Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

1. Auflage November 2009
© Günter Brakelmann
Umschlagentwurf und Layout: Q3 design, Dortmund, www.Q3design.de

ISBN 978-3-8448-6298-0

Herstellung und Verlag:
Books on Demand GmbH
In de Tarpen 42
D-22848 Norderstedt
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Telefax (+49) 0 40 / 53 43 35 - 84
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e-Mail: info@bod.de

Evangelische Perspektiven
Eine Schriftenreihe des Kirchenkreises Bochum

Band 2:
Günter Brakelmann, Helmuth James von Moltke –
Briefe und Tagebücher aus den Gefängnissen
in Berlin und Ravensbrück 1944

Herausgeber:
Kirchenkreis Bochum
Westring 26
D-44787 Bochum
Telefon 0234 / 962 904-00
Web: www.evkirchebochum.de
e-Mail: info@evkirchebochum.de

In Kooperation mit der Evangelischen Stadtakademie Bochum
Web: www.stadtakademie.de
Redaktion: Arno Lohmann

Helmuth James von Moltke, Hotel Seeblick, Grundlsee/Österreich, 1928
Bild: Stiftung Preußischer Kulturbesitz

Für
Superintendent a.D.
Pfarrer i.R. Wolfgang Werbeck

Inhalt

Fred Sobiech

Vorwort

Günter Brakelmann
Helmuth James von Moltke –
Briefe und Tagebücher aus den Gefängnissen
in Berlin und Ravensbrück 1944

Die letzten Wochen vor der Verhaftung

Im Gefängnis des Reichssicherheitshauptamtes

Die ersten Außenkontakte

Fliegerangriffe auf Berlin – Leben im Gefängnis

Die Geschichte als Leidensgeschichte und als Hoffnungsgeschichte

Probleme des Gutsbetriebs

Moltke der Landwirt und der Mensch aus Kreisau und für Kreisau

Moltke als Vater

Haft im Zellenbau von Ravensbrück

Mitgefangene im Zellenbau

Moltkes intensives Bibelstudium

Moltkes Lutherstudium

Von der Freiheit eines Christenmenschen

Reformationsgeschichte und ihre Folgen als Lernfeld für die Zukunft

Die Kirche als bekennende und lehrende Kirche

Philosophische Bemühungen und literarische Lektüre

Weitere Verhöre

In Dunkelhaft und Abtransport nach Tegel

Nachwort

Anmerkungen

Zur Person: Günter Brakelmann

Günter Brakelmann: Ausgewählte Publikationen

Helmuth James von Moltke, 1944                Bild: Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin

Vorwort

„…Du fragtest, ob man das alles aushalten kann.
Das ist gar nicht so schwierig. Viel schwieriger ist,
dass man dabei sich selbst verhärtet.
Ich ertappe mich immerzu dabei.“
Brief vom 29. November 1943

Die Bibel lesen als Widerspruch zur Selbstmächtigkeit der Ideologie und Utopie des alle Lebensbereiche durchdringenden Nationalsozialismus.

Die Bibel lesen als Anspruch des Gekreuzigten und Auferstandenen auf das ganze Leben.

Die Bibel lesen als Zuspruch des in Jesus Christus menschgewordenen Gottes.

Die Bibel lesen als „Realitätseichung“ (P. Sloterdijk) in irreal erscheinenden Zeiten eines hybriden, totalitären Großversuchs.

Einem Menschen begegnen, der „im Land der Gottlosen“ Gott nicht aufgegeben hat – Helmuth James von Moltke. Von und mit ihm lernen. Hoffentlich.

Ich danke Günter Brakelmann, dass dieser ursprünglich in der Ev. Stadtakademie gehaltene Vortrag nun in erweiterter Fassung als Band 2 der „Evangelischen Perspektiven“ des Ev. Kirchenkreises Bochum erscheinen kann.

Fred Sobiech,
Superintendent des Ev. Kirchenkreises Bochum

Die letzten Wochen vor der Verhaftung

Am 9. November 1943 schrieb der Kriegsgerichtsrat in der Völkerrechtsgruppe des Amtes Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht (OKW), Helmuth James von Moltke, im Brief an seine Frau Freya:

„Ich sitze hier an meinem Schreibtisch einfach unter Papier, auf allen Tischen, Regalen und Ablageplätzen liegen Akten, die bearbeitet werden müssen und wegen der Berge verbrauche ich einen großen Teil meiner Zeit damit, die Dringlichkeit der einzelnen Sachen zu regeln. Dabei geht ständig das Telefon aus allen Hauptstädten der von uns besetzten Gebiete, von allen Dienststellen hier. Ich werde der Sache schon Herr werden, aber es ist grässlich.“1

Und zwei Tage später berichtete er:

„Es war eine große Menge verschiedener Sachen, die norwegische, dänische, holländische, französische, italienische, balkanesische, polnische, russische, türkische, schwedische und spanische Fragen betrafen. Wie Du siehst, eine Rundfahrt um ganz Europa.“2

Moltke saß in dieser Zeit nur noch mit wenigen Mitarbeitern und Sekretärinnen in seiner Berliner Dienststelle am Tirpitzufer. Der oberste Chef des Amtes Admiral Wilhelm Canaris und der Chef der Abteilung Ausland in der Abwehr Kapitän zur See Leopold Bürkner waren nach Zossen umgezogen. Hin und wieder mussten Moltke und sein Gruppenleiter Oberst Werner Oxé zu ihnen hinfahren, Rapport erstatten und mit ihnen die nächsten Arbeitsschritte besprechen. Vorgesehen war vor allem eine zweite Reise von Moltke nach Istanbul, die nur mit der Zustimmung und Hilfe des Auswärtigen Amtes möglich war. Sie fand dann in der Tat vom 11. – 16. Dezember 1943 statt.

Vorher allerdings kam es zu einschneidenden Ereignissen – dienstlich und persönlich. In fünf Großangriffen vom 18. November bis zum 3. Dezember bombardierten 2212 britische Flugzeuge die Hauptstadt. Am 24. November meldete Moltke nach Kreisau:

„Die Innenstadt ist ein Trümmerfeld. Vom Tirpitzufer steht kein Haus mehr.“3 Auf das Haus seiner Verwandten Carl und Editha von Hülsen war ein Bomber mit voller Bombenlast gestürzt. Erst nach Tagen konnten ihre Leichen geborgen werden. Auch die eigene Garagenwohnung in der Derfflingerstraße war nicht mehr bewohnbar. Moltke zog zu seinen Freunden Marion und Peter Yorck nach Berlin-Lichterfelde in die Hortensienstraße 50. Später gesellten sich noch die ebenfalls ausgebombten Eugen und Brigitte Gerstenmaier hinzu.

Vor diesem großen Bombardement bekam Moltke in seinem Amt Besuch von Männern des Sicherheitsdienstes (SD). Dazu schrieb er am 11. November:

Gestern waren wieder Sachbearbeiter vom S.D. da, um sich bei mir nach der völkerrechtlichen Lage in einigen Fragen zu erkundigen. Diese neue und innige Beziehung finde ich rasend komisch und manchmal macht sie mich arg bedenklich. Aber die Leute machen weiter auf mich einen recht guten Eindruck und die praktischen Ergebnisse sind sehr befriedigend. Mein ganzer Laden lacht natürlich über diese Sache und Canaris strahlt. Hoffentlich geht es weiter so.“4

Denn seit der Verhaftung von Hans Oster, Hans von Dohnanyi, Josef Müller und Dietrich Bonhoeffer am 5. April 1943 war es allen Mitarbeitern des Amtes Canaris offensichtlich geworden, dass das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) ein besonderes Auge auf die militärische Abwehr und seine Mitarbeiter geworfen hatte.

Wenige Tage vor seiner Verhaftung am 19. Januar 1944 hieß es im Brief vom 13. Januar:

Gestern „um 9 kam ein Mann vom SD, der bis 12.30 bei uns saß.“5

Dieser Besuch fand nicht mehr in den Räumen der OKW-Dienststelle statt, sondern in einem Ausweichquartier in der Lausschule in der Lausstraße in Berlin, mit dem Fahrrad in 10 Minuten von der Hortensienstraße erreichbar.

Berlin und die dort ansässigen Behörden versanken immer mehr in ein Chaos. Die militärischen Dienststellen hatten sich zum größten Teil aufs Umland zurückgezogen, die Berufsoffiziere retteten sich und – so Moltke kritisch – „…sie denken daran, wie sie sich das Leben bequem machen können, und der Rest ist ihnen egal.“6 Für die Zurückgebliebenen fiel die Versorgung mit Strom, Wasser und Gas weithin aus. Die Hauptstadt war lange vor dem Zusammenbruch der militärischen Fronten durch die pausenlosen Luftangriffe der Alliierten weithin funktionsunfähig gemacht worden.

Einblick in Moltkes „Novemberstimmung“ gibt der Brief vom 29. November:

„…Du fragtest, ob man das alles aushalten kann. Das ist gar nicht so schwierig. Viel schwieriger ist, dass man dabei sich selbst verhärtet. Ich ertappe mich immerzu dabei. Am auffälligsten war es, als ich die Teile von Editha und Hans Carl sah. Ich überwand meine Bewegung und mein Grauen und dann ging es ganz leicht. Aber es ist eine falsche Reaktion. Man muss die Verteidigung der Gleichgültigkeit überwinden, man darf sich nicht panzern, sondern man muss es ertragen. Um den Tod und das Grauen zu ertragen, neigt man dazu, in sich die Menschlichkeit zu töten, und das ist die viel größere Gefahr, als dass man es nicht ertragen könnte.

Gestern sah ich ein eindrucksvolles Bild: in einem der Trümmerhaufen, an denen ich vorbeifuhr, war anscheinend ein Geschäft für Faschingssachen gewesen. Deren hatten sich Kinder im Alter von 4 bis 14 bemächtigt, hatten sich bunte Mützchen angezogen, hielten Fähnchen und Lampions in der Hand, warfen Konfetti und zogen lange Papierschlangen hinter sich her, und in diesem Aufzug zogen sie über die Trümmer. Ein unheimliches Bild, ein apokalyptisches Bild. – Ähnlich grauenerregend war das Bild der Leute, die aus der Turnhalle der Derfflingerstraße zwangsweise unter Protest und Schreien in Autobusse verladen wurden, ohne dass sie den Bestimmungsort erfahren durften. Welch ein menschlicher Zustand.“7

Die Welt wurde für Moltke immer grotesker und bizarrer. Am 5. Dezember hörte er zusammen mit Peter und Marion Yorck – anwesend war auch Ludwig Beck – eine Predigt von Hanns Lilje, über die er schrieb:

„Die Predigt war sehr gut über das Grauen in der Geschichte und über den Ernst der Geschichte. Eine große Adventspredigt, die sich mit der Ankunft des Herrn am Ende der Geschichte befasste.“8

Vom 19. – 27. Dezember 1943 war Moltke zum Weihnachtsurlaub in Kreisau. Es sollte für ihn sein letzter Urlaub sein. Am 28. Dezember begann in Berlin die letzte Phase seiner Arbeit. Vor seiner Verhaftung hatte er Besprechungen im Auswärtigen Amt, schrieb einen Bericht über seine Türkei-Reise, führte Gespräche mit den Freunden Paulus van Husen, Günter Schmölders, Adam von Trott, Horst Einsiedel, Adolf Reichwein, Hans Peters, Freiherr von Guttenberg, Theo Haubach, C.D. von Trotha, Julius Leber und Harald Poelchau. Sowohl Claus von Stauffenberg wie Ulrich von Schwerin besuchten Moltke zu Gesprächen, über deren Inhalt wir aber nichts wissen. Zusammen mit Gerstenmaier besuchte Moltke Johannes Popitz aus dem Goerdeler/Beck-Kreis und traf sich mit Justus Delbrück. Es waren aufregende drei Wochen, in denen Moltke an völkerrechtlichen Einzelfragen arbeitete und gleichzeitig versuchte, den Freundeskreis menschlich und politisch-strategisch zusammenzuhalten und neue Kontakte mit dem militärischen Widerstand zu gewinnen.

Schwer belastete Moltke und seine Freunde der Tod von Carlo Mierendorff, der am 4. Dezember 1943 bei einem Bombenangriff auf Leipzig zu Tode gekommen war.

In diese letzte Hochphase beruflicher Arbeit und konspirativer Widerstandsarbeit fiel seine Verhaftung am Mittwoch, dem 19. Januar 1944, durch einen Sturmbannführer Schäfer. Am Tag zuvor hatte er einen Brief an Freya mit den Zeilen beendet:

„Auf Wiedersehen, mein Herz, hoffentlich ganz bald. Lassen Sie es sich wohl ergehen, pflegen Sie sich, grüßen Sie Ihre Söhnchen und behalten Sie, bitte, lieb Ihren Ehewirt, Jäm.“9

Moltkes Verhaftung hatte nichts zu tun mit seiner Arbeit im „Kreisauer Kreis“. Zu dieser Zeit hatte die Gestapo noch keine Kenntnis über diesen Widerstandskreis. Moltke hatte seinen Kollegen im Amt Otto Carl Kiep vor einem Spitzel der Gestapo gewarnt, der sich in die „Teegesellschaft“ der Hanna Solf eingeschlichen hatte. Diese bestand aus regimekritischen Frauen und Männern, die miteinander offen die Probleme ihrer Gegenwart diskutierten, aber keine politischen Aktionsprogramme entwarfen. Moltke selbst hatte nie an den Diskussionen dieses Kreises teilgenommen, aber eben Kiep telephonisch von ihrer Überwachung durch die Gestapo unterrichtet. Wegen des Wissens um die Existenz dieses Kreises von Hitler- und Systemgegnern und wegen ihrer Nichtanzeige wurde Moltke in Schutzhaft genommen. Schutzhaft war eine „Zwangsmaßnahme der Geheimen Staatspolizei“ gegen Personen, „die durch ihr Verhalten den Bestand und die Sicherheit des Volkes und Staates gefährden“.10 Sie konnte zeitlich unbegrenzt sein und ließ keine richterliche oder rechtsstaatliche Kontrolle zu.

Im Gefängnis des Reichssicherheitshauptamtes

Nach seiner Verhaftung in der Lausschule wurde Moltke gegen 16 Uhr in das Kellergefängnis (Zelle 17) der Zentrale des RSHA in der Prinz-Albrecht-Straße 8 eingeliefert. Zuständig war für ihn das Amt IV (Gegnerbekämpfung) unter dem SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei Heinrich Müller. Dieses Amt war identisch mit dem Geheimen Staatspolizeiamt. Das Amt IV bestand aus fünf Gruppen mit jeweils vier Referenten. Eine Außenstelle, die später für Moltke wichtig wurde, saß am Kurfürstendamm 140.11

Vom 19. Januar bis zum 6. Februar 1944 saß Moltke in diesem „Hausgefängnis“ der Gestapo. Schon am 20. Januar begann er mit dem regelmäßigen Schreiben eines Tagebuchs. Zusammen mit den Briefen, die er an seine Frau schreiben durfte – der erste Brief datiert vom 23./24. Januar 1944 – verfügen wir über einen Quellenbestand, der es uns erlaubt, seine Haftzeit bis in die alltäglichen Geschehnisse und Probleme hinein zu verfolgen. Die Tagebuchaufzeichnungen, die er zur eigenen Erinnerung und zum späteren Nachlesen für Freya schrieb, enthalten vieles, was in den durch die Zensur gegangenen Briefen steht, aber auch viel Zusätzliches. Vor allem aber zeigen sie an vielen Stellen die Wirklichkeit eines Gefangenen ungeschminkter und unmittelbarer auf als in den Briefen, in denen er sich bemühte, seine Frau mit ihren Sorgen und Ängsten nicht noch mehr durch detailliertere Schilderungen seiner Situation zwischen Leben und Sterben zu belasten. Tagebücher und Briefe können sich gegenseitig ergänzen und kommentieren.

Moltke hatte seine Haft angetreten mit einem Koffer in der Hand. Er enthielt, was er bei der Verhaftung zusammenkratzen konnte: persönliche Schriftstücke, darunter die letzten Briefe von Freya und Unterlagen über die ökonomische Situation des Gutsbetriebs Kreisau, dazu eine Wolldecke, ein Kopfkissen, Teeblätter und eine Zahnbürste nebst Zahnpasta. Vor allem aber hatte er seine Bibel dabei, aus der er seit langem jeden Tag einen Abschnitt las. Auch einige in Arbeit befindliche völkerrechtliche Unterlagen gingen mit ins Gefängnis.

