WENN DER WIND SINGT
PINBALL 1973
Aus dem Japanischen
von Ursula Gräfe
eBook 2015
Die Originalausgaben erschienen unter den Titeln
›Kaze no uta wo kike‹ und ›1973-nen no pinboru‹ bei Kodansha Ltd., Tokio
© 1979, 1980 Haruki Murakami
© 2015 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Ursula Gräfe
Lektorat: Stephan Kleiner
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagabbildung: © jefunne – Fotolia.com
eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-8321-8850-4
www.dumont-buchverlag.de
Literatur am Küchentisch
Vorwort zu zwei Kurzromanen
Die meisten Menschen – zumindest ist das in Japan so – beenden ihr Studium, suchen sich eine Anstellung und heiraten erst anschließend. Ursprünglich hatte ich das auch vor. Oder bildete mir zumindest ein, es würde so laufen. Doch in Wirklichkeit heiratete ich zuerst, begann dann zu arbeiten und schloss danach (irgendwie) mein Studium ab. Das heißt, ich stellte die Reihenfolge auf den Kopf.
Ich hatte zwar geheiratet, aber keine Lust, in einer Firma anzufangen. Also beschloss ich, ein eigenes Lokal zu eröffnen. Ein Lokal, in dem ich Schallplatten auflegen und Kaffee, alkoholische Getränke sowie kleine Speisen servieren würde. Ich war verrückt nach Jazz und stellte mir – vielleicht ein wenig naiv – vor, dass ich auf diese Weise von morgens bis abends meine Lieblingstitel hören könnte. Als Studentenehepaar hatten wir natürlich so gut wie kein Geld. Also hatten meine Frau und ich drei Jahre lang mehrere Jobs gleichzeitig. Außerdem liehen wir uns von überall her etwas, und als wir genug Geld beisammen hatten, eröffneten wir in Kokubunji am westlichen Rand von Tokio (wo damals viele Studenten lebten) ein Lokal. Das war 1974.
Damals war das nicht so übertrieben teuer wie heute, und viele junge Leute, die wie ich keine Festanstellung wollten, eröffneten kleine Geschäfte. Überall schossen Cafés, Restaurants, Gemischtwarenläden oder Buchhandlungen aus dem Boden. In der näheren Umgebung unserer Bar gab es mehrere Läden, die Leuten in unserem Alter gehörten. Viele von ihnen entstammten der versprengten Studentenbewegung, waren sozusagen die Überreste einer Gegenkultur. Zu jener Zeit gab es noch so etwas wie Nischen auf der Welt.
Ich brachte das Klavier, das wir zu Hause hatten, in unser Lokal und veranstaltete an den Wochenenden Liveauftritte. In Kokubunji und Umgebung lebten genügend junge Jazzmusiker, die (so hoffe ich) gern für eine geringe Gage bei uns auftraten. Viele von ihnen sind heute namhafte Musiker, denen ich regelmäßig in allen möglichen Jazzclubs in Tokio wiederbegegne.
Nun taten wir etwas, das uns gefiel, auch wenn wir es nicht leicht hatten, weil wir ja das viele Geld abbezahlen mussten, das wir uns von der Bank und von Freunden geliehen hatten. Als meine Frau und ich eines Monats den Betrag für die Bank partout nicht aufbringen konnten, gingen wir noch spät abends verzagt und mit gesenkten Köpfen durch die Straßen. Plötzlich lag Geld vor uns auf der Straße, und wir hoben es auf. Wie soll ich es nennen? Zufall oder glückliche Fügung? Jedenfalls war es exakt die Summe, die uns für den nächsten Tag noch fehlte. Ohne diesen Fund hätten wir unsere Schulden bei der Bank nicht zahlen können. Wir waren gerade noch einmal davongekommen. (Mir sind schon öfter in entscheidenden Augenblicken meines Lebens solch unerklärliche Dinge passiert.) Eigentlich hätten wir es der Polizei melden müssen, aber damals konnten wir uns den Luxus solcher Ehrlichkeit nicht leisten.
Doch eines ist sicher: Es war eine schöne Zeit. Wir waren jung, gesund und unsere eigenen Herren und hörten den ganzen Tag lang Musik, die uns gefiel. Ich musste weder in überfüllten Zügen pendeln noch an langweiligen Sitzungen teilnehmen oder vor einem Chef buckeln, den ich nicht leiden konnte. Außerdem lernte ich eine Menge interessanter Menschen kennen.
So kam es, dass ich, als ich zwischen zwanzig und dreißig war, von morgens bis abends körperlich arbeitete (Sandwiches machte, Cocktails mixte und mich mit randalierenden Trunkenbolden herumschlug), um unsere Schulden zu tilgen. Irgendwann wurde das Gebäude in Kokubunji, in dem wir unser Lokal hatten, umgebaut. Wir mussten ausziehen und zