Julien Poudel

Er war zwei
Zentimeter größer
als Napoleon

oder:

Erinnerungen an
meinen Vater

Anstelle eines Vorworts:
Rayuela oder das Himmel-und-Hölle-Spiel

„Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen. Was dieser gewollt hat, müssen wir erforschen, wenn wir zu wissen wünschen, was jener will.“ 1 So äußerte sich Heinrich Heine am 19. April 1932 im Pariser Exil im achten Kapitel seiner Französischen Zustände, einer Sammlung politischer Berichte für die Augsburger Allgemeine Zeitung. Heinrich Heine bezog sich damit auf die Französische Revolution, die seiner Meinung nach unumgänglich war, um die politischen Verhältnisse dem veränderten „Weltgeist“ anzupassen. Das Gleiche gilt aber auch für die Lebenssituation des Einzelnen. Erst wenn wir die Umwälzungen im eigenen Leben zu begreifen versuchen, können wir eine Neuorientierung im Leben finden, und das betrifft umso mehr Situationen, in denen wir von Menschen Abschied nehmen müssen.

Mir ist bewusst, dass ich in den hier vorliegenden Erinnerungen an meinen Vater die Phasen, die mit dem Ableugnen des Verlustes beginnen, und die Etappen auf dem Weg der Trauer, die mit Wut, Schuldgefühlen und Verzweiflung einhergehen, zum Teil übersprungen habe. Mein Anliegen beim Schreiben dieses Buches war in erster Linie, die schmerzlichen Gefühle und Gedanken an meinen Vater in eine Geschichte umzuwandeln, die meinem Leben und vielleicht auch dem Leben anderer einen zusätzlichen Sinn gibt. Ich fühlte mich dabei manchmal wie ein Zeitreisender, der sich wie im Film „About Time“ von Richard Curtis (deutscher Titel „Alles eine Frage der Zeit“) nur an einen stillen, abgedunkelten Ort begeben und die Hände zur Faust ballen muss, um an den Ort in der Vergangenheit zu gelangen, der ihm gerade in den Sinn kommt. Während des Schreibens musste ich manchmal herzhaft lachen, an einigen Stellen auch weinen und spürte bei alledem, wie die Erinnerung an meinen Vater im steten Wechsel von Distanzierung und Identifikation vonstattenging.

Dabei kam ich mir vor wie ein kleiner Junge, der „Himmel und Hölle“ spielt. Vielleicht kennt der eine oder andere Leser den Roman Rayuela von Julio Cortázar.2 „Rayuela“ ist der spanische Name des im Deutschen als „Himmel und Hölle“ oder „Hickelkasten“ bekannten Hüpfspiels. Wer hat nicht schon einmal auf einem Schulhof oder in einer Spielstraße Kinder bei diesem Hüpfspiel erlebt? Und manch ein Leser wird bei diesem Gedanken vielleicht ein leises Zucken in den Beinen spüren, wenn er sich an das Gefühl erinnert, von Feld zu Feld zu hüpfen. Im Roman „Rayuela“, 1963 verfasst und 1981 unter dem Titel Himmel und Hölle in der deutschen Übersetzung erschienen, steht der Name des Spiels für die Suche der Hauptperson Horacio Oliveira nach dem „Himmel“ einer authentischen Seins- und Lebensweise. Horacio scheitert am Leben, weil er sich verzettelt und ohne ein Ziel zu haben mit Gelegenheitsjobs durchschlägt. Gerne hätte ich mich mit ihm darüber unterhalten, was es heißt, „authentisch“ zu sein.

Dabei hätte ich ihn auch gefragt, wie er zu dem Zen-Wort „Nichi nichi kore ko jitsu“3 steht, das mich seit Jahren begleitet und „Jeder Tag ist ein guter Tag“ bedeutet. „Was?“, höre ich die zweifelnde, vielleicht sogar ein wenig höhnische Stimme von Horacio aus dem Hintergrund: „Jeder Tag soll ein guter Tag sein?“ Und dann würde er vielleicht Beispiele aus seinem Leben anführen von Tagen, an denen ihm dieses und jenes passierte und an denen alles schiefging, was nur schiefgehen konnte, vor allem all das, was er sich vorgenommen hatte. Ich weiß, dass er so reagieren würde, weil er „gut“ als Gegensatz von „schlecht“ versteht und meint, ein guter Tag müsse ein außergewöhnlich glücklicher, schöner Tag sein. Die Bedeutung von „guter Tag“ ist aber viel tiefgründiger, wie es der buddhistische Mönch Ummon (864–949) seinen Schülern erklärt. Schließlich ist jeder Tag ein noch nie da gewesener und unwiederholbarer Tag. So betrachtet ist jeder Tag wirklich ein guter Tag.

Auch ich habe beim Schreiben meinen Stein in die verschiedenen Felder geworfen und bin von Feld zu Feld gehüpft. Natürlich vergaß ich dabei Felder, trat auf Begrenzungslinien und verlor immer wieder das Gleichgewicht. Manchmal kam es mir auch so vor, als würde ich kein Buch schreiben, sondern eine Art Flickenteppich zusammensetzen.

Dementsprechend gibt es auch keine „richtige Weise“, dieses Buch zu lesen. Ähnlich wie sich Prozesse im „gelebten Leben“ abspielen, kann man zwischen einzelnen Kapiteln hin und her hüpfen, da fast jedes der kleinen und etwas größeren Kapitel in sich abgeschlossen ist und für sich alleine steht. Meine Vorgehensweise ist dabei aber nicht so kunstvoll wie die von Julio Cortázar, der in seinem Buch, wie man das manchmal auch bei Wanderwegen findet, eine genau vorgezeichnete Variante des üblichen „Lesepfades“ anbietet.

Es gibt auch eine Variante des Spiels, bei der das erste Feld mit dem Wort „Erde“ bezeichnet wird, das vorletzte mit „Hölle“ und das letzte mit dem Begriff „Himmel“. Meist ist die Erde das Startfeld. Auch ich empfand es beim Erinnern und Schreiben so, dass die Hölle überwunden werden musste. Dabei kam ich nicht umhin, mir genau anzuschauen, wo die „Hölle“ beginnt und endet, und was die Hölle zur Hölle macht, weil es mir sonst kaum gelungen wäre, bis zum „Himmel“ zu gelangen. Wenn es mir beim Schreiben am Rande der Hölle zu heiß wurde, erinnerte ich mich an den Sprachakrobaten Gerhard Polt, der die Hölle als „ewige Fritteuse“ bezeichnete.

An Gerhard Polt zu denken, hat sich schon immer wunderbar abkühlend auf mein überhitztes Hirn ausgewirkt und mir meine relative Ausdrucksarmut, oder, wie Polt es nennt, die „Poverität meiner Begriffswelt“ vor Augen geführt.

Die Zahl der Wege, die in diesen „Himmel“ führen, ist natürlich unendlich groß. Das ist beim Schreiben und Lesen nicht anders als im gelebten Leben. Und natürlich kann es auch dem Leser beim Hin- und-her-Hüpfen zwischen den einzelnen Kapiteln passieren, dass er, wie ich beim Schreiben, das Gleichgewicht verliert und vielleicht wieder an anderer Stelle neu beginnen muss. Aber das liegt eben in der Natur des Spiels.

Und jetzt wünsche ich Ihnen, lieber Leser, viel Spaß beim „Himmel und Hölle“-Spielen, ganz unabhängig davon, ob Sie zur „Hüpffraktion“ gehören oder nicht. Möge auch Ihnen dabei ein Stück „persönlicher Himmel“ begegnen.

Sigmarszell, den 10. Februar 2018

1  http://gutenberg.spiegel.de/buch/-387/8 (eingesehen am 19.08.2017)

2  Julio Cortázar (1914 – 1984) war ein argentinischer Schriftsteller. Das 1963 verfasste Buch Rayuela, das in provokanter Weise den künstlerischen Schaffensprozess thematisiert, wurde in den 60er-Jahren zum Kultbuch einer ganzen Generation von Studenten und Intellektuellen. Seine Erzählungen (im Jahre 1998 in der deutschen Gesamtausgabe bei Suhrkamp erschienen) machten ihn als einen der kreativsten und originellsten Autoren Lateinamerikas auch in Deutschland bekannt.

3  „Nichi nichi kore ko jitsu“ ist ein Zen-Wort, das Meister Ummon (864–949) zugeschrieben wird. Siehe dazu auch Zen-Wort Zen-Schrift von Kogetsu Tani und Eido Tai Shimano (Theseus Verlag 1999).

Mein Name ist Viktor, Viktor mit „k“

Ich heiße Viktor Sündermann … zumindest heute und morgen … ja, vielleicht auch so lange, bis es mir gelungen ist, all das, was meinen Vater und mich anbetrifft, zu Papier zu bringen. Vielleicht werde ich bis ans Ende meiner Tage Sündermann heißen, wer weiß. Den Nachnamen meines Vaters habe ich vergessen. Ja, ich habe ihn tatsächlich vergessen und ich will mich nicht erinnern, will auch nicht daran erinnert werden. Ich weiß nur noch, dass er mit einem „D“ begann. Da steht er am Telefon. Ich sehe ihn deutlich vor mir, wie er mit seiner linken Hand an den Knöpfen seiner Wolljacke herumnestelt, und höre, wie er währenddessen seinen Namen buchstabiert. „Ja, genau, ,D‘ wie ,Dora‘…“ Aber wie ging sein Name dann weiter? Nein, ich will es nicht wissen. Ich glaube, es ist besser, dass ich vergessen habe, wie sein Name lautet. Wüsste ich noch seinen Namen, dann bliebe ich vielleicht stumm wie ein Fisch. Nein, ich will auch niemanden nach seinem Namen fragen – ich will es nicht wissen! Denn solange er keinen Nachnamen hat, solange ich ihn „D.“ nennen darf, genauer gesagt Werner Friedrich „D.“, kann ich über ihn sprechen und kann versuchen, das gerade Ausgesprochene auf das weiße Papier zu bannen, das vor mir liegt.

Viktor gefällt mir. Es macht den Namen Sündermann, den ich mir zugelegt habe wie andere eine Ferienwohnung auf Gran Canaria, viel erträglicher. Ich habe es ausprobiert, aber ohne Sündermann geht es nicht. Erst mit dem Namen Sündermann öffnet sich diese Quelle, die all die tief in mir verborgenen Geschichten zutage fördert, fallen all die Hemmnisse und Bedenken von mir ab, die mich am Schreiben hindern.

Viktor schreibt man übrigens mit einem „k“ und nicht etwa mit einem „c“, nach einer etwas eigenartigen Idee meines Vaters, der den Arzt und Wissenschaftler Viktor von Weizsäcker sehr schätzte. Zumindest empfand ich seine Idee immer als eigenartig. Sicher hat Viktor von Weizsäcker in seinem Fachgebiet und vor allem im medizinethischen Bereich Hervorragendes geleistet, und doch: So oft ich es auch versuchte, bot er sich mir zur Identifikation nie an. Ein kleines chaplineskes „c“, das hätte ich chic gefunden. Eine ganze Reihe von Menschen, die ich sehr interessant finde, trägt den Namen Victor.

Ich denke dabei an Victor Vasarely, dessen berühmtes Zebra mich als Beispiel dafür, wie man sich mit Formen ausdrücken kann, auch heute noch inspiriert. Unter anderem hat er auch die Fassade des Juridicum, der juristischen Fakultät der Universität Bonn, gestaltet, an der ich während meines Japanologie-Studiums Tag für Tag vorbeiging. Das Seminar für orientalische Sprachen lag nämlich nicht weit entfernt davon. Ich stellte mir vor, dass Vasarely mit dem eindrücklichen Muster dieser Fassade die Hirnwindungen eines werdenden Juristen darstellen wollte. Ob die Jurastudenten, die da ein und aus gingen, wohl merkten, dass diese Fassade in der Art ihrer Ausführung ironisch gemeint war? Ich bin zwar kein Vasarely-Kenner, aber immerhin war ich 15 Jahre lang mit einer Juristin verheiratet und hatte also genügend Zeit, mich mit ihren Denkwegen auseinanderzusetzen.

Vielleicht hätte das Victor Lustig, den Trickbetrüger und Hochstapler, davor bewahrt, seinen Lebensabend schwarz-weiß gestreift und damit dem Zebra von Vasarely gar nicht so unähnlich auf Alcatraz zu verbringen. Das, was er 1925 in Paris anstellte, als er den Eiffelturm an einen Pariser Schrotthändler namens Poisson verkaufte, war schon dreist. Denn 50 000 Dollar für 7 000 Tonnen Eisen einzukassieren, die ihm gar nicht gehörten, kann man schon als wirklich exzellentes Geschäft bezeichnen. Nach Alcatraz brachte ihn allerdings ein anderer Geschäftszweig, dem er huldigte, nämlich die Geldfälscherei. Wer weiß, wenn er mit einer Juristin verheiratet gewesen wäre wie ich …?

Ja, und dann gab es natürlich Victor Klemperer, dessen Cousin Otto als Dirigent und Komponist berühmt wurde. Victor Klemperer, der Dresdner Professor, dessen Tagebücher über den Alltag der Judenverfolgung mich sehr berührten, weil sie mich an den Vater meiner Mutter erinnerten. Er war ebenfalls jüdischer Herkunft und hat mit sehr viel Glück und dank hervorragender Kontakte die Nazizeit unbeschadet überstand.

Ja, auch das gab es, wenn auch leider selten: Juden, die das Naziregime mit gefälschten Papieren und dank der Protektion durch aufrechte Mitmenschen überlebten.

Die Werke des Pariser Schriftstellers Victor Hugo lernte ich durch meinen luxemburgischen Studienfreund Luc Turmes besser kennen. Ich kannte bis dahin nur „Les miserables“ (in deutscher Übersetzung: „Die Elenden“) und war sehr beeindruckt von der Verfilmung des Buches aus dem Jahr 1958 mit Jean Gabin in der Rolle des Jean Valjean. Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter Jean Gabin sehr mochte. Er verkörperte für sie einen souveränen Umgang mit den Dingen dieser Welt, den sie bei meinem Vater vermisste. Luc lud mich nach Esch-sur-Alzette ein, wo ich seine Familie kennenlernte. Von dort aus machten wir Ausflüge unter anderem auch nach Vianden in Belgien, wo Victor Hugo in den Jahren 1862 bis 1871 einige Zeit als politischer Flüchtling verbracht hatte. Das Haus, in dem Victor Hugo lebte, wurde 1935 als Museum eingerichtet.

Wenige Zeit später fand auch eine Begegnung zwischen Luc und meinem Vater statt. Meine Eltern besuchten uns nämlich in Troisdorf bei Bonn, wo Luc und ich uns eine Studentenwohnung teilten. Ich werde es nie vergessen, wie mein Vater forschen Schritts „mit der Tür in unsere kleine Wohnung fiel“ und wohl etwas verblüfft darüber war, dass er schon nach wenigen Schritten auf unserem Balkon stand. Meine Mutter trat gerade etwas zögerlich in „unser Wohnzimmer“, als mein Vater mit den Worten „Schön hier, dann können wir ja jetzt gehen“ schon wieder aus der Wohnung stürmte und uns alle verwirrt und betreten zurückließ. Als meine Eltern wieder abgefahren waren und wir gerade unsere „Gromperen mit wäisse Keis“ 4 aßen, schaute mein Freund mich mitleidig an und sagte, dass er jetzt schon viel besser verstehen könne, warum ich ein so komischer Typ sei. Seitdem sind viele Jahre vergangen.

Der Name Sündermann kommt übrigens aus Schlesien. Mal abgesehen von der Sache mit dem „k“ und dem „c“ klingt Viktor Sündermann gar nicht so übel, finde ich. Ich bin 59 Jahre alt – na ja, eigentlich 59 1/2 – und ich liebe die Sendung mit der Maus. Ja, jetzt ist es raus. Nicht, dass ich der Sendung nachtrauere, wenn ich irgendwo in der Welt herumreise und sie deshalb verpasst habe, nein, das nicht. Aber wenn ich zu Hause bin, dann gehört die Sendung mit der Maus zu einem Sonntag dazu wie die Kerzen zum Advent und die Zimtsterne zur Weihnachtszeit. Mein ältester Sohn ist 33 und mein kleinster 10. Schon seit 20 Jahren begleitet mich Christoph durch die Sendung mit seinem immer grünen Pullover und seiner etwas melancholischen Ausstrahlung, als ob ihn jemand trösten und vor den bedrohlichen Dingen dieser Welt erretten müsste. Und natürlich freue ich mich auch immer auf Ralf mit seinem „Fug und Unfug“ und auf Armin, das „wissenschaftliche Gehirn der Sendung“, der vom Hubschrauber bis zum Staubsauger alles so erklären kann, dass sogar ich es verstehe. Ganz zu schweigen von „Shaun, dem Schaf“ – wobei ich es allerdings etwas fragwürdig finde, dass mich meine Frau und meine Kinder immer mit Bitzer, dem Hütehund in dieser Sendung, vergleichen. Ein Psychotherapeut würde hier sicher ein langes „Ahaaa“ von sich geben und mich auf die Rolle ansprechen, die Bitzer in „Shaun das Schaf“ spielt – etwas, das wir hier vielleicht nicht weiter verfolgen sollten. Mittlerweile weiß ich von einer sehr lieben und lustigen Patientin, die auch ohne ihre inzwischen erwachsenen Kinder weiterhin sonntags die Sendung mit der Maus anschaut und diese Patientin kennt, wie sie mir mit einem Lächeln erzählte, weitere erwachsene „Maus-Fans“. Offensichtlich bin ich also Teil einer ziemlich großen Fangemeinde!

Auch heute ist Sonntag, aber kein ganz normaler Sonntag. Heute muss die Sendung mit der Maus ohne mich auskommen. Denn heute stehe ich auf dem Parkplatz vor der Lindauer Insel und warte auf den polnischen Reisebus, der aus Brieg kommt, einer kleinen Stadt in der Nähe von Krakau. Schon 30 Minuten warte ich hier, stehe mir die Beine in den Leib und habe aus lauter Langeweile sogar mein Auto aufgeräumt. Der Bus aus Brieg ist überfällig. Wirre Gedanken schießen mir durch den Kopf. Was tun, wenn der Bus verunglückt ist oder Herr Izbinski, der mir bereits am Telefon gesagt hat, dass er Cezar genannt werden will, gar nicht im Bus sitzt? Was tun, wenn es so läuft wie vor einem Jahr, als mein Vater im letzten Augenblick noch einen Rückzieher machte? Glücklicherweise hatte ich damals noch die junge Polin auf dem Bahnsteig in Warschau erreicht, bevor sie in den Zug stieg. „Frau S., es tut mir schrecklich leid“, hatte ich ihr damals gesagt und herumgedruckst, dass mein Vater mit einem Mal verkündet hätte, er käme allein zurecht. Ja, und das hätte er leider erst jetzt gesagt und er sei sich ganz sicher, dass er niemanden bräuchte, der auf ihn aufpasst und wenn jemand käme, dann würde er ihn oder sie vor die Tür setzen … Nein, das Letzte hatte ich ihr lieber nicht gesagt. Peinlich war das, schrecklich peinlich.

Neulich sagte ein Bekannter zu mir: „Ihr Vater ist wirklich ein sehr netter Mann.“ Ich gab ihm ein „Ja“ zurück, offensichtlich ein etwas gedehntes „Jaaa“, denn er fügte lächelnd hinzu: „… aber einfach ist er nicht.“ Ich lächelte ihn an und diesmal sagte ich kurz und knapp: „Ja!“ Der Mann hatte offensichtlich Menschenkenntnis.

Endlich ist der Bus da. Und als Letzter steigt in aller Gemütlichkeit ein Mann aus, der wie Lech Wałęsa aussieht, ein hinkender Lech Wałęsa. Das Wenige, was ich über Polen weiß, wird in mir wach. Ich erinnere mich an die Bilder von Lech Wałęsa in den Nachrichten und Zeitungen, Lech Wałęsa als Werftarbeiter in Danzig, als Familienvater und wie er die Hand des damaligen polnischen Papstes Karel Wojtyla küsst. Wie hieß noch gleich das Buch, das Papst Johannes Paul II. in seiner Zeit als Weihbischof von Krakau geschrieben hatte? Ach ja: Vor dem Juwelierladen. Ein Liebesdrama mit dem Untertitel: Meditation über das Sakrament der Ehe, die manchmal zum Drama wird. Er schrieb darin über die innere Entfremdung der Partner, die schwierige Zweierexistenz von Menschen, die einander immer weniger Platz einräumen, die Pflichten, die immer weniger Raum lassen für den „reinen Geschmack der Begeisterung“, wie er es ausgedrückt hat. „… und so wenig verbindet mehr“ hätte auch auf dem Grabstein meiner Mutter stehen können, die sich nach 35 Ehejahren und einer Weltreise im Schlepptau meines Vaters aus dieser Welt verabschiedete. Doch dazu später mehr.

4  „Gromperen mit wäisse Keis“ sind nichts anderes als „Pellkartoffeln mit Quark“ auf luxemburgische Art.

Marggrabowa in Ostpreußen

Bilder von der Lega und anderen kleineren gefrorenen Flüssen, auf denen man im Winter Schlittschuh fahren konnte, kommen mir in den Sinn, Bilder aus der Kindheit meiner Mutter in Ostpreußen, von der sie immer sehnsüchtig erzählte. Allein schon der Name des Ortes, wo sie auf die Welt kam – Marggrabowa –, barg für mich als kleiner Junge alle wunderbaren Geheimnisse dieser Welt. Marggrabowa wies damals mit einer Fläche von sieben Hektar den größten Marktplatz aller deutschen Städte auf. Auch das fand ich beeindruckend. Und wie die Augen meiner Mutter leuchteten, wenn sie erzählte, dass sie manchmal ihren Vater, der als Feldchirurg am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte, auf seinen Krankenbesuchen begleiten durfte! Wie sie im Winter im Pferdeschlitten zu den entferntesten Höfen fuhren und wie wunderbar das gewesen sei, eng an ihren Vater gekuschelt durch diese kaum von Menschen bewohnte Schneelandschaft zu fahren, manchmal sogar über die Grenzen des Oletzkoer Kreises hinaus. Später suchte ich Marggrabowa auf allen möglichen Landkarten und war enttäuscht, weil ich es nicht finden konnte. Dabei wurde doch von dieser kleinen Stadt aus, die 1560 gegründet wurde und vor Beginn des letzten Weltkrieges ca. 7 000 Einwohner zählte, der Kreis Oletzko verwaltet. War Marggrabowa im Zweiten Weltkrieg von der Landkarte verschwunden, wie so manche andere Siedlung auch? Wie froh war ich, als ich las, dass es Marggrabowa noch gab, und dass man es im Jahre 1928 in Treuburg umbenannt hatte.

Ich glaube, dass die Kindheit in Marggrabowa die glücklichste Zeit im Leben meiner Mutter gewesen ist. Später war in ihrem Leben alles schwierig geworden. Ich sehe ihre ehrgeizige Mutter Elisabeth vor mir, die ihr immer die Schulhefte um die Ohren schlug und laut „columba, columbae, columbae, columbam …“ deklamierend durch die Wohnung lief, weil sie sich im Alter von fast 40 Jahren noch entschlossen hatte, Medizin zu studieren und zuvor ihr Abitur nachmachen musste. Dann kam 1939 die Trennung von ihrem Mann, der wie bereits erzählt zu preußischer Zeit noch Feldchirurg gewesen war. Ein Bild von ihm, stattlich zu Pferde, stand jahrelang auf meinem Schreibtisch. Schließlich war sie arisch und hatte etwas zu verlieren. Und wer weiß, wie es ihr ergangen wäre an der Seite dieses Sohnes einer jüdischen Mutter, über den wohl irgendein hohes Tier seine schützende Hand hielt, sodass er mit Glück und Geschick irgendwie durch die NS-Zeit kam. Er führte eine Art Schattenexistenz in gänzlich untergeordneter Stellung am Gesundheitsamt in Wiesbaden, man hatte „vergessen, dass es ihn gab“ und so nahm er zumindest an Leib und Leben keinen Schaden. Befreit von der Last dieser Ehe mit einem „rassefremden“ Mann und endlich Ärztin, übernahm sie das Regiment in den Krankenhäusern, in denen sie arbeitete, während sich ihre männlichen Kollegen an der Front aufrieben und zum Teil ihr Leben lassen mussten.

Mein Großvater aber, dessen Stammbaum ausgelöscht war, wuchs in meinen Augen zu einer Heldengestalt heran. Nur vom Bruder meines Großvaters erzählte sie gelegentlich, der als Zahlmeister auf großen Handelsschiffen alle Weltmeere bereiste, chinesische Vasen und japanische Holzschnitte von Hokusai sammelte und auf mysteriöse Weise ums Leben kam. Meine Mutter wollte sich darüber nie auf ein Gespräch einlassen. Kurzen Bemerkungen, die sie machte, entnahm ich jedoch, dass er durch die immer weiter zunehmende Einengung im Alltaglebens und die existenzielle Bedrohung durch die Naziherrschaft dem Wahnsinn verfiel und sich selbst das Leben nahm.

Wie habe ich meinen Großvater verehrt, obwohl ich ihn nie wirklich kannte! Ich sah diesen Mann, dessen stets leicht verhangener Blick aus graugrünen Augen bei all seinem sinnesfreudigen Gebaren eine allem zugrunde liegende Melancholie und ein fühlsames Herz verriet, schon seit meiner Kindheit als meinen wirklichen Vater an. Lebendig wurde die Gestalt meines Großvaters aber erst durch die Geschichten, die meine Mutter von ihm erzählte, wobei ihre Stimme und ihr Mienenspiel erkennen ließen, wie sehr sie ihren Vater geliebt hatte. Ob mein Vater wohl traurig war, wenn er das Bild meines Großvaters auf meinem Schreibtisch sah und nicht das seinige?

Cezar Izbinski

„Hallo, mein Name ist Sündermann, Viktor Sündermann. Entschuldigen Sie: Sind Sie Herr Izbinski?“ – „Ja, ich heiße Izbinski“, antwortete er mit einem breiten Lächeln, und streckte mir seine Hand entgegen: „Aber bitte nennen Sie mich Cezar.“ Vertrauensvoll ließ er seine große warme Hand in der meinen ruhen. Sie vermittelte mir das angenehme Gefühl, ein großes, sattes Meerschweinchen in der Hand zu halten und erst nach einer ganzen Weile gab ich ihm seine Hand zurück.

Wenn Cezar ein Wort im Deutschen nicht einfiel, nannte er mir das entsprechende Wort auf Englisch. Am Anfang dachte ich, es sei Polnisch, was ich nicht verstehe, aber als er mich verwundert ansah – etwa so, als ob er mich fragen wollte, ob ich denn kein Englisch verstünde – und das englische Wort langsam wiederholte, erkannte ich das Wort wieder. Mit der Zeit gefiel mir seine Art Englisch zu sprechen immer besser, denn mit seiner polnisch eingefärbten Aussprache entfaltete das Englische einen völlig ungewohnten Charme.

Er war Englischlehrer in Brieg gewesen, seinem Heimatort, und erzählte von seinen dankbaren Schülern, die ihn noch Jahre danach in seiner kleinen Wohnung besuchten, was sich dann immer zu einer großen Feier mit Wodka und allem Drum und Dran entwickelte. Zu dieser Zeit war er schon längst Taxifahrer, weil man als Englischlehrer kaum genug Geld zum Leben verdiente. Als Taxifahrer konnte man in einer kleinen Stadt wie Brieg zwar auch nichts verdienen, aber er fuhr gerne Auto und deshalb machte es ihm nicht so viel aus.

Wie mein Vater seinen Führerschein erwarb

Während der drei Monate bei uns durfte Cezar das Auto meines Vaters fahren, zumindest während der letzten Wochen. Lange Zeit stand es nämlich in der Werkstatt und niemand wusste so recht, wie es mit dem Auto weitergehen sollte. Mein Vater war immer ein sehr dynamischer Fahrer gewesen, was wir als Kinder sehr interessant fanden. Man konnte sein Fahrverhalten schon dem Foto auf seinem Führerschein ansehen, das einen forsch dreinblickenden, streng links gescheitelten jungen Mann zeigte. Wenn andere Jungs den Wunsch hatten, einmal bei einem Autorennen dabei zu sein, so hatten mein Bruder und ich den Vorteil, das schon im Auto meines Vaters erleben zu dürfen. Ob meine Mutter das genauso gut fand, möchte ich eher bezweifeln. Ich erinnere mich, wie sie sich bei einer Urlaubsreise nach Italien einmal demonstrativ auf dem Beifahrersitz umdrehte und die schöne Aussicht durch die Rückscheibe des Autos genoss, während mein Vater den San Bernardino bezwang und spielend all die anderen Fahrer hinter sich ließ, die sich sonst noch auf der Straße bewegten. Von Lindenberg im Allgäu bis zum Comer See in drei Stunden, das war in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts durchaus rekordverdächtig. Als ich später in Brands Hatch mit Freunden ein Formel-1-Rennen sah, kamen mir auch alle möglichen Erinnerungen an meinen Vater.

Nicht umsonst hatte mein Vater in unserer Familie den Beinamen „Toad“ – ein Name, auf den er, glaube ich, sogar ein wenig stolz war, obwohl er keineswegs schmeichelhaft gemeint war. „Toad“ (der Kröterich) war neben dem Dachs, dem Maulwurf und der Ratte eine der vier Hauptgestalten in „Der Wind in den Weiden“ 5 von Kenneth Grahame, einem in Großbritannien sehr bekannten Kinderbuchautor. Ich liebte dieses Kinderbuch und sah, wenn mein Vater mit ausladenden Bewegungen und weitschweifigen Worten uns die Welt erklärte, eine geradezu verblüffende Ähnlichkeit zwischen „Toad“ und meinem Vater. Das, was ihn wirklich zum „Kröterich“ werden ließ, war aber der Wahnsinn in seinem Blick, wenn er Auto fuhr. „Toad“ in „Der Wind in den Weiden“ war der Herrscher der Straßen, der Meister der rasanten Fahrt, und das war mein Vater auch.

Wie genau er an seinen Führerschein gekommen war, hat mir mein Vater nie wirklich erzählt. Jedenfalls benötigte er damals den Führerschein sehr dringend und das kam dem Fahrlehrer entgegen, der sehr dringend einen medizinischen Rat in einer etwas heiklen Angelegenheit benötigte. Das muss im Jahre 1950 gewesen sein. Mein Vater hatte das Angebot bekommen, in Wiesbaden, wo er am Hedwigs-Krankenhaus arbeitete, eine Praxisvertretung zu übernehmen. Das war allerdings mit der Auflage verbunden, Hausbesuche zu machen. Dafür durfte er den Mercedes des Praxisbesitzers benutzen. Da mein Vater mit seiner halben Assistentenstelle nur 50 DM im Monat verdiente und außerdem eine Frau kennengelernt hatte, die er nett und attraktiv fand – sie sollte später meine Mutter werden –, war ihm diese Praxisvertretung sehr wichtig. Die kleine Hürde der Führerscheinprüfung nahm er nach dem Grundsatz „Gib, dann wird dir gegeben“ mit Bravour und startete mutig seine Hausbesuche. Ob das, was er für die Praxisvertretung erhielt, wirklich die Kosten für die Reparatur sämtlicher vier Kotflügel des Mercedes aufwog, hat er mir nie erzählt.

5  „Der Wind in den Weiden“ von Kenneth Grahame, 1908 erschienen, ist einer der großen englischen Kinderbuchklassiker. Die erste deutsche Hörspieladaption des Werkes verfasste Martin Walser (1953).

„Guck mal, da drüben der Steinbrech!“

Vier beschädigte Kotflügel – das war die Bilanz einer einzigen Fahrt, die mein Vater während einer seiner Hausbesuche als Praxisvertretung im Wiesbadener Krankenhaus erreichte. Wenn mein Vater diese Geschichte zum Besten gab, fügte er immer hinzu, dass ja eigentlich nur die dicht stehenden Buchen schuld gewesen seien, die ihn am exakten Einparken gehindert hätten. Mein Vater liebte das Wort „exakt“ und so wie er das Wort aussprach, verstand auch wirklich jeder, was mit dem Wort gemeint war.

Mit der Botanik hatte er weniger am Hut, weshalb ich mir auch nicht mehr ganz so sicher bin, ob es sich tatsächlich um Buchen handelte, oder ob mein Vater das Wort „Buche“ ersatzweise für das Wort „Baum“ verwendete. Zu gerne hätte ich noch herausgefunden, ob mein Vater den Unterschied zwischen Buchen-, Linden- und Eichenblättern kannte. Ich bin mir da nämlich nicht so sicher. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit hätte ich aber keine ernst zu nehmende Antwort erhalten. Immer dann, wenn mein Vater sich unsicher fühlte, pflegte er nämlich die Dinge ins Komische zu ziehen. So antwortete er auf Fragen, die etwas mit Pflanzen zu tun hatten prinzipiell, mit der „Fauna“ würde er sich nicht so gut auskennen. Mein Vater brachte dann absichtlich alles durcheinander und führte die ganze Angelegenheit gewissermaßen ad absurdum. Das wiederum regte meine Fantasie an und ich stellte mir als Kind lauter Tiere vor, die nur bei Tage ihrer Tiernatur entsprechend aktiv waren, sich aber bei Nacht wieder nebeneinander in ihren Beeten einwurzelten.

Zeit seines Lebens schenkte mein Vater bei allen möglichen Anlässen nur Rosen, und zwar bei traurigen Anlässen dunkelrote und bei allen anderen Anlässen hellere Varianten. Wahrscheinlich waren das die einzigen Blumen, die er wirklich kannte und die man in einem Blumenladen kaufen konnte.

Die beiden anderen Blumen, über die er in meinem Beisein jemals sprach, waren Fingerhut und Steinbrech. Nicht, dass er diese Blumen so sehr geliebt hätte, nein. Es war der medizinische Verwendungszweck, der ihm diese Pflanzen nahegebracht hatte. Immerhin konnte man aus dem Fingerhut das Digitalis gewinnen, das William Withering, ein britischer Arzt und Botaniker, bereits 1775 entdeckt hatte, als er auf die Heilerfolge einer alten kräuterkundigen Frau aufmerksam wurde. Der Steinbrech war meinem Vater deshalb bekannt, weil er schon im Mittelalter mit Erfolg als Heilmittel gegen Blasensteine eingesetzt wurde. Ich nehme an, dass er auch den aus dem 15. Jahrhundert stammenden Spruch kannte, der da lautete: „Wenn man des krautes wurzel nimt in wein, so pricht sie den stain in den platern.“ Mit den „platern“ war die Harnblase gemeint. Und für Wein interessierte er sich ja schon seit seiner Kindheit. Mein Vater wusste aber wohl nicht, wie der Steinbrech aussieht, denn er benutzte das Wort „Steinbrech“ auch häufig, wenn er eine ihm unbekannte Blume vor sich hatte. Das reizte mich schon als Kind zu kessen Aussprüchen wie „Guck mal, da drüben der Steinbrech“, wobei ich ihn frech angrinste.

Die Sache mit den „Buchen“ ist neben der Liebe zum Wein einer der wenigen Berührungspunkte zwischen meinem Vater und dem Vater meiner Mutter, der Walter Gronemann hieß und von meiner Mutter immer liebevoll „Väterchen Walter“ genannt wurde. Väterchen Walter hatte es, wenn sein Arbeitstag zu Ende war, nie besonders eilig, nach Hause zu kommen. Genauer gesagt brauchte er immer ein Gläschen Wein und häufiger auch zwei oder drei, um sich seiner Frau wieder anzunähern, die mit Mädchennamen nicht nur Rittershaus hieß, sondern auch die dazu passende Ausstrahlung hatte. Sie war wirklich eine starke Frau und als Kind war ich immer fasziniert von den borstigen Vegetationen auf ihrer Oberlippe, die im Widerschein der Zimmerbeleuchtung manchmal rötlich schimmerten. Aber das ist eine andere Geschichte. Wenn Väterchen Walter mit dem Auto unterwegs war, saß Eg, eine struppige Riesenschnauzer-Mischung, meist auf dem Beifahrersitz. Doch eines Tages kam Eg alleine zurück. Auch wenn die Liebe zu ihrem Mann schon etwas abgekühlt war, entsprach es durchaus nicht dem Ordnungsdenken meiner Großmutter, dass ein Hund ohne sein Herrchen nach Hause kam. Also organisierte sie sich ein paar Leute und ein Auto und machte sich auf die Suche. Zuerst fanden sie die Beifahrertür, was natürlich ermutigend war. Das dazugehörige Auto war aber weit und breit nicht zu sehen. Zutiefst beunruhigt wegen des Autos und auch ein wenig wegen ihres Mannes setzte sie die Suche fort und fand das Auto schließlich sorgfältig eingeparkt am städtischen Friedhof und ihren Gatten, Herrn Dr. Walter Gronemann, unter einem Baum liegend, den wir behelfsweise – denn auch ich kenne mich mit der „Fauna“ nicht so gut aus – als „Buche“ bezeichnen wollen. Dort schlief er, im weichen Gras selig vor sich hin schnarchend und dem Ort der ewigen Ruhe schon ziemlich nahe, seinen kleinen Rausch aus. Dass er auf dem Weg zu dieser Ruhestätte seine Beifahrertür und Eg, seinen Hund, verloren hatte, war ihm offensichtlich entgangen.

Der ganze Stolz meines Vaters: ein Opel Kapitän

Besonders stolz war mein Vater, als er mit seinem ersten Chefarztgehalt einen Opel Kapitän kaufen konnte. Ich erinnere mich noch, wie wir das Auto abholten, und an den Geruch dieses funkelnagelneuen ultramarinblauen Autos. Die Farbe passte, der Name auch – schließlich war mein Vater im Krieg bei der Marine gewesen. Alles war sehr imposant und ich erinnere mich noch, wie ich als Siebenjähriger gerade mal so mein Kinn auf die Konsole der Seitenscheibe legen konnte, um nach draußen zu gucken. Unser erster Weg führte uns zu einer Schneiderei in der ehemaligen Kiesgrube von Lindenberg. Ich sehe meinen Vater noch vor mir, wie er in seinem neuen Anzug und mit stolzgeschwellter Brust zum Auto zurückkam. Ein neuer Abschnitt in seinem Leben hatte begonnen.

Obwohl der Fahrstil meines Vaters wirklich äußerst bedenklich war, kann ich mich an größere Unfallereignisse nicht erinnern. Wenn mein Vater am Steuer saß, dann saß er nicht einfach nur ruhig am Steuer. Nein, er arbeitete mit dem ganzen Körper und sah dabei so aus, als trainierte er gerade an der Hantelbank im Fitnessstudio. Besonders beim Überholen eines anderen Autos – was sehr häufig vorkam — führte er rudernde Bewegungen aus, als ob er den Überholvorgang damit hätte verkürzen können. Es sah wirklich urkomisch aus. Der einzige Unfall, an den ich mich erinnern kann, ereignete sich im Frühjahr 1983, nur wenige Tage nach dem Tod meines Bruders. Wir fuhren den Ratzenberg bei Lindenberg hinunter und mein Vater war wie immer viel zu schnell unterwegs. Nur war das diesmal eine besonders ungünstige Idee, denn es hatte frisch geschneit und die Fahrbahn war noch dazu spiegelglatt. Ich werde wohl nie das Gefühl vergessen, als es unser Auto von der Fahrbahn über eine Viehweide hinwegtrug und wir uns in gleichmäßigen Pirouetten schier endlos weiterdrehten, als handelte es sich um eine Reise quer durch das Universum. Alles um uns herum war weiß, wirklich alles, und eine seltsame Stille breitete sich aus. Wenn ein Engel mit einer Schalmei vor unserem Auto erschienen wäre, ich hätte mich nicht gewundert. Tatsächlich hatte mein Vater genau die Stelle erwischt, an der es zwischen Fahrbahn und Viehweide keinen Straßengraben gab. Was für ein unsagbares Glück — und was für ein seltsam entgrenztes Gefühl, als ob wir uns auf den Weg gemacht hätten, meinem Bruder in seine Welt zu folgen.

War es deshalb, weil er sich sehr langweilte und ihm wie so häufig im Leben alles zu langsam ging, oder gab es vielleicht einen ganz anderen Grund dafür, dass sich mein Vater, mittlerweile 94 Jahre alt, an einem Tag im Juli 2015 noch mal selbst ans Steuer setzte? Dieses Geheimnis hat er mit ins Grab genommen. Man sollte nicht verschweigen, dass es mein Vater auch zu Zeiten, als er noch seinen Führerschein besaß, schwer hatte. Niemand wollte sein Beifahrer sein, was ihn wohl sehr traurig und auch ein wenig zornig machte. Sogar sein ältester Enkel war ihm untreu geworden, als er ihn bat, immer auf die Autos zu schauen, die von rechts kamen, weil er selbst nicht mehr den Kopf nach rechts drehen konnte. Jedenfalls fühlte sich mein Vater wenige Monate vor seinem Tod noch einmal dazu berufen, sein Auto in Bewegung zu setzen. Diesmal hatte er, wie gesagt, gar keinen Führerschein, aber das störte ihn offensichtlich nicht im Geringsten. Frappierend war, dass ihm bei seiner letzten Autotour das Gleiche gelang wie bei seiner ersten Fahrt, als er alle vier Kotflügel beschädigte. Zum Glück kam dabei niemand zu Schaden und von einem toten Hund oder einer toten Katze kam mir auch nichts zu Ohren. Damit hatte sich gewissermaßen der Kreis geschlossen und das Auto, das man jetzt viel platzsparender unterbringen konnte als zuvor, fand seinen Frieden in einer Werkstatt und wäre da auch geblieben, wenn Cezar nicht so begeistert vom Autofahren gesprochen hätte.