Am Tage seiner Einlieferung stieß er mehr oder weniger zufällig auf zwei Verse aus der Bibel, die für ihn für die gesamte spätere Zeit von Bedeutung werden sollten: Jeremia 11,18ff mit der Geschichte des Anschlags der Leute von Anatot auf den Propheten, in der am Ende der Untergang der Verfolger angekündigt wird. Moltke interpretierte seit langem das Verfolgungssystem des Nationalsozialismus als zum Untergang bestimmt. Der andere Vers stand in Josua 1, 9: „Siehe, ich habe dir geboten, dass du getrost und unverzagt seist. Lass Dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der Herr, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst.“ In der Situation der Gefangenschaft getrost und unverzagt zu sein, das hat Moltke sich selbst und seiner Frau immer wieder gesagt. Er selbst war davon überzeugt, dass er und seine Frau es in der Hoffnung und Erwartung eines baldigen Endes der Verfolger sein durften. Und immer wieder ermahnte der Mann im Gefängnis seine Frau in den Widrigkeiten ihres Alltags, ihre gemeinsame Prüfung gut durchzuhalten und ihr Vertrauen auf Gottes Hilfe nicht zu verlieren.

Häufig beschrieb Moltke seine Zelle, in der er die nächsten Tage bis zum 6. Februar zubringen sollte. Das Inventar war spärlich: ein Bett mit dreiteiliger Matratze, ein Tisch, ein Stuhl, ein Gestell mit zwei Haken, eine Heizung und ein Fenster. Es fehlten ein Waschbecken und ein Toilettentopf. Von Anfang an begann sein Kampf gegen Schmutz und Dreck. Ordnung auch in den wenigen Sachen, die er besaß, zu halten und auf Reinlichkeit seiner Zelle, des eigenen Körpers und der Kleidung peinlich zu achten, machte er sich zur Tagesaufgabe. Von Anfang an organisierte er für sich einen bestimmten Tagesablauf, den er diszipliniert durchhielt und den er nur unterbrach, wenn er zur Vernehmung geholt wurde. Er wusste genau, dass der Tag eingeteilt werden musste, um einen sinnvollen Zeitrhythmus zu bekommen. Was zu vermeiden war: das Verbringen der Zeit als reine Dauer. Für ihn wurde die Zeit im Gefängnis genau so wichtig wie die Zeit draußen. Gegen das Totschlagen der Zeit und gegen das Dahindämmern gab es für ihn nur eine Gegenstrategie: Das Wachsein des Geistes und der Seele wie die Leistungsfähigkeit des Leibes. Um körperlich bestehen zu können, entwickelte er ein System des Laufens durch die Zelle und die Praxis von Kniebeugen. Später ließ er sich ein Gymnastikbuch schicken. Regelmäßige Bewegung war ihm das Gegenkonzept gegen die Gefahr eines körperlichen Abschlaffens, das auch die geistige Konzentrationsfähigkeit minderte. Diese aber war notwendig, wenn das Lesen ein Gewinn für den „inneren Menschen“ bringen sollte. Moltke wusste genau, dass es das körperliche und geistige Sterben vor dem biologischen Tod gab. Die geordnete Zeit in der Zelle wurde sein ureigener Beitrag zum Überleben. Er fühlte sich verantwortlich, seine ihm gegenwärtig auferlegte Misere zu überstehen und sein Leben für die Seinen zu erhalten.

Die ersten Außenkontakte

In der Berliner Haftzeit hat sich Moltke in Sonderheit mit biblischen Texten befasst. Noch fehlte die Möglichkeit, sich andere Bücher schicken zu lassen. Der erste Kontakt nach außen lief über Marion Yorck, die ihm zur Ergänzung seines Gefängnisessens damals wertvolle Lebensmittel zukommen ließ, bevor er Freya seine Wünsche mitteilen konnte. Diese er um die Zusendung praktischer Gegenstände wie eine Teekanne nebst Teeblättern, Zahnputzbecher, Essbesteck, Schuhputzzeug und vieles mehr, um seine Zelle in einen Wohnraum zu verwandeln. Wichtig waren ihm neben nahrhaften Garten- und Feldfrüchten vor allem Seife, saubere Leibwäsche, ein Bett- und Kopfkissenbezug. In den nächsten Monaten wiederholte er in regelmäßigen Abständen seine Bitten. Sie zeigen, dass er sich durch zusätzliche gute Nahrung gesund erhalten, durch saubere Unterwäsche und gute Kleidungsstücke auf gewohntem zivilisatorischen Niveau bleiben und seine Zelle mit Putzund Desinfektionsmitteln so sauber halten wollte, wie es nur eben ging. Nicht zu zählen sind die Pakete und Päckchen, die Freya, Marion und andere Freunde in den nächsten Monaten geschickt haben. Moltke hat diese Liebesund Freundschaftsdienste mit großer Dankbarkeit angenommen. Es waren für ihn immer Festtage, wenn er so reichlich beschenkt wurde.

Nach wenigen Tagen des Wartens auf Zeilen von Freya bekam Moltke am 28. Januar die ersten drei Briefe von Freya. Seit dem 22. Januar hat sie bis Mitte August fast jeden Tag an ihren Mann geschrieben. Von diesen Briefen hat er seelisch gelebt. Sie haben ihn durch alle Widrigkeiten und Widerwärtigkeiten hindurch getragen. Ohne sie hätte er seinen Widerstand in der Zelle nicht durchgehalten. Was Freya geschrieben hat, wissen wir aus Hinweisen in Moltkes Briefen und Tagebüchern. Ihre Briefe ins RSHA-Gefängnis und nach Ravensbrück scheinen nicht erhalten zu sein. Obwohl er von Haus aus in seinen Gefühlen nicht überschwänglich war, sind seine Briefe Zeugnisse von größter Zärtlichkeit und seelischer Nähe zu Freya. Bis zu seinem Ende war diese Frau sein Halt und sein täglicher Bezugspunkt. Sie begleitete er aus der Ferne durch ihren Tag mit ihrer Nähe zu den „Söhnchen“, mit ihren Aufgaben als Mutter und Gutsherrin, als Mittelpunkt der vielfältigen Kontakte zu Verwandten und Freunden und zu Evakuierten im Schloss. Er sah sie mit Casparchen in der Kirche in Graeditz sitzen und er sah sie auf dem Feldweg zum Bahnhof Kreisau gehen, um ihre Briefe an ihn zum Zug zu bringen. Sein großes Gefühl ihr gegenüber ist immer wieder der Dank, der Dank für 14 Jahre ehelicher Gemeinschaft. Er nannte sie sein „Ankerplätzchen“, er fühlte sich „bei ihr“ und „in ihr“ geborgen. Die beiden großen Begegnungen in seinem Leben waren für ihn seine Mutter und seine Frau Freya. Ihnen verdankte er seinen menschlichen Reichtum, sie hatten ihn mit ihrer liebenden Zuwendung geprägt. Freya bekannte er im Brief vom 1./2. Juni: „Alle meine Würzelchen sind bei Dir, mein Lieber, und holen sich dort ihre ihnen so wohl bekannte und bekömmliche Nahrung.“ Und immer wieder ermahnte er sie, das Vertrauen in die Führung Gottes nicht zu verlieren und bei ihren vielen Aufgaben mit ihrer Kraft haushälterisch umzugehen.

Fliegerangriffe auf Berlin – Leben im Gefängnis

So angenehm es für Moltke war, am Tisch oder im Bett an seine Frau und die Kinder zu denken, so unangenehm waren die fast pausenlosen Bombenangriffe auf Berlin. In der Nacht vom 28. auf den 29. Januar 1944 erlebte er das Inferno eines Luftangriffs von 596 britischen Bombern auf die Innenstadt von Berlin.12 Er erlebte ihn in seiner von außen abgesperrten Zelle, in der Licht und Heizung ausfielen. Das zerstörte Fenster wurde später durch ein Fenster aus Zellophan mit Drahtgeflecht ersetzt. Für den Kampf gegen die Kälte benutzte er einen Pullover, einen Mantel und eine Decke. Wenn es mit der Kälte zu arg wurde, marschierte er einen Kilometer im Schnelltempo durch die Zelle, sechs Schritte hin und sechs Schritte zurück. Dazu kamen Kniebeugen.

Moltke erlebte noch viele Angriffe, den gewaltsamen Tod erwartend, manchmal ihn sogar wünschend. In einer Ecke der Außenwand der Zelle hockte er und stellte sich sein Ende vor: