Uwe Klausner

Pilger des Zorns

Historischer Kriminalroman

Dramatis Personae

Die Passagiere der ›Charon‹:

Hilpert von Maulbronn, 36 Jahre, Zisterziensermönch

und

Bernward, 24, Pilger

Emicho, 39, Badstuber

Jobst, 16, Schiffsjunge

Liutgard, 43, Tuchhändlerwitwe und Rosalindes Tante

Odo, 34, Hufschmied

Rosalinde, 15, Waisenkind

Richwyn, 28, Sackpfeifer und Spielmann

Wenzel, 22, Kapitän

In den weiteren Hauptrollen:

Berengar, 29, Vogt und Hilperts Freund

Irmingardis, 22, seine Verlobte

Schauplatz: Mainfranken, Spätsommer 1416

Zeitangaben

Die Zeitangaben in diesem Roman beruhen auf den Gebetszeiten der Zisterzienser:

Vigilien, 2.00–3.00 Uhr

Laudes (im Morgengrauen), 3.10 Uhr

Prima (bei Sonnenaufgang), 4.00 Uhr

Tertia, 7.45 Uhr

Sexta, 10.40 Uhr

Nona, 14.00 Uhr

Vesper, 18.00–18.45 Uhr

Komplet, 20.00 Uhr

Karte

Zitat

I’th’name of truth,

Are ye fantastical, or that indeed

Which outwardly ye show?

Im Namen der Wahrheit, seid ihr Einbildung oder tatsächlich das, als was ihr euch nach außen hin zeigt?

William Shakespeare, Macbeth, Akt I, Szene 3

PROLOG

Eine Woche vor der Himmelfahrt Mariens (07.08.1416)

VESPER

Worin sich im SPITAL zu OCHSENFURT AM MAIN etwas zuträgt, worüber der Mantel des Schweigens ausgebreitet wird.

»Neiiin!«

Der Schrei der Wöchnerin, die sich mit schmerzverzerrter Miene ins Bettgestell krallte, war überall im Spital zu hören. Und nicht nur dort. In der Herz-Jesu-Kirche, wo gerade die Messe zelebriert wurde, fiel dem Leutpriester beinahe der Kelch aus der Hand, was den Häckern, Kärrnern und Wäscherinnen wie ein böses Omen vorkam. Aber auch im Siechenhaus selbst, das von der Spitalgasse durch eine hohe Mauer abgetrennt war, fuhr den Krüppeln, Gebrechlichen und von Aussatz Befallenen der Schreck in die debilen Glieder.

Das 15-jährige Mädchen bekam von alldem nichts mit. Weder von der skeptischen Miene des Spitalmeisters noch vom Kopfschütteln der Hebamme und schon gar nicht von der Fahne des Feldschers, den man aus der nahen Schenke geholt hatte. In einem Punkt nämlich waren sich alle einig: Entweder würde die Mutter draufgehen oder das Kind.

»Um der Liebe Christi willen – schnallt sie fest!«, schrie die Hebamme, als das Schreien, Toben und Wehklagen nicht mehr auszuhalten war. Das ließen sich der Spitalmeister und der Feldscher, denen das dunkelhaarige Mädchen ordentlich zusetzte, nicht zweimal sagen. Ein Vaterunser der Hebamme, und schon war es vollbracht.

Doch damit war das Martyrium des Mädchens noch nicht vorbei. Selbst noch ein Kind, starrte es die Umstehenden Hilfe suchend an, während eine Wehe nach der anderen seinen Leib durchzuckte. Überall am Körper der 15-Jährigen klebte der Schweiß, wie lange sie noch würde durchhalten können, stand in den Sternen.

»So tut doch endlich was!«, bettelte die Mutter des Mädchens, die sich in den äußersten Winkel der schummerigen Kammer zurückgezogen hatte. »Sonst stirbt sie uns unter den Händen weg!«

»Und was, wenn die Frage gestattet ist?«, bellte die korpulente Hebamme zurück. »Wenn Ihr als Mutter nicht einmal genau wisst, wann genau ihr Leib fruchtbar geworden ist? Von der Frage, wer der Kindsvater ist, gar nicht zu reden?«

Das wiederum wollte die Mittvierzigerin, die ihr in puncto Korpulenz in nichts nachstand, nicht auf sich sitzen lassen. »Bekümmert Euch gefälligst nicht um Dinge, die Euch nichts …«

»Neiiin!«, machte die Wöchnerin, wachsbleich wie ein Leichentuch, dem unerquicklichen Zwist ein Ende. An dem Schrei, den das Mädchen ausstieß, war nichts Menschliches mehr, das Wimmern, das auf ihn folgte, hörte sich wie das eines Tieres an.

Eines Tieres, das in den letzten Zügen lag.

Und dann war es so weit. Ohne dass die Beteiligten etwas dagegen tun konnten, brandete eine Wehe nach der anderen über die 15-Jährige hinweg. So heftig, dass sie nicht einmal mehr schrie. In seiner Not öffnete der Spitalmeister das Fenster zum Hof. An der Höllenpein des Mädchens änderte dies jedoch nichts. In längstens drei Rosenkränzen, so der Eindruck des Feldschers, wäre es um die junge Frau geschehen.

So weit sollte es jedoch nicht kommen. Ob die heilige Katharina, welche die Hebamme in ihrer Not anrief, oder vielmehr die Zähigkeit des Mädchens für das Mirakel seines Überlebens verantwortlich waren, konnte keiner der Anwesenden sagen.

Und wollte es auch nicht.

Dazu war ihnen die Tatsache, dass die 15-Jährige von einem toten Knaben entbunden war, viel zu ernst, ja geradezu niederschmetternd erschienen.

Fast so niederschmetternd wie die Erleichterung, mit der das Mädchen die Nachricht von der Totgeburt entgegennahm, ein triumphierendes Lächeln aufsetzte – und von ebenjenem Moment an kein einziges Wort mehr sprach.

Fast so, als sei es sein Lebtag stumm gewesen.

TERTIA

Worin der Abt zu MAULBRONN seinem Bibliothekarius einen wohlmeinenden Rat und einen neuen Auftrag erteilt.

An Hilpert, Bibliothekarius und Inquisitor vom Orden der Zisterzienser

Unseren väterlichen und im Namen des heiligen Bernhard entbotenen Gruß und Segen zuvor.

Wie mir, dem über Dich gesetzten Vater Abt, unlängst vonseiten meines Amtsbruders zu Bronnbach und des Bischofs von Würzburg berichtet ward, hast Du, Hilpert, Dich um das Heil der Mutter Kirche in hervorragender Weise verdient gemacht. Zum einen, indem Du die Brüder zu Bronnbach wieder auf den rechten Weg geführt, zum anderen, indem Du Dir mithilfe der Mächte des Himmels gewisse Verdienste um des heiligen Kilian Stuhl zu Würzburg erworben hast. Worin diese bestanden, hat mir Johann, Bischof ebendaselbst, freilich verschwiegen. Was er mir indessen im Geiste brüderlicher Verbundenheit anzuvertrauen geruhte, ist, dass es Dir nach allerlei irdischer Mühsal und Plage gut zu Gesicht stünde, wenn Du Dich wieder mehr den Dir auferlegten Pflichten als den Fährnissen und Wechselfällen dieser unserer ach so beklagenswerten Existenz widmen würdest.

Nach allem, was mir zu Ohren gekommen ist, kann ich dem nur beipflichten, und so erteile ich Dir den Auftrag, Dich spätestens am Tage des heiligen Bernhard im Kloster Himmerod in der Eifel einzufinden, auf dass Du Deine Zeit wieder mit dem Lob Gottes und der Heiligen Jungfrau, dem Studium der Heiligen Schrift und den Dir als Mönch vorgeschriebenen Gebeten verbringen mögest. Steht doch geschrieben: ›Suchet den Herrn, und ihr werdet leben.‹

Darüber hinaus mögest Du Dich wieder den Pflichten eines Bibliothekarius widmen. Wie mir mein Amtsbruder zu Himmerod nämlich jüngst anzuvertrauen geruhte, befindet sich Bruder Gervasius, der dortige Bibliothekarius, nicht wohl, der Grund, weshalb sich Skriptorium und Bibliothek in einem beklagenswerten Zustand befinden und einer Neuordnung dringender denn je zu bedürfen scheinen. Eine Aufgabe, für die Du trefflicher als jeder andere geeignet bist, jedenfalls besser, als Dich mit den Schlingen und Tücken des irdischen Jammertals zu beschweren.

Darum säume nicht, mein gehorsamer Sohn, die Dir aufgetragene Aufgabe in wahrhaft mönchischer Demut zu erfüllen. Der dies schreibt, sorgt sich um Dein Seelenheil, nicht zuletzt auch darum, dass der Ruf unseres Ordens durch allzu weltliches Gebaren seiner Angehörigen Schaden nehmen könnte.

Postskriptum: Sobald Du in der Abtei Himmerod an­gekommen bist, lasse mich dies umgehend wissen!

Gegeben zu Maulbronn, an des heiligen Jakobus Tag, dem 25. im Monat Julius Anno Domini 1416

Albrecht von Ötisheim, Abt zu Maulbronn

DIES PRIMUS

Freitag vor Mariä Himmelfahrt (14.8.1416)

VOR SEXTA

Worin Hilpert von Maulbronn Abschied von WÜRZBURG nimmt und sich an Bord der ›CHARON‹ begibt.

Es war ein Tag, wie es ihn nur in Franken gibt. Der Himmel über Würzburg war fast wolkenlos, die Luft angenehm mild und die Hitze der vergangenen Tage abgeflaut. Sogar die Gerüche, die aus den Quartieren der Fleischhauer, Gerber und Abdecker emporstiegen, hatten an Penetranz eingebüßt, wie auch die übel riechende Mixtur aus Tierkot, Abfällen und Pferdemist, die einem an heißen Tagen fast den Atem raubte.

Es war Sommer, genau so, wie Bruder Hilpert ihn schätzte. Außer ein paar Federwolken, die sich an den azurblauen Himmel schmiegten, gab es nichts, das seinen Blick trübte. Der Zufall wollte es, dass das herrliche Spätsommerwetter mit seinem Seelenleben aufs Trefflichste harmonierte, weshalb er seit langer Zeit mit sich und der Welt im Reinen war.

Am heutigen Tage, über dem bereits die Vorahnung des nahenden Herbstes hing, galt es, Abschied zu nehmen. Abschied von Würzburg, den Freunden und vom Kampf gegen das Böse, der seine Kräfte beinahe aufgezehrt hätte. Ein Kampf auf Biegen und Brechen, vor allem, was die Wiederbeschaffung der Reliquien des heiligen Kilian betraf. Während er vom Neumünster aus in Richtung Oberer Markt schlenderte, atmete der hagere, 36 Jahre alte Zisterziensermönch mit der ergrauten Tonsur befreit auf. Der Brief seines Abtes war genau richtig gekommen. Es war Zeit, höchste Zeit, sich wieder seinen mönchischen Pflichten zu widmen, fernab der Wirrnisse und Gefahren dieser Welt.

Normalerweise hatte Bruder Hilpert für Straßenmärkte nicht viel übrig. Dennoch nahm er sich am heutigen Tage Zeit dafür. War er erst einmal in Himmerod, wäre es mit dem Trubel aus und vorbei. ›Ora et labora!1‹ würde die Devise lauten und an Arbeit, so zumindest der Brief seines Abtes, höchstwahrscheinlich kein Mangel herrschen.

Je weiter er sich vom Portal der Neumünsterbasilika entfernte, umso dichter das Gewühl, umso lauter die Rufe der Händler, schriller das Gefeilsche und dichter das Gedränge. Zwischen den Schragentischen, Buden und Ständen war kaum ein Durchkommen, und als er sich auf Höhe der Marienkapelle befand, von der bislang nur der Chor fertiggestellt war, musste er von seinen Ellbogen Gebrauch machen. Betörende Düfte, so der Geruch nach Zimt, Safran und Majoran, stiegen ihm in die Nase, darüber hinaus der nach Salbei, Thymian und Rosmarin. Ein Klostergarten war nichts dagegen. Alles war Licht, Lärm und betörender Duft, Feilschen, Gezeter und Geschrei. Keine Viertelstunde jedoch, und Bruder Hilpert begann des Treibens der Marktweiber, Backwarenverkäufer und Bauchhändler, der Lockrufe der Quacksalber, Scherenschleifer und Devotionalienhändler allmählich wieder überdrüssig zu werden.

Der Blickkontakt zu dem Mann, der Bruder Hilpert beinahe über den Haufen gerannt hätte, war flüchtig. Außer den Froschaugen, die ihn geradezu unverwechselbar machten, war es die Tracht eines Jakobspilgers, welche ihn von den übrigen Passanten unterschied. Des Weiteren war nichts Auffälliges an ihm. Ein Marktbesucher unter vielen. Vielleicht eine Spur zu feist, aber nicht so, dass es Argwohn erregt hätte. Was den Unterschied ausmachte, waren diese Froschaugen, die in Bruder Hilpert eine spontane Antipathie wachriefen. Besser, sich nicht mit ihm anzulegen und derlei unliebsame Begegnungen wieder zu vergessen, dachte er bei sich und setzte seinen Weg fort. Auf eine Entschuldigung würde er ohnedies vergeblich warten.

Denn genau das war es, was Bruder Hilpert möglichst schnell wollte: vergessen. Vergessen, was er alles durchgemacht hatte. Vergessen, dass im Menschen bisweilen ein Raubtier steckte. Und so war er heilfroh, als er dem Gewimmel entronnen, der Schustergasse gefolgt und in die Domstraße eingebogen war, von alters her Sitz der Goldschmiede, Geldwechsler und Waffenhändler der Stadt.

Vor dem Rathaus, ›Grafeneckart‹ genannt, stand ein Falschmünzer am Pranger. Sehr zum Vergnügen der Gassenjungen, die ihn mit Abfällen, Dreck und verdorbenem Fisch bewarfen. Da er derlei Spektakel nicht schätzte, wandte sich Bruder Hilpert angewidert ab. Ein letzter Blick zum Kiliansdom, die Zwillingstürme hinauf und wieder hinunter zum Portal. Dann machte er auf dem Absatz kehrt, trat zur Seite, um einem mit Weinfässern beladenen Fuhrwerk Platz zu machen, und steuerte eiligen Schrittes auf die Mainbrücke zu. Die Stadtwache, mit einem Pulk Spielleute, Akrobaten und einem Bärentreiber in ein hitziges Wortgefecht vertieft, beachtete ihn kaum. Aber das war Hilpert gerade recht.

Er wollte weg, lieber heute als morgen. Diese Stadt, in der es ihm ausnehmend gut gefiel, war mehrere Wochen lang seine Heimat gewesen. Seine wahre Heimat indes war eine andere. In diesem Punkt hatte sein Abt vollkommen recht.

Höchste Zeit, der Welt den Rücken zu kehren, dachte Bruder Hilpert bei sich, während er nach dem Flussschiff Ausschau hielt, das ihn ans Ziel bringen sollte. Er konnte es kaum abwarten, wieder nach Hause zu kommen, und als er die ›Charon‹ erblickte, die unterhalb der Mainbrücke vor Anker lag, atmete er erleichtert auf.

Nur noch ein paar Tage, dann war es geschafft.

Falls nicht wieder etwas dazwischenkam.

*

»Schlag die Drecksviecher tot, du Memme, oder bist du etwa zu dämlich dazu?«

Der Lockenkopf auf dem Achterdeck, knapp 22, schlaksig und krebsrot im Gesicht, war außer sich. Dank seiner Augenklappe sah er wie ein Strauchdieb aus, und sein Wams, das verdreckte Leinenhemd und die grimmige Miene trugen das Ihrige zu diesem Eindruck bei.

Der knapp 16-jährige Knabe, Zielscheibe seines Jähzorns, senkte betreten den Kopf. Er hatte flachsblondes Haar, hellblaue, hervortretende Augen und eine schmächtige Statur. Und einen Heidenrespekt vor dem Mann. Fast so viel wie vor der Reuse, die immer noch unberührt auf dem Mainkai stand.

»Los jetzt, sonst mach ich dir Beine!« Der Choleriker auf dem Achterdeck, allem Anschein nach der Kapitän, ballte die Rechte zur Faust. Er würde nicht lange fackeln. Das wusste der Junge genau. Aus diesem Grund, nicht zuletzt aber auch wegen der Gaffer, fasste er sich schließlich ein Herz, riss den Deckel von der Reuse und lugte über den Rand.

Für die Fischweiber, Schiffsbesatzungen und Müßiggänger, welche die Szene amüsiert verfolgten, war eine Reuse voller Aale natürlich nichts Besonderes, für den verschüchterten Jungen dagegen schon. Trotz aller Drohgebärden rührte er sich nicht von der Stelle. Seine Miene, wachsbleich und angeekelt, sprach Bände. Keine Macht der Welt hätte ihn dazu bringen können, mit der Hand in das glitschige, zuckende, zappelnde und sich wie in spastischen Krämpfen windende Gewürm zu greifen, zuzupacken und eine dieser Kreaturen herauszuholen. Dafür war sein Abscheu einfach zu groß. Da konnte der Dunkelhaarige mit der Augenbinde toben, wie er wollte. Noch so sehr fluchen oder drohen. Es ging einfach nicht. Selbst auf die Gefahr hin, dass er sich blamierte.

Als könne er Gedanken lesen, stemmte der Mann auf dem Achterdeck die Hände in die Hüften und spie verächtlich aus. Dies war aber erst der Anfang. Bevor der Junge wusste, wie ihm geschah, hatte er einen Satz über die Reling gemacht, einen besonders langen, noch dazu widerborstigen Aal gepackt und dem Jungen damit ins Gesicht geschlagen. Der war fürs Erste so perplex, dass er nicht einmal ins Taumeln geriet. Erst als der Mann zum zweiten Mal ausholte, verformte sich das bis dahin regungslose Gesicht, und er riss schützend die Arme empor.

Dann endlich schien der Mann zur Besinnung zu kommen und ließ von dem Knaben ab. Freilich nicht, ohne die angestaute Wut an dem Aal abzureagieren, mit dessen Leib er die Bordwand auch dann noch traktierte, als dieser keinerlei Lebenszeichen mehr von sich gab.

Auf dem Mainkai kehrte Stille ein, und die Amüsiertheit der Gaffer schlug in gespannte Erwartung um. Ein Fischverkäufer, der Hecht, Stör, Barsch, Karpfen und Forellen feilbot, wischte sich die Hände ab und trat neugierig hinzu. Nicht anders sein Nachbar, ein Gnom mit Stoppelbart, der gerade einen Flusskrebs in siedendes Wasser getaucht hatte. Das hier war zur Abwechslung einmal etwas Neues. Darin waren sich alle einig.

Was allerdings dann geschah, war so ungewöhnlich, dass sich kein Mensch einen Reim darauf machen konnte. Der Lockenkopf war wie erstarrt, die zerfetzten Überreste des Aals immer noch in der Hand. Keuchend vor Erregung hielt er den Kopf gesenkt, ohne Blick für das, was um ihn herum geschah. Dann warf er den klebrigen Torso in den Fluss, stopfte die Hände in die Tasche seiner ledernen Beinlinge und rührte sich nicht mehr vom Fleck.

Nicht so der Knabe, der sich das flachsblonde Haar aus dem Gesicht strich, vorsichtig näher trat und dem Lockenkopf die Hand auf die Schulter legte. Geraume Zeit rührte sich keiner der beiden von der Stelle, und als sei nicht er es, dem Unrecht widerfahren war, redete der Knabe dem fast zwei Köpfe größeren Kapitän gut zu.

Berengar von Gamburg, per Zufall Augenzeuge, war völlig verblüfft. Irmingardis, die sich bei ihm untergehakt hatte, nicht minder, und der Blick, den die Frischverlobten miteinander tauschten, sprach Bände.

»Hast du das gesehen?«, raunte der 29-jährige Vogt des Grafen von Wertheim seiner Begleiterin ins Ohr, als sich die Menge wieder zu zerstreuen begann.

Die knapp sieben Jahre jüngere, zierliche, dafür aber umso hübschere ehemalige Ordensschwester, die sich bei dem fast sechs Fuß großen Hünen mit dem schulterlangen dunklen Haar untergehakt hatte, nickte. Ihr Kleid war aus Leinen, dezent mit Goldfäden durchwirkt, das Haar unter einer Haube verborgen. Ihrem Liebreiz und der damit verbundenen Ausstrahlung tat das freilich keinen Abbruch. Und einem Lächeln wie dem ihrigen pflegte man ohnehin nur auf Abbildungen der Muttergottes zu begegnen. »Hab ich!«, erwiderte sie knapp und ließ der Diskretion halber den Blick über die angrenzenden Verkaufsstände schweifen. »Und was nun?«

»Na ja – wenn mich nicht alles täuscht, sind wir hier richtig!«, antwortete Berengar und wies mit dem Kinn in Richtung des Schiffes, vor dem sich die denkwürdige Szene abgespielt hatte. Der Lockenkopf, sein Kapitän, war im Begriff, wieder an Bord zu gehen, gefolgt von dem Knaben, der ihm nicht von der Seite wich.

»›Charon‹ – merkwürdiger Name!«, wunderte sich Berengar, als er den Namenszug am Bug entdeckte. Mit einer Länge von schätzungsweise 25 und einer Breite von circa acht Ellen war das Schiff ungewöhnlich groß. Die Planken aus Eichenholz, fein säuberlich kalfatert und mit Nieten versehen, insbesondere auf den Spanten. Das Achterkastell, unter dem sich die Kapitänskajüte befand, dazu eine behelfsmäßige Laube aus Segeltuch unmittelbar vor dem Mast, mit seinen an die sechs Ellen ungewöhnlich hoch. Angefangen beim Bug, bis hin zur Takelage und dem Rahsegel ragte die ›Charon‹ aus den Kähnen, Booten und Einbäumen somit allein schon aufgrund ihrer Größe hervor.

»Nicht, wenn man sich in griechischer Mythologie auskennt!«, erwiderte Irmingardis mit spitzbübischem Lächeln und hauchte Berengar einen Kuss auf die Wange. »Derzufolge es einen greisen Seemann mit Namen Charon gab, der die Todgeweihten über den Styx ins Reich des Gottes Hades zu rudern pflegte. Für einen Obolus, versteht sich!«

»Wie? Nicht umsonst?«, frotzelte Berengar, legte den Arm um sie und drückte Irmingardis an sich. »Da kann man ja nur hoffen, dass unser Freund Hilpert noch möglichst lange unter den Lebenden weilen wird.«

»Mit so etwas macht man keine Scherze, mein Herz.«

»Stimmt. Aber wenn ich den Kerl am Steuerruder so ansehe, scheint er diesem Charon verdammt noch mal …«

»Du sollst nicht fluchen, mein Herz.«

»… ziemlich ähnlich zu sehen. Was hast du gerade eben gesagt, oh du mein Daseinszweck?«

Irmingardis gab keine Antwort, sondern ließ den Blick aufs Achterdeck wandern. Der Lockenkopf stand am Ruder, der Knabe in unmittelbarer Nähe. Er rollte ein Tau zusammen, eifrig darauf bedacht, nur ja alles richtig zu machen.

»Sieht so aus, als ob du nicht ganz unrecht hast, mein Herz. Der Choleriker da oben kann einem wirklich das Fürchten lehren.«

»Und das von jemandem wie dir.«

»Ich meine ja bloß – so wie der aussieht, würde ich mir das an Hilperts Stelle noch mal überlegen!«

»Was denn?« Von Berengar und Irmingardis gänzlich unbemerkt, hatte sich Hilpert den Freunden genähert und sah sich gut gelaunt um. »Irgendetwas nicht in Ordnung?«

»Nichts von Bedeutung!«, wiegelte Berengar ab. »Und – hast du dir das gut überlegt?«

»Da gibts nichts zu überlegen. Gegenüber dem Wunsch meines Abtes, der im Übrigen auch der meinige ist, haben persönliche Begehrlichkeiten zurückzustehen.«

»Selbst dann, wenn es einen neuen Fall zu lösen gäbe?«

»Wieso?«

»Stell dir vor: War doch mein Schwesterherz gestern beim Prior des Dominikanerklosters zur Beichte. Dreimal darfst du raten, was er ihr unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit anvertraut hat!«

»Und wie kommt es, dass Sieglinde überhaupt die Beichte abnehmen darf?«

Berengar rollte die Augen und warf seiner Verlobten einen gequälten Seitenblick zu. »So ist er nun einmal, mein Herz!«, hörte sich sein Lamento nicht gerade überzeugend an. »Jederzeit zu einem Späßchen bereit.«

Bruder Hilpert tat so, als habe er die Hänselei des Freundes überhört, und fragte: »Und was, bitte schön, hat sich in der Nachbarschaft deiner Schwester Aufregendes zugetragen?«

»Nichts!«, machte sich Berengar einen Spaß daraus, Bruder Hilpert zappeln zu lassen. »Außer vielleicht, dass die Preziosen des Konvents seit letztem Monat verschollen sind. Nebst der Kassette mit dem Geld. Welche just zu diesem Zeitpunkt randvoll gewesen sein soll. So zumindest der Prior. Und der muss es bekanntlich wissen.«

»Irgendwelche Anhaltspunkte?«

Berengar, der sich bereits auf der Siegerstraße wähnte, konnte ein Grinsen nur mit Mühe unterdrücken. »Leider nein. Dem Vernehmen nach fehlt vom Dieb oder den Dieben jedwede Spur. Um sich und ihren Orden nicht zum Gespött zu machen, haben die Dominikaner bislang strengstes Stillschweigen bewahrt.«

»Jedenfalls so lange, bis deine Schwester geruhte, das Beichtgeheimnis zu brechen«, konnte sich Bruder Hilpert einen Seitenhieb nicht verkneifen. »Um es auf den Punkt zu bringen: Was ist über den … wie heißt der Täter überhaupt?«

An diesem Punkt des Gesprächs war es um Berengars Selbstbeherrschung geschehen. »Und du willst mir weismachen, dass du dich für weltliche Belange nicht mehr interessierst!«, lachte er. »Im Ernst: Er heißt Malachias, ist um die 40 und …«

»Und wenn schon – mein Entschluss steht fest!«, wollte sich Bruder Hilpert keine weitere Blöße geben. »Für den unwahrscheinlichen Fall, dass der Orden des heiligen Dominikus zu Würzburg vor dem Ruin stehen sollte, muss sich der Bruder Prior einen anderen Spürhund suchen. Sich dem Wunsch des Abtes zu widersetzen, ist ein schwerwiegendes Vergehen, Gehorsam zu üben, meine oberste Pflicht.«

»War ja nur so eine Idee!«, versuchte sich Berengar aus der Affäre zu ziehen und scharrte mit dem Fuß. »Schließlich hast du dir innerhalb kürzester Zeit einen beachtlichen Ruf erworben.«

»Ein Grund mehr, mich wieder auf meine Pflichten zu besinnen«, beharrte Bruder Hilpert und lächelte Irmingardis an. »Was trägst du da eigentlich mit dir herum?«

»Wenn schon Gehorsam, dann wenigstens mit vollem Magen!«, ließ ihre Antwort nicht auf sich warten, und während die beiden Freunde einen verdutzten Blick tauschten, händigte Berengars Verlobte dem Zisterzienserbruder einen prall gefüllten Proviantbeutel aus. »Bekanntlich hat ein wenig Wegzehrung noch niemandem geschadet. Falls du bereit bist, mit Fladenbrot, Ziegenkäse, Eiern, Ingwerkuchen und allerlei Naschwerk vorliebzunehmen. Einen Schlauch Spätburgunder natürlich nicht zu vergessen.«

Bruder Hilperts Miene hellte sich schlagartig auf. »Sei bedankt, Irmingardis!«, antwortete er gerührt. »Und versprich mir, auf dieses Raubein mit Namen Berengar ein Auge zu haben. Damit er mir nicht auf die schiefe Bahn …«

An sich war der Anblick, der Bruder Hilperts Redefluss abrupt unterbrach, nichts Ungewöhnliches, und was ihn an dem Mädchen am Bug der ›Charon‹ interessierte, wusste er selbst nicht so genau. Als sie die Kajüte auf dem Achterdeck verlassen und sich an Taurollen, Säcken und Weinfässern vorbei in Richtung Bug geschlängelt hatte, war sie ihm kaum aufgefallen. Jetzt allerdings schon. Während sie dort stand, die eine Hand an der Reling, die andere um das Vorstag geschlungen, ging von ihr eine beklemmende Aura aus. Auf Anhieb wurde ihm klar, dass irgendetwas mit dem auffällig blassen, schwarzhaarigen und mit Ausnahme der dunkelblauen Schürze ganz in Weiß gekleideten Mädchen nicht stimmte. Von der Blässe abgesehen, war es der starre, in die Ferne gerichtete Blick, der Bruder Hilperts Aufmerksamkeit auf sich zog. Das Mädchen war von zarter Statur und gerade erst dem Kindesalter entwachsen. Doch nicht, was ihren Gesichtsausdruck anging. Diesbezüglich sah das Mädchen wesentlich älter aus, fast schon wie eine Erwachsene. Erwachsen, um nicht zu sagen beklemmend, wirkte auch ihr Blick. Starr, entrückt, auf einen unsichtbaren Punkt fixiert. Einen Punkt, der offenbar nur in ihrer Fantasie existierte.

Außerstande, sich von dem Anblick loszureißen, hatte Bruder Hilpert komplett den Faden verloren. Wäre Berengar nicht gewesen, hätte sich daran wohl kaum etwas geändert. Doch als ihm die sich auf und nieder bewegende Pranke des Freundes den Blick versperrte, kam er zur Besinnung.

»Schon wieder bei deinem nächsten Fall?«, feixte der Vogt, während sein Daumen über die Schulter hinweg auf das Mädchen zeigte. »Scheint so, als wärest du nicht der einzige Passagier an Bord!«

»Kann man wohl sagen!«, ergänzte Irmingardis, als sich eine üppige Matrone ins Blickfeld der drei Freunde schob. Dank der Flügelhaube, unter der ihr rötliches Haar zum Vorschein kam, wäre ihr die Kajütentür um ein Haar zum Verhängnis geworden. Eine Verwünschung auf den Lippen, kämpfte sie sich jedoch wieder frei, raffte den Rock aus karmesinrotem Brokat und trampelte wie ein vorsintflutliches Ungetüm auf das Mädchen zu. Schon nach wenigen Schritten außer Puste, blähte sich ihr Gesicht vor Zorn, ganz zu schweigen von seiner Farbe, die der eines Krebses nicht unähnlich war.

Keine zehn Schritte mehr vom Bug entfernt kam die Matrone jedoch abrupt zum Stehen. Die Passanten auf dem Kai taten es ihr gleich. Aller Augen, nicht nur die von Bruder Hilpert, waren urplötzlich auf das Mädchen gerichtet. Kein Wunder, denn so etwas bekam man hier selten zu sehen.

Ob das, was nun geschah, eine Reaktion auf die zu er­wartende Schelte war, konnte Bruder Hilpert nicht mit Sicherheit sagen. Denkwürdig war es allemal. Bis dahin wie erstarrt, erwachte die zierliche Gestalt zum Leben. Und das in einem Maße, welche die Umstehenden erschaudern ließ.

Den Anfang machten die Lippen, nicht mehr als ein farbloser Strich. Zuerst war da nur ein kaum wahrnehmbares Zucken, dann ein Vibrieren, danach geriet alles im Gesicht des Mädchens in Bewegung. Der Mund öffnete sich, einen Zoll weit, zwei, bis zu dem Punkt, an dem jeder, Hilpert mit eingeschlossen, mit einem markerschütternden Schrei rechnete. Doch der Schrei kam nicht, obwohl der Mund des Mädchens sperrangelweit offen stand. Das Gesicht zu einer Fratze des Entsetzens verzerrt, riss das Mädchen die Arme vors Gesicht und wich Zoll um Zoll zurück. Allein mit sich und ihrem imaginären Gegner, gab es nichts, was die 15-Jährige besänftigen konnte, und nicht nur Bruder Hilpert stellte sich die Frage, was geschehen wäre, wenn der Lockenkopf nicht eingegriffen, das Mädchen untergehakt und wieder in die Kajüte zurückgebracht hätte. Sehr zum Ärger der Matrone, deren Blicke, die sie den beiden hinterherschleuderte, Bände sprachen.

Als sich die Lage beruhigt, die Matrone den Rückzug angetreten und die Menge sich wieder zerstreut hatte, war Hilperts gute Laune verflogen. Ein Blick auf die Freunde, und ihm war klar, dass es Irmingardis und Berengar nicht anders ging. Die Stunde des Abschieds war gekommen. Trotz oder gerade wegen des denkwürdigen Schauspiels, zu dessen unfreiwilligen Zeugen sie geworden waren.

»Dann also lebe wohl!«, machte Berengar den Anfang, schüttelte Hilpert die Hand und umarmte ihn. Nach allem, was sie miteinander durchgemacht hatten, fiel ihm der Abschied nicht leicht.

Hilpert ging es genauso. »Leb wohl, bester aller Freunde«, flüsterte er und ließ Berengars Umarmung eine weitere folgen. »Und du, Irmingardis, selbstverständlich auch!«

»Machs gut, Bücherwurm – bin gespannt, ob es dir in Himmerod gefallen wird!«

»Ubi bene, ibi patria2, mein Freund!«

»Wenn dem so ist, warum bleibst du dann nicht hier?«

»Täusche ich mich, mein Herz, oder hat es dir Hilpert nicht gerade eben gesagt?«, schaltete sich Irmingardis ein, schmiegte sich an ihren Verlobten und liebkoste seine Wange.

»In der Tat, mein Herz.«

Während sich die beiden umgarnten, konnte sich Bruder Hilpert eines Schmunzelns nicht erwehren. »Dann also bis bald!«, sagte er mit wehmütiger Stimme, schulterte seinen Proviantsack und drückte Berengar die Hand.

»Bis bald, Stubenhocker, und lass von dir hören.«

»Auf alle Fälle!«, erwiderte Hilpert, zwang sich zu einem Lächeln und steuerte auf das Fallreep zu, welches die ›Charon‹ mit dem Mainkai verband.

»Das will ich dir auch geraten haben!«, rief ihm Berengar hinterher, schlang den Arm um die Hüfte seiner Verlobten und hob die Hand zum Gruß.

Hilpert erwiderte ihn, drehte sich um und ging an Bord. Der Spielmann, der es sich auf der Bank hinter der Reling bequem gemacht, sich schlafend gestellt und jedes einzelne Wort mitbekommen hatte, war keinem der drei Freunde aufgefallen.

Was Hilpert betraf, sollte sich das jedoch rasch ändern.

*

Bis zu dem Moment, als dieser Tollpatsch von Zisterzienser seine Pfade gekreuzt hatte, war alles wie am Schnürchen verlaufen.

Und jetzt dies.

Zum Davonlaufen.

Der Jakobspilger mit den Froschaugen kochte vor Wut. Jede Wette, dass er sich mein Gesicht eingeprägt hat, dachte er und sah sich zum wiederholten Male um. Doch die Luft war rein, und er setzte seinen Weg fort.

Für ihn, der er den Fischzug seines Lebens plante, stand eine Menge auf dem Spiel. Erst die Beute, dann untertauchen und dann, endlich, ein Leben, das er sich schon immer erträumt hatte. Ein Leben in Saus und Braus, mit Wein, Weib und Gesang. Wie pflegten die Römer doch zu sagen: »Varietas delectat!3«

Doch noch war es nicht so weit. Der schwierigste Teil des Unterfangens würde noch kommen. Erst dann, nach getaner Arbeit, konnte er aufatmen. Endlich wieder einmal richtig schlafen. »Zur Hölle mit den Zisterziensern!«, grollte er, während das Mittagsläuten erklang und er sich eiligen Schrittes dem Spitaltor näherte. Die Gegend hier war nicht die allerfeinste. Lehmkaten, Schweinekot, Küchenabfälle und der Geruch von verschimmeltem Obst. Da drehte sich einem glatt der Magen um. Er jedenfalls war Besseres gewohnt. Aber das durfte er sich nicht anmerken lassen.

Auf gar keinen Fall.

Sein Glück, dass die beiden Stadtknechte am Tor gerade beim Würfeln waren. Sonst hätte es womöglich Ärger gegeben. Oder lästige Fragen. Doch dem war nicht so. Eben noch einmal Glück gehabt.

Zum Haus des Pfandleihers, das sich von den Be­hausungen der Tagelöhner, Handlanger und Kärrner kaum unterschied, war es von hier, dem Weg in Richtung St. Afrakloster, nicht mehr weit. Wenigstens brauchte er sich jetzt in puncto Tarnung nicht mehr so viele Gedanken zu machen. Mit seinem schäbigen Rock, den noch schäbigeren Beinlingen und schlammverkrusteten Stiefeln würde er hier niemandem auffallen. Vorausgesetzt, eine Episode wie vorhin auf dem Markt würde sich nicht wiederholen.

Als er an den Bretterverschlag klopfte, der entfernte Ähnlichkeit mit einer Tür besaß, rührte sich nichts. Die Fensterläden waren verschlossen, und jenseits der aus Lehm, Feldsteinen und Weidengeflecht zusammengestückelten Mauer war kein Laut zu hören. Er wiederholte sein Klopfen, sah sich vorsichtshalber um.

Keine Antwort.

Der Vogel war also ausgeflogen. Macht nichts!, tröstete er sich. Kann passieren. Schließlich hatte er einen Monat lang nichts mehr von sich hören lassen. Da musste man mit so etwas rechnen.

Mit so etwas schon, nicht aber mir dem, was dann geschah.

Als er das Hecheln hörte, war es bereits zu spät. Alles, was er aus dem Augenwinkel registrierte, war ein Schatten, schneller als seine Gedanken, furchterregender als der Tod. Dann kam die Bestie über ihn. Allein schon ihr Atem, eine übel riechende Mixtur aus Blutgeruch, Speichelfäden und zermalmtem Knochenmark, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren, und sein erster Gedanke war, dies könne nur der Leibhaftige sein.

»Schon gut, Zerberus, das reicht!« Die Stimme, die dafür sorgte, dass die Bestie von ihm abließ und sich ein paar Atemzüge später wieder trollte, war ihm bestens bekannt. Da er es jedoch nicht auf einen Streit anlegte, rappelte er sich auf, schnappte sich seinen Filzhut und schleuderte dem sich entfernenden Ungetüm wütende Blicke hinterher.

»Empfängst du deine Gäste eigentlich immer so?«, ließ er seiner Verärgerung freien Lauf, während er seinen Filzhut ausklopfte.

»Tut mir leid!«, heuchelte der Pfandleiher, wobei sein Gegenüber das Gefühl nicht loswurde, hier sei eine gehörige Portion Schadenfreude im Spiel. »Eine reine Vorsichtsmaßnahme.«

»Was ist – willst du, dass wir hier draußen Wurzeln schlagen?«

»Keineswegs!«, beeilte sich der Pfandleiher zu entgegnen.

Gegenüber ihm, dem Herrn, hatte er es an Unterwürfigkeit niemals mangeln lassen. Trotzdem wurde er den Verdacht nicht los, dass man dem kurzsichtigen, triefäugigen und am Stock gehenden Greis nicht über den Weg trauen konnte. Eine behäbige alte Ratte, bei deren Anblick er unwillkürlich zurückwich, kauerte auf seiner Schulter, und sein Mund, aus dem anstelle der Zähne ein paar verfaulte Stummel emporragten, machte ihn ebenfalls nicht sympathischer.

Ein Mann, der über Leichen ging.

Genau wie er.

Bedauerlicherweise jedoch genau der Mann, den er für die Verwirklichung seiner Pläne brauchte.

Als sich der Bretterverhau hinter ihm schloss, klang sein Unbehagen nicht ab, und die stickige Luft tat ein Übriges. Überall lag jeder nur erdenkliche Plunder herum. Kupferkessel, Zaumzeug, Geschirr, Lederkoller und sogar ein Brustharnisch. Alles, was das Herz begehrte. Oder nicht. Je nachdem. Inmitten dieses Durcheinanders aus Truhen, Kisten und Schatullen verschiedenster Größe konnte man sich unmöglich zurechtfinden. Ganz zu schweigen von dem Geruch nach Fledermauskot, Hundepisse und Essensresten, die überall herumlagen. Er rümpfte die Nase. Ein Schweinestall, wie er im Buche stand. Zu dumm, dass man von jemandem wie dem Pfandleiher abhängig war.

»Ihr seid Eurer Beute wegen hier, stimmts?«, krächzte der Pfandleiher und legte die Hand auf den Tisch, woraufhin die Ratte von der Schulter hinunterkrabbelte und sich an den Essensresten gütlich tat.

Beim Anblick des makaberen Spektakels wurde dem Jakobspilger flau im Magen, doch zwang er sich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. »Genau!«, erwiderte er mit einem gekünstelten Lächeln, während die Ratte über den Holzteller herfiel, auf dem eine undefinierbare Mischung aus Hirsebrei, Brotrinde und zerkauten Saubohnen lag.

»In diesem Fall, fürchte ich, wirst du dich noch einen Tag gedulden müssen!«, greinte der Pfandleiher, legte seinen Stock beiseite und ließ sich auf einen wurmstichigen Schemel sinken.

»Was hast du da gerade eben …«

»Dass Ihr Euch bis morgen früh gedulden müsst!«, schnitt ihm der Pfandleiher das Wort ab und scheuchte die Ratte vom Tisch.

Das war des Schlechten entschieden zu viel, und er musste an sich halten, damit er dem Pfandleiher nicht an die Gurgel ging. »Willst du etwa damit sagen, du bist das Gerümpel nicht losgeworden?«, fuhr er ihn an, außerstande, seinen Jähzorn zu zügeln.

»Das schon.«

»Und was soll dann das Getue?«

»Dringend nötige Investitionen – Ihr versteht!«, wich der Alte aus, brach einen Spreißel aus dem Tisch und stocherte damit im Mund herum.

»Ich verstehe überhaupt nichts, du Halunke!«

»Aber, aber – wer wird sich denn gleich so erhitzen!«, beschwichtigte ihn der Pfandleiher in einem Ton, der ihn erst recht in Rage brachte. »Und außerdem: Wer rechnet denn schon damit, dass Ihr die Stirn habt, Euch so schnell wieder hier blicken zu lassen? Den Klosterschatz zu verhökern, ist eine Sache, das Ganze in klingende Münze umzuwandeln, eine andere. Wenn hier jemand ein Risiko eingeht, dann doch wohl ich!«

»Will heißen?«

»Das bedeutet, dass ich mir einen Anteil an Eurer Beute redlich verdient habe.«

»Und an wie viel hast du dreckiger alter Hurensohn gedacht?«

»Aber, aber – wo bleiben die guten Manieren? Na gut, wenn Ihr es genau wissen wollt: Für meinen Teil wäre ich mit der Hälfte zufrieden.«

»Die Hälfte? Das ist doch wohl nicht dein Ernst!«, japste er und sah sich instinktiv nach einem Knüppel, Hammer oder etwas Ähnlichem um.

»Was immer Euch gerade durch den Kopf gehen mag –«, erahnte der Alte seine Gedanken, »versucht es gar nicht erst! Glaubt mir, Ihr würdet nicht mal zur Tür rüber kommen.«

»Morgen, sagst du?«, lenkte er unter Aufbietung der spärlichen Reste seiner Selbstbeherrschung ein. »Und wann?«

»Um die gleiche Zeit.«

»Treffpunkt?«

»Am Ziehbrunnen, der auf halbem Weg zwischen dem Stift und dem Pfaffentor liegt. Da er versiegt ist, wird er von niemandem mehr benutzt. Das ideale Versteck, wenn Ihr wisst, was ich meine.«

Er nickte. »In Ordnung!«, erwiderte er und wandte sich zum Gehen. »Dann also bis morgen.«

Des Zwielichtes wegen konnte der Pfandleiher das Mienenspiel seines Gastes nicht erkennen. Wäre dies der Fall gewesen, hätte er es bedauert, seinen Hund in die Schranken gewiesen zu haben.

1 dt.: Bete und arbeite! (Lateinisch)

2 dt.: Wo es mir gut geht, ist mein Vaterland.

3 dt. (frei): Abwechslung macht Freude!