann verlöschte das Licht wieder. Es war ein
automatischer Scheinwerfer gewesen – eine der neuen
Sicherungseinrichtungen, die jeden Versuch eines Gefangenen, sich
unbemerkt der Kabine zu nähern, zum Scheitern verurteilte.
Das letzte Gittertor zwischen dem Hauptgebäude und dem
Zellentrakt lag vor ihnen. Der Wärter gab dem Mann in der Kabine
ein Zeichen, worauf dieser einen Knopf an seinem Pult drückte. Das
Gitter glitt zur Seite. Talbot ging hindurch. Sein Begleiter folgte
ihm. Nachdem sie das Tor passiert hatten, schloss es sich
wieder.
Wie regungslose Statuen standen die Gefangenen im Halbdunkel
ihrer Zellen und beobachteten jede Bewegung des Neuzugangs. Im
Aufnahmezentrum hatte man Talbot seine wenigen Habseligkeiten
abgenommen. Danach wurde er gründlich untersucht und ausgequetscht,
allerdings ohne den hohntriefenden Sadismus, mit dem sich die
Polizisten bei seiner Verhaftung ausgezeichnet hatten. Anschließend
musste er die Gegenstände in Empfang nehmen, die ihn für den Rest
seines Lebens von Zelle zu Zelle begleiten würden.
Talbot wurde im Block C untergebracht. Seine Zelle war die
fünfte in einer Reihe von dreißig Zellen, deren Stahlgittertüren
automatisch geöffnet und geschlossen werden konnten. Talbot musste
sich die Zelle mit einem weiteren Häftling teilen. Er war ein
großer, dünner Kerl, der aus dem Fenster starrte und die
Gitterstäbe umklammerte. Als Talbot eintrat, wandte er den Kopf,
musterte den Mann desinteressiert und widmete sich dann wieder den
Blitzen, die über den Himmel zuckten.
„Was ist mit meinem Abendessen?“ wollte Talbot wissen.
„Essenszeit ist vorbei“, erklärte der Wärter barsch.
Dann verschwand er. Talbot verteilte seinen Besitz auf die
dafür vorgesehenen Regale und Ablagen. An der linken Wand stand ein
Etagenbett. Talbot warf das Laken über die dünne Matratze im
unteren und hob deren Ecken etwas an, um die Enden
darunterzustopfen. Nach dem er fertig war, ließ er sich auf das
Bett fallen. Gelangweilt betrachtete er sein neues Domizil. Die
Zelle war nicht gerade luxuriös eingerichtet. Die Toilette hatte
nicht mal einen Deckel. Der saure Gestank von Desinfektionsmitteln
verdarb Talbot den Appetit. Doch er wollte sowieso nicht allzu
lange hier bleiben.
Die „Fishkill Justizvollzugsanstalt“ in Dutchess County im
US-Bundesstaat New York war ein Gefängnis der mittleren
Sicherheitsstufe und auf die Unterbringung von 1800 Häftlingen
ausgerichtet. Bei den Insassen handelte es sich hauptsächlich um
Gewaltverbrecher. Nur ein geringer Teil war wegen Straftaten in
Zusammenhang mit Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz
verurteilt worden.
Die Verfassung garantierte jedem Amerikaner ein schnelles
Verfahren sowie das Recht, von einem Geschworenengericht gehört zu
werden. Soweit die Theorie. Die Praxis sah anders aus. Die New
Yorker Gerichte hatten gar nicht die Kapazitäten, um pro Jahr so
viele Tausend Fälle zu verhandeln. Deshalb wurde sich meistens
außergerichtlich auf einen Vergleich geeinigt.
Man bedrängte die Untersuchungshäftlinge so lange, bis sie
sich schuldig bekannten. Viele Häftlinge fanden sich damit ab, ihre
Zeit abzusitzen, wenn sich die Gefängnistore hinter ihnen
geschlossen hatten. Doch Talbot sann vom ersten Augenblick an auf
Flucht. Er hasste es, eingesperrt zu sein, und war bereit, für die
Freiheit alles zu tun.
Hinzu kam, dass er nichts mehr zu verlieren hatte. Sein
Urteilsspruch lautete drei Mal lebenslänglich wegen zwölffachen
Mordes. Talbot hatte jahrelang als Profikiller gearbeitet. Ein
Menschenleben bedeutete ihm gar nichts. Eiskalt tötete er – ohne
die geringsten Gewissensbisse. Er bereute nichts von alledem –
außer einem, dass man ihn erwischt hatte. Deshalb musste er einen
Weg finden, um aus Fiskill herauszukommen. Sobald das Gefängnis
hinter ihm lag, wollte er sich an dem Mann rächen, der ihn verraten
hatte.
Er wusste allerdings, dass eine Flucht nicht so einfach sein
würde, andererseits dürfte es auch keine großen Probleme geben. Im
Grunde genommen verdankte er es nur einem glücklichen Umstand, dass
man ihn hier eingesperrt hatte und nicht in einem
Hochsicherheitsgefängnis. Ursprünglich sollte er seine Haftstrafe
im Clinton Correctional Facility nahe der kanadischen Grenze
verbüßen. Wegen der hohen, langen Gefängnismauer an einer der
Hauptstraßen des Ortes und seiner Lage im nördlichen Teil der USA
trug es den Beinamen „Little Sibiria“.
Erst im letzten Moment wurde die Entscheidung über seine
Unterbringung geändert, weil es in Clinton keinen freien Platz mehr
gab. Das Gefängnis war hoffnungslos überfüllt. Nur deswegen hatte
man ihn nach Fishkill verlegt. Hier waren die
Sicherheitsvorkehrungen nicht so hoch. Früher oder später würde er
eine Schwachstelle finden, die ihm eine Flucht ermöglichte.
„Steh auf“, sagte der dünne Mann am Fenster.
Talbot antwortete nicht. Er drehte sein Gesicht zur Wand und
versuchte, zu schlafen. Doch seinem Zellengenossen schien das nicht
zu passen.
„Ich sagte, du sollst aufstehen.“
Seine Stimme klang müde und hatte einen leichten Akzent.
Talbot blickte ihn kurz an, zuckte mit den Schultern und legte sich
wieder hin. Der Mann am Fenster starrte weiterhin durch die
Gitterstäbe. Die Lampe unter der Decke leuchtete auf. Erst jetzt
wandte sich der Dünne gemächlich um und kam auf Talbot zu. Seine
fettigen Haarsträhnen glänzten im schwachen Lampenlicht.
„He, du da unten“, sagte er. „Spiel bloß nicht den
Eingebildeten, du Arschloch. Hier kann man ganz schnell unter die
Räder kommen. Aber für zehn Scheine die Woche und deinen ganzen
Nachtisch halte ich dich aus dem Schussfeld raus.“
Talbot reagierte nicht.
„Mein Name ist Chris Harper. Ich habe in diesem Schuppen was
zu sagen“, fuhr sein Mitgefangener fort. „Also sei klug. Verhalte
dich ruhig und ich beschütze dich, kapiert?“
Doch Talbot reagierte immer noch nicht.
„He, bist du tot?“ fragte Harper, während er nach Talbots
linkem Handgelenk griff. „Ich schlage dir die Zähne aus der
Schnauze, wenn du nicht antwortest.“
Er packte Talbots Daumen und bog ihn nach hinten. Fragend sah
er ihn an. Als Talbot sich nicht rührte, bog er den Daumen noch ein
Stück zurück. Die beiden Männer sahen sich in die Augen. Nach ein
paar Sekunden ließ er Talbots Daumen los.
„Na, antwortest du immer noch nicht?“ wollte er wissen.
„Doch.“
Talbot sprang vom Bett, packte den Mann am Handgelenk, rammte
ihm das Knie in den Magen und schlug seinen Kopf gegen die
Zellenwand. Harper stieß einen lauten Schrei aus. Doch er gab nicht
auf, sondern trat um sich. Talbot packte ihn an den Ohren und
schmetterte seinen Kopf abermals gegen die Wand. Harper versuchte,
sich mit wilden Zuckungen aus dem Griff zu befreien. Seine Augen
flackerten. Speichel rann aus seinem Mund.
Talbot verpasste ihm einen gezielten Schlag an die Schläfe.
Harper rutschte an der Wand nach unten. Während er sich mit
schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden herumwälzte, ging Talbot
zum Fenster und beobachtete die Blitze, die über den Himmel
zuckten.
Im Gang hallten Schritte. Talbot wandte sich kurz um und
beugte sich zu dem Mann hinunter.
„Wenn du den Wärtern auch nur ein Wort erzählst, schlag ich
dich tot. Kapiert?“
„Ja … ja ...“, stammelte er.
„Gut.“
Die Schritte kamen näher. Talbot setzte sich aufs Bett und
machte ein unbeteiligtes Gesicht. Sekunden später wurde die
Zellentür geöffnet.
„Häftling 26378! Los, rüber an die Wand!“ rief der Wärter.
„Mit dem Gesicht zum Fenster!“
Talbot tat ihm den Gefallen. Der Wärter betrat in die Zelle.
Sein Kollege stand in der Tür, einen Schlagstock unter den Arm
geklemmt. Talbot hörte, wie man Harper herumdrehte. Der Wärter
stellte ihm einige Fragen, doch anstatt zu antworten, stöhnte er
nur.
„Los, umdrehen!“ befahl der Wärter.
Talbot folgte der Anweisung und sah, wie sich Harper auf dem
Boden wand.
„Was ist passiert?“ wollte der Uniformierte wissen.
„Er ist hingefallen“, antwortete Talbot.
„Ich verstehe das nicht“, sagte der Wärter. Er schien mehr
verwirrt, als verärgert zu sein. „Jetzt ist der Kerl schon seit
zwei Wochen hier. Und er hat nie mehr Schwierigkeiten gemacht, als
ein dreijähriges Waisenkind. Und zehn Minuten, nachdem Sie hier
hereinspaziert sind, ist er ein Krüppel.“
Als Talbot nichts sagte, marschierte der Wärter aus der Zelle
und schloss die Tür hinter sich. Sein Kollege mit dem Schlagstock
blieb stehen und beobachtete Talbot mit wachsamen Augen. Nach
einigen Minuten erschienen zwei Männer mit einer Bahre und brachten
den stöhnenden Harper hinaus. Talbot warf sich auf das untere Bett
und drehte sich auf die Seite. Durch das vergitterte Fenster drang
ein undefinierbares Summen. Er versuchte, einzuschlafen, doch es
gelang ihm nicht.
Die Ereignisse der vergangenen Monate drangen immer wieder in
sein Bewusstsein. Und wenn es ihm doch gelang, wenigstens in eine
Art Halbschlaf zu versinken, tauchten kurz darauf Polizisten vor
ihm auf, um ihn mit ihren Gewehren in Stücke zu schießen.
Das Licht wurde gelöscht. In der Zelle war es nahezu dunkel.
Talbot wälzte sich auf den Rücken und starrte die Gitterstäbe an,
die sich schwarz gegen den sonderbar grauen Himmel abhob. Der Smog,
dachte er müde. Ein Scheinwerfer nahm seine Arbeit auf und
beschrieb einen langsamen Kreis. Er begann im Norden, schwenkte
nach Osten und kam zum Fenster herüber.
Talbot kniff die Augen zusammen, um nicht geblendet zu werden,
wenn der Lichtkegel die vergitterte Öffnung erfasste. Er wollte die
Augen zusammenkneifen; aber dann ließ er es sein. Er drehte sich
auf die linke Seite und betrachtete die Wand. Im Licht des
Scheinwerfers konnte er einige obszöne Schmierereien erkennen.
Irgendjemand hatte in zittrigen Buchstaben Fuck you daran
geschrieben.
In der Nacht erwachte Talbot plötzlich.
Er hatte einen Alptraum gehabt, in dem eine Tür aufging und
zuschlug. Immer und immer wieder, mit entnervender
Unregelmäßigkeit. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Es war
dunkel, und aus den anderen Zellen konnte er die verschiedensten
Geräusche hören. Einer schnarchte. Einer schrie im Schlaf. Einer
hustete.
Plötzlich vernahm er etwas, das nicht dazugehörte. Ein
Geräusch, das nur entstehen konnte, wenn man wach und bei vollem
Bewusstsein war. Jemand klopfte, rhythmisch, in bestimmten
Abständen. Jemand sandte einen Code, verständigte sich mit jemand
anderem. Einen Moment lang verwarf Talbot die Idee eines Codes
wieder. Vielleicht waren die Klopfgeräusche gar nicht als Zeichen
gedacht, sondern unvermeidlicher Lärm beim Durchbohren einer
Mauer.
Vielleicht wurde einige Zellen weiter ein Ausbruchsversuch
unternommen. Aber das wäre Irrsinn gewesen. Niemand konnte aus
einem modernen Gefängnis ausbrechen, indem er einen Tunnel grub und
so in die Freiheit gelangte. Auf einmal ertönten irgendwo Schritte.
Die Nachtwärter machten zu zweit ihre Runde. Sofort hörte das
Klopfen auf. Die Wärter schritten die Zellen ab, verließen den Gang
am anderen Ende und schlossen die Tür hinter sich.
Wenig später setzten die Klopfgeräusche wieder ein. Es musste
doch ein Code sein. Ein paar Mal tauchte ein Schlagmuster auf, das
Talbot mit etwas Fantasie als F-L-U-C-H-T-P-L-A-N entzifferte, aber
alles andere war unverständlich. Talbot schlief wieder ein.
Nach dem Wecken, als die Wärter wie jeden Morgen die
Lebendkontrolle durchführten, blieb einer von ihnen vor Talbots
Zelle stehen. Er war sehr groß und schlank. Sein Gesicht hatte eine
rote Färbung, als ob er an zu hohem Blutdruck leiden würde. Seine
Augen blickten wässrig. Vielleicht hatte er am frühen Morgen schon
ein paar Bier getrunken.
„Häftling 26378?“ fragte er scharf.
„Ja“, antwortete Talbot.
„Zufrieden mit deiner neuen Behausung?“
„Ja.“
„Gut geschlafen?“
Sein siebter Sinn, der Talbot bei solchen Gelegenheiten nie zu
trügen schien, signalisierte ihm plötzlich Gefahr. Er sah den
Wärter an und bemerkte, dass das Gesicht des Mannes nicht den
Ausdruck freundlichen Interesses zeigte, sondern kalt wirkte. Der
Schlagstock wippte in der Hand auf und nieder.
„Danke, ja“, sagte Talbot.
Er hütete sich davor, sein Gegenüber zu reizen. Der Wärter sah
ohnehin aus, als hätte er größte Lust, Talbot eine Abreibung zu
verpassen.
„Nicht gestört worden?“
Kein Zucken verriet Talbots Überraschung. Seine Miene blieb
gleichgültig wie zuvor.
„Ich habe einen guten Schlaf“, erklärte er, fügte aber dann
noch hinzu: „Wenn Vollmond ist, wachsen mir Krallen und Haare. Das
ist ein wenig schmerzhaft. Aber gestern war ja keiner ...“
Mit zwei Schritten war der Wärter bei ihm, stieß ihn gegen die
Zellenwand und presste ihm den Schlagstock gegen die Kehle.
„Deine blöden Witze werden dir noch vergehen. Darauf kannst du
dich verlassen. Ich persönlich werde sie dir austreiben.“
„Dazu gehören immer zwei“, erwiderte Talbot.
Er wusste, dass es ein Fehler war, den Wärter zu reizen, aber
er wollte sich auch nichts gefallen lassen. Von niemandem. Der
Wärter schwieg einige Sekunden, dann versetzte er Talbot einen
brutalen Schlag mit dem Knüppel in die Seite. Der Killer stürzte
auf das Bett, verlor das Gleichgewicht und rutschte auf den
Boden.
Der Wärter stand breitbeinig über ihm. Sein Gesicht war jetzt
dunkelrot. Er schwitzte. Die Augen waren schmal geworden und hatten
sich fast völlig in die Höhlen zurückgezogen. Wütend ließ er den
Schlagstock in seiner Hand auf und ab wippen.
„Das dürfen Sie nicht!“ rief Talbot. Im selben Moment war ihm
klar geworden, dass der Wärter krank sein musste. Der langjährige
Dienst in Haftanstalten wie Fishkill hatte ihn fertiggemacht.
„Ich darf mehr, als du dir in deinen verrückten Träumen
vorstellen kannst“, brüllte er.
Ein zischendes Geräusch ertönte, als er den Schlagstock durch
die Luft sausen ließ. Mit einer unglaublichen Geschwindigkeit
schoss der lange Knüppel auf Talbots Kopf zu, schien direkt aus den
funkelnden Augen des Wärters zu kommen. Erst im letzten Moment
konnte Talbot sich zur Seite werfen. Er hörte, wie der Schlagstock
gegen das eiserne Bettgestell krachte. Wäre er nicht ausgewichen,
hätte er wahrscheinlich einen Schädelbasisbruch erlitten.
Es gab ein metallisches Nachhallen, das verstärkt wurde, weil
das Bett direkt an der Wand stand. Das Geräusch war sehr laut und
sorgte dafür, dass der Wärter wieder zu sich fand. Jedenfalls
schlug er nicht noch einmal nach Talbot. Schwer atmend schob er den
Knüppel wieder in den Gürtel.
„Warum gebe ich mich eigentlich mit dir ab? Einmal kommt der
Tag, da bist du sowieso dran. Polizistenmörder stehen auf meiner
Liste ganz oben. Ich behalte dich im Auge. Denk dran, bevor du eine
krumme Tour versuchst.“
Er stolperte aus der Zelle. Am Eingang wandte er sich kurz
um.
„Noch was“, sagte er grinsend. „Hier in Fishkill herrscht
Disziplin und Ordnung. Verstanden? Schlampereien werden nicht
geduldet.“
Er deutete mit dem ausgestreckten Arm auf die zerwühlte
Decke.
„Sehe ich noch einmal so ein unordentlich gemachtes Bett,
wanderst du in Einzelhaft. Kapiert?“
Talbot nickte.
„Das will ich hoffen.“
Er wandte sich ab und ging. Talbot wusste, dass er Glück
gehabt hatte. Verdammtes Glück. Aber dieser Wärter konnte ihm
gefährlich werden.
Zwei Tage später wurde Chris Harper wieder in die Zelle
zurückgebracht. Mit einem düsteren Blick ging er an Talbot vorbei
zum Fenster. Der Killer saß erwartungsvoll auf dem unteren Bett,
doch sein Mithäftling ignorierte ihn und starrte durch die
Gitterstäbe.
„Wenn ich noch einmal was höre, kommt ihr beide in
Einzelhaft“, drohte der Wärter, bevor er die Zellentür
absperrte.
Niemand antwortete.
„Habt ihr verstanden?“ fragte er mit erhobener Stimme.
„Klar“, sagte Talbot und nickte. Besänftigt sperrte der Wärter
die beiden Männer ein und ging wieder.
Ein Verband zierte Harpers Kopf und war ein deutliches Zeichen
dafür, dass er eine ziemlich harte Bekanntschaft mit der Zellenwand
gemacht hatte. Talbot beobachtete den Mann. Harper verließ das
Fenster nur, wenn er pinkeln musste. Das geschah ziemlich häufig.
Talbot fragte sich, ob er mit seinem Knie nicht vielleicht
empfindlichere Teile als seinen Magen getroffen hatte.
Bevor die Lampe an der Decke aufflammte, lag am späten
Nachmittag eine Zeitlang Dämmerlicht über der Zelle. Als es dunkel
wurde, sah Talbot zum ersten Mal, dass Harper sich bewegte, ohne
aufs Klo zu gehen. Ein Zucken lief durch seinen Körper. Er
umklammerte die Gitterstäbe. Und seine rechte Hand zitterte
unkontrolliert. Dann wandte er sich vom Fenster ab. Er hatte nur
eine Braue, die quer über seine niedrige Stirn lief,
„Na, Arschloch!“ sagte Talbot leutselig. „Hast du noch was
anderes auf Lager, als den Trick mit dem Daumen?“
Harper antwortete nicht. Doch er sah ganz so aus, als wolle er
sich gleich etwas Besonderes einfallen lassen. Aber diesmal hatte
Talbot nicht vor, seine sadistische Show abzuwarten. Er würde ihn
rechtzeitig an einer besonders empfindlichen Stelle treffen.
Während ihn abwartend ansah, sank Harper plötzlich auf die Knie.
Seine Züge entgleisten und er begann, am ganzen Körper
konvulsivisch zu zucken.
„Scheißkerl!“ keuchte er. „Du hast mir den Schädel gebrochen
...“
„Selbst schuld. Wer wollte denn hier unbedingt den großen Boss
mimen?“
Er presste die Hände an den Kopf, spreizte die Finger, stöhnte
und heulte. Talbot beachtete ihn gar nicht.
„Du wirst es noch bereuen, dass du dich mit mir angelegt
hast“, sagte Harper.
„Ach ja?“
„Ja. Ich stehe unter den Schutz von Fabio Palvetti. Der wird
dir dafür den Arsch aufreißen.“
„Palvetti?“ wiederholte Talbot. „Sollte mir dieser Name
irgendetwas sagen?“
„Er ist der Boss hier drin. Er bestimmt die Regeln. Wer ihn
zum Feind hat, der lebt nicht mehr lange.“
„Aha.“
„Du solltest mir ein wenig Respekt entgegen bringen.“
„Und wenn nicht?“
„Du scheinst mich nicht zu verstehen“ flüsterte Harper. „In
diesem Knast ist es besser, sich auf eine Seite zu schlagen.
Einzelgänger haben keine große Überlebenschance.“
Talbot zeigte sich nicht im Mindesten beeindruckt. In jedem
Gefängnis gab es jemanden, der sich als absoluter Herrscher
aufspielte. Meistens sorgten diese Kerle aber auch dafür, dass es
eine gewisse Ordnung gab. Natürlich war es keine gesetzliche
Ordnung. Es war die Ordnung, die ihnen in den Kram passte.
Sie machten ihre eigenen Gesetze und diktierten sie. Wer sich
an diese Ordnung hielt, hatte nichts zu befürchten. Die anderen
wurden systematisch fertiggemacht oder landeten irgendwann auf dem
Friedhof. Diese selbsternannten Herrscher verbreiteten Terror,
Angst und Schrecken. Entweder war man für sie oder man ging
zugrunde.
Talbot blickte zu Harper hinüber. Sein Gesicht war
schweißüberströmt. Eine seltsame Unruhe ergriff von ihm Besitz. Er
schien irgendwie unter Strom zu stehen. Seine Schultern fingen an
zu zittern. Warum? Was rief diese merkwürdige Unruhe in ihm hervor?
Irgendetwas schien mit ihm zu passieren.
Ein lautes, gequältes Schluchzen entrang sich seiner Kehle. Er
stützte sich wimmernd an die Wand und trommelte mit den Fäusten
dagegen. Schließlich ging der Krampf vorüber. Er machte sich am
Fußende seines Bettes zu schaffen. Dort gab es eine kleine Öffnung
in der Matratze, die mit einem scharfen Gegenstand
hineingeschnitten worden war.
Harper holte ein kleines Plastikröhrchen und einen Beutel mit
einer weißen Substanz heraus. Talbot vermutete, dass es sich um
Kokain handelte. Harper schüttete die Hälfte des Inhalts auf die
Handfläche und zog ihn sich durch das Plastikröhrchen in die Nase.
Aus glasigen Augen starrte er Talbot an. Das Zittern ließ nach. Er
beruhigte sich allmählich. Sein Blick ging ins Nichts.
Na großartig, dachte Talbot. Jetzt haben die mich ernsthaft
mit einer Koksnase in eine Zelle gesteckt.
Pünktlich um zwölf Uhr ertönte das Signal zum Mittagessen.
Harper und Talbot stellten sich an der Gittertür auf und warteten,
bis sie rasselnd zur Seite glitt. Mit den anderen Häftlingen gingen
sie in den riesigen Speisesaal, der mit dröhnendem Lärm angefüllt
war. Mit seinem Menütablett ließ sich Talbot an einem Tisch in der
Mitte nieder. Er wusste, dass er demnächst jede Kraftreserve seines
Körpers brauchen würde, aß doppelt so viel wie gewöhnlich, obwohl
das Essen von den meisten Gefangenen als „Schweinefraß“ bezeichnet
wurde.
„Schmeckt es?“, fragte sein Nachbar, der ihn von der Seite
beobachtete. Er war ein schmaler Mann mit blonden Haaren und noch
jugendlich weichen Gesichtszügen. Er sprach mit dem breiten Akzent
des Südstaatlers. Alabama oder Georgia, vermutete Talbot.
„Es ist genießbar“, antwortete der Killer.
„Man sagt, der Koch würde regelmäßig reinspucken.“
„Aha.“
„Scheint dich nicht zu stören.“
Talbot schüttelte den Kopf.
„Andere auch nicht.“
Der junge Mann studierte die Menschenschlange, die sich an
ihnen vorbei schob, fand offenbar nicht, was er suchte und drehte
sich zu den langen Tischen auf der rechten Seite um.
„Da“, sagte er. „Siehst du den letzten Mann am anderen Ende
des dritten Tisches?“
Talbot hob den Kopf. Der Kerl, den er meinte, war klein und
dick, hatte eine Glatze und lächelte leicht. Er starrte zu den
Behältern hinüber, in denen das Essen dampfte. Daneben stand eine
Kiste, in die jeder Häftling das schmutzige Besteck warf, wenn er
zu Ende gegessen hatte.
„Na und?“ fragte Talbot.
„Warte mal ab.“
Er aß weiter und beobachtete den Dicken. Plötzlich sprang er
wie von der Tarantel gestochen auf, rannte zu einem der Behälter,
tauchte die Arme bis zu den Ellbogen hinein und schlürfte den
Kartoffelbrei aus den hohlen Händen.
„Scheiße!“ stöhnte Talbot.
Der Dicke schlürfte weiter, warf gehetzte Blicke auf die
Wärter, bis endlich zwei angerannt kamen und ihn von dem Behälter
wegzerrten.
Talbot war der Appetit vergangen. Er legte den Löffel beiseite
und erhob sich, um das schmutzige Geschirr in die bereitgestellte
Kiste zu legen. Genau in diesem Moment stieß er mit einem anderen
Häftling zusammen. Der Mann war zwei Köpfe größer. Er hatte einen
breiten Oberkörper, ein verstümmeltes Ohr, die Nase eines
erfolglosen Boxers und Oberarme, die so dick waren wie ein
Elefantenbein. Das Tablett mit dem Mittagessen rutschte ihm aus den
Händen und landete auf dem Boden.
„Kannst du nicht besser aufpassen, blöder Wichser?“ schnauzte
ihn der Muskelprotz an.
„Warum passt du nicht besser auf, wo du hingehst?“ fragte
Talbot ruhig.
Jeder Mann im Speisesaal hatte inzwischen bemerkt, was
vorging, und alle hielten unwillkürlich den Atem an.
„Los, heb‘s auf!“ forderte der Muskelprotz.
„Leck mich am Arsch, du fette Sau!“
„Was war das?“ fragte der Kerl verblüfft. „Hast du mich gerade
eine fette Sau genannt?“
„Allerdings. Und du bist ein solcher Idiot, dass dein Gehirn
bequem in einer Blattlaus Platz hätte. Der einzige Unterschied
besteht darin, dass es nicht hüpfen kann.“
Talbot wusste genau, was auf diese Worte folgen musste, und
dass es verdammt hart werden würde. Aber nur so konnte er sich
gegenüber den anderen Gefangenen ein für alle Mal Respekt
verschaffen. Man musste schon verrückt oder lebensmüde sein, wenn
man es wagte, solch einen Kerl dermaßen zu beleidigen.
Der Riese brauchte einige Zeit, bist er Talbots Worte
verstanden hatte. Seine Augen blickten angestrengt und
konzentriert. Dann wurden sie plötzlich leer und ein tierischer
Schrei löste sich aus seiner Kehle. Talbot wusste, dass er dem Mann
an Körperkraft unterlegen war. Allerdings hatte er auch nicht vor,
sich auf einen fairen Kampf einzulassen. Er konnte es sich nicht
leisten, von diesem Kerl zusammenschlagen zu werden.
Mit der Wucht eines olympiareifen Hammerwurfs kam die Faust
des Mannes auf Talbots Gesicht zugeschossen. Der Killer trat einen
Schritt zurück und wich durch eine leichte Drehung nach links aus.
Von der Wucht seines Schlages nach vorn gerissen, geriet der
Muskelprotz ins Taumeln und rannte in Talbots hochgerissenes
Knie.
Aber der Kerl schien einen Unterleib aus Eisen zu haben. Jeden
anderen Mann hätte der Stoß auf der Stelle umgehauen, jedoch nicht
diesen Gegner. Er packte den Killer und schleuderte ihn durch den
Raum. Als Talbot auf den Betonboden krachte, glaubte er, einen
Augenblick die Besinnung zu verlieren. Halb im Unterbewusstsein
hörte er die anderen Häftlinge johlen. Sie hatten einen Kreis
gebildet, der es den Wärtern zunächst unmöglich machte, zum
Kampfplatz vorzudringen.
Der Muskelprotz stand breitbeinig über ihm und grinste. Talbot
kam mühsam wieder auf die Füße. Seit dem Wortwechsel waren nur
wenige Sekunden vergangen, doch bis jetzt hatte noch keiner der
Wärter in die Auseinandersetzung eingegriffen. Aus dem Stand
hechtete Talbot vor und verkrallte sich mit beiden Händen in der
Häftlingsjacke des Gegners. Scharf hörte er den Stoff
zerreißen.
Erneut stieß er sein Knie hoch, prallte aber gegen die
Kniescheibe des anderen. Ein heftiger Schmerz zuckte durch sein
Bein bis hinauf in die Leistengegend. Mit beiden Fäusten
bearbeitete er Hals und Brust des Mannes. Dann spürte er, wie der
Muskelprotz sein Bein hinter Talbots Kniekehlen hakte und ihn
langsam aber sicher nach hinten drückte. Er verlor das
Gleichgewicht.
Der Gegner fiel auf ihn und erdrückte ihn fast, während seine
Hände nach oben wanderten und sich um seinen Hals schlossen. Talbot
schlug zu. Mit beiden Händen traf er die Ohren des Muskelprotzes.
Der Mann bäumte sich auf und schrie. Gleichzeitig lockerte er den
Griff um Talbots Hals. Der Killer wollte aufstehen, doch plötzlich
tauchten drei Paar Stiefel auf, und der Mann wurde von ihm
heruntergerissen.
Die Wärter hatten sich einen Weg durch den Kreis der Zuschauer
gebahnt und schlugen mit ihren Stöcken auf den Muskelberg ein.
Talbots Kopf fiel zurück, als sich die Hände von seinem Hals
lösten. Zu den Stiefeln gesellten sich andere, und jetzt wimmelte
es von Wärtern, die den Muskelprotz festhielten, ihn hochrissen und
immer wieder auf ihn einschlugen. Die anderen Häftlinge standen
unbeteiligt dabei.
„Dieser Scheißkerl muss wahnsinnig geworden sein“, keuchte der
große Mann. „Ohne Grund ist er plötzlich aufgesprungen und hat auf
mich eingeschlagen.“
„Na klar, Coley“, entgegnete einer der Wärter. „Den Blödsinn
kannst du deiner Großmutter erzählen.“
Talbot wollte aufstehen, doch er wurde mit einem schmerzhaften
Griff in die Knie gezwungen und festgehalten. Ein Wärter packte
seine Haare.
„Häftling 26378“, brüllte er schwer atmend. „Wenn du den
Ehrgeiz hast, hier für Ärger zu sorgen, sag es lieber gleich, damit
wir Bescheid wissen. Dann lassen wir dich die nächsten Jahre auf
Knien durch die Zelle kriechen.“
Talbot und Coley wurden von den Wärtern aus dem Speisesaal
gezerrt.
„Ihr seit in ernsthaften Schwierigkeiten“, sagte einer der
Männer. „Die Sache nimmt jetzt den Dienstweg. Für euch wird es
richtig hart. Ihr kommt zum Direktor. Ich kann mir denken, dass er
sich liebend gern mit euch unterhalten wird.“
Er wandte sich an seinen Kollegen. „Ist schon jemand zum Boss
unterwegs?“
„Ja, Lewis macht Meldung“, antwortete der Angesprochene.
„Okay, dann bin ich mal gespannt, was Anderson dazu sagen
wird.“
Talbot stellte fest, dass er eine Kopfwunde hatte und blutete.
Er wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte. Wenn es in Gegenwart
von Wärtern zu Unruhen kam, konnte sich das für die Karriere der
entsprechenden Männer ausgesprochen nachteilig auswirken. Talbot
würde dafür büßen müssen. Vier Wärter brachten ihn in den
Krankenbereich. Er bekam eine Spritze, seine Wunde wurde mit Jod
behandelt und anschließend verbunden. Nach der Behandlung wurde er
zum Büro des Direktors gebracht.
Talbot musste mehr als zehn Minuten warten, bis sich die Tür
öffnete und er in das geräumige Zimmer eintreten durfte. Greg
Anderson thronte hinter einem massiven Schreibtisch aus Eichenholz.
Er war mittelgroß und wirkte durchtrainiert. Sein Gesicht besaß ein
scharfes Profil mit einer schmalen Nase und einem markanten Kinn.
Sein blondes Haar war kurz geschnitten. Anderson trug einen
hellen Anzug, ein weißes Hemd und eine korrekt gebundene,
dunkelblaue Krawatte. Seine Kleidung war keine billige
Konfektionsware, sondern maßgeschneidert. Das sah man auf den
ersten Blick.
Sein Grinsen zeigte deutlich, wie er die Situation genoss. Er
lehnte sich nach vorn und griff mit den Händen quer über den
Schreibtisch, als wollte er sich an der Vorderkante festhalten.
Seine Augen leuchteten voller Triumph und Schadenfreude, und er
fuhr sich mit der Zunge ein paar Mal über die Lippen. Er hatte ein
puterrotes Gesicht vor lauter Vorfreude auf das, was jetzt kam, und
der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Man sah ihm richtig an, wie er
in Fahrt kam und Talbot verkrampfte unwillkürlich die
Muskeln.
„Wie lange sind Sie jetzt bei uns?“ fragte Anderson.
„Drei Tage, 14 Stunden und 35 Minuten.“
Der Direktor lächelte jovial. „Sehr genau. Äußerst akkurat.
Eigenschaften, die ich sehr schätze. Anders erreicht man nichts im
Leben. Und wie gefällt es Ihnen bei uns?“
„Als wäre ich hier zu Hause“, antwortete Talbot.
Binnen weniger Sekunden hatte er sich ein genaues Bild von
Anderson gemacht. Er war ein karrieresüchtiger, ehrgeiziger Mann,
mit dem man gut auskam, wenn man rangmäßig eine Stufe über ihm
stand. Den Gefangenen gegenüber spielte er sich gerne als großer
Bruder auf.
„Ich bewundere Ihren Humor“, meinte er. „Galgenhumor, würde
ich sagen. Warum haben Sie die Schlägerei angefangen?“
„Ich habe mich nur verteidigt.“
Anderson sprang auf, aber er war längst nicht so wütend, wie
er es eigentlich hätte sein müssen. Er ging zu dem großen
vergitterten Fenster, das ihm einen Ausblick auf den Innenhof
gestattete. Mit dem Rücken zu Talbot stieß er einen leisen Seufzer
aus.
„Der Bau dieser Vollzugsanstalt hat fast 20 Millionen Dollar
gekostet“, sagte er nach einer Weile. „Diese Summe können Sie sich
wahrscheinlich gar nicht vorstellen. Ich kann es auch nicht. Aber
diese 20 Millionen wurden vom Staat ausgegeben, um die
Öffentlichkeit, die normalen, ehrbaren Bürger vor Männern wie Ihnen
zu beschützen. Vor 1800 straffällig gewordenen Kerlen, vor Mördern,
politischen Wirrköpfen oder professionellen Killern. Und ich habe
vom Staat den Auftrag, dafür zu sorgen, dass diese 20 Millionen
nicht umsonst ausgegeben worden sind, etwa dadurch, dass plötzlich
einige Gefangene das Weite suchen. Ich nehme an, Sie verstehen
mich.“
„Sollte ich?“ erwiderte Talbot.
„Im allgemeinen Interesse bin ich gezwungen, eine strikte
Disziplin durchzuführen und keinerlei Ungehorsam zu dulden.
Nachlässigkeiten werden als Vergehen betrachtet. Jeder
Ausbruchsversuch hat ernsthafte Konsequenzen. Diejenigen, die sich
an die Regeln halten, werden von mir nichts zu befürchten haben und
ebenso wenig von den Wärtern.“
Er wandte sich um und musterte Talbot eingehend.
„Die Disziplin muss aufrecht erhalten bleiben. Wenn sich
gewisse Leute vorgenommen haben, ihren Kopf durchzusetzen, werde
ich nicht zögern, von meinem Recht Gebrauch zu machen, diese Männer
in Einzelhaft zu stecken.“
Mehrmals erhob er beim Sprechen die Stimme, um seinen Worten
mehr Gewicht zu verleihen oder um sich in einen überreizten Zustand
zu versetzen und sich die Wut zu erhalten, die er offenbar für
unentbehrlich hielt. Er wirkte grotesk. Sein Kopf bewegte sich hin
und her wie bei einem Hampelmann.
Obwohl dieser Redeschwall schmerzhaft an seinen Nerven zerrte,
hörte Talbot ungerührt zu. Gleichzeitig suchte er nach Motiven für
diese rechthaberische Vermessenheit. Schließlich kam er zu der
Überzeugung, dass Andersons Ansprache viele grundsätzliche
Bestandteile einer universellen Geisteshaltung entlehnte.
Sie beinhaltete den mystischen Autoritätsglauben und die
Angst, nicht ernst genommen zu werden. Daher rührte auch der
bizarre Komplex, der ihn veranlasste, einen argwöhnischen und
unruhigen Blick auf Talbots Gesicht zu werfen, so als fürchte er,
dort ein Lächeln zu sehen. Er wusste natürlich, dass er es hier mit
einem Mann zu tun hatte, dem ein Menschenleben nichts bedeutete. Er
würde ihn bei der ersten Gelegenheit umbringen. Vielleicht war das
der Grund für sein Verhalten.
Talbot hatte, als er ihn von Disziplin sprechen hörte, eine
seltsame Verwirrung empfunden; als er ihn aber wie einen Hampelmann
herumzappeln sah, war er beruhigt zu der Schlussfolgerung gekommen,
dass dieser Mann mehr Angst hatte, als er sich anmerken ließ.
Wann würde Anderson die Maske fallen lassen und auf sein
eigentliches Anliegen zu sprechen kommen?
„Durch Ihr Verhalten haben Sie mir die Möglichkeit gegeben,
Ihnen sämtliche Vergünstigungen zu streichen und Sie zusätzlich
noch in Einzelhaft zu stecken“, fuhr Anderson fort. Sein Ton wurde
ruhiger, fast feierlich, und einen Augenblick lang hoffte Talbot,
vernünftige Worte zu hören.
„Ich habe aber auch die Möglichkeit, die ganze Sache zu
vergessen. Mir persönlich wäre diese Lösung lieber. Dafür brauche
ich aber ein paar Informationen, verstehen Sie?“
Talbot antwortete nicht.
Mit einer lässigen Handbewegung entfernte Anderson ein
unsichtbares Staubkorn, von seinem Aufschlag, während ein
unverbindliches Lächeln seine Lippen umspielte. Er neigte fast
anmutig den Kopf zur Seite und musterte Talbot amüsiert.
„Ich weiß, dass ein Ausbruchsversuch geplant ist. Finden Sie
heraus, wann er stattfinden soll und ich vergesse Ihre Verstöße
gegen die Hausordnung.“
Talbot überlegte einen Moment. Anderson hegte lediglich einen
Verdacht, aber er hatte keinen einzigen Beweis. Und Talbot dachte
gar nicht daran, ihn zu unterstützen. Warum sollte er das tun? Er
hatte dabei nichts zu gewinnen, oder zu verlieren. Für Anderson
ging es um weit aus mehr. Er brauchte Erfolge. Wenn es ihm gelang,
einen großangelegten Ausbruch zu vereiteln, würde das für seine
Karriere äußerst förderlich sein.
Talbot schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Ich weiß nichts von
einem geplanten Ausbruch. Wenn Sie einen Spitzel suchen, müssen Sie
sich nach jemand anderem umsehen.“
Der Direktor blickte ihn durchdringend an. Offenbar hatte er
sich viel von Talbots Mitarbeit versprochen.
„Ist das Ihr letztes Wort?“
„Ja.“
„Schade“, sagte er kopfschüttelnd. „Das ist wirklich sehr
schade.“
Talbot bemerkte das leichte Flattern seiner Augenlider und den
angestrengten Zug, der sich in seine Mundwinkel grub.
„Ich wollte Ihnen eine Chance geben. Aber offenbar legen Sie
darauf keinen Wert.“
„Warum sollte ich?“ fragte Talbot. „Ich habe
lebenslänglich.“
„Ich weiß.“ Anderson behielt den Tonfall eines
Staubsaugervertreters bei, als er weitersprach. „Aber es liegt an
Ihnen und Ihrem Verhalten, ob diese Zeit für Sie angenehm wird oder
nicht.“
„Ich verstehe.“
„Tun Sie das wirklich?“
Talbot wurde in Einzelhaft gesperrt. Es war die schärfste
Bestrafung für schlechte Führung. Es bedeutete völlige Isolation,
absolutes Alleinsein. Man war von allem ausgeschlossen, so, als
existiere man überhaupt nicht mehr. Talbot hatte zwei Wochen Zeit
zum Nachdenken. Eine Zeit, die ihm doppelt so lange erschien. Nur
der Gedanke an eine mögliche Flucht hielt ihn aufrecht.
Er warf sich auf die Matratze und starrte zu dem schwachen
Lichtschein an der Decke empor. Nach einer Weile begann er sich zu
ärgern, weil er nichts zu lesen hatte. Aber das wäre wohl zu viel
verlangt gewesen. Irgendwo draußen ging ein heiseres animalisches
Gebrüll los, dann hörte er hastige Schritte, einen hitzigen
Wortwechsel. Das Geschrei wurde erstickt, und noch lange hallte
klagendes Heulen durch den Gang.
Zwei Wochen wusste Talbot nicht, welches Wetter draußen
herrschte. Zwei Wochen lang hörte er kaum ein Geräusch, außer, wenn
ihm das knapp bemessene Essen gebracht wurde. In Kopfhöhe befand
sich ein Spion. Mehrmals hatte Talbot den Eindruck, als würde er
durch das kleine, mit einer Linse verschlossene Loch intensiv
gemustert. Aber er wusste es nicht genau. In seiner Zelle gab es
weder einen Tisch, noch einen Stuhl, sondern nur eine schmale
Matratze, auf der er sich ausstrecken konnte, sobald er vom Stehen
ermüdet war.
Während der ganzen Zeit sah er nur die Gesichter der Wärter,
die ihm die Mahlzeiten brachten. Er zwang sich, einige Mundvoll zu
essen und schüttete dann mit einem einzigen Schluck seine
Wasserration herunter. Anschließend legte er sich auf die Matratze,
wo er versuchte, über seine Lage mit Geringschätzung
hinwegzukommen.
Als die zwei Wochen um waren, brachte ihn ein Wärter zurück in
seine Zelle. Er fand alles so, wie er es verlassen hatte. Harper
stand am Fenster, ohne ihn zu beachten. Talbot ließ sich auf sein
Bett fallen und schwor sich, den Wärtern nie wieder einen Anlass zu
bieten, ihn in Einzelhaft zu stecken. Er blieb auf dem Bett liegen,
bis er mit den anderen Häftlingen zum Mittagessen gehen musste –
vier Stunden lang.
Nach dem Essen tauchte ein Wärter an der Zelle auf.
„He, Häftling 26378. Mitkommen. Da hat jemand Sehnsucht nach
dir.“
„Nach mir?“ fragte Talbot, während er sich vom Bett
erhob.
„Ja.“
„Ich erwarte keinen Besuch.“
„Das interessiert mich nicht. Also los, beweg dich!“