Friederike Schmöe
Rosenfolter
Ein neuer Fall für Katinka Palfy
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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1. Auflage 2012
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Beate-Helena / photocase.com
ISBN 978-3-8392-3878-3
Die Schließanlage war ausgeklügelt. Hochtechnologie, voll elektronisch. Der Zeigefinger im schwarzen Handschuh glitt von links nach rechts über das Tastenfeld. Zwei von sechs Kontrollleuchten sprangen auf grün.
»Jetzt der zweite!«
»Ja-ha!« Er wusste, dass das Anwesen durch drei Codes geschützt war und er kannte alle Ziffern. Er hatte ein unglaubliches Zahlengedächtnis. Wenn ihn allerdings jemand antrieb, reagierte er gereizt. Seine Hände begannen in den Handschuhen zu schwitzen. Es waren leichte Handschuhe, beste Qualität, keine Gummiwürste, die seinen Tastsinn blockiert hätten. Sein linker Zeigefinger tippte die nächste Kombination. Wieder zwei rote Lämpchen weniger und zwei grüne mehr. Das hier war so simpel.
Zwar mochte es neugierige Nachbarn geben. Doch die Villa war von einem Garten umgeben, hohen Buchen, einer Hecke. Sensationsgeilen Blicken waren Grenzen gesetzt.
Die letzte Kombination. Er stemmte seine freie Hand in die Hüfte. Sechs Zahlen. Er hatte von all diesen Nummern geträumt, sie aufgesagt, unter der Dusche, auf dem Klo, hatte nachts den Wecker auf drei Uhr gestellt und schlaftrunken die Ziffern heruntergerasselt.
Der Bewohner war nicht zu Hause. Das hatten sie 100 Mal überprüft. Er war ein paar Tage in Zürich. Hatte es geheißen. Was er dort wollte, konnte man sich denken.
Die letzten beiden Leuchtdioden sprangen von rot auf grün. Es klickte sanft, beinahe unhörbar. Er schob die Tür auf. Sie waren drin.
Eine der beiden Taschenlampen streikte, und das war ein Fehler, ein Problem, ein böses Omen. Es war einfach unprofessionell! Hatten sie die Lampen vorher nicht getestet? Beinahe begannen sie zu streiten, fanden aber dennoch den Raum – zweite Tür rechts von der Diele aus – und den Safe genau an der beschriebenen Stelle. Sie hebelten ihn mit brutaler Gewalt aus der Wand und wuchteten ihn auf den Sackkarren. Draußen hörte er die Hunde kläffen.
Darüber hatten sie am längsten gestritten. Wie sie die Köter außer Gefecht setzen würden. Am Ende tat es ein Ultraschallgerät. Eines, das es auf dem freien Markt nicht zu kaufen gab.
Sein schweißnasses Shirt klebte an seinem Rücken fest. Außer einem Loch in der Wohnzimmerwand – wenigstens vermutete er, dass die minimalistisch eingerichtete Bude eine Art Wohnzimmer war – hinterließen sie nichts. Keine Fingerabdrücke, keine Visitenkarten, keine DNA-Spuren. Sie betraten nicht einmal ein anderes Zimmer. Nur Diele und Wohnzimmer. Neben der Haustür befand sich der Kasten mit dem Computer, der die Videoüberwachung steuerte. Er brach ihn auf, fand den Reset-Knopf unten links und drückte. Dann unterbrach er die Stromversorgung.
Sein Wagen parkte in der Schützenstraße, sie mussten einmal um die Ecke. Der Sackkarren machte schmatzende Geräusche auf dem Asphalt, als die Villa längst dunkel hinter ihnen lag. So ein blödes Grinsen legte sich auf sein Gesicht. Unmöglich zu unterdrücken.
Er hatte die Schließanlage zurückgesetzt und aktiviert, nachdem sie das Haus verlassen hatten.
Finito.
Er lachte leise, als sie den Safe ins Auto hievten. Einsteigen, den Zündschlüssel drehen und Gas geben war eins. Erst jetzt begann sein Herz zu hämmern. Er riss sich die Maske vom Gesicht.
»Pass doch auf!«, kam es vom Beifahrersitz.
Er hatte tatsächlich das Steuer ein Stück verrissen.
Eine halbe Stunde später luden sie in der Nähe von Pommersfelden den Safe aus. Der Kroate brauchte zwei Stunden, bis er die Kiste offen hatte, und vom Stahl war dann nicht mehr viel übrig.
500.000 Mäuse!
Sie konnten die Provision an die Frau zahlen, die ihnen den Tipp gegeben und den Code verraten hatte.
Kaum zu glauben, dass das hier sein erster Bruch überhaupt war. Klar, er hatte das eine oder andere Ding gedreht. Aber Einbruch war neu auf der Liste. Er konnte stolz sein.
Zwei Sachen waren im Safe, mit denen er nichts anfangen konnte. Notizen, handschriftlich, unleserlich. Dazu Zeichnungen. In einer Metallbox fand er irgendwelche Krümel, die er nicht mal näher ansah. Er schleuderte die Papiere und die Box in die Mülltonne auf dem Hof des Kroaten. Im Osten färbte sich der Himmel hellrosa.
Der Kroate bekam 5.000. Für den Tipp mussten sie 50.000 berappen. Das war fair. Sie hatten 445.000 übrig und teilten. 222.500 für jeden. Ein derart irres Geschäft hatte er noch nie gemacht.
Die Welt bekam ein neues Gesicht.
Selbst wenn er seine latenten Probleme mit einem Mal aus der Welt schaffte, hatte er locker 50.000 übrig. Man könnte auf Reisen gehen. Einfach so.
Sie stiegen in den Wagen. Der Kroate versprach, die Safereste zu entsorgen.
1
Semmler hatte schon eine Menge seltsamer Dinge bei seinen Rundgängen gefunden. Mausefallen, die angeblich niemand aufgestellt haben wollte, einen schlappen Fußball, auf dem South Africa 2010 stand, aufgeweichte Brötchen und – zum Brüllen – einen Vibrator.
Harri Semmler nahm seinen Job ernst und das bedeutete, er nahm Sicherheit ernst. Seit gut 13 Jahren war er bei der Security-Firma angestellt. Er galt als höchst zuverlässig. In seinen Berufsjahren war er mit renitenten GIs zusammengestoßen, hatte betrunkene Mountainbike-Fahrer vom Asphalt gepflückt und war zweimal von Bewaffneten bedroht worden. Das eine Mal kam ihm ein Kollege zu Hilfe, der den Angreifer anschoss, das zweite Mal war Semmler mehrere Stunden in einem Geldtransporter eingesperrt, bis die Polizei ihn rausholte.
Was er am Morgen des 3. April fand, fügte seinen reichhaltigen beruflichen Erfahrungen eine neue Dimension hinzu. Er fand ein Ohr.
Ein menschliches Ohr.
Semmler ging in die Hocke und betrachtete das Objekt interessiert. Noch verrückter aber war die Unterlage des Ohres: ein Rosenkissen. Rote Rosen, starke, spitzblättrige Knospen, die in einem Schwamm steckten. Als Umrandung geflochtene Weidenzweige. Das Kissen war quadratisch. Es lag dezent neben dem Brunnen. Er nahm sein Maßband aus der Tasche und checkte die Zentimeter. 20 mal 20. Und darauf ein menschliches Ohr. Ein linkes Ohr.
Niemand war in der Nähe.
Er befand sich im Historischen Garten, ganz in der Nähe des Eingangs auf das Landesgartenschaugelände. Des zukünftigen Eingangs. Noch war die Schau nicht eröffnet.
Semmler kam ächzend wieder hoch und zückte sein Handy. Während er Bescheid gab, sah er sich wachsam um. Die langgezogene Inselspitze, auf der die Gartenausstellung abgehalten wurde, wirkte so unfertig wie vor Wochen: Überall lag Werkzeug herum. Pflanzkübel standen da, große, plastikverschweißte Quader mit Erde, Paletten voller Sämlingskästen. Grün und Braun im Wechsel. In drei Wochen war Eröffnung.
Semmler hatte zwar beileibe keinen grünen Daumen, aber ihm war auch so klar, dass ein Ohr auf einem Rosenkissen auf der ERBA-Insel nichts zu suchen hatte. Das Ohr sah schrumpelig und bläulich aus im Morgenlicht. Oben auf der Ohrmuschel wuchsen dicke, schwarze Haare.
Das fand Semmler jetzt doch ein bisschen unappetitlich. Gähnend fragte er sich, wann er eigentlich das letzte Mal einer Frau Rosen geschenkt hatte. Ohne Ohr, natürlich.
2
Der Kroate hatte den Typen beobachtet, der seinen Kram in der Mülltonne auf dem Hof versenkt hatte. Der Knabe musste ein ziemlicher Dämlack sein. Wer schmiss denn den Inhalt eines Safes, den er vor Stunden aus einer fremden Wand gestemmt hatte, einfach in den Müll!
Der Kroate machte sich nichts aus den Aufzeichnungen anderer Leute, aber er nahm Papiere und Box aus der Tonne, stopfte alles in eine Aldi-Tüte und warf das Zeug mitsamt den Überresten des Safes auf seinen Pick-up. Er fuhr ständig Schrott in der Gegend herum, an den Anblick war man gewöhnt. Er schleuderte noch ein paar krumme Bleche auf die Ladefläche, schnappte sich seine Thermoskanne und schwang sich hinter das Lenkrad. Er hatte seine Sache gut gemacht, seinen Anteil kassiert, und wenn er öfter so einen Auftrag bekam – gesetzt den Fall, seine Künste sprachen sich an den entscheidenden Stellen herum – würde er … würde er … während er am Schloss Weißenstein vorbeifuhr, ging ihm durch den Kopf, dass er eigentlich wunschlos glücklich war.
3
Es gab zu viele Dinge, die schräg liefen, fand Privatdetektivin Katinka Palfy. Sie saß vor dem Café am Kranen und trank einen Latte Macchiato. Der April hatte sonnig und vielversprechend begonnen. Daran konnten auch der Finger und die Hand nichts ändern, die fünf beziehungsweise zehn Tage nach dem Ohrfund auf der ERBA-Insel entdeckt wurden. Den Finger fand ein Arbeiter, der eine Reparatur am Geländer des Aussichtsstegs ausführen musste. Der Steg ragte als Plattform Richtung Hafen übers Wasser und war einer der Diskussionsgegenstände gewesen, die während der Grabenkämpfe rund um die Landesgartenschau für verbale Attacken gut gewesen waren. Der Arbeiter erbrach sich in den Kanal. Die Hand wurde von einem Fünfzehnjährigen aufgespürt, der die Herausforderung annahm, noch vor der Eröffnung das Gelände kennenzulernen, und mit einem Kajak zur äußersten Spitze der ERBA-Insel hinübergepaddelt war. Das war gestern gewesen. Wie das Ohr, waren auch Finger und Hand auf einem mit Weidenzweigen eingefassten Rosenkissen drapiert gewesen. Katinka faltete den Fränkischen Tag zusammen und widmete sich ihrem Latte. Gegenüber am Kranen wallte eine Horde Touristen vom Ausflugsschiff. Gleich würden sie das Café stürmen, um ihre Wartezeit auf den Bus zu verkürzen.
»Haben Sie meinen Artikel gelesen?«, surrte eine Stimme in ihr Ohr.
»Dante Wischnewski. Wer anders könnte an einem solchen Tag durch die Stadt spuken.«
Es war nicht despektierlich gemeint. Sie mochte den rasenden Jungreporter, der ihr immerhin schon bei zwei Kriminalfällen in der letzten Zeit sekundiert hatte. Dante war jünger als Katinka, in den frühen Zwanzigern, hatte kaum Haare auf dem Kopf, dafür eine Menge Flausen darin. Er brannte für die gute Sache: seine Karriere als Journalist, die örtliche Zeitung und berauschende Storys. Letztere hatte ihm der Ohr-, Finger- und Handabschneider gerade geliefert.
»Setzen Sie sich. Das tun Sie sowieso.« Katinka versuchte, ihrer Stimme etwas Resigniertes zu geben, aber er sah sofort, dass es freundlich gemeint war.
»Sie grinsen, das heißt, Sie sind guter Laune. Was wiederum bedeutet: Die Geschäfte laufen gut. Sind Sie am Gliederschnippler dran?«
»Falsch getippt. Damit habe ich gar nichts zu tun.«
»Und der Hauptkommissar?«
»Ebenso wenig. Solange da keine Leiche ist, braucht es keine Mordkommission.«
»Die Frage ist doch: Stammen Ohr, Finger und Hand von derselben Person?« Dante warf sich auf den Korbstuhl Katinka gegenüber und kramte in seinem enormen Rucksack. Er förderte ein Basecap hervor und stülpte es sich über. »Muss höllisch aufpassen. Sonnenbrand auf der Platte – es gibt nichts Schlimmeres.«
»Sie schreiben doch, dass alle drei Teile von verschiedenen Menschen stammen.«
»Verschiedenen Männern. Gut achtgeben, Frau Ermittlerin.« Dante wedelte eine Wespe vor seinem Gesicht weg. »Sind die Mistviecher auch schon wieder unterwegs? He, Bedienung, einen Espresso bitte!«
Katinka wies auf die Menschentraube, die sich über die Straße auf die Cafébar zu wälzte.
»Obacht! Jetzt werden erst die Touris versorgt.«
»Egal!« Dante beugte sich vor. »Der Schnippler muss begabt sein, mit dem Messer, meine ich. Der Experte sagt, er hätte ein japanisches Tranchiermesser benutzt, wie sie für Sushi-Häppchen hilfreich sind. Scharf wie ein Porno nach eins im Privatfernsehen.«
»Also sind sämtliche Fingerabdrücke …«
»… weggeschnitten. Schon sehr speziell. Da hat sich einer viel Mühe gegeben.«
»Nehmen wir an, dass die Abdrücke in den einschlägigen Datenbanken gespeichert sind«, nickte Katinka. »Aber niemand soll je herausfinden, wer die Opfer sind.«
»Ich sage Ihnen was, Frau Palfy: Ohr und Finger, die Wunden können Sie sich zur Not selbst versorgen. Aber eine abbe Hand?«
»Innovative Sprachgestaltung, lässt Ihr Deskchef sicher nicht durchgehen.«
Dante winkte ab. »Die Bullerei hat sämtliche Kliniken in Franken abgesucht, überall hin Anfragen geschickt. Arztpraxen, ambulante Chirurgen, was weiß ich, alles abgegrast. Kein Einohriger, Neunfingriger oder Einhändiger hat sich gemeldet.«
Katinka schüttelte sich. Unwillkürlich griff sie sich an beide Ohrläppchen. Was sie am meisten gruselte, war die Akribie, mit der der Täter zu Werke gegangen war. Nachdenklich betrachtete sie ihren Latte.
»Ohr und Finger sind jeweils circa 24 Stunden nach der Operation gefunden worden«, berichtete Dante. »Die Hand war frischer. Angeblich keine drei Stunden, nachdem sich ihr ursprünglicher Besitzer von ihr verabschiedet hat.«
Sie konnte es nicht lassen: Im Geiste machte sie sich bereits eine Notiz. Für die plötzliche Temposteigerung mochte es einen Grund geben.
»Die Bullerei sucht fieberhaft nach einer Floristin, die diese Rosenkissen angefertigt haben könnte. Wobei man dafür nicht unbedingt vom Fach sein muss. Als hobbymäßiger Blumenliebhaber kriegt man so eine schnuckelige Unterlage sicher auch gebacken.« Dante holte tief Luft. »Dann die Symbolik. Wofür stehen Ohr, Finger, Hand? Ich habe Dutzende Lexika abgegrast. Es gibt alle möglichen religiösen und sonstigen Deutungen. Nehmen Sie nur die Hand. Sie steht für Selbständigkeit, denken Sie an den Spruch ›sein Leben in die Hand nehmen‹.«
»Hand anlegen«, ergänzte Katinka. »Seine Hände in Unschuld waschen, etwas von langer Hand planen, jemandes rechte Hand sein …«
»Checken Sie die Redensarten für Ohr und Finger, lässt sich die Liste verlängern.« Dante schüttelte den Kopf. »Ich komme hier nicht weiter. Die Sache ist bedrohlich, das steht fest.«
Ein Mann vom Nebentisch mischte sich ein. Er war fett, hatte schütteres Haar und einen österreichischen Akzent. »Sind hier in Bamberg Kannibalen aktiv?«
Niederösterreich, dachte Katinka. Er kommt aus Niederösterreich. Sie selbst war in Wien geboren und freute sich üblicherweise, Leute aus der alten Heimat zu treffen.
»Das nicht«, antwortete Dante für sie. »Aber anscheinend …«
»Wir kommen aus dem Waldviertel, aus Horn«, machte der Mann weiter. »Eine Woche Weltkulturerbe. Aber nach der Lektüre dieses Blattes«, er wies mit herabgezogenen Mundwinkeln auf die Zeitung, »haben wir ein ganz dummes Gefühl.«
Die verhuschte Frau im Outdoorlook, die neben ihm saß, lachte verlegen.
»Ach, das ist in Bamberg normal, sowas passiert hier ständig!«, bemerkte Dante leutselig.
»Genau.« Katinka nickte mit bedeutungsschwerem Blick. »Sehen Sie da drüben, das gelbe Gebäude auf der anderen Flussseite?«
Der Mann kniff die Augen zusammen. »Und?«
»Das ist der Knast. Erst letztens sind da fünf schwere Jungs ausgebrochen, bislang nicht gefasst.«
»Ach!« Der Waldviertler zückte seine Brieftasche. »Zahlen, bitte!«
Das Paar erhob sich, als endlich Dantes Espresso kam, und ging mit einem raschen Nicken davon.
»Davor haben sie Panik, unsere Stadtväter und –mütter inklusiver aller Veranstalter, Geschäftemacher und Businessleute«, kicherte Dante. »Dass die Besucher ausbleiben.«
»So weit spricht sich das nicht rum«, erwiderte Katinka. »Und die Einheimischen sind harte Knochen, die gehen trotzdem hin. Wenn sie überhaupt mitkriegen, dass wir eine Landesgartenschau haben.«
»Na, ich bitte Sie!« Dante hieb mit der Faust auf die Zeitung. »Sie müssen doch bloß lesen.«
»Die Abos brechen ein, habe ich gehört.« Katinka machte sich einen Spaß daraus, Dante mit Negativmeinungen zu seiner Tageszeitung zu triezen.
»Ich muss los. Einen Rosenfachmann aufsuchen. Und Sie? Genießen Sie die Sonne, machen Sie frei?« Er goss sich seinen Espresso hinter die Binde und stand auf.
»Ich kaufe jetzt gleich ein Haus.« Sie fand selbst, sie hörte sich zuversichtlicher an, als sie war.
Dante schob das Kinn vor. Seine Augen blitzten. »Verstehe. Wo? Was für eins?«
»Himmel, Wischnewski, Sie geben ja doch keine Ruhe. Aber behalten Sie es bitte für sich!«
»Kein Thema. Es handelt sich sicher nicht um eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse.«
Katinka beugte sich vor und flüsterte theatralisch: »Alleinstehendes Einfamilienhaus in Schweißdorf.«
»Aha.« Er sah enttäuscht aus. »Man sieht sich.«
4
Katinka grinste immer noch, als Dante längst um die nächste Ecke gefegt war. Den hatte sie schön hereingelegt. Aufs Land zu ziehen, hatte sie nicht vor. Aber ob sie zuschlagen sollte oder nicht, fiel ihr schwer zu entscheiden. Das alte und zugegeben nicht gerade rundum sanierte Haus in der Concordiastraße, in einem der beschaulichsten Winkel der Altstadt, war ihr von einer alten Dame zum Kauf angeboten worden. Der Bekannten einer ehemaligen Klientin, die Katinka zutraute, aus dem Gebäude etwas zu machen. Die Mieter zu bändigen und für die nötigen Reparaturen zu sorgen. Katinka trank ihren Latte aus und zahlte. Sie musste sich jetzt einen Stoß geben, diese Veränderung in ihrem Leben sofort herbeiführen oder es für eine ganze Weile lassen.
Ihre Geschäfte liefen gut. Sie hatte Geld gespart, und ihr Vater war bereit, ihr Geld zu leihen. Für eine Immobilie, die, auch wenn sie bröselte, in Zeiten der Finanzkrise beständiger erschien als ein Konto bei einer Bank. Sie würde Mieteinnahmen haben, könnte das Geld bald zurückzahlen und wäre schuldenfrei.
Im Prinzip, das spürte sie, während sie die Touristen beobachtete, die lärmend und schwitzend um die wenigen Stühle im Freien rangen, ging es ihr um das Neue im Leben. Um einen Impuls, der zu etwas führen würde, das noch im Dunkel lag, aber hin und wieder vielversprechend aufblitzte.
Sie war Anfang 30. Irgendwie war ihr Leben schon am Ende angelangt. Jahrelang hatte sie darum gekämpft, die Selbstständigkeit als Privatermittlerin zu erreichen, durchzuhalten und damit erfolgreich zu sein. Ideell und wirtschaftlich. Nach über fünf Jahren auf Verbrechersuche und im Personenschutz sehnte sie sich nach etwas Neuem. Etwas Erfrischendem. Nicht, dass sie ihren Job aufgeben wollte. Aber sie sehnte sich danach, irgendwas auszuprobieren. Eine Art Selbstlabor. Zudem schien es ihr immer unbefriedigender, zur Miete zu wohnen. Allein, ohne Hardo. Sie stellte sich vor, eine der Wohnungen, um die sie sich ab jetzt kümmern würde – sofern sie den Vertrag unterschrieb – an Hardo zu vermieten. Eine andere würde sie für sich selbst nutzen. Sie wären zusammen, aber mit dem nötigen Freiraum.
Hardo selbst fand die Vorstellung, dass Katinka sich ein Haus mit sechs Mietwohnungen, das noch dazu dringend hergerichtet werden musste, ans Bein binden wollte, geradezu beängstigend. Vor allem, da die Noch-Eigentümerin selbst nicht darin wohnte, sondern eine Villa im Haingebiet ihr Zuhause nannte.
Beamter! Katinka atmete tief durch. Stets auf Sicherheit aus. Beständigkeit. Kein Unternehmergeist.
Ihre Beziehung zu Hauptkommissar Harduin Uttenreuther, dem Leiter der Bamberger Mordkommission, war in einem ruhigen Fahrwasser angekommen. In einem ein bisschen zu ruhigen, nach Katinkas Geschmack. Ihre Liebe hatte einen leichten Grauschleier abbekommen. Es lag nicht an der Gewohnheit. Es lag am Stillstand.
Außerdem waren sie viel zu häufig getrennt. Beide hatten sie abnorme Arbeitszeiten, wenn es hart auf hart kam. Wenigstens hatte Hardo begriffen, dass Katinka nicht fortwährend in fürchterlicher Gefahr schwebte. Zurzeit befasste sie sich hauptsächlich mit Wirtschaftsfällen, und die waren im Grunde genommen langweilig. Sie fanden vorwiegend auf Papier statt, und wenn man die nötigen Beweise zusammentrug und die Delinquenten damit konfrontierte, gaben sie sofort alles zu. Kein Mumm! Katinka grinste. Sie stand auf und ging. Was für ein Frühling. Warm, sonnig – das verhieß keinen guten Sommer. Aber nach dem dreimonatigen Dauergrau mal eine Abwechslung.
Sie schlenderte durch die Theatergassen Richtung Schillerplatz, als ihr Handy klingelte. Bernd Wellmann, der Makler.
»Frau Palfy? Machen Sie sich nicht die Mühe, herzukommen.«
»Bitte, was?«
»Frau Roose ist …«
»Sie sagen mir jetzt nicht, sie hätte es sich anders überlegt.«
»Ach, i-wo. Bloß: Sie kann nicht kommen.«
»Warum das?« Katinka überfiel die entsetzliche Vorstellung, Frau Roose, Noch-Eigentümerin ihres Traumobjekts, sei plötzlich gestorben. Sie war weit über 80 und nicht unbedingt in einem Zustand, den man als sportlich fit beschreiben könnte.
»Sie ist gestürzt und hat sich den Arm oder den Fuß gebrochen. Sie wird gerade im Klinikum behandelt.«
Den Arm oder den Fuß – genauer ging es nicht. Katinka hasste unklare Angaben. »Das heißt …«
»Das heißt, sobald sie einigermaßen okay ist, machen wir beide uns mit den ganzen Papieren auf ins Klinikum und erledigen alles dort. Keine Frage.«
Dem brennt’s aber unter den Nägeln, dachte Katinka. Ratlos legte sie auf. Knochenbrüche in dem Alter kamen immer mal vor. Sie ging langsam nach Hause, das sich – noch – in der Herzog-Max-Straße befand. Innenstadtnah auf der Insel zwischen Regnitz und Kanal. Ihr Beetle stand dort. Sie hatte ihn von einer Freundin geerbt. Aber es wurde Zeit, dass sie den Wagen abstieß. Er war einfach unpraktisch.
Einer Eingebung folgend zückte sie die Autoschlüssel und fuhr zum Klinikum. Fragte nach Linda Roose. Fuhr mit dem Fahrstuhl, klopfte an die Tür, trat ein.
Zwei alte Damen lagen in ihren Betten, und auf den ersten Blick sahen sie beide gleich aus. Dünn, zerbrechlich, gelb im Gesicht. Sie dämmerten vor sich hin und beachteten Katinka nicht.
Ruhiggestellt.
Frau Roose lag in dem Bett am Fenster. Katinka zog sich einen Stuhl heran. In ihrem Zustand war Frau Roose tatsächlich nicht unterschriftsfähig. Allein deshalb, weil ihre rechte Hand in Gips lag.
»Misstrauen Sie Herrn Wellmann?«
»Wie bitte?« Katinka blinzelte. War diese dünne Stimme tatsächlich von Frau Roose gekommen?
»Hätte ja sein können, dass er das Haus einem anderen unterjubeln will. Bei den Maklern weiß man nie.« Die alte Dame kicherte leise.
»Na ja, das mag ein Gedanke gewesen sein, aber ich wollte vor allem wissen, wie es Ihnen geht!«
»Wird wieder werden. Das Handgelenk musste operiert werden. Ich bin müde.«
»Dann lasse ich Sie lieber in Ruhe, Frau Roose.«
»Nein, bleiben Sie!«
Katinka musterte das magere Gesicht der alten Frau, die ein wenig schiefe Nase, das fisselige, graue Haar.
»Wie ist das passiert?« Sie deutete auf den Gips.
»Ich habe alles zu Protokoll gegeben«, flüsterte Linda Roose. Sie stemmte sich mit Hilfe ihres gesunden Armes ein Stück in sitzende Position.
»Jemand war im Haus. Jemand hat mich gestoßen. Von hinten, die Treppe runter. Ich habe mich abgestützt. Dabei hat es ›Kracks‹ gemacht.«
»Jemand hat Sie die Treppe runtergestoßen?«
»Sie denken doch nicht wie alle, oder? Sie denken doch nicht, die Alte hat nicht mehr alle Tassen im Schrank, wie? Sie nicht, oder, Frau Palfy?«
Katinka sah sich hastig um. Niemand war hier, bis auf die andere Frau in ihrem Bett, die leise schnarchte. Katinka sah ihre Lippen flattern.
»Was ist mit Ihrer Nachbarin los?«
»Gebrochene Schulter. Auch gestürzt. Alle sagen, wir Alten, wir fallen andauernd hin. Dann brechen wir uns die dünnen Knochen. Die splittern mir nichts, dir nichts in unseren Körpern.«
»Es kommt eben häufig vor«, gab Katinka zu bedenken.
»Ich war nie ein stämmiger Typ, Frau Palfy. Aber ich bin noch nie eine Treppe runtergefallen. Man stolpert mal, aber dann fängt man sich.«
Sie redet, als würde sie einem Erstklässler erklären, was ein Purzelbaum ist, amüsierte sich Katinka.
»Ich war oben im Schlafzimmer. Ich wollte mich fertigmachen, war mit einer Freundin verabredet. Nur zum Kaffeetrinken in der Stadt. Ich ziehe mich um, als ich einen Luftzug spüre. Im oberen Stock habe ich alle Fenster gekippt. Ist ja schönes Wetter. Ich gehe durch die Räume, gucke, ob alles in Ordnung ist. Schließlich will ich das Haus für ein paar Stunden verlassen. Und dabei habe ich ein dummes Gefühl – als wenn mich jemand beobachtet. Als wenn«, Linda Roose beugte sich vor, »jemand im Zimmer wäre. Lachen Sie nicht!«
»Ich lache nicht.«
»Sie grinsen.«
»Nicht die Bohne. Erzählen Sie weiter!«
»Ich kann nichts Seltsames sehen. Da ist nur dieses Gefühl. Aber ich bin spät dran und will meine Freundin nicht warten lassen. Also nehme ich meine Tasche, meine schöne Ausgehtasche, und mache mich auf den Weg. Und als ich meine Hand auf das Geländer lege und die erste Stufe runtergehen will, stößt mich jemand. Ich spürte zwei Hände. Auf den Schultern. Alles ging rasend schnell. Ich hielt mich zuerst am Handlauf fest, aber dann kam die Treppe auf mich zu, alles wirbelte, drehte sich, ich spürte einen stechenden Schmerz im Handgelenk. Das war’s.«
Erschöpft lehnte Linda Roose sich zurück.
»Schlafen Sie erst mal«, schlug Katinka vor. »Wie heißt denn Ihre Freundin?«
»Emma. Emma Theiss.«
»Ich melde mich.«
Katinka steuerte das Treppenhaus an. Das ist ein Zeichen. Ich soll das Haus nicht bekommen. Nicht so schnell jedenfalls.
5
Katinka traf Emma Theiss in einem Coffeeshop in der Au-straße. Emma war das ganze Gegenteil ihrer Freundin. Vollschlank, stattlich, robust und außerordentlich energisch. Das Haar blond gefärbt, schick geschnitten. Schwere Ohrringe, ein witziger Modeschmuck im Dekolleté.
»Ach – Privatdetektivin sind Sie? Ich dachte, Sie wären Lindas Anwältin!«
»Braucht sie eine Anwältin?«
»Braucht sie eine Privatdetektivin?«
Sie lachten beide.
»Ich möchte das Haus in der Concordiastraße kaufen«, sagte Katinka.
»Tun Sie sich das bloß nicht an. Das Ding ist ein Rattenloch. Der Kasten hat nie was anderes als Ärger gemacht. Die Mieter ein wüstes Gesindel, koksen, kiffen, dealen.«
»Das muss aber schon eine ganze Weile her sein.« Katinka hatte natürlich Erkundigungen eingezogen. Darin war sie berufsbedingt nicht schlecht. Von wüstem Gesindel war zumindest gegenwärtig nicht die Rede.
»Sie machen ja sowieso, was Sie sich in den Kopf gesetzt haben. Warum wollten Sie sich mit mir treffen?«
»Wegen Frau Rooses Unfall.«
»Unfall! Darf ich lachen? Jemand hat sie gestoßen!«
»Das sagte sie mir. Was ist Ihre Meinung?«
Emma Theiss lehnte sich zurück. »Sie gefallen mir. Fürs Rumfackeln haben Sie nicht viel übrig, wie?«
»Nicht direkt.«
»Natürlich hat Linda sich das nicht eingebildet. Sie ist begütert, finanziell steht sie prima da, sie hat ihre Schafe im Trockenen. Sie ist 85 Jahre alt, und man kann sich ausrechnen, dass sie es noch maximal zehn Jahre schafft. Zähes Luder, das sie ist. Für zehn Jahre hat sie genug Geld. Sie kann Reisen machen, sich in ein Luxusaltenheim einsperren lassen und was weiß ich. Wenn sie jetzt den Erlös aus dem Hausverkauf dazurechnet … so viel kann sie nicht ausgeben, selbst wenn der DAX implodiert und die Welt zusammenbricht. Aber dann ist ohnehin alles egal.«
»Sie denken, jemand wollte ihr Geld?«
»Einbruch ist schließlich nichts Ungewöhnliches, oder?«, fragte Emma Theiss angriffslustig.
»Ich nehme an, dass Ihre Freundin die Kröten nicht zu Hause aufbewahrt.«
»Als Karl noch lebte, hatten sie einen Safe. Aber das habe ich ihr ausgeredet. Der Safe ist zwar noch immer da, in die Wand eingebaut, aber ihr Geld ist auf der Bank.«
»Da sind Sie sicher?«
»Total.«
Katinka kaute auf ihrer Unterlippe. »Denken Sie nicht, dass ein Räuber damit rechnet – heutzutage?«
»Sie meinen, dass kein Bargeld im Haus ist? Kann sein, aber Menschen besitzen andere wertvolle Dinge. Bilder, Schmuck …«
»Frau Roose auch?«
»Bilder nein, Schmuck ja.«
»Im Safe?«
»Im Safe.«
»Erzählen Sie mir Ihre Version«, bat Katinka.
»Wir treffen uns gern auf einen Cappuccino. Morgens rufen wir einander an. Fragen, ob bei der anderen alles in Ordnung ist. Wenn wir nichts weiter vorhaben, verabreden wir uns in einem Café. In Bamberg hat man ja die freie Auswahl. Mein Lebtag komme ich mit all den Cafés nicht mehr rum. Diesmal wollten wir ins Luitpold. Um zehn. Man kann dort gut frühstücken. Ich sitze da und warte. Trinke meinen ersten Cappuccino. Rufe Linda an. Niemand geht ans Telefon. Ich denke, sie ist auf dem Weg. Rufe ihr Handy an. Sie nimmt nicht ab. Ich denke mir nichts. Linda kommt mit dem Handy nicht klar. Außerdem hört sie es oft nicht, wenn sie es in der Handtasche herumträgt. Ich warte. Es ist Viertel vor elf. Ich zahle und mache mich auf den Weg. Über die Kreuzung und die Hainstraße entlang. Hier müsste sie mir entgegenkommen, aber …«
»Sie fühlten instinktiv, dass Frau Roose nicht kommen würde?«, fragte Katinka, als Emma Theiss nicht mehr weitersprach.
»Ja. Eigenartig, nicht? So eine Sicherheit. Ganz plötzlich. Intuition. Oder was sonst? Ich komme zum Haus, schließe auf, da liegt sie stöhnend am Fuß der Treppe. Nicht ganz bei sich. Die Hand steht irgendwie komisch vom Arm weg. Ich rufe den Notarzt.«
»Moment, sie lag am Fuß der Treppe?«
»Sage ich doch.«
»Sie ist die ganze Treppe runtergestürzt? Aus dem oberen Stockwerk?«
»Und hat sich nichts weiter getan, als sich das Handgelenk zu brechen. Allerdings so kompliziert, dass es operiert werden musste.«
»Na, bravo.«
»Die Polizei kam. Aber groß was gemacht haben die nicht. Keine Einbruchspuren, angeblich.« Emma Theiss trank ihren Cappuccino aus. »Das ist heute schon mein vierter!« Sie lachte und dabei baumelten ihre Ohrhänger wie wild. »Sagen Sie – haben Sie vielleicht eine Stunde übrig?«
»Ich ahne es!« Katinka griff nach ihrem Geldbeutel. »Ich komme mit.«
6
»Es ist nämlich so: In der Gegend wurde eingebrochen. Ist nicht lang her, einen knappen Monat«, redete Emma Theiss drauflos, als sie die Hainstraße entlangliefen. Die alte Dame hatte einen richtigen Stechschritt drauf.
»Ach, ja?«
»Wo genau, weiß ich nicht. Aber man hört einiges. Ich wohne in der Mittelstraße, da geht es eher zünftig zu. Nicht so viel Vornehmheit.«
»Hat Ihre Freundin Ihnen anvertraut, dass sie Angst hat? Vor Einbrechern, meine ich?« Katinka stellte sich vor, wie die zart gebaute Linda Roose einem vermummten, gewaltbereiten Zwei-Meter-Brecher gegenübertrat.
»Linda lässt sich so leicht nicht die Butter vom Brot nehmen.« Emma Theiss zuckte die Schultern. »Sie hat keine Lust, sich im Alter ins Bockshorn jagen zu lassen. Ich übrigens auch nicht. So, da wären wir.«
Sie stieß das Gartentor auf.
»Wow, prächtig!« Katinka blieb stehen. »Sie sagen mir aber jetzt nicht, dass Frau Roose den Garten alleine in Schuss hält.«
Die Hecke spross in einem prickelnden Frühlingsgrün, an allen Ecken und Enden regten sich Blätter und Blüten.
»Traumhaft, nicht? Linda hat einen Gärtner für zehn Stunden die Woche. Der kommt kaum zurande.« Emma Theiss legte Katinka die Hand auf die Schulter: »Wenn Sie das schwammdurchsetzte Gemäuer in der Concordiastraße kaufen, denken Sie dran: Einen Garten haben Sie dort nicht.«
»Mir reicht ein Basilikumtopf auf der Fensterbank. Sie haben einen Schlüssel zum Haus?«
»Wir haben beide die Schlüssel der anderen. Falls mal was ist. In unserem Alter muss man mit allem rechnen.« Emma Theiss schloss auf.
Katinka rechnete nicht damit, irgendetwas Aufschlussreiches zu finden. Die Polizei war immerhin hier gewesen und hatte keine Hinweise auf einen Einbruch entdeckt. Aufgrund langer Erfahrung wusste Katinka aber auch, dass älteren Leuten, vor allem älteren Damen vom Format Linda Rooses, oft kein Glauben geschenkt wurde. Wie, Sie sind gefallen? Ach? Da war jemand in Ihrem Haus? Haben Sie sich vielleicht erschreckt? Lief das Radio? Hm? Na, haben Sie sich den Stoß vielleicht eingebildet?
Katinka hasste es, wenn die Erfahrungen von Menschen nicht ernst genommen wurden. Daher ließ sie sich mit der festen Überzeugung durch die Villa treiben, dass Linda Rooses Geschichte der Realität entsprach und sich genau so zugetragen hatte, wie sie es berichtet hatte.
Im Parterre befand sich ein riesiges Wohnzimmer, das von einer mit Glasfenstern durchsetzten Schiebetür von Esszimmer und Küche getrennt war. Die Räume versprühten einen altmodischen Charme mit den vielen Beigetönen und geblümten Sofas. Dennoch wirkte alles sehr minimalistisch.
»Frau Roose mag wohl keinen Nippes?«
»Sie verabscheut Klimbim!«, bestätigte Emma Theiss. »Hier ist übrigens der Safe.«
Katinka streifte Gummihandschuhe über.
»Die Kombination wissen Sie nicht zufällig?«
»Doch, aber die sage ich Ihnen nicht.«
»Wissen Sie, was drin ist?«
»Ja!«
»Dann gehe ich jetzt nach oben und Sie überprüfen den Inhalt. Könnte sein, dass der Einbrecher ein geschickter Panzerknacker ist«, sagte Katinka.
»Jetzt weiß ich, was Sie meinen!« Emma Theiss lachte. »Hauen Sie schon ab.«
Katinka ging nach oben. Das Bad lag gleich auf der linken Seite und war ganz in einem dunklen Blaugrün gehalten. Alles war geradezu penibel aufgeräumt.
Das Schlafzimmer war irgendwann vergrößert worden, indem eine Wand in ein kleineres Zimmer zur Hälfte herausgebrochen worden war. In dem Extra-Eck hatte Frau Roose eine kleine Bibliothek eingerichtet. Regale vom Boden bis zur Decke. Die Bücher waren fein säuberlich einsortiert.
Das Bett im Schlafzimmer war gemacht und mit einem bunt gemusterten Plaid abgedeckt. Es lagen keine Kleider herum. Die Fenster waren gekippt und mit Schlössern versehen. Katinka versuchte, sie ganz zu öffnen. Keine Chance, jedenfalls nicht auf die Schnelle.
Okay, dachte sie. Kein Wunder, dass die Polizei einen Einbruch so gut wie ausschließt. Das Haus ist ziemlich gut gesichert.
»Frau Palfy?«, kam es von unten.
»Ja?«
»Alles im Lot. Im Safe fehlt nichts.«
Katinka setzte sich auf die Treppe. Irgendwo hier hatte Frau Roose gestanden und jemand hatte sie gestoßen.
»Kommen Sie mal rauf, Frau Theiss?«
»Schon unterwegs.«
»Sie spielen jetzt Frau Roose und ich den Einbrecher.«
»Sie meinen, Sie wollen herausfinden, warum Lindas Geschichte trotzdem glaubhaft ist? Obwohl nichts auf einen Einbrecher hindeutet?«
»Wenn Sie bitte hier im Treppenhaus stehen bleiben!« Katinka ging ins Schlafzimmer.
»Sie hat gesagt, sie hätte sich überall umgeschaut«, rief Emma Theiss ihr nach. »Und ein dummes Gefühl gehabt. Als wenn jemand da ist.«
Sie redete weiter, aber Katinka achtete nicht mehr auf sie.
Linda Roose hat sich umgezogen, rekapitulierte sie. Katinka öffnete die Schranktüren. Hier liegen aber keine Kleider herum, also hat sie das, was sie vorher anhatte, sofort aufgeräumt. Kann sein. Sie ist Ordnungsfanatikerin. Na schön.
Wenn aber Frau Roose ihre Klamotten sofort weggehängt hatte, konnte sich niemand im Schrank versteckt haben. Und das war der einzige Platz im Schlafzimmer, wo man sich zur Not verbergen konnte.
»Sie sagte, sie hatte das Gefühl, jemand wäre im Zimmer gewesen«, murmelte Katinka.
Emma Theiss steckte den Kopf herein. »Überfallen Sie mich jetzt oder was?«
»Gleich!«
Katinka ging in den Bibliotheksraum. Emma kam ihr nach.
»Die Wand hat Lindas Mann herausbrechen lassen, als sie hier einzogen. Er wollte ein Ankleidezimmer. Als Karl starb, wandelte sie es in ein Lesezimmer um.«
»Wandern Sie mal im Schlafzimmer auf und ab. Ich bleibe hier. Quetsche mich in die Ecke. Können Sie mich sehen?«
Emma Theiss probierte es. »Nein. Also ein ideales Versteck.«
Katinka nickte. »Der Einbrecher konnte hier im hintersten Winkel stehen und warten, bis Frau Roose das Haus verlässt.«
»Aber wie kam er herein?«
»Und wann?« Diese Frage schien Katinka beinahe wichtiger als die erste. Schlösser konnte man überwinden. Es gab Leute, die knackten jedes Schloss innerhalb von maximal 30 Sekunden.
»Haben Sie das mit den abgetrennten Gliedmaßen mitgekriegt?«, fragte Emma Theiss plötzlich.
»Klar. Warum fragen Sie?«
»Es fiel mir gerade ein. Überall gibt es kranke Typen. Finden Sie nicht?«
»Doch, sicher.«
»Linda und ich haben uns zu Weihnachten gegenseitig Dauerkarten für die Landesgartenschau geschenkt. Damit wir zu jeder Tages- und Nachtzeit reinkönnen. Auf das Gelände, meine ich. Waren Sie im September beim Baustellenfest? Da habe ich wirklich Blut geleckt.« Sie kicherte, als ihr auffiel, wie doppeldeutig ihre Formulierung klingen musste.
»Gehen Sie raus auf die Treppe«, bat Katinka.
Emma Theiss stellte sich auf die obere Stufe.
»So, ich komme aus dem Schlafzimmer.« Katinka schaffte es bis fast zur Treppe, ehe Emma Theiss herumfuhr.
»Es ist vorstellbar. Dass der Angreifer aus dem Bibliothekszimmer kam«, behauptete Katinka.
»Trotzdem seltsam. Warum attackiert er Linda? Wenn sie ihn gar nicht bemerkt hat? Dann hätte er fröhlich die Bude ausräumen können, und sie wäre Stunden später nach Hause gekommen und er hätte längst das Weite gesucht.«
»Guter Einwand.« Katinka nickte. Irgendein Mosaikteilchen fehlte, um das Bild vollständig sehen und die Ereignisse rekonstruieren zu können. »Wollen Sie bei mir anfangen? Als Juniorermittlerin?«
Emma Theiss lachte schallend.
»Lassen Sie uns gehen.«
»Aber Sie glauben Linda doch?«
»Ich glaube ihr.« Aber ich kann mir den Zusammenhang trotzdem nicht erklären, schob Katinka still für sich nach.
Sie verließen die Villa. Katinka sah zu, wie Emma Theiss ordentlich zuschloss.
»Irgendwas Dunkles hängt über der Stadt. Finden Sie nicht?«, murmelte die alte Dame.
Katinka zuckte die Achseln. »Der Frühling hat jedenfalls vielversprechend begonnen.«
»Das mit den abgetrennten Gliedmaßen. Ein Ohr, ein Finger, dann eine ganze Hand. Irgendwie gruselig.«
»Und?«, bohrte Katinka.
»Ich frage mich, ob das alles was zu bedeuten hat. Ein Ohr. Wozu ein Ohr? Oder der Finger. Dann Lindas Sturz. Ich reite jetzt vielleicht auf dem immer gleichen Gedanken herum, aber warum hat der Einbrecher nicht gewartet, bis Linda weg war? Um dann in Ruhe zu schauen, was es zu holen gab?«
»Er kann ja nur auf etwas Bestimmtes aus gewesen sein.« Und er war ein Profi, fügte Katinka im Stillen hinzu. Er wusste genau, wie er ins Haus kam, ohne Spuren zu hinterlassen. Vermutlich hat er Linda Roose eine gute Weile observiert. Sich ihre Gewohnheiten eingeprägt.
»Sie können sicher sein, dass ich mich bei Ihnen melde«, sagte Emma Theiss.
»Prima. Bis dann.«