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Clive Cussler

Eisberg

Roman

Deutsch von

Tilman Burkhard

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Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Iceberg« bei Dodd, Mead & Company, New York.
E-Book-Ausgabe 2015 bei Blanvalet, einem Unternehmen der
Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
Copyright © der Originalausgabe 1975 by Clive Cussler.
All rights reserved throughout the world.
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Peter Lampack Agency, Inc.
551 Fifth Avenue, Suite 1613
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Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
HK· Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-15186-7
V002
www.blanvalet.de

Prolog

Der durch Drogen verursachte Schlaf verflüchtige sich allmählich, und in qualvollem Kampfe erwachte das Mädchen zum Bewusstsein. In ihre sich langsam öffnenden Augen floss ein trübes und milchiges Licht, und in ihre Nase stieg ein abscheulicher fauliger Gestank. Sie war nackt, ihr bloßer Rücken war an eine feuchte, gelbe, mit Schleim überzogene Wand gepresst. Es ist nicht wahr, es ist einfach unmöglich, versuchte sie sich während des Erwachens einzureden. Es musste eine Art entsetzlicher Albtraum sein. Noch bevor sie jedoch die in ihr aufsteigende Panik niederzukämpfen vermochte, wuchs plötzlich noch viel mehr gelber Schleim vom Boden hoch und kroch die Schenkel ihres wehrlosen Körpers empor. Völlig außer sich vor Schrecken, begann sie zu schreien, wahnsinnig zu schreien, während der abscheuliche Schleim ihre nackte, schweißnasse Haut überzog. Ihre Augen quollen aus den Höhlen und sie wehrte sich verzweifelt. Es war zwecklos – ihre Hand- und Fußgelenke waren fest an die schlammbedeckte Wand gekettet. Langsam und stetig kroch der widerliche Schleim über ihre Brüste. Und gerade als er die Lippen des Mädchens berührte, hallte ein entsetzlicher Lärm durch das Dunkel des Zimmers, und eine unsichtbare Stimme sagte: »Es tut mir Leid, dass ich Ihre interessante Lektüre unterbrechen muss, Lieutenant, aber die Pflicht ruft.«

Lieutenant Sam Neth klappte das Buch, das er in seiner Hand hielt, zu. »Verdammt, Rapp«, sagte er zu dem säuerlich dreinblickenden Mann, ebenfalls ein Lieutenant, der neben ihm im dröhnenden Cockpit saß, »jedes Mal, wenn ich an eine spannende Stelle komme, mischen Sie sich ein.«

Rapp deutete auf das Buch. Auf dem Umschlag war ein Mädchen zu sehen, das in einem Becken voll gelben Schlamms steckte und, wie Rapp folgerte, durch ein Paar riesige Brüste vorm Untergehen bewahrt wurde. »Wie können Sie diesen Schwachsinn nur lesen?«

»Schwachsinn?« Neth verzog sein Gesicht schmerzlich. »Sie mischen sich nicht nur in meine Privatangelegenheiten, Lieutenant, Sie gefallen sich auch noch in der Rolle meines persönlichen Buchkritikers!« Er rang in gespielter Verzweiflung die Hände. »Warum spannt man mich nur immer mit einem Copiloten zusammen, dessen primitives Gehirn sich weigert, den Bildungsstand unserer Zeit zu akzeptieren?« Neth legte das Buch auf ein primitiv zusammengebautes Gestell, das in einem Seitenfach an einem Kleiderhaken aufgehängt war. Einige zerlesene Zeitschriften, die nackte Mädchen in zahlreichen verführerischen Posen zeigten, lagen ebenfalls auf dem Gestell und ließen erkennen, dass Neth, was die Literatur betraf, nicht unbedingt auf die Klassiker eingeschworen war.

Neth seufzte, dann richtete er sich in seinem Sitz auf und blickte durch die Windschutzscheibe hinunter auf das Meer.

Das Patrouillenflugzeug der U.S.-Küstenwache war nun schon seit vier Stunden und zwanzig Minuten auf einem langweiligen achtstündigen Routineflug, um einen Eisberg zu überwachen, dessen Weg kartographisch festgehalten werden sollte. Die Sicht war, bei wolkenlosem Himmel, glasklar, und es herrschte eine sanfte Dünung – für den Nordatlantik Mitte März selten gute Bedingungen. Im Cockpit kümmerte sich Neth mit vier Mitgliedern der Crew um die Steuerung und Navigation der riesigen vierstrahligen Boeing, während die restlichen sechs Mann im Laderaum Dienst taten und den Radarschirm sowie andere wissenschaftliche Instrumente überwachten. Neth schaute auf seine Uhr, wendete das Flugzeug in einem weiten Bogen und brachte es auf direkten Kurs zur Küste von Neufundland.

»Genug für heute.« Neth lehnte sich zurück und griff wieder nach seiner Horrorgeschichte. »Bitte, Rapp, beweisen Sie ein bisschen Selbständigkeit. Bis wir in St. John’s sind, möchte ich nicht mehr gestört werden.«

»Ich werd’s versuchen«, antwortete Rapp. »Übrigens, wenn das Buch wirklich so spannend ist, können Sie es mir vielleicht leihen, wenn Sie damit fertig sind?«

Neth gähnte. »Tut mir Leid, ich verleihe aus Prinzip keine Bücher.« Plötzlich knackte es in den Kopfhörern, und er griff nach dem Mikrophon. »Okay, Hadley, was haben Sie auf dem Herzen?«

Hinten, im schwach erleuchteten Rumpf der Maschine, starrte der Obergefreite Buzz Hadley angestrengt auf den Radarschirm, das Gesicht vom unwirklichen, grünen Schimmer des Schirms übergossen. »Ich habe ein seltsames Signal, Sir. Achtzehn Meilen von hier, Richtungskoordinaten drei-vier-sieben.«

»Immer mit der Ruhe, Hadley. Was meinen Sie mit seltsam? Beobachten Sie einen Eisberg oder empfangen Sie auf Ihrem Gerät einen alten Draculafilm?«

»Vielleicht hat er ebenfalls Ihre Horrorgeschichte gelesen«, grunzte Rapp.

Hadley meldete sich wieder: »Wenn man nach Aussehen und Größe urteilt, ist es ein Eisberg, aber für gewöhnliches Eis ist das Signal viel zu stark.«

»Na gut«, seufzte Neth. »Wir werden uns die Sache einmal ansehen.« Er wandte sich missmutig an Rapp: »Seien Sie so nett und bringen Sie uns auf Kurs drei-vier-sieben.«

Rapp nickte, zog das Steuer herum und brachte die Maschine auf den neuen Kurs. Das Flugzeug, das vom ständigen Dröhnen der vier Pratt-Whitney-Motoren vibrierte, ging sanft in die Kurve, dem neuen Ziel entgegen.

Neth nahm das Fernglas und richtete es auf die unendliche Wasserfläche. Er stellte die Brennweite ein und hielt das Glas so ruhig, wie es ihm das Vibrieren der Maschine erlaubte. Dann erblickte er ihn – ein weißer unbewegter Fleck inmitten einer türkis schimmernden See. Langsam wuchs der Eisberg in seinem Fernglas an, als das Flugzeug sich ihm näherte. Neth ergriff das Mikrophon: »Was meinen Sie dazu, Sloan?«

Lieutenant Jonis Sloan, an Bord zuständig für Eisberge und ihre Beobachtung, musterte den Berg durch die halbgeöffnete Tür des Laderaums hinter der Kontrollkabine.

»Nichts Besonderes, normaler Durchschnitt«, hörte man Sloans Stimme im Kopfhörer. »Ein Tafelberg mit ebener Spitze. Ich schätze: Sechzig Meter hoch und vielleicht eine Million Tonnen schwer.«

»Durchschnitt?« Neth schien ziemlich überrascht. »Nichts Besonderes? Ich bedanke mich für Ihre äußerst aufschlussreichen Bemerkungen, Sloan. Ich kann es kaum erwarten, bis ich ihn zu Gesicht kriege.« Er wandte sich an Rapp: »Wie hoch sind wir?«

Rapp schaute starr geradeaus. »Dreihundertfünfzig Meter. Dieselbe Höhe, in der wir schon den ganzen Tag fliegen … und gestern auch … und vorgestern …«

»Ich wollte mich bloß vergewissern. Danke«, unterbrach ihn Neth sarkastisch. »Sie werden es nie erfahren, Rapp, wie sehr Ihre enormen Talente an den Kontrollgeräten mir in meinem Alter ein Gefühl der Sicherheit vermitteln.« Er setzte eine verbeulte Fliegerbrille auf, schützte so seine Augen gegen den eisigen Wind und öffnete das Seitenfenster, um den Eisberg genauer zu beobachten. »Da ist er!«, schrie er Rapp zu. »Fliegen Sie ein paar Mal über ihn weg, dann werden wir schon entdecken, was es zu entdecken gibt!«

Es dauerte nur ein paar Sekunden, und Neth hatte das Gefühl, sein Gesicht wäre so zerstochen wie ein Nadelkissen. Die eisige Luft riss an seiner Haut, bis sie völlig taub war. Er biss die Zähne zusammen und richtete seinen Blick fest auf den Berg.

Die riesige Eismasse sah aus wie ein aufgetakeltes Geisterschiff, als sie majestätisch unter dem Fenster des Cockpits dahintrieb. Rapp nahm das Gas zurück, zog vorsichtig den Steuerknüppel nach links und sanft kurvte die Maschine nach Backboard ein. Er ignorierte den Richtungsanzeiger und riskierte einen Blick über Neths Schulter auf die glitzernde Eismasse. Er umkreiste den Berg dreimal und wartete auf das Zeichen Neths, wieder auf Geradeausflug zu gehen. Schließlich zog Neth den Kopf in die Kabine zurück und nahm das Mikrophon zur Hand: »Hadley! Der Berg ist so blank wie der Hintern eines Neugeborenen!«

»Es muss etwas dort sein, Lieutenant«, war Hadleys Stimme zu vernehmen. »Ich habe ein wundervolles Echozeichen auf meinem …«

»Ich glaube, ich habe ein dunkles Objekt ausgemacht, Käpt’n«, schaltete Sloan sich ein. »Knapp über der Wasserlinie auf der Westseite.«

Neth wandte sich Rapp zu: »Gehen Sie auf sechzig bis siebzig Meter runter!«

Rapp reagierte wie befohlen. Er umkreiste den Berg noch einmal einige Minuten lang, wobei er die Geschwindigkeit nur knapp dreißig Stundenkilometer über dem Punkt hielt, an dem die Maschine abschmieren würde.

»Näher«, murmelte Neth gespannt. »Noch mal dreißig Meter.«

»Warum landen wir eigentlich nicht auf dem verdammten Ding?«, bot Rapp beiläufig an. Wenn seine Nerven auch aufs äußerste angespannt waren, so ließ er sich doch nichts anmerken. Er sah aus, als wollte er gleich in tiefen Schlaf fallen. Nur die winzigen Schweißperlen über seinen Augenbrauen verrieten die totale Konzentration, die für diesen riskanten handgesteuerten Flug nötig war. Die blauen Wellen schienen so nah, dass er das Gefühl hatte, er könnte Neth über die Schulter langen und sie mit Händen greifen. Und um seine Anspannung noch zu erhöhen, türmten sich jetzt die Wände des Eisbergs hoch über dem Flugzeug auf, und der Gipfel verschwand vollständig über dem Rahmen des Cockpitfensters. Ein einziger Ruck, dachte er, eine kurze heimtückische Bö, und die Spitze des Backbordflügels taucht in einen Wellenkamm und die ganze großartige Maschine verwandelt sich augenblicklich in einen wirbelnden Trümmerhaufen.

Endlich entdeckte Neth etwas … etwas Undeutliches, Schemenhaftes, an der Grenze zwischen Wirklichkeit und Einbildung. Langsam nahm es feste Formen an; es schien von Menschenhand zu stammen. Schließlich – Rapp kam es wie nach einer Ewigkeit vor – schloss Neth das Fenster wieder und schaltete das Mikrophon ein.

»Sloan? Haben Sie es gesehen?« Die Worte klangen dumpf und unklar, als ob Neth in ein Kissen spräche. Zuerst dachte Rapp, dass Neths Kiefer und Lippen eingefroren wären, doch als er ihn verstohlen musterte, bemerkte er verblüfft, dass Neths Gesicht nicht vor Kälte, sondern aus purem Entsetzen erstarrt war.

»Ich habe es gesehen.« Wie ein mechanisches Echo kam Sloanes Stimme über die Bordanlage. »Aber ich kann es einfach nicht glauben.«

»Ich auch nicht«, erwiderte Neth. »Aber es ist dort unten – ein Schiff, ein Geisterschiff, das im Eis verpackt ist.« Er wandte sich an Rapp und schüttelte den Kopf, als traute er seinen eigenen Worten nicht. »Ich konnte keine Einzelheiten erkennen … nur die verwischten Umrisse des Bugs oder möglicherweise des Hecks, das war nicht sicher auszumachen.«

Er setzte die Brille ab und deutete mit dem rechten Daumen in die Höhe, für Rapp das Zeichen, die Maschine hochzuziehen. Dankbar atmete Rapp auf und schuf endlich wieder einen beruhigenden Abstand zwischen der Maschine und dem kalten Atlantik.

»Entschuldigen Sie, Lieutenant«, ließ sich Hadley über den Kopfhörer vernehmen. Er beugte sich über sein Radargerät und beobachtete sorgfältig einen kleinen weißen Punkt, der sich fast genau in der Mitte des Schirms befand. »Die Gesamtlänge dieses Dings im Berg beträgt ungelogen vierzig Meter.«

»Höchstwahrscheinlich ein verlassener Fischkutter.« Neth massierte intensiv seine Wangen, wobei er Schmerzen verspürte, als das Blut wieder zu zirkulieren begann.

»Soll ich mich mit dem District Headquarters in New York in Verbindung setzen und eine Rettungsmannschaft anfordern?«, fragte Rapp sachlich.

Neth schüttelte den Kopf. »Es ist nicht nötig, ein Rettungsschiff hierherzuhetzen. Ganz offensichtlich gibt es keine Überlebenden. Wir werden einen genauen Bericht verfassen, wenn wir zurück in Neufundland sind.«

Es entstand eine Pause. Dann bat Sloan: »Fliegen Sie noch mal über den Eisberg, Käpt’n. Ich möchte ihn farbig markieren, damit wir ihn rascher wiederfinden.«

»Sie haben Recht, Sloan. Werfen Sie die Markierung ab, wenn ich Ihnen ein Zeichen gebe.« Neth wandte sich Rapp zu: »Überfliegen Sie den Berg in hundert Meter Höhe.«

Die Boeing, deren vier Motoren immer noch mit gedrosselter Kraft liefen, schwebte wie ein ungeschlachter Vogel aus dem Mesozoikum, der auf Nestsuche war, über den imposanten Eisberg. Am Rumpfende des Laderaums hob Sloan seinen Arm und wartete. Dann warf er auf Neths Kommando ein Gurkenglas voll roter Farbe hinaus. Das Glas wurde kleiner und kleiner, schrumpfte zu einem winzigen Punkt zusammen und schlug endlich auf der glatten Oberfläche des Zieles auf. Ein zinnoberrot leuchtender Fleck breitete sich langsam auf der Millionen von Tonnen schweren Eismasse aus.

»Genau getroffen.« Neths Stimme klang beinahe heiter. »Die Rettungsmannschaft wird ihn ohne Schwierigkeiten finden.« Dann verdüsterte sich sein Gesicht plötzlich und er starrte auf den kleinen Fleck hinab, wo das Schiff eingesargt lag. »Arme Teufel! Ich frage mich, ob wir jemals erfahren, was ihnen zugestoßen ist.«

Rapps Blick wurde nachdenklich. »Sie hätten sich jedenfalls keinen größeren Grabstein aussuchen können.«

»Der wird aber nicht lange halten. Zwei Wochen, nachdem dieser Berg im Golfstrom treibt, wird von ihm so wenig übrig sein, dass es nicht einmal reicht, ein paar Dosen Bier zu kühlen.«

In der Kabine breitete sich Schweigen aus, eine Stille, die durch das ununterbrochene Dröhnen der Maschine nur noch unterstrichen wurde. Einige Minuten lang sprach niemand, jeder war in seine eigenen Gedanken versunken. Sie konnten lediglich gebannt auf die weiße Bergspitze starren, die unheildrohend aus dem Meer emporragte, und Vermutungen über das Geheimnis anstellen, das unter ihrem Eismantel begraben lag.

Schließlich lehnte Neth sich in seinen Sessel zurück, bis er fast waagrecht lag, und gab sich wieder als der alte, durch nichts aus der Ruhe zu bringende Kapitän: »Ich würde vorschlagen, Lieutenant, dass Sie uns heimfliegen, bevor die Benzinuhren auf Null stehen. Es sei denn, Sie haben ein unbezwingliches Verlangen, mit dieser Klapperkiste zu wassern.« Er grinste anzüglich. »Und bitte, keine Verzögerungen mehr.«

Rapp warf Neth einen vernichtenden Blick zu, dann zuckte er die Achseln und brachte das Patrouillenflugzeug zum zweiten Mal auf Kurs Neufundland.

Als die Maschine der Küstenwache verschwunden und das gleichmäßige Dröhnen ihrer Motoren in der kalten, salzigen Luft verklungen war, lag der turmhohe Eisberg wieder eingehüllt in Totenstille, wie während des ganzen Jahres, das vergangen war, seit er an der Westküste Grönlands von einem Gletscher ins Meer geglitten war.

Plötzlich bewegte sich aber knapp über der Wasserlinie etwas. Zwei verwischte Schatten verwandelten sich unmerklich in zwei Männergestalten, die sich langsam erhoben und in Richtung des Flugzeugs, das verschwunden war, blickten. Für das bloße Auge waren sie aus einer Entfernung von mehr als zwanzig Schritten schon nicht mehr erkennbar – beide trugen weiße Schneeanzüge, die vollkommen vor dem farblosen Hintergrund verschwanden.

Sie standen lange Zeit da, warteten und horchten geduldig. Dann, als sie sicher waren, dass das Flugzeug nicht zurückkehren wurde, kniete einer der beiden Männer sich nieder, scharrte das Eis beiseite und holte ein kleines Funkgerät hervor. Er zog die drei Meter lange Teleskopantenne aus, stellte die Frequenz ein und fing an zu kurbeln. Er brauchte sich weder besonders kräftig, noch besonders ausdauernd zu bemühen. Irgendwo wurde sein Sender ständig überwacht; die Antwort ließ jedenfalls nicht lange auf sich warten.

1

Lieutenant Lee Koski klemmte den Stiel seiner Maiskolbenpfeife noch fester zwischen die Zähne, schob seine derben Fäuste noch fünf Zentimeter tiefer in seine pelzbesetzte Windjacke und zitterte trotzdem in der eisigen Kälte. Der einundvierzig Jahre und zwei Monate alte Koski, der schon achtzehn Jahre seines Lebens im Dienst der U.S.-Küstenwache verbracht hatte, war klein, sehr klein, und die schwere, dicke Kleidung ließ ihn fast so breit wie hoch erscheinen. Die blauen Augen unter dem schütteren weizenblonden Haar leuchteten mit einer Kraft, die anscheinend von nichts getrübt werden konnte, ganz gleich, wie er gelaunt war. Er besaß die Selbstsicherheit, die alle Perfektionisten auszeichnet, eine Eigenschaft, die nicht unwesentlich zu seiner Berufung als Kommandant des neuesten Schnellboots der Küstenwache, der Catawaba, beigetragen hatte. Er stand auf der Brücke wie ein Kampfhahn, breitbeinig, und dachte nicht im Traum daran, den Koloss von einem Mann, der neben ihm stand, anzusehen, als er mit ihm sprach.

»Sogar mit Radar werden sie sich schwer tun, uns bei diesem Wetter zu finden.« Der Klang seiner Stimme war ebenso schneidend und durchdringend wie die kalte Atlantikluft. »Die Sichtweite beträgt kaum eine Meile.«

Langsam und bedächtig warf Lieutenant Amos Dover, der stellvertretende Kommandant auf der Catawaba, eine Zigarettenkippe in die Luft und betrachtete mit wissenschaftlichem Interesse, wie der rauchende weiße Stummel vom Wind über die Schiffsbrücke weit hinaus in die bewegte See gerissen wurde.

»Es wurde auch nichts ändern, wenn sie es schafften«, quetschte er undeutlich zwischen den Lippen hervor, die in dem eisigen Wind blau angelaufen waren. »So wie wir hier herumschlingern, müsste der Hubschrauberpilot entweder strohdumm oder stinkbesoffen oder beides sein, wenn er auch nur im entferntesten daran dächte, hier herunterzugehen.« Dabei deutete er mit dem Kinn auf die Landeplattform der Catawaba, die von der sprühenden Gischt völlig nass war.

»Manchen Leuten ist es gleich, wie sie sterben«, sagte Koski ernst.

»Niemand kann behaupten, sie wären nicht gewarnt worden.« Dover sah nicht nur aus wie ein großer Bär, auch seine Stimme schien tief aus dem Leib zu kommen, sodass sie wie ein Brummen klang. »Ich habe den Hubschrauber benachrichtigt, gleich nachdem er von St. John’s abgeflogen war, und ihm mitgeteilt, dass ich ihm wegen des starken Seegangs von einem Rendezvous dringend abriete. Alles, was der Pilot darauf antwortete, war ein freundliches Dankeschön.«

Es begann nun zu nieseln, und die fünfundzwanzig Knoten schnelle Brise peitschte den Regen derart über das Schiff, dass alle Männer, die auf Deck Dienst taten, schleunigst ihr Ölzeug holten. Die Catawaba und ihre Crew hatten Glück. Die Lufttemperatur lag gerade noch ein paar Grad über dem Gefrierpunkt, sonst wäre das Schiff bald mit einer Eisschicht überzogen gewesen.

Koski und Dover hatten eben ihr Ölzeug angezogen, als der Lautsprecher auf der Brücke metallisch knackte: »Käpt’n, wir haben eben den Vogel im Radar reingekriegt und leiten ihn her.«

Koski griff zu seinem Sprechfunkgerät und bestätigte den Empfang: »Ich fürchte, da braut sich ein Unwetter zusammen.«

»Sie wollen wissen, wieso wir eigentlich unbedingt Passagiere an Bord nehmen sollen?«

»Wollen Sie es nicht wissen?«

»Allerdings. Und ich möchte weiter wissen, warum der Befehl, sich zur Verfügung zu halten und einen Zivilhubschrauber an Bord zu nehmen, direkt aus dem Hauptquartier in Washington und nicht von unserer eigenen Bezirkszentrale kam.«

»Es war verdammt unklug vom Kommandanten«, brummte Koski, »uns nicht zu erzählen, was diese Leute wollen. Eines ist sicher: Eine Vergnügungsreise nach Tahiti ist das nicht.«

Koski erstarrte plötzlich und horchte in die Richtung, aus der das unverkennbare Knattern der Rotorblätter eines Helikopters ertönte. Eine halbe Minute lang blieb er noch unsichtbar hinter den Wolken, dann erblickten ihn die beiden Männer gleichzeitig. Der Hubschrauber kam von Westen durch den dünnen Regen und hielt direkt auf das Schiff zu. Koski identifizierte ihn sofort als die zweisitzige zivile Version des Ulysses Q-55, einer Maschine, die über vierhundertfünfzig Kilometer in der Stunde fliegen konnte.

»Er ist verrückt, wenn er es versucht«, erklärte Dover trocken.

Koski sagte nichts. Er griff erneut nach seinem Walkie-Talkie und schrie: »Setzen Sie sich mit dem Piloten des Helikopters in Verbindung und sagen Sie ihm, er soll nicht versuchen zu landen, solange wir durch drei Meter hohe Wellen stampfen. Sagen Sie ihm, dass ich jede Verantwortung für sein Wahnsinnsunternehmen ablehne.«

Koski wartete ein paar Sekunden und ließ den Hubschrauber nicht aus den Augen: »Also?«

Es krachte im Lautsprecher: »Der Pilot sagt, er wäre Ihnen für Ihre Anteilnahme äußerst dankbar, Käpt’n. Ferner lässt er fragen, ob Sie ein paar Männer zur Hand haben, die das Fahrgestell sichern, sobald er auf dem Landeplatz aufsetzt.«

»Er ist ein liebenswürdiger Scheißkerl«, grunzte Dover. »Das muss man ihm zugute halten.«

Koski schob sein Kinn vor und umklammerte den Stiel seiner Pfeife mit der Gewalt eines Schraubstocks. »Zur Hölle mit seiner Liebenswürdigkeit! Die Chancen stehen ausgezeichnet, dass dieser Idiot mir ein gutes Stück von meinem Schiff zertrümmert.« Er zuckte resigniert die Achseln, ergriff ein Megaphon und schrie in das Mundstück: »Inspizient Thorp! Halten Sie Ihre Leute bereit, um diesen Vogel bei der Landung zu sichern. Aber lassen Sie sie um Gottes willen so lange in Deckung bleiben, bis er sicher aufgesetzt hat – und halten Sie auch eine Rettungsmannschaft bereit!«

»Ich würde in diesem Augenblick um keinen Preis mit den Burschen dort oben tauschen«, meinte Dover mit seiner Bärenstimme, »selbst wenn ich dafür alle Schönheitsköniginnen Hollywoods bekäme.«

Die Catawaba durfte auf keinen Fall geraden Kurs mit dem Wind halten, überlegte Koski, sonst würden die durch die Schiffsaufbauten verursachten Turbulenzen den Hubschrauber ins sichere Verderben schleudern. Wenn er das Schiff andererseits quer zum Wind stellte, würde es viel zu stark rollen, um eine sichere Landung auf der Plattform zu erlauben. Seine jahrelangen Erfahrungen und sein Urteilsvermögen, gepaart mit dem Wissen um die Eigenheiten der Catawaba, ließen seinen Entschluss fast zu einer Routineentscheidung werden. »Wir werden ihn mit Rückenwind herlotsen, mit dem Bug gegen die See. Drosseln Sie die Geschwindigkeit und veranlassen Sie den nötigen Kurswechsel.«

Dover nickte und verschwand im Ruderhaus. Etwas später erschien er wieder. »Befehl ausgeführt. Das Schiff liegt mit der See und läuft so gleichmäßig, wie es der Seegang erlaubt.«

Gebannt starrten Koski und Dover auf den hellgelben Helikopter. Er schwebte durch den Nebel heran und näherte sich in einem Dreißig-Grad-Winkel zu dem gischtenden Kielwasser dem Heck der Catawaba. Obwohl der Wind die Ulysses arg herumstieß, gelang es dem Piloten, die Maschine auf gleicher Höhe zu halten. Nach etwa hundert Metern ging er allmählich mit der Geschwindigkeit herunter, bis er schließlich wie ein Kolibri über der auf und ab schaukelnden Plattform in der Luft stand. Der Helikopter – Koski kam es wie eine Ewigkeit vor – behielt noch immer seine Höhe bei; der Pilot versuchte abzuschätzen, wie hoch sich das Heck des Schnellboots mit jedem Wellenberg hob. Als die Landeplattform sich wieder einmal auf dem Gipfelpunkt befand, nahm er plötzlich Gas weg, und die Ulysses setzte sauber auf der Catawaba auf, nur einen Augenblick, bevor das Heck wieder in das nächste Wellental sackte.

Die Kufen hatten kaum die Plattform berührt, als auch schon fünf Männer der Schiffscrew über das schwankende Deck flitzten und im Kampf mit dem Sturm begannen, den Helikopter abzusichern, ehe dieser ins Wasser gefegt wurde. Der Motor erstarb, die Rotorblätter hörten auf sich zu drehen, und an der Seite des Cockpits öffnete sich eine Tür. Zwei Männer sprangen herunter, mit eingezogenen Köpfen, gegen den peitschenden Sprühregen.

»Dieser Hundesohn!«, murmelte Dover verblüfft. »Es sah aus, als wäre es eine Routinesache!«

Koskis Gesicht verhärtete sich. »Ich kann den beiden nur wünschen, dass sie ein erstklassiges Empfehlungsschreiben haben. Und dass ihr Amtssitz das Hauptquartier der Küstenwache in Washington ist.«

Dover lächelte. »Vielleicht sind es Mitglieder des Kongresses, die sich auf einer Inspektionsreise befinden.«

»Unwahrscheinlich«, erwiderte Koski kurz.

»Soll ich sie in Ihre Kabine bringen?«

Koski schüttelte den Kopf. »Nein. Überbringen Sie ihnen meine Empfehlungen und schaffen Sie sie in die Offiziersmesse.« Dann grinste er verschlagen. »Im Moment ist das einzige, was mich interessiert, eine Tasse Kaffee.«

Nach genau zwei Minuten saß Commander Koski an einem Tisch in der Offiziersmesse und umfasste mit seinen durchgefrorenen Händen dankbar einen Becher mit dampfendem Kaffee. Er hatte ihn fast zur Hälfte geleert, als sich die Tür öffnete und Dover den Raum betrat, gefolgt von einem rundlichen Menschen mit einer großen randlosen Brille, die auf einem kahlen, von wirrem weißen Haar umkränzten Kopf saß. Auf den ersten Blick wirkte er auf Koski wie der berühmte zerstreute Professor. Sein Gesicht war rund, sein Ausdruck gütig, und in seinen braunen Augen steckte ein verschmitztes Lächeln. Der Neuankömmling erblickte den Commander, ging auf seinen Tisch zu und streckte ihm die Hand entgegen.

»Commander Koski, nehme ich an. Hunnewell ist mein Name – Dr. Bill Hunnewell. Es tut mir Leid, dass ich Sie so belästige.«

Koski erhob sich und schüttelte Hunnewell die Hand. »Willkommen an Bord, Doktor. Bitte setzen Sie sich doch und trinken Sie eine Tasse Kaffee.«

»Kaffee? Ich kann dieses Zeug nicht ausstehen«, erwiderte Hunnewell düster. »Aber ich würde für mein Leben gern eine Tasse heißen Kakao trinken.

»Kakao haben wir da«, erklärte Koski liebenswürdig. Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und rief: »Brady!«

Ein Steward in einer weißen Jacke kam aus der Kombüse zum Vorschein. Er war groß und mager und seinen Gang konnte er sich nur in Texas angeeignet haben. »Ja, Sir? Was darf es sein?«

»Eine Tasse Kakao für unseren Freund und zwei weitere Becher Kaffee für Lieutenant Dover und …« Koski hielt inne und schaute fragend hinter Dover. »Ich glaube, Doktor Hunnewells Pilot fehlt noch?«

»Er ist in einer Minute da.« Dover sah unglücklich aus. Es schien, als wollte er Koski warnen. »Er wollte sich erst noch vergewissern, dass der Hubschrauber auch sicher vertäut ist.«

Koski blickte Dover durchdringend an, dann wandte er sich ab. »Das ist alles, Brady. Bringen Sie gleich die ganze Kanne. Ich kann auch noch einen Becher Kaffee vertragen.«

Brady nickte bestätigend und kehrte in die Kombüse zurück.

»Es ist wirklich angenehm«, meinte Doktor Hunnewell, »wieder vier feste Wände um sich zu haben. In dieser Schaukelkiste zu sitzen und nur durch eine Plastikwand von den Naturgewalten getrennt zu sein, genügt, um graue Haare zu bekommen.« Er fuhr sich über den schütteren weißen Haarkranz und grinste.

Koski setzte seinen Becher ab und sah Hunnewell ernst an. »Ich glaube, Sie haben nicht bemerkt, Dr. Hunnewell, wie dicht Sie daran waren, nicht nur Ihre wenigen Haare zu verlieren, sondern gleich Ihr Leben. Es war überaus leichtfertig von Ihrem Piloten, bei diesem Wetter überhaupt an einen Flug zu denken.«

»Ich kann Ihnen versichern, Sir, dass dieser Ausflug notwendig war.« Hunnewell sprach in einem wohlwollend freundlichen Ton, wie er vielleicht einen Schuljungen belehrt hätte. »Sie, Ihr Schiff und Ihre Mannschaft haben eine hochwichtige Aufgabe zu erfüllen, und alles kommt auf eine pünktliche Erledigung an. Wir können es uns nicht leisten, auch nur eine Minute zu verlieren.« Er zog einen Stoß Papiere aus seiner Brusttasche und schob sie Koski über den Tisch zu. »Ich muss Sie bitten, sofort Kurs auf dieses Gebiet zu nehmen. Inzwischen erkläre ich Ihnen unser Erscheinen hier.«

Koski nahm die Papiere an sich, ohne sie durchzusehen. »Verzeihen Sie, Doktor Hunnewell, aber ich bin nicht befugt, Ihren Wünschen zu entsprechen. Der einzige Befehl, den ich von der Zentrale erhalten habe, ist der, zwei Passagiere an Bord zu nehmen. Es wurde nichts davon erwähnt, dass Sie das Kommando über mein Schiff zu übernehmen hätten.«

»Sie verstehen nicht.«

Koski warf Hunnewell über seinen Kaffeebecher hinweg einen durchbohrenden Blick zu. »Das, Doktor, ist einigermaßen untertrieben. In welcher Eigenschaft kommen Sie? Weshalb sind Sie hier?«

»Beruhigen Sie sich, Commander. Ich bin kein feindlicher Agent, der auf Ihrem wertvollen Schiff Sabotage treiben will. Ich habe meinen Dr. phil. in Ozeanographie gemacht, und zur Zeit bin ich bei der National Underwater and Marine Agency beschäftigt.«

»Ich wollte Sie nicht kränken«, erwiderte Koski ruhig. »Aber trotzdem bleibt noch eine Frage offen.«

»Vielleicht kann ich sie Ihnen beantworten.« Die neue Stimme hörte sich sanft an, doch schwang in ihr eine selbstbewusste Sicherheit mit.

Koski richtete sich in seinem Stuhl auf und drehte sich nach einem großen, gut aussehenden Mann um, der lässig im Türrahmen lehnte. Das von Wind und Wetter gegerbte Gesicht, die harten, beinahe brutalen Züge und die durchdringenden grünen Augen, all das ließ darauf schließen, dass dieser Mann sich nicht auf der Nase herumtanzen ließ. Er trug die blaue Fliegerkombination der Air Force, blickte gelangweilt durch den Raum, und dann grinste er Koski herablassend an.

»Ah, da sind Sie ja«, sagte Hunnewell laut. »Commander Koski, darf ich Ihnen Major Dirk Pitt, den Leiter des Sonderdezernats der NUMA, vorstellen?«

»Pitt?«, wiederholte Koski verblüfft. Er starrte Dover an und zog eine Augenbraue hoch. Dover zuckte nur die Achseln und sah aus, als fühlte er sich nicht recht wohl in seiner Haut. »Etwa derselbe Pitt, der letztes Jahr den Unterwasserschmuggel in Griechenland aufgedeckt hat?«

»Es waren wenigstens zehn Leute, die mehr als ich dazu beigetragen haben«, meinte Pitt.

»Ein Offizier der Luftwaffe, der an einem ozeanographischen Projekt arbeitet«, sagte Dover. »Das ist ja nicht gerade Ihr Metier, Major.«

Die Falten um Pitts Augen wurden zur Basis eines Lächelns. »Es ist genauso wenig mein Metier, wie es für die Leute von der Marine ihr Metier war, zum Mond zu fliegen.«

»Da haben Sie allerdings Recht«, pflichtete ihm Koski bei.

Brady erschien und servierte den Kaffee und den Kakao. Er ging wieder, tauchte jedoch gleich noch einmal auf mit einem Tablett voller Sandwiches, um dann endgültig zu verschwinden.

Koski war es höchst ungemütlich zumute. Ein Wissenschaftler von einer einflussreichen Regierungsbehörde – das konnte kaum etwas Gutes bedeuten. Ein Offizier, der aus einer völlig anderen Waffengattung stammte und für seine gefährlichen Eskapaden bekannt war – das war ausgesprochen schlecht. Und wenn gar beide zusammen auftraten, ihm hier am Tisch gegenübersaßen und ihm vorschrieben, was er zu tun und zu lassen hatte, so war das fast schlimmer als die Pest.

»Wie gesagt, Commander«, sagte Hunnewell ungeduldig, »wir müssen so schnell wie möglich Kurs auf das von mir genannte Gebiet nehmen.«

»Nein«, lehnte Koski brüsk ab. »Es tut mir leid, wenn ich starrköpfig erscheine, doch Sie müssen mir zustimmen, dass es mein Recht ist, die Ausführung Ihrer Befehle zu verweigern. Als Kapitän dieses Schiffes bin ich lediglich verpflichtet, den Anweisungen zu gehorchen, die entweder von der Bezirksleitung der Coast Guard in New York oder aus der Zentrale in Washington kommen.« Er legte eine Pause ein, um sich eine neue Tasse Kaffee einzugießen. »Und meine Befehle lauten, zwei Passagiere an Bord zu nehmen, nicht mehr und nicht weniger. Ich habe diesem Befehl entsprochen, und jetzt setze ich meinen ursprünglichen Patrouillenkurs fort.«

Pitts Augen musterten Koskis steinerne Gesichtszüge ebenso, wie ein Metallurg einen hochwertigen Stahlguss auf Fehler untersucht hätte.

Plötzlich stand er auf. Er ging bedächtig zur Kombüsentür hinüber und warf einen Blick in die Küche hinein. Brady war gerade dabei, einen großen Sack Kartoffeln in einen Dampftopf zu schütten. Dann wandte Pitt sich, immer noch schweigend, um und inspizierte den Korridor vor der Messe. Sein kleiner Trick funktionierte; Koski und Dover tauschten verwirrte Blicke aus, während sie seine Bewegungen verfolgten. Als er sicher zu sein schien, dass sie keine Lauscher hatten, ging Pitt zum Tisch, setzte sich und beugte sich zu den beiden Offizieren der Coast Guard hinüber. Seine Stimme war nur noch ein Flüstern: »Meine Herren, es handelt sich um folgendes: Die Papiere, die Dr. Hunnewell Ihnen gegeben hat, beschreiben den ungefähren Standort eines Eisbergs, der für uns von größter Bedeutung ist.«

Koski stieg eine leichte Röte in die Wangen, aber es gelang ihm, eine gelassene Miene zu bewahren. »Und was, wenn ich die törichte Frage stellen darf, bezeichnen Sie als einen Eisberg von höchster Wichtigkeit?«

Pitt machte eine bedeutungsvolle Pause. Dann sagte er: »Einen, in dem die Überreste eines Schiffes eingeschlossen sind. Eines russischen Kutters, um genau zu sein, der mit den neuesten und raffiniertesten Aufklärungsgeräten ausgerüstet ist, die die Sowjets bisher entwickelt haben. Zudem beherbergt er den Code und die Daten für ihr gesamtes Aufklärungsprogramm in der westlichen Hemisphäre.«

Koski blinzelte nicht einmal. Ohne seine Augen von Pitt zu wenden, holte er unter seiner Jacke einen Tabaksbeutel hervor und begann seelenruhig seine Maiskolbenpfeife zu stopfen.

»Vor sechs Monaten«, fuhr Pitt fort, »kreuzte ein russischer Kutter namens Nowgorod einige Meilen vor der Küste Grönlands und überwachte die U.S.-Air-Force-Raketenbasis in Disko Island. Luftaufnahmen ergaben, dass die Nowgorod mit allen bisher bekannten elektronischen Empfangsantennen ausgerüstet war und auch noch einige zusätzliche, bisher unbekannte besaß. Die Russen agierten äußerst klug. Der Kutter mitsamt seiner Besatzung, 35 hervorragend ausgebildeten Männern und auch einigen Frauen, verirrte sich nie in grönländische Hoheitsgewässer. Unsere Piloten waren sogar ganz froh über ihn; sie benutzten ihn als Orientierungspunkt bei schlechtem Wetter. Die meisten russischen Spionageboote werden nach dreißig Tagen abgelöst, doch dieses behielt seine Position gut drei Monate lang bei. Unsere Marineaufklärung begann sich schon über den langen Aufenthalt zu wundern. Dann war die Nowgorod an einem stürmischen Morgen verschwunden. Das geschah fast drei Wochen, bevor das Schiff erschien, das sie ablösen sollte. Diese Verzögerung machte die ganze Angelegenheit noch mysteriöser – bis dahin war es noch nie passiert, dass die Russen ein Aufklärungsschiff zurückzogen, ehe nicht die Ablösung an Ort und Stelle war.«

Pitt schnippte die Asche von seiner Zigarette. Dann fuhr er fort: »Es gibt nur zwei Routen, die die Nowgorod auf ihrem Heimweg benutzen konnte. Die eine führt über die Ostsee nach Leningrad und die andere durch die Barentssee nach Murmansk. Die Norweger und die Briten haben jedoch aufs bestimmteste versichert, dass die Nowgorod keine von beiden befahren hat. Kurz gesagt: Irgendwo zwischen Grönland und Europa ist die Nowgorod mit Mann und Maus verschwunden.«

Koski setzte seinen Becher ab und starrte nachdenklich auf den schmutzigen Boden. »Es berührt mich merkwürdig, dass die Küstenwache darüber nicht informiert wurde. Ich weiß bestimmt, dass wir nie einen Bericht über einen vermissten russischen Kutter erhalten haben.«

»Das kam Washington ebenfalls spanisch vor. Warum sollten die Russen den Verlust der Nowgorod geheim halten? Die einzig logische Antwort war, dass sie vermeiden wollten, dass irgendeine westliche Nation die Spuren ihres modernsten Spionageschiffs entdecken könnte.«

Koskis Lippen verzogen sich zu einem sarkastischen Lächeln. »Und Sie meinen, ich kaufe Ihnen ein sowjetisches Spionageschiff, das in einen Eisberg eingeschlossen ist, ab? Kommen Sie, Major! Seit ich entdeckt habe, dass am Ende eines Regenbogens nie ein Topf voll Gold steht, glaube ich an keine Märchen mehr.«

Pitt lächelte zurück. »Sei’s drum. Auf jeden Fall hat eine Ihrer eigenen Patrouillenmaschinen in einem Eisberg ein Schiff entdeckt, das genau wie ein Kutter aussieht, und zwar in 47 Grad 36 Minuten nördlicher Breite und 43 Grad 17 Minuten westlicher Länge.«

»Es stimmt«, erwiderte Koski kühl, »die Catawaba ist das Wachschiff, das dieser Position am nächsten steht. Aber warum habe ich den Befehl, die Angelegenheit zu überprüfen, nicht direkt von der New Yorker Bezirkszentrale erhalten?«

»Das ist bei Spionegeaffären immer so«, antwortete Pitt. »Das letzte, was die Jungs in Washington wollen, ist ein öffentlicher Verkehr über Funk. Zum Glück hat der Pilot der Maschine, die den Eisberg entdeckt hat, bis zu seiner Landung gewartet und erst dann einen genauen Lagebericht gegeben. Wir stellen uns natürlich vor, dass wir uns den Kutter schnappen, bevor die Russen überhaupt Wind davon kriegen. Ich glaube, Sie können sich denken, Commander, wie unschätzbar wertvoll jede geheimdienstliche Information, welche die russischen Spionageschiffe betrifft, für unsere Regierung ist.«

»Ich hielte es für vernünftiger, einige Geheimdienstleute zu dem Eisberg zu schicken, die eine Ahnung von Elektronik und vom Knacken eines Geheimcodes haben.« Die fast unmerkliche Änderung in Koskis Stimme konnte kaum als Einlenken bezeichnet werden, doch sie war nicht zu überhören. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich sage, ein Pilot und ein Ozeanograph scheinen mir hier ein bisschen fehl am Platze.«

Pitt sah Koski durchdringend an, schaute kurz zu Dover hinüber und fixierte dann wieder Koski. »Das ist nur Tarnung«, erklärte er gedämpft. »Und zwar aus folgendem Grund. Die Russen sind nicht auf den Kopf gefallen, was Spionage betrifft. Sie müssen einfach misstrauisch werden, wenn sich eine Militärmaschine in einem Gebiet über der offenen See herumtreibt, das nur wenige, wenn überhaupt irgendwelche Schiffe passieren. Die Flugzeuge der Nationalen Tiefsee- und Marinebehörde dagegen sind allgemein dafür bekannt, dass sie wissenschaftliche Projekte in abgelegenen Teilen der Meere durchführen.«

»Und wofür sind Sie qualifiziert?«

»Ich kann einen Hubschrauber bei arktischem Wetter fliegen, und Dr. Hunnewell ist zweifellos die größte Kapazität auf dem Gebiet der Glaziologie«, antwortete Pitt.

»Ich verstehe«, meinte Koski langsam. »Dr. Hunnewell untersucht den Eisberg, bevor die Jungs vom Geheimdienst die Gesellschaft hochgehen lassen.«

»Sie haben es erfasst«, bestätigte Hunnewell. »Wenn wirklich die Nowgorod unter dem Eis liegt, dann ist es meine Aufgabe, die günstigste Methode herauszufinden, um den Schiffsrumpf freizulegen.

Sie wissen sicher, dass mit einem Eisberg umzugehen einem Lotteriespiel gleicht. Es ist ähnlich wie beim Zerschneiden von Diamanten; eine falsche Berechnung des Schleifers, und alles ist aus. Zu viel Dynamit an der falschen Stelle, und das Eis springt und splittert auseinander. Oder man schmilzt zu stark und zu rasch ab, der Schwerpunkt verschiebt sich, und der ganze Berg kippt um. Sie sehen also, dass es unbedingt notwendig ist, das Eis gründlich zu untersuchen. Sonst bekommt man die Nowgorod nie frei.«

Koski lehnte sich zurück und entspannte sich. Sein Blick ruhte einen Moment lang auf Pitt, dann lächelte er. »Lieutenant Dover!«

»Sir?«

»Bitte erfüllen Sie das Begehren dieser Herrschaften und nehmen Sie Kurs auf 47 Grad 36 Minuten Nord, 43 Grad 17 Minuten West, volle Kraft voraus. Und benachrichtigen Sie die Bezirksleitung in New York, dass wir unsere Position verlassen.«

Er schaute, ob sich irgendetwas in Pitts Miene veränderte. Aber dieser blieb unbewegt. »Nicht, dass ich Ihnen zu nahe treten wollte«, meinte er allerdings. »Aber ich schlage vor, dass Sie Ihre Bezirksleitung lieber nicht unterrichten.«

»Ich bin nicht misstrauisch oder so etwas, Major«, entgegnete Koski entschuldigend. »Es gehört nur nicht zu meinen Gewohnheiten, den ganzen Atlantik zu durchkreuzen und dabei die Coast Guard im Ungewissen zu lassen, wo ihr Schiff geblieben ist.«

»Okay, aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie unser Ziel nicht nennen wollten.« Pitt drückte seine Zigarette aus. »Und bitte benachrichtigen Sie das Marineministerium, dass Dr. Hunnewell und ich sicher auf der Catawaba gelandet sind und unseren Flug nach Reykjavik fortsetzen, sobald sich das Wetter aufklärt.«

Koski zog die Augenbrauen hoch. »Reykjavik? Island?«

»Ganz richtig. Das ist unser Ziel«, bestätigte Pitt.

Koski wollte etwas sagen, dann überlegte er es sich anders und zuckte nur die Achseln. »Ich sollte Ihnen Ihre Quartiere zeigen, meine Herren.« Er wandte sich an Dover: »Dr. Hunnewell kann in der Kabine des Maschinisten schlafen. Major Pitt kann mit Ihnen zusammenziehen, Lieutenant.«

Pitt grinste Dover an, dann wandte er sich wieder an Koski: »Sie wollen mich im Auge behalten?«

»Das haben Sie gesagt, nicht ich«, erwiderte Koski lakonisch.

Vier Stunden später lag Pitt vor sich hindösend auf dem Feldbett, das man in die eiserne Höhle gequetscht hatte, die Dover seine Kabine nannte. Er war zu Tode erschöpft, doch es gingen ihm zu viele Gedanken durch den Kopf, als dass er hätte einschlafen können. Vor einer Woche hatte er um diese Zeit noch auf der Terrasse des Newport Inn gesessen, zusammen mit einer wundervollen rothaarigen Nymphomanin, und hatte die herrliche Aussicht auf die Küste von Newport Beach, Kalifornien, genossen. Er erinnerte sich voller Begeisterung, wie er mit der einen Hand das Mädchen gestreichelt und in der anderen einen Whisky on the Rocks gehalten und wie er die im mondbeschienenen Hafen gespenstergleich dahingleitenden Yachten beobachtet hatte, einig mit sich und der Welt. Nun war er allein und lag auf einem brettharten Faltbett in einem schlingernden Kutter der Coast Guard, der irgendwo auf dem eiskalten Atlantik dahinfuhr. Ich muss ein ausgesprochener Masochist ein, dass ich mich freiwillig zu jedem idiotischen Unternehmen melde, das Admiral Sandecker ausheckt. Admiral James Sandecker, Generaldirektor der National Underwater and Marine Agency, wäre bei dem Ausdruck »idiotisches Unternehmen« zusammengefahren – er hätte es eher eine verdammt harte Geschichte genannt.

Wie hatte er doch vor wenigen Tagen, als er das Kommando zu diesem Unternehmen gegeben hatte, gesagt?

»Es tut mir Leid, dass ich Sie aus dem sonnigen Kalifornien holen muss. Aber es geht um eine verteufelt schwierige Sache.«

CatawabaSie

»Und dieses Märchen von dem vermissten russischen Kutter? Sie konnten nicht abstreiten, dass das von Anfang bis Ende Ihre Idee war.«

Pitt verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte an die Decke. »Ich dachte, sie würde jedem gefallen.«

»Das muss ich Ihnen lassen: Es war der großartigste Schwindel, bei dem mitmachen zu müssen ich das Pech habe.«

»Ich weiß. Es gibt Zeiten, da hasse ich mich selbst.«

»Haben Sie sich überlegt, was passieren könnte, wenn Commander Koski hinter Ihr reizendes Täuschungsmanöver kommt?«

Pitt erhob sich und streckte sich. »Wir tun ganz einfach, was jeder durchschnittliche amerikanische Betrüger auch täte.«

»Und das wäre?«, fragte Hunnewell zweifelnd.

Pitt lächelte. »Wir werden es reuevoll bedauern, wenn es so weit ist.«