Zu Beginn wird Hochzeit gefeiert in dem Walliser Weiler Terroua. Marcelines ältester Bruder heiratet eine Frau aus einem anderen Dorf, Theoda, eine Fremde, eine, die stets aussieht, als ginge sie auf ein Fest. Marceline ist eingeschüchtert und fasziniert zugleich von dieser aparten, so gar nicht bäuerlichen jungen Frau. Eines Tages wird sie unfreiwillige Zeugin von Theodas Ehebruch, was sie in tiefste Gewissenskonflikte stürzt. Fortan trägt sie schwer an diesem ungeheuren Geheimnis, das allmählich das ganze Dorf in Aufruhr versetzt und für die Liebenden schließlich, die nicht vor einem Mord zurückschrecken, den Gang zum Schafott bedeutet.
In ihrem ersten Roman, der Corinna Bille vor siebzig Jahren bekannt machte, erzählt sie die Geschichte einer leidenschaftlichen Liebe – bis zu ihrem bitteren Ende. Gleichzeitig hält die preisgekrönte Autorin in unvergleichlich eindringlicher und poetischer Sprache das Leben der Walliser Bauern in der extremen Bergwelt fest, ihr Nomadentum im Rhythmus der Jahreszeiten, ihre Verrichtungen und Feste und nicht zuletzt das Ende einer Kindheit.
S. Corinna Bille (1912–1979) gilt als eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen der Westschweiz. Nach Schuljahren in der Innerschweiz, »Lehrjahren« in Paris und Zürich führt sie ein naturverbundenes Nomadenleben in Walliser Weilern, gemeinsam mit anderen Schriftstellern. Darunter der Westschweizer Dichter Maurice Chappaz, den sie 1947 heiratet. Corinna Bille hat Romane, Novellen, Gedichte, Theaterstücke verfasst; 1974 wurde sie mit dem Großen Schillerpreis, 1975 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Theoda, ihr Romandebüt von 1944, brachte ihr seinerzeit den literarischen Durchbruch und avancierte zum Bestseller.
»Es ist möglich, dass Theoda mein wichtigstes Buch bleibt. Als ich es schrieb, war sozusagen der ganze Fundus meiner Kindheit in mir, meine Jugend, alles.«
Roman
Aus dem Französischen
von Gabriela Zehnder
Für meine Mutter
Ich war die Achte.
Zuerst kam Barnabé, der Älteste, dann folgten Leonard, Emilienne, Sidonie die Böse, Martin, Pierre und Romaine – sie war zwei Jahre älter als ich; unter mir kamen die Kleinen: Maur, Cyrille und Marthe. Im Ganzen waren wir elf.
Mein Vater hatte blaue Augen; er sprach selten. Meine Mutter hatte schwarze Augen, und jeder gehorchte ihr.
Das erste Mal, dass ich meine Familie bewusst gesehen habe, war am Tag von Barnabés Hochzeit. Ich denke nicht an Romaine oder an meine kleinen Brüder und Schwestern, die mir vertraut und nah waren, sondern an jene, die zu den oberen Gefilden gehörten, weit entfernt von den unseren. Da sie alle um den Tisch saßen, während wir Kinder, untätig und unglücklich, im Zimmer umherirrten, hatte ich Muße, sie genau zu betrachten.
Ich war damals sieben Jahre alt, im Alter der Vernunft. Barnabé war gerade einundzwanzig geworden; wie alle Bauern schien er älter. Mehr noch als die anderen trug er jene undefinierbaren und hartnäckigen Züge, die unserer Familie eigen waren und für die ich mich manchmal schämte wie für einen Makel: jene Schüchternheit, die rasch zur Aufschneiderei wurde, und jene Asymmetrie im Gesicht, die bei meinen Schwestern, vor allem bei Emilienne, der schönsten, abgeschwächt war, im Alter dann jedoch wieder zum Vorschein kam. Unsere Augen, schwarz oder blau, waren die Augen derer, die nie etwas gesehen haben, derer, die nicht wissen; Blicke, wie sie die ersten Menschen haben mussten, und diese Unschuld blieb trotz des Alters und des Lebens bestehen. Doch der untere Gesichtsteil widersprach dem Ernst des Blicks; der Mund war breit und plump, erdverwachsen, und man ahnte starke Kinnbacken, harte Zähne.
An jenem Tag habe ich sie alle gesehen.
Sie sind mir geblieben, ernst und unvermeidlich, in ihren Sonntagskleidern, die sie über die Eintönigkeit des Alltags hinaushoben, indem sie sie deutlicher, auffälliger machten, die aber auch ein gewisses Gleichgewicht in ihnen zerstörten und ihre Anwesenheit betonten, indem sie sie leicht verfälschten. Ich sehe die Gruppe als Ganzes, und ich kann keine der Figuren von den anderen trennen, um sie näher zu betrachten: Sie sind nur alle zusammen sichtbar.
Es fehlen mir ihre Hände. Die Hände von Sidonie, lang und schlank, geschaffen dafür, gefaltet zu werden, Hände zum Beten, die einem herrischen, scharfzüngigen Mädchen gehörten, entdeckte ich erst viele Jahre später. Genau wie die Hände meiner Mutter, Hände, die ich achtete, knorrig und braunrot wie Wurzeln.
Von der Braut, von ihrem Gesicht an jenem Tag, fehlt mir jede Erinnerung. Obschon ich sie bestimmt aufmerksam betrachtet habe, wie man jede neue Person betrachtet, die zur Familie hinzukommt, doch sosehr ich mich bemühe, auf ihren Kopf, auf ihr Haar, das sie mit den Fingerspitzen geglättet haben musste, den kleinen Kranz in Turmform zu setzen, wie ihn die Frauen bei ihrer Hochzeit trugen, ich sehe sie einfach nicht. An den Brautkranz hingegen erinnere ich mich ganz deutlich, und ich kann die einzelnen Schmucksteine und Perlen darauf zählen, da ich ihn am Abend vorher ausgiebig bewundert und mich dabei gefragt hatte, ob er wohl das gleiche Schicksal erleiden werde wie derjenige eines unglücklich verheirateten Mädchens von Terroua: Am Morgen ihrer Hochzeit war Lucinde Darbaz in alle Ställe hineingegangen, um ihr Brautkleid zu beschmutzen. Sie stapfte durch den Mist und ließ den Saum nachschleifen; sie rieb die Wangen und Hüften an den mit Salpeter bedeckten Wänden und schlug mit dem Kranz dagegen, um die Glasperlen zu zerbrechen. Ihre Eltern hatten sie gezwungen, einen Mann zu heiraten, den sie nicht liebte. So war sie vor der Kirche angekommen, schwarz und abgerissen, mit einem Lachen auf dem Mund, und die empörten Anwesenden begriffen nicht, dass sie ihr eine Schändung zufügten, die viel realer und schmerzlicher war als die, den Hochzeitsputz besudelt zu haben.
Diesmal handelte es sich weder um eine Zwangsheirat noch um eine enttäuschte Liebe. Theoda, die aus einem anderen Dorf kam, einem Dorf ganz hinten in einem Tal, von dem wir nur den Eingang sehen konnten, hatte meinen Bruder aus freien Stücken geheiratet. Und sie hatte große Sorgfalt auf ihren kleinen Kranz verwendet: Ich kann ihn mir mit all seinen Perlen vergegenwärtigen, während der Kopf, den er schmückte, und der Ausdruck seiner Trägerin an jenem Tag hartnäckig unsichtbar bleiben. Unter dem Brautkranz ist nur ein Nichts. Vielleicht hatte sich Theodas Gesicht noch nicht aus dem Dämmerzustand ihres Lebens herausgelöst. Vielleicht war es nichtssagend, ließ es noch nicht jenen Glanz und jene Festigkeit durchscheinen, die es später erhielt.
Nach dem Essen, das nichts Üppiges hatte, da die Hochzeit nicht als ein großes Fest betrachtet wurde – die Leute von Terroua verliehen diesem Ereignis instinktiv seinen traurigen Ernst, seine demuts volle Schlichtheit –, zog jeder wieder die Werktagskleider an und ging an seine Arbeit. Und das Brautpaar genauso.
Um vier Uhr nachmittags reichte mir meine Mutter Brot, Käse und eine Feldflasche mit Milchkaffee und sagte zu mir:
»Das ist für Barnabé und seine Frau. Lauf zur Combe hinunter, du wirst sie dort finden.«
Von Weitem sah ich ihre beiden unter der grauen Sonne gebeugten Gestalten. Sie rissen die Kartoffeln aus. Ich ging näher. Am Ende des Ackers ragte ein einzelner Baum empor. In meiner Kindheit weckte die seltsame Form dieses Baums, dessen Äste alle nach oben ragten – ein Baum, der um Hilfe rief –, meine Neugier. Ich stellte mir vor, dass er der einzige seiner Art sei und niemand seinen Namen kenne. Eines Tages, viel später, erfuhr ich, dass es ein Birnbaum war.
Barnabé und seine Frau sahen mich nicht kommen. Mein Bruder bemerkte mich, als er sich aufrichtete. Er wartete, ohne eine Bewegung zu machen, dann rief er: »He, Marceline!« Theoda, so vermute ich wenigstens, denn sie sprach kein Wort mit mir und ich wagte sie nicht anzublicken, muss ihren zurückhaltenden Gesichtsausdruck gehabt haben, einen Ausdruck, als wäre sie abwesend, außerhalb ihrer selbst, wie sie ihn in der ersten Zeit hatte. Barnabé packte mich und hob mich mit einem Schwung empor, den ich bei ihm nicht kannte. Ich sah, dass er hässlich war, und ich schämte mich für ihn.
Beim Essen hatte ich gehört, wie einer der Gäste am Tisch sagte: »Die haben recht, im Oktober zu heiraten. Sie werden sich im Winter warm geben.« Und am Abend im Bett, neben meinem kleinen Bruder Maur liegend, dessen sanfte Wärme meinen Körper und meine Seele umgab, dachte ich vor dem Einschlafen, dass derjenige, der das gesagt hatte, sich täuschte, dass Barnabé im Gegenteil eine große Kälte verspüren musste in seinem neuen Zimmer, an der Seite einer Fremden.
Wir hatten nicht nur ein Dorf. Wir hatten zwei.
Eines in der Nähe des Flusses, zwischen den Weinbergen und den Gemüsegärten: Pragnin. Das andere zwei Wegstunden weiter oben: Terroua. Und wir wechselten von einem zum anderen, den Jahreszeiten entsprechend; sieben Mal im Jahr zogen wir aus und wieder ein.
Zwei Namen, die zu ihnen passen. Pragnin, am Abhang gebaut, stufenförmig angelegt, unstabil. Terroua, wuchtig und schwer, fest im Boden verankert, ein Ort, der sich weigert, mit dem Himmel zu verschmelzen.
Zwei Dörfer, und doch das gleiche, mit den gleichen Bewohnern, den gleichen Gedanken. So waren auch Remi und Theoda: ein Mann und eine Frau, zwei Menschen, und doch das gleiche Fleisch und die gleiche Seele.
Etwa fünfzig Familien lebten hier. Fast immer zwei oder drei pro Haus, außer dem Pfarrer, der eines für sich allein beanspruchte. Man bewohnte einen Stock in Pragnin und einen anderen in Terroua. Man besaß Wiesen und Felder, die von oben bis unten auf dem Berghang verstreut lagen, und Weinberge in der Ebene.
Für Auswärtige mochten diese Familien alle gleich erscheinen. Für uns bestanden große Unterschiede. Und tatsächlich gab es solche, zwischen den Besitzern von fünfzehn Kühen und jenen, die nur drei weiden ließen, zwischen den kleinen Besitzenden, wie man gewisse nannte, und jenen, die nur eine Wiese hatten, zwischen einem Gemeinderat und einem Bürger, dessen Name auf keiner Wahlliste aufgeführt war.
Wir gehörten zu den kleinen Besitzenden.
Ich erinnere mich nicht, in meiner Kindheit unter Hunger oder Kälte gelitten zu haben, außer vielleicht, wenn wir im Regen die Kühe hüteten oder wenn wir in der Fastenzeit jeden Sonntag von Pragnin nach Terroua hinaufstiegen, um der Messe beizuwohnen, denn der Pfarrer kam nicht herunter.
Wir lebten immer draußen; die Kälte, der Regen, der Schnee und das Eis waren uns vertraut, genauso wie die glühende Sonne.
An Tagen, da das Wetter gar zu schlecht war, blieben wir im Zimmer und verbrachten die Stunden damit, rastlos umherzulaufen und mit unseren Holzpantinen auf dem Bretterboden so viel Lärm zu machen, dass stets ein Moment kam, wo meine Mutter uns nicht mehr ertrug.
»Geht zur Großmutter!«, befahl sie.
Wir gingen hinaus, zusammengedrängt, aneinandergeklammert, und im Treppenhaus herrschte erneut lautes Gepolter, doch es klang heller, klarer als im Zimmer. Hinter der zugefallenen Tür musste unsere Mutter es hören und die Zähne zusammenbeißen. Nun war sie allein, mit dem Geruch ihrer Kinder, der im Raum hängen blieb, tierisch, drückend.
Bei den Großeltern begannen wir das gleiche Spiel von vorn, unfähig, auch nur eine Minute stillzuhalten, und wir legten noch mehr Kraft und Schwung hinein, da wir die Großmutter nicht zu fürchten brauchten.
Es gab jedoch auch den Großvater. Er sagte nie ein Wort. Er saß da, den Rücken an die Wand gelehnt, und seine Augen von der Farbe eines Bläulings beobachteten uns. Seine Anwesenheit wog so wenig, dass wir sie nicht beachteten. Doch manchmal hörten wir plötzlich auf zu spielen, beunruhigt … Der auf uns gerichtete Blick war voll stummer Gereiztheit, die wir hinter seiner so blauen Erscheinung schlecht erkannten. Wir zögerten eine Sekunde, dann ließ unser wildes Treiben die Bodenbretter erneut erzittern. Ich habe nie erfahren, was er in diesen Momenten über uns dachte, aber es war bestimmt nichts Freundliches.
Die Großmutter hingegen hatte stets ein Lächeln für uns. Sie hatte uns einen Spitznamen gegeben: die Heuschrecken von Ägypten. Und wir waren tatsächlich genauso nervtötend wie Heuschrecken, mit unseren klebrigen Fingern, unserem eintönigen, schrillen Gekreisch, alles verwüstend, was auf unserem Weg lag. Doch es kam der Augenblick, da man uns fortschickte. Dann gingen wir zu Bathilde, der Nachbarin. Ich richtete es oft so ein, dass ich allein dort war. Bei dieser Frau empfand ich einen großen Frieden; ich setzte mich hin und rührte mich nicht mehr. Sie würde mich nicht ausschimpfen, wie meine Mutter es bei jeder Gelegenheit tat. Ich wusste, dass ich in ihrer Nähe nichts Böses tun würde, dass ich weder Lust hatte zu lügen noch ungehorsam zu sein.
Bathilde hätte vielleicht verstanden, wenn ich gewagt hätte, mit ihr darüber zu sprechen, wie sehr ich die Heiligenpuppen begehrte. Während des Gottesdienstes betrachtete ich sie, vor allem die Jungfrau Maria mit dem langen Haar auf dem kleinen Altar des Querschiffs, der den Frauenbänken gegenüberstand. Sie war aus bemaltem Holz, hatte einen kräftigen Körper und das grobschlächtige Gesicht einer Bäuerin. Ich stellte mir vor, ihr Peplos aus vergoldetem Holz sei aus Stoff, und drapierte ihn auf meine Art; ich flocht die braunen Haare. Dieses Besitzergreifen geschah mit so viel Inbrunst, dass ich keinen Augenblick das Gefühl hatte, einen Frevel zu begehen. Es gab eine andere Statue, die ich nur an gewissen Feiertagen zu Gesicht bekam, an Himmelfahrt oder an Mariä Empfängnis. Sie war ganz anders als die andere, und sie gefiel mir besser. Ganz aus Wachs gemacht, mit einem zarten, schimmernden Gesicht, schien sie von vornehmerer Art zu sein. Sie trug einen kleinen Kranz, fast gleich wie der Kranz der Bräute, und ihre Garderobe umfasste drei Tuniken aus echtem, kostbarem Stoff, die die Mädchen von Terroua mehrere Male im Jahr, jeweils zu den Prozessionen, wechselten. An den anderen Tagen blieb sie in der Sakristei eingeschlossen, und ihr blasser Teint war tatsächlich der einer Dame, die nicht im Freien lebt. Das prunkvollste ihrer Kleider war aus granatrotem Samt, der mit Metallplättchen bestickt und mit Goldfäden durchwirkt war. Ein Rosenkranz gürtete ihre Taille, um den Hals trug sie eine Perlenkette.
Später hatte ich lebende Statuen, die ich mit der gleichen unermüdlichen, kontemplativen Neugierde umgab. Ich hatte Remi und Theoda; und trotz dem, was sie taten, oder vielleicht gerade wegen dem, was sie taten, mischte sich in meine Bewunderung Sehnsucht, Schrecken und Ehrfurcht.
Was war die Liebe, die ich für meine einfache, weltliche Puppe empfand, im Vergleich zu dieser Liebe? Wenig. Sie hatte einen großen Kopf, der im Missverhältnis zu ihrem Körper stand; darin erinnerte sie an die Kinder der Familie Bouraz, alle zwergwüchsig, mit einem riesigen, runden, gelben Gesicht. Man wusste nicht, waren sie jung oder alt; sie schienen einer anderen Spezies anzugehören. Doch meine Puppe war rosa, von einem Violettrosa, wie die Haut der Leute, die kalt haben. Und ich bin sicher, dass meine Puppe unglücklich war, denn sie war nackt. Ich schäme mich heute ein wenig deswegen. Es ist möglich, dass sie in den ersten Jahren Kleider besaß, doch diese hatten sich abgenützt und waren irgendwann verschwunden, und niemand kam auf die Idee oder hatte Zeit, ihr andere zu schneidern.
Eines Tages, als ich oben auf der engen Steintreppe des Hauses von Terroua saß, dessen zweiten Stock wir bewohnten, glitt mir die Puppe aus den Händen. Ich sah, wie sie auf den einzelnen Stufen aufschlug, und ich hätte Zeit gehabt, sie einzuholen, wenn die Überraschung mich nicht gelähmt hätte. Ich schaute zu, wie sie langsam auseinanderfiel, einen Arm verlor, ein Bein und schließlich den Kopf, der in vier Stücke zerbrach.
Ich weiß nicht mehr, ob ich betrübt war und weinte, aber ich erinnere mich, dass es mir unerträglich war, die Überreste aufzulesen. Sie lagen mehrere Tage im Hof herum. Ich wagte nicht mehr, an ihnen vorbeizugehen; ihr Bild verfolgte mich wie Gewissensbisse. Ein Leichnam ohne Grab hätte mich nicht mehr gequält.
Andere Kinder hatten zwei oder drei Stücke aufgehoben, und ich beschloss, den Rest zu begraben. Ich entdeckte etwas, was einer Murmel glich, die eine Hälfte glänzend wie Glas, die andere mattrosa. Schließlich begriff ich: Es war ein Auge. Mich ekelte davor.
Mein Bruder Leonard sagte in meinem Rücken höhnisch:
»Das ist das Auge des Kain.«
Leonard ging am Sonntag gerne aus, um sich in den Weinkellern oder in der Wirtschaft herumzutreiben. Meine Mutter duldete das nicht. Diese Orte waren Orte des Verderbens; Wein, Tanz und Musik standen mit dem Teufel im Bund und brachten einen direkt in die Hölle.
Wenn ihr Sohn zu spät nach Hause kam – einmal war er erst um drei Uhr morgens zurückgekehrt –, empfing sie ihn mit kränkenden Worten:
»Schämst du dich nicht, dich so aufzuführen? Du bringst dich ins Verderben. Und welche Gesellschaft! Marcien Ravailler und dein Joseph sind Nichtsnutze. Ich verbiete dir, mit ihnen zu gehen! Hast du gehört, du Lump?«
Leonard antwortete nicht. Er dachte vielleicht, dass sein Freund Joseph, wenn seine Mutter ihn derart zurechtwies, antwortete: »Ich habe mich nicht selbst gemacht!« Doch bei uns hätte sich niemand eine solche Respektlosigkeit erlaubt.
Ich erschrak über das Gesicht meines Bruders, der in solchen Momenten hässlich wurde, weil er seine Auflehnung nicht ausdrücken konnte und sie verbeißen, unter seiner Haut, im Schatten seines Blicks zurückhalten musste. Er presste die Lippen zusammen; doch der Zorn ließ das Fleisch rundherum anschwellen; er verkniff die Nase, doch die Nasenflügel blähten sich, zuckten, und die Augen verschwanden in ihren Höhlen, als wollten sie sich verbergen.
Er hielt sich immer etwas seitlich und vermied so, dass ihn die Ladung frontal traf. Und ich, um seine Anwesenheit auszulöschen, um meine Mutter nicht mehr zu hören, vergrub das Gesicht im Kopfkissen und legte mich flach auf den Bauch, wodurch ich unbewusst die tröstlichste Stellung einnahm, die es gibt, tröstlich vielleicht deshalb, weil sie einem erlaubt, der Welt den Rücken zu kehren und mit seinem Kummer allein zu sein, diesem Kummer, der nur uns gehört und dessen Intimität uns besänftigt.
Ich schlief nicht mehr mit Maur zusammen. Eines Abends hatte meine Mutter uns mit einem merkwürdigen, leicht spöttischen Ausdruck angesehen und vor allen gesagt:
»Oho, es ist Zeit, die beiden da zu trennen!«
Diese Bemerkung und das, was sie beinhaltete, hatten mich verletzt. Von diesem Tag an hasste ich die Erwachsenen und ihre Art, überall das Böse zu sehen.
Ich mochte auch nicht, dass meine Mutter Leonard mit so vielen Sünden belastete, gerade mit jenen, die man für die schlimmsten hielt, den Verstößen gegen das dritte, das sechste und das neunte Gebot.
Er beschloss, fortzugehen und in Genf Arbeit zu suchen. Er war einundzwanzig Jahre alt. Meine Eltern stellten sich nicht dagegen. Es war Brauch bei den armen Familien im Dorf, dass die Ältesten weggingen und das Geld, das sie verdienten, nach Hause schickten. Man fand es nur recht und billig, dass die Kinder, wenn sie groß waren, den Eltern vergalten, was diese für sie getan hatten. Was die Feldarbeit anging, so würden sich die Jüngeren darum kümmern.
Unser Bruder verließ uns während der Fastenzeit, an einem Föhntag. Ein letztes Mal aß er im Haus von Pragnin mit seinem Kameraden Ravailler, der auch wegging. Meine Mutter hatte ihnen zur Feier des Tages ein schönes Omelett zubereitet, und wir, die Heuschrecken von Ägypten, standen um sie herum und sahen ihnen beim Essen zu. Wir gingen sogar etwas zu nah an Leonard heran, denn er schob uns mit dem Fuß beiseite. Er hatte nichts mehr zu schaffen mit uns. Er gehörte schon nicht mehr zum Dorf.
Zwei Wochen später bekam meine Mutter ihr zwölftes Kind: einen Jungen. Um denjenigen zu ersetzen, der fortgegangen war und von dem wir keine Nachricht hatten. Man nannte ihn Siméon. Wie sie es mit den anderen, mit uns allen getan hatte, brachte sie ihn ohne einen Schrei, ohne einen Klagelaut zur Welt. Diese Ereignisse spielten sich im Verschwiegenen ab. Die restliche Familie bemerkte nichts, obschon wir auf engstem Raum zusammenlebten.
Theoda kam, um das Kind anzusehen, das im Bett meiner Eltern lag. Es war noch rot und verschrumpelt und hatte den Mund voll Milch.
»Und du?«, fragte meine Mutter die junge Frau.
Sie antwortete nicht.
Sie war seit zweieinhalb Jahren mit Barnabé verheiratet.
Ich hatte keine Zeit, mich um das neue Brüderchen zu kümmern; das übernahmen meine größeren Schwestern. Ich ging zur Schule.
Wäre nicht meine Bewunderung für die Lehrerin gewesen, hätte ich mich dort gelangweilt. Sie versetzte mich in Erstaunen. Für mich war sie so anders als ich selbst, als wir, in der unveränderlichen Deutlichkeit ihrer ganzen Person. Sie hatte Lippen, die nicht stotterten, während die unseren sich an den Buchstaben des Alphabets wund scheuerten; Augen, deren Weiß stets rein war, im Gegensatz zu meinen, die sich rasch veränderten, von der Sonne und vom Staub gerötet und in der Kälte farblos wurden; glatte Wangen von einem stets gleichbleibenden Rosa; eine gerade Nase, die sie nie zu schnäuzen brauchte, mit einem unauffälligen, regelmäßigen Atem. Die Leute um sie herum und wir Schüler wirkten wie Entwürfe. Sie war die Vollkommenheit, und es war uns vergönnt, sie zu betrachten.
Ich weiß nicht, ob sie unter uns litt, unter unseren Gerüchen, unseren Mängeln, unserer Unwissenheit; ich frage mich, ob ihr überhaupt je bewusst war, was sie für uns bedeutete. Aus Stolz, vielleicht auch aus Scham, verbargen wir jenen so natürlichen, so menschlichen Instinkt, jemanden zu verehren, der beim Menschen genauso stark ist wie der Instinkt zu zerstören.
Ich war mit Romaine in der Klasse der Mädchen. Martin, Pierre und Maur besuchten die Knabenklasse, die von einem Lehrer geführt wurde.
Der März war nicht wie die anderen Monate des Jahres. Wir verloren das Bewusstsein für das, was wir zum Beispiel im Winter waren: Mädchen oder Knaben, gute oder schlechte Schüler. Wir existierten nicht mehr. Der Frühling beanspruchte den ganzen Platz. Er drang in die Schule ein mit seiner Helligkeit, die die Fenster vergrößerte, und riss uns aus uns heraus, mit dem Widerhall der Hackenschläge aus den Weinbergen, diesem Geräusch von Eisen, das auf Steine trifft. Wir errieten, dass die Welt aus Erde, Stein und Feuer gemacht war, und nicht aus Wörtern und Zahlen, wie man es uns lehrte.
Gefangen in einem Lichtnetz, das sie von uns trennte, hatte sogar die Lehrerin ihre Macht verloren. Ihre Rügen wegen unserer Zerstreutheit wurden gleichgültig aufgenommen, als kämen sie von zu weit her. Und wenn wir mit der rechten Hand den Federhalter ergriffen und mit der linken das Heft schön flach drückten, so waren es keine gewöhnlichen Gegenstände mehr, die wir berührten, sondern ein Stück Frühling, denn die Sonne hatte ihnen Leben und Wärme verliehen.
Es gab drei Pragnins. Das ist viel für ein kleines Dorf. Die Schule befand sich in Pragnin-d’en-Haut, zwanzig Minuten von Pragnin-de-la-Crête entfernt, wo wir unser Haus hatten, und den halben Schulweg legten wir mit den Schülern von Pragnin-d’en-Bas zurück.
Der Schulweg hatte eine große Bedeutung. Hier fanden alle Spiele statt. Sie entstanden aus dem Frühling selbst, der sich in seiner bescheidensten Form zeigte: als Wasserpfützen, als Schlamm und dann als Staub, den der Föhn aufwirbelte. Wir sahen nur auf den Weg. Es war ein Frühling auf Bodenhöhe – was auch seine Art ist. Kaum war der Schnee geschmolzen, ritzten die Jungen ihre Zeichen auf die Erde, wie man ein Tier oder einen Gegenstand kennzeichnet, der einem gehört; sie stießen ihre Absätze hinein und warfen ihre kleinen Glasmurmeln und die großen Klicker. Dieses Privileg war ihnen vorbehalten; wir Mädchen spielten »Himmel und Hölle«, »Kaiser, wie viel Schritte darf ich gehen« und Spiele mit Knöpfen und Kieselsteinen. Wir hatten auch Lieder, Margoton s’en va-t-à l’Eau, L’Oiseau en Cage und Trois Filles:
Nous étions trois filles
Trois filles de quinze ans
Mon père nous fit faire
Trois beaux habits blancs.