Sektenmord in Neuharlingersiel

Ostfrieslandkrimi

Rolf Uliczka


ISBN: 978-3-95573-867-9
1. Auflage 2018, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2018 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de

Titelbild: Umschlagsgestaltung Klarant Verlag unter Verwendung von shutterstock Bildern.

Sämtliche Figuren, Firmen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig und von dem Autor nicht beabsichtigt. Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Kapitel 1

 

Eigentlich hätten die beiden eineiigen Zwillinge Daniel und Simon Spiekermann sich auf das Abitur vorbereiten sollen, stattdessen standen sie an diesem regnerischen Septembermorgen mit ihren Trekkingrucksäcken auf dem Kölner Hauptbahnhof und warteten auf Gero. Sie wollten mit ihm zusammen mit dem IC um neun Uhr neun nach Leer in Ostfriesland fahren.

Vor etwa zwei Jahren hatte es angefangen. Gero Schmidt war zwei Jahrgänge über ihnen gewesen und durch ihn wurden sie mit ihren ersten Joints versorgt. Nachdem er auf- und von der Schule geflogen war und das Schulgelände nicht mehr betreten durfte, hatten Daniel und Simon seinen Job übernommen. Da ihn seine Bewährungsstrafe offensichtlich wenig beeindruckt hatte, erhielten sie inzwischen nicht nur Hasch, sondern vor allem auch angesagte Partydrogen von ihm. Für die beiden ein willkommener Nebenverdienst.

Ihr Verkaufserfolg war nicht zuletzt auch ihrem Aussehen zu verdanken. Sie hatten sicher schon für so manchen heimlichen Mädchentraum gesorgt und das auch noch im Doppelpack. Der Stargeiger David Garrett hätte ihr älterer Bruder sein können. Und nachdem den beiden dies bei einem Konzert von ihm bewusst geworden war, spielten sie diese Karte in Bezug auf Styling und Outfit auch voll aus. Wenn einer von ihnen mal alleine in der Kölner City unterwegs war, kam es immer wieder vor, dass er um ein Selfie gebeten wurde. Aber auch schon so mancher – vor allem älterer – Tourist auf der Domplatte hatte ihnen schon irritiert nachgeschaut, wenn sie zu zweit waren.

Der Krug geht bekanntlich so lange zum Brunnen, bis er bricht. Auch sie waren schon erwischt worden. Ein Jugendrichter ließ allerdings Milde walten und verurteilte sie nur zu ein paar Sozialstunden. Papa war dem Rauswurf durch die Schule zuvorgekommen und hatte mit seinen Beziehungen einen Schulwechsel ermöglicht. Auch die Therapiestunden bei der Psychotante hatten sie über sich ergehen lassen. Eigentlich wären das alles gute Voraussetzungen gewesen, um doch noch einen erfolgreichen Abi-Abschluss hinzulegen, zumal sie sich mit ihren Schulleistungen wirklich nicht zu verstecken brauchten.

Alles hätte gut sein können, wenn nicht, ja, wenn nicht Gero mit seinen verlockenden Nebeneinkünften gewesen wäre. Dabei hielten sich Daniel und Simon selbst von harten Drogen fern. Höchstens mal einen kleinen Joint bei passender Gelegenheit. Ihr Vater, ganz strenger und gewissenhafter Beamtentyp, machte die Gene ihrer Mutter für die laxe und leichtlebige Einstellung seiner Sprösslinge verantwortlich. Zumal der Bruder ihrer Mutter auch schon ein paarmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten sein sollte. Näheres war aber nicht zu erfahren gewesen. Auch ihrer Mutter schien dies ein peinliches Thema zu sein.

Und dann war es vor drei Wochen passiert. Gero hatte sie in seinem Auto zu einem Treffen mit seinem Lieferanten mitgenommen. Daniel und Simon wussten nur, dass dieser sich Alex nannte und der Sohn von einem der Big Bosse sein sollte. Entsprechend machten sie sich auf dem Rücksitz ganz klein, als Gero auf dem Waldparkplatz zum Empfang der Ware ausstieg.

Gero war gerade wieder zurück, als plötzlich ein Auto auf dem Parkplatz auftauchte. „Scheiße, die kenn ich“, sagte Gero. „Ich glaube, die sind mir nachgefahren.“

Alex hantierte noch an seinem Kofferraum, als zwei Männer ausstiegen und auf ihn zugingen. Es folgte ein kurzer, heftiger Wortwechsel, den Daniel und Simon aber nicht verstanden. Dann fielen plötzlich zwei Schüsse. Alex sprang mit einer Pistole in der Hand in seinen Wagen und raste davon. Die beiden Männer lagen regungslos auf dem Parkplatz und auch Gero suchte sofort das Weite.

Wie sich später herausstellte, war der eine der Männer sofort tot, der andere schwer verletzt im Krankenhaus gelandet. Auch wenn er später doch noch seinen Verletzungen erlag, kam die Polizei durch ihn auf die Spur von Alex und Gero. Schon auf der Fahrt zu Geros Wohnung hatte dieser zu ihnen gesagt: „Wir sind nicht hier gewesen! Ist das klar? Wir waren zu dritt bei mir zu Hause und haben gezockt! Ihr seid mein Alibi!“

Dann war es aber doch irgendwie alles ganz anders gekommen. Es war noch keine Woche vergangen, da stand schon die Polizei bei Gero vor der Tür und holte ihn zur Anhörung ins Präsidium. Dabei brachte er dann Daniel und Simon als sein Alibi ins Spiel. Der Rest war polizeiliche Verhörtaktik. Alle drei sollten auch noch vor Gericht die Todesschüsse von Alex bezeugen.

„Wir müssen weg! Wenn wir gegen Alex aussagen, sind wir tot! Die machen uns alle!“ Gero war auf das Äußerste besorgt. „Ein Cousin meiner Mutter – ist zwar ein komischer Heiliger, irgend so was Sektenmäßiges – hat in Ostfriesland einen Bauernhof, auf dem er Gestrandete beschäftigt, wie er das mal meiner Mutter am Telefon gesagt hat. Ich hab uns schon bei ihm angemeldet. Da sucht uns keiner. Und später müssen wir mal sehen, wie es weitergeht. Aber hier in Köln dürfen wir uns in der nächsten Zeit auf gar keinen Fall blicken lassen. Da können wir uns gleich selbst die Kugel geben.“

Und jetzt warteten Daniel und Simon auf Gero. „Neun Uhr, in neun Minuten geht unser Zug. Sollte mich nicht wundern, wenn der mit einer Tussi noch im Bett liegt. Aber ohne Gero können wir nicht fahren“, schimpfte Simon.

„Wieso können wir ohne ihn nicht fahren?“, erwiderte Daniel. „Wir haben die Adresse und uns alles schon mal auf Google Earth angesehen. Außerdem kennen wir Neuharlingersiel doch durch unsere jährlichen Ferien ganz gut. Ich glaube, sogar besser als Gero. Übrigens könnte der ja auch mit seinem Wagen nachkommen. Aber der leidet wohl auch schon an Verfolgungswahn. Von wegen ‚Die haben bestimmt meinen Wagen verwanzt, wie hätten die sonst den Treffpunkt mit Alex gefunden‘. Shit happens!“

Inzwischen war der Zug bereits eingelaufen und die beiden wussten nicht so recht, ob sie jetzt ohne Gero fahren sollten, in der Hoffnung, dass er später nachkommen würde, oder doch lieber auf ihn warteten. Sie hatten bereits mehrfach vergeblich versucht, ihn auf seinem I-Phone und auch auf seinem Prepaidhandy zu erreichen. Irgendwie schien er nirgends auf Sendung zu sein, was eigentlich absolut untypisch für ihn war.

„Also ich wäre dafür, dass wir unsere Rucksäcke in Schließfächer packen und mit dem Taxi zu ihm nach Hause fahren. Wir haben doch in Ostfriesland keinen Termin. Dann sehen wir ja, ob er noch mit einer Tussi im Bett liegt. Irgendwie habe ich so ein komisches Gefühl“, zeigte sich Simon besorgt. Daniel stimmte ihm dann schließlich zu und so machten sich die beiden auf den Weg.

Da die Rushhour inzwischen vorbei war, kamen sie mit dem Taxi recht gut voran und erreichten das Haus, in dem Gero wohnte, bereits nach einer knappen halben Stunde. Sie baten den Taxifahrer zu warten.

Sie hatten Glück. Vor der Haustür stand ein Lkw einer Spedition, der gerade von Möbelpackern beladen wurde, daher war die Haustür offen, sodass die Zwillinge sofort mit dem Aufzug in den siebten Stock des Hochhauses fahren konnten. Es war eine dieser anonymen Bettenburgen, wie sie in allen Großstädten heute zu finden waren und wo einer den anderen nicht kannte. Gero bewohnte eine geräumige Vierzimmerwohnung, von wo aus er einen tollen Blick bis zum Siebengebirge bei Bonn hatte. Daniel und Simon waren hier schon auf so mancher geilen Party gewesen.

Seine Wohnung lag in der Südecke des Hochhauses am Ende des Ganges. Als Daniel gerade klingeln wollte, erkannte er sofort, dass etwas nicht stimmte. Die Tür war nur angelehnt und zeigte Spuren eines gewaltsamen Aufbruchs. Er klopfte und schob die Tür vorsichtig auf. „Hallo Gero, wir sind es, Daniel und Simon.“

Es kam aber keine Antwort. Nur irgendwo im Haus plärrte ein Radio oder ein Musiksender im Fernsehen. Die beiden jungen Männer beschlich ein mulmiges Gefühl. „Irgendetwas ist hier faul. Ich glaube, wir sollten besser verschwinden“, gab Simon seinem Gefühl Ausdruck.

„Lass uns wenigstens nachsehen“, versuchte Daniel cool zu bleiben.

Und dann sahen sie Gero auf der Couch im Wohnzimmer liegen. Sein Hemd zeigte an mehreren Stellen große blutige Flecken. Daniel fasste an seinen Hals. „Kein Puls.“ Dass Gero tot war, dafür sprachen auch die weit aufgerissenen Augen, die entsetzt ins Leere zu starren schienen.

Beim Schrank im Wohnzimmer standen die Türen offen. Der Inhalt lag verteilt auf dem Boden. „Da hat sich aber jemand ausgetobt“, kommentierte Daniel.

„Die haben sicher sein Smartphone und den Laptop gesucht. Dann werden die auch ganz schnell auf uns stoßen. Wir sollten machen, dass wir hier wegkommen.“

„Sollten wir, aber ich glaube, dass deren Anwälte schon längst die Zeugenliste eingesehen haben. Das war ja auch schon die Besorgnis von Gero. Die wissen schon von uns, da bin ich jetzt ganz sicher, und seine Sorge war absolut berechtigt. Für ihn leider zu spät. Du hast recht, nix wie weg hier! Hoffentlich ist das Taxi noch da.“

Der Taxifahrer hatte gewartet und so ließen sich die beiden zum Hauptbahnhof zurückbringen, wobei sie bemüht waren, keine Emotionen zu zeigen. Nachdem sie das Taxi bezahlt hatten und ausgestiegen waren, platzte es leise aus Simon raus: „Scheiße, Scheiße, Scheiße! So eine gequirlte Scheiße! Ich fass es nicht. Auf was haben wir uns da nur eingelassen? Wir haben zwar gut verdient, aber was nützt uns jetzt das Geld, wenn wir auf der Abschussliste stehen? Jetzt suchen uns nicht nur diese Gangster, sondern wahrscheinlich auch noch die Bullen.“

„Ist bloß gut, dass wir das meiste Geld gehortet haben. Hätte ja für unsere ersten Autos sein sollen. Aber scheiß auf die Autos, wenn es um die eigene Haut geht. Haben wir jetzt bei Gero gesehen. Die schrecken wirklich vor nichts zurück.“

„Wenn ich nur daran denke, wie eiskalt dieser Alex die beiden Typen abgeknallt hat. Da machen seine Leute mit uns auch kurzen Prozess, wenn wir gegen ihn aussagen. Sollte mich nicht wundern, wenn die auch schon bei uns zu Hause waren. Oh mein Gott, wenn die Mom was antun.“ Simon standen fast die Tränen in den Augen bei dem Gedanken an seine geliebte Mutter.

„Komm, nun werd hier nicht zur Heulsuse!“, wies ihn sein Bruder zurecht. „Wenn die schon die kameraüberwachten Grundstücke bei uns in der Wohngegend sehen, dann werden die sich so was sicher dreimal überlegen.“

„Dein Wort in Gottes Ohr.“

Erst kurz vor dem Einlaufen des IC holten die beiden ihre Rucksäcke aus den Schließfächern und fanden auch gleich nach dem Einsteigen im nächsten Waggon zwei nicht reservierte Plätze. Aber irgendwie konnte Simon das Gefühl nicht loswerden, dass sie beobachtet wurden. Da er seinen Bruder kannte, behielt er dieses Empfinden lieber für sich. Der hätte ihn wahrscheinlich als paranoid bezeichnet. Pünktlich um elf Uhr sechsundvierzig setzte sich der Zug in Richtung Emden in Bewegung. Diesmal sogar ohne dass ein Umsteigen in Münster erforderlich war, was Simon schon wieder etwas beruhigte.

 

Kapitel 2

 

Das Taxi mit dem Kennzeichen des ostfriesischen Landkreises Leer hatte den Ort Esens in Richtung Neuharlingersiel verlassen. Das im Wetterbericht vorhergesagte stürmische Herbstwetter mit kräftigen Regenschauern zeigte sich gerade von seiner besonders nassen Seite. Die Scheibenwischer des Wagens konnten kaum der Regenmenge Herr werden. Dichte Wolken zogen vom Wind getrieben über das grüne ostfriesische Acker- und Weideland. Aber im nächsten Moment war der Schauer auch schon vorbei und man konnte bereits in Richtung Küste einzelne blaue Himmelsflecken zwischen den treibenden Wolken ausmachen.

Vereinzelt standen noch Kühe auf den Weiden. Aber die Gemeinde der Zugvögel hatte die meisten Grünflächen bereits als ihren Startplatz für den bevorstehenden Flug in den Süden in Beschlag genommen. Es war ein ständiges Kommen und Gehen.

Von Weitem tauchte die Seriemer Mühle am Horizont auf und die ersten Häuser von Groß-Holum waren zu erkennen. Da sagte Daniel, der auf dem Beifahrersitz des Taxis saß: „Dahinten an der Abzweigung zu der Baumreihe können Sie uns rauslassen.“

„Mitten in der Pampa?“, fragte der Taxifahrer erschrocken, „und das bei dem Wetter?“

„Seit wann seid ihr Ostfriesen mit dem Wetter so zimperlich?“, meldete sich Simon vom Rücksitz zu Wort.

„Na ja“, erwiderte der Taxifahrer fast entschuldigend, „ich bin ja kein Ostfriese. Meine Eltern sind in den neunziger Jahren von Russland nach Friesoythe umgesiedelt und ich wohne mit meiner Frau und kleinen Tochter seit einiger Zeit in Leer und fahre für das Taxiunternehmen am Bahnhof, wie ihr ja schon gesehen habt.“

Das Taxi hatte inzwischen die Wegabzweigung erreicht. Daniel zahlte den Fahrpreis und der Taxifahrer holte die Rucksäcke der beiden aus dem Kofferraum. „Und ich soll euch wirklich nicht bis zu eurer Tante fahren?“, fragte er die Jungs besorgt.

„Nein, nein, wir kennen uns hier aus und wollen noch das Wiedersehen mit der Landschaft ein wenig genießen. Wir lieben es, wenn einem dann die steife Brise um die Nase weht. Und die richtige Outdoorkleidung haben wir schließlich auch, wie Sie sehen. Auch wenn wir keine Ostfriesen sind. Aufwärmen können wir uns dann bei der Tante noch lange genug.“

Halbwegs beruhigt stieg der Fahrer wieder in sein Taxi und wendete, um nach Leer zurückzufahren.

„Daniel, bist du wirklich sicher, dass wir hier richtig sind?“, fragte Simon seinen Bruder, der bereits vorausgegangen war.

„Mensch, sei kein Hosenscheißer. Wir haben uns das doch alles auf Google Earth genau angesehen.“

Obwohl die Brüder eineiige Zwillinge waren und Außenstehende sie kaum auseinanderhalten konnten, schien Daniel doch der Forschere von beiden zu sein. Er sei wohl auch der Anstifter gewesen, hatte der Jugendrichter in Köln befunden, der ihnen wegen der Dealerei mit Hasch in ihrer Schule die Sozialstunden aufgebrummt hatte. Das Dealen mit den Partydrogen war erst später dazugekommen. Aber dafür hatte man sie bislang nicht zur Verantwortung gezogen. Zudem vertrat Daniel eine – mehr als nur als schlitzohrig zu bezeichnende – Auffassung: Man wird nicht dafür bestraft, dass man etwas gemacht hat, sondern nur dafür, dass man sich hat erwischen lassen.

Sie folgten weiter dem Weg zum Hof von Geros entferntem Verwandten. Bei Ummo Clasen in seinem Küstenhort bei Neuharlingersiel seien sie absolut sicher, hatte er noch gesagt. Für ihn selbst leider zu spät.

Und dann hatte Daniel im Internet die Seite des Küstenhorts in Neuharlingersiel entdeckt. Dieser bot sich dort als Unterschlupf, auch für gestrauchelte Existenzen, und Hilfe in jeder Lebenslage an. Jedenfalls konnte man das so zwischen den Zeilen herauslesen. Irgendwie hatte das schon so etwas Sektenmäßiges, wie Gero es bereits angedeutet hatte.

Es war reiner Zufall, dass Daniel und Simon Ostfriesland von Familienurlauben – ausgerechnet in Neuharlingersiel – gut kannten. Ihre Eltern schwärmten von der norddeutschen Wattenmeer-Küste und der Suite mit Meerblick im Diekhus von Janssen’s Hotel. Außerdem waren sie der Meinung, nicht auf die jährliche Thalasso-Therapie im BadeWerk Neuharlingersiel verzichten zu können. Den beiden Jungs hatte schon als Kinder das Badevergnügen im dortigen Schwimmbad genügt.

Allerdings war das beschauliche Ostfriesland sicher nicht unbedingt ein Ort für einen längeren Aufenthalt, von dem zwei Teenager kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag, die eigentlich die Großstadt gewöhnt waren, träumten. Aber es war wohl besser, erst einmal eine Zeit lang von der Bildfläche zu verschwinden.

Die Eltern zu informieren, schied wegen der Strenge ihres Vaters schon von vornherein aus. Sicher würde er als gradliniger Staatsdiener, er war Mathe-Professor an der Kölner Uni, auch darauf bestehen, dass sie in jedem Fall vor Gericht aussagten. Er hatte ja keine Ahnung, mit wem sie es dann zu tun bekämen. Außerdem gingen sie davon aus, dass ihr Vater sie überall vermuten würde, aber nicht in Neuharlingersiel. Und das noch außerhalb der Saison, wo selbst die meisten Restaurants geschlossen hatten. Und so hatten sie lediglich einen kurzen Abschiedsbrief – in erster Linie eigentlich nur für ihre sehr weichherzige Mutter, aber ohne jeden Hinweis auf ihre wahren Absichten – hinterlassen.

Schweigend gingen die beiden nebeneinanderher. Kein Mensch weit und breit zu sehen. In den Ferien war das anders gewesen und zu dieser Jahreszeit waren sie zum ersten Mal in Ostfriesland. In Simon arbeitete es und schließlich musste er es rauslassen. „Sag mal, könnte es sein, dass der Taxifahrer als Russlanddeutscher auch mit der Familie von dem Alex in Verbindung steht?“

„Also ich habe mal gelesen, dass seit den neunziger Jahren wohl zwei bis drei Millionen Russlanddeutsche eingewandert sind. Wie wahrscheinlich ist da, dass ausgerechnet der Taxifahrer aus Leer mit dem kriminellen Alex aus Köln etwas zu tun hat?“

„Weiß nicht. Aber es könnte doch sein. Manchmal ist der Teufel ja sogar ein Eichhörnchen.“

„Alter, jetzt wirst du wohl schon langsam paranoid? Wir sollten uns besser damit beschäftigen, wie wir es schaffen, uns hier noch einen gewissen Freiraum zu erhalten. Und dazu, glaube ich, könnten wir hier unser erstes Depot einrichten“, entgegnete Daniel und zeigte auf eine alte Eiche, die mit einigen Büschen an der Straße stand.

Daniel holte aus seinem Rucksack einen Klappspaten und einen Kunststoffbehälter hervor. „Pass mal auf, ob jemand kommt“, sagte er zu seinem Bruder und begann zwischen zwei Büschen zu graben. Nachdem er ein etwa spatentiefes Loch ausgehoben hatte, legte er den Kunststoffbehälter hinein und schaufelte die lose Erde wieder darauf. Nachdem die Erde festgetreten war, verschloss er das Ganze wieder mit der Grasnarbe, die er zuvor vorsichtig abgehoben hatte.

„Ich glaube, das ist ein guter Platz, den wir uns leicht merken können“, bemerkte Simon. „Dahinten steht auch ein Baum mit einigen Büschen, da können wir das nächste Depot anlegen.“

„Sieht gut aus, so langsam kommst du wohl wieder in die Realität zurück.“

Nachdem sie den angesprochenen Platz erreicht hatten, nahm diesmal Simon den Spaten und begann zu graben, während sein Bruder die Gegend im Auge behielt.

„Runter, es kommt ein Auto!“, warnte dieser nach kurzer Zeit. Beide duckten sich hinter die Büsche, bis der Wagen auf der Hauptstraße verschwunden war. Dann vollendete Simon sein Werk, wie zuvor sein Bruder.

„Meinst du, wir sollten unsere Initialen in die Bäume ritzen, damit wir die wiederfinden?“, fragte Simon mit einem Grinsen, nachdem sie auf gleiche Weise auch noch ein drittes und viertes Depot angelegt hatten. „Aber die vier Stellen werden wir uns wohl gerade noch merken können. So viel Grips wie ein Eichhörnchen werden wir beide sicher noch zusammenkriegen.“ Ein kritischer Seitenblick seines Bruders zeigte, dass der diese Art von Humor nicht teilte.

Schon nachdem sie die Website des Bauernhofs in Ostfriesland im Internet entdeckt und eine Art Sekte dahinter vermutet hatten, plagten sie sich mit dem Gedanken herum, wo sie ihr gehortetes Bargeld lassen sollten. Zu Hause konnten sie es schließlich nicht lassen. Die Einzahlung auf ein Girokonto kam aber ebenso wenig in Betracht, wie es mit auf den Hof zu nehmen. Und da war ihnen beim Recherchieren über Google Earth die Idee mit den Depots gekommen.

„Bin ja wirklich mal gespannt, was das für komische Heilige auf dem Hof sind. Und was da für eine Sekte dahintersteckt.“

„Jetzt kriegst’e wohl doch Fracksausen, oder?“

„Quatsch! Aber man macht sich doch so seine Gedanken“, mimte Daniel den Coolen. „Wenn die nicht sogar eine Website hätten, dann würde ich nach den Infos auf deren Seite fast auf Mennoniten oder Amische schließen.“

„Aber die fahren doch noch mit schwarzen Einspännern und lehnen jeden technischen Fortschritt ab. Ich würde da eher in Richtung Scientology tippen. Jedenfalls scheinen das keine Salafisten zu sein und das ist doch schon mal beruhigend. Bin gespannt, ob die Sektenprediger uns unsere Smartphones und Notebooks abnehmen werden.“

„Da kannste deinen Arsch drauf verwetten. Aber wir haben ja was zum Abliefern mitgenommen. Die werden doch nicht davon ausgehen, dass wir zusätzlich noch mehrere Prepaidhandys haben. Aber wir müssen vor allem aufpassen, wenn die mit so einem Esoterik-Scheiß und Hypnose anfangen“, zeigte sich Daniel dann doch etwas besorgt.

„Dann machen wir das genauso wie bei der Psychotante, zu der uns Dad geschickt hatte. Die uns mit Hypnose in unsere frühkindliche Phase zurückversetzen wollte. Wie wir die ausgetrickst haben, diese einfältige und naive Tucke“, blieb diesmal Simon zuversichtlich.

„Na, ich glaube, da werden die hier sicher ein anderes Kaliber sein. Aber im Moment sehe ich für uns keine andere Alternative. Wir müssen nur darauf achten, dass wir immer den klaren Kopf behalten und uns nicht das Hirn weichwaschen lassen.“ Die beiden Brüder waren angesichts ihres Kenntnisstands über Sekten, der ausschließlich von Berichten der Boulevardpresse und amerikanischen Filmen geprägt war, auf alles gefasst.

Inzwischen hatten sie die Einfahrt zu einem großen Gehöft mit Biogasanlage erreicht. „Das muss es sein“, sagte Simon. Vor ihnen lag ein breit ausladender Gulfhof. Der vordere Wohntrakt war zweigeschossig ausgelegt. Entsprechend groß war der hintere Teil der Stallung, dessen seitliche Dachtraufen auf jeder Seite noch etwa fünf Meter über den Wohnbereich hinausragten. Von ihren Ferien in Neuharlingersiel und manchem Museumsdorfbesuch kannten die beiden die historische Bedeutung der Gulfhöfe in Ostfriesland.

Als sie sich der an der linken Seite des Hauses gelegenen Haustür näherten, wurde diese geöffnet und ein Hüne von Mann mit langen, etwas zotteligen graublonden Haaren und einem ebensolchen Bart trat ihnen entgegen. Wobei auffiel, dass er keinen Oberlippenbart trug. Er lächelte sie an: „Halleluja, halleluja. Da sind ja die Rheinländer. Moin und willkommen im Küstenhort! Seid ihr etwa zu Fuß hierhergekommen? Wir hätten euch doch abgeholt. Wo ist denn Gero?“

„Hallo“, sagten beide Ankömmlinge wie aus einem Mund. Dann übernahm Daniel das Wort: „Bis Leer sind wir mit dem Zug gefahren und dann haben wir uns von einem Taxi bis zur Einmündung an der Hauptstraße nach Esens bringen lassen. Ein bisschen frische Luft hat uns auch ganz gutgetan. Und über Gero müssen wir noch reden.“

„An frischer Luft wird es euch hier bei uns nicht mangeln, das kann ich versprechen. Ich bin übrigens Ummo“, sprach’s und streckte den Brüdern die Hand hin. „Wenn ich euch beide so ansehe, müsstet ihr eigentlich Romulus und Remus heißen. Ihr seid ja wirklich wie aus einem Ei geschlüpft. Aber kommt erst mal rein. Dann lernt ihr auch die anderen kennen. Wir bereiten uns gerade auf die Teestunde vor. Dann könnt ihr uns gleich von Gero erzählen. So wie ich von seiner Mutter weiß, soll es ihm etwas an unserer ostfriesischen Pünktlichkeit mangeln. Er hätte wohl eher das rheinländische Gemüt seines Vaters geerbt.“

Im Flur legten Daniel und Simon erst einmal ihre Rucksäcke und Jacken ab. Dann wurden sie von Ummo in die Küche geführt, wo die anderen Bewohner des Hauses zusammensaßen. So eine Küche hatten beide im Leben noch nicht gesehen. Die Gerätschaften und die Einrichtung strahlten den Charme der achtziger, neunziger Jahre aus, aber die Größe der Küche war beeindruckend. Räume dieser Dimension kannten Daniel und Simon bislang nur als Wohn- und Esszimmer. Ein riesiger Eichentisch in der Mitte des Raumes diente wohl nicht nur als Essplatz, sondern auch der Kommunikation.

Ummo, dem die erstaunten Blicke seiner neuen Bewohner nicht entgangen waren, sagte: „An den Tisch passen so locker zwölf Leute und wenn wir mehr werden, können wir auch noch einen Tisch anstellen. Platz ist genug, wie ihr seht.“ Dann stellte er sich und die Anwesenden vor: „Also, ich bin – wie ich schon sagte – Ummo und hier auf dem Hof der Bischof, wie wir das nennen. Meine Prediger sind Mike und Bob.“

Die beiden Angesprochenen hoben kurz die Hand. „Und bei unseren Schützlingen haben wir eine einfache Lösung gefunden. Jeder unserer Anbefohlenen hat seine Geschichte, die zu seinem früheren Namen gehörte. Daher haben diese Namen, genauso wie die alten Geschichten, hier bei uns keine Bedeutung mehr. So erhält jeder die Zahl aus der Reihenfolge seines Eintritts hier bei uns als Namen. Und das auf Platt. Wir leben hier schließlich in Ostfriesland.“ Er zählte dann auf und die Angesprochenen hoben kurz ihre Hand: „Een, Twee, Dree, Veer, Fiev. Und ihr beide seid ab sofort Sess und Söven. Wobei wir bei euch wohl Schilder brauchen werden, um euch auseinanderhalten zu können“, ergänzte er noch lachend.

„So, aber jetzt setzt euch erst einmal. An den Ostfriesentee werdet ihr euch gewöhnen müssen, der ist bei uns obligatorisch. Es gibt bei uns auch bestimmte Regeln, die wir Ordnung nennen. Aber dazu später. Jetzt interessiert mich wirklich mal, wann Gero hier eintrifft. Er kommt doch sicher mit dem Auto?“

„Nein, er kommt nicht mit dem Auto. Er wollte mit uns mit dem Zug kommen“, übernahm Daniel die Antwort.

„Aber er hat doch ein Auto, oder etwa nicht?“, hakte Ummo ein.

„Hat er, aber er war sich nicht sicher, ob das verwanzt ist und ihm dann wieder jemand folgt. Deswegen wäre ihm der Zug sicherer erschienen. Hat aber leider nichts mehr genützt. Die anderen waren schneller.“

„Was willst du damit sagen?“ Ummos Stimme klang besorgt.

„Er ist tot, Ummo. Tut mir leid.“

„Okay, es ist bei uns nicht üblich, dass wir hier in dieser Runde die Vergangenheit ausbreiten. Dafür haben wir im Bedarfsfall einmal die Woche eine Gesprächsstunde im Triumvirat, mit mir und meinen beiden Glaubensbrüdern. Das heißt, ihr könnt euren Tee mitnehmen und wir gehen in unser Begegnungszimmer.“

Ummo führte die Neuankömmlinge in einen nüchtern eingerichteten Raum. An der Wand gegenüber der Tür hing ein etwa ein Meter großes schlichtes Holzkreuz. Davor befand sich ein Tisch, hinter dem drei Stühle standen. Vor dem Tisch stand ein einzelner Stuhl. Mike hatte einen weiteren Stuhl aus der einen Ecke des Raumes dazugestellt und Daniel und Simon bedeutet, vor dem Tisch Platz zu nehmen.

Nachdem das Triumvirat sich gesetzt hatte, forderte Ummo die beiden auf, zu erzählen, was passiert war.

Wechselseitig berichteten Daniel und Simon über die Ereignisse. Ummo und seine Mitbrüder hörten ihnen schweigend zu, ohne sie zu unterbrechen.

Dann fragte Ummo: „Habt ihr I-Phone, I-Pad, Notebooks dabei?“

„Ja, Smartphones und Notebooks, aber die SIM-Karten haben wir schon in Köln entfernt.“

„Das ist sehr gut. Wir haben Internetzugang, wie ihr sicher schon von unserer Website her wisst. Wir gehören nämlich nicht zu den strengen Mennoniten oder Amischen der alten Ordnung, bei denen jegliche technische Neuerung verboten ist. Ich bin der Meinung, der Herr hat mir einen Auftrag gegeben und mir dazu moderne Technik zur Verfügung gestellt, die ich ausschließlich in seinem Sinne nutze. Zu eurem besseren Verständnis, falls ihr euch schon mal mit unserer Glaubensrichtung beschäftigt haben solltet, der Herr hat meine Eltern und meinen Bruder, der den Hof hier bis vor einigen Jahren bewirtschaftet hat, an einem Tag zur gleichen Stunde zu sich geholt. Ich bin als einziger Erbe übrig geblieben und habe mit meinen beiden Mitbrüdern Amerika verlassen, um hier den Hof weiterzuführen.“

„Was ist denn mit deinen Eltern und deinem Bruder passiert?“, wollte Daniel wissen.

„Mein Bruder ist mit unseren Eltern an einem Totensonntag im Auto unterwegs gewesen, um das Grab unserer Großeltern zu besuchen. Bei dichtem Nebel ist ihm ein Reh vors Auto gelaufen und anschließend ein Lkw in die Unfallstelle reingefahren. Keiner der Beteiligten hat es überlebt. Der Lkw ist nach der Kollision noch gegen einen Baum geschleudert, wodurch auch der Fahrer sein Leben verlor. Manchmal ist der Wille des Herrn unergründlich. Für mich war es ein Zeichen, dem ich gefolgt bin. Daher sind solche Geschichten wie die euren auch nichts Neues für uns.“

„Du fragtest nach unseren Handys und Notebooks, müssen wir die jetzt abgeben?“, wollte Daniel wissen.

„Ja, das hätte euch Een, der hier unser Vorarbeiter ist, noch gesagt. Technik akzeptieren wir, wenn Gott es so wollte und diese für die Erfüllung seiner Vorsehungen nützlich ist. Das vermag ich allerdings im Hinblick auf eure Kommunikationstechnik nicht zu erkennen.“

Da die beiden Brüder das schon erwartet hatten, nickten sie nur, nachdem sie sich mit einem vielsagenden Blick verständigt hatten.

Ummo war das nicht entgangen: „Ich sehe, ihr versteht euch ohne Worte, ist zwischen eineiigen Zwillingen nicht ungewöhnlich. Aber in diesem Zusammenhang fällt mir noch ein, die Russenmafia sucht euch bestimmt im Doppelpack. Als doppeltes Lottchen seid ihr ja nicht zu übersehen. Das solltet ihr ganz schnell ändern, dann brauchen wir für euch auch keine Namensschilder.“

Daraufhin kehrten sie zu den anderen in die Küche zurück. „Een, du zeigst den Neuen die Unterkunft. Du weißt, welches Zimmer die beiden beziehen sollen. Dann weist du sie in die Hausordnung, die Arbeitsabläufe und -pläne ein. Du sorgst dafür, dass sie pünktlich ihre Arbeit ausführen und an unseren Meetings teilnehmen. So, dann alle an die Arbeit.“ Ummo zog sich mit Bob und Mike in einen als Büro dienenden Raum zurück. Sie hatten einiges zu besprechen und zu recherchieren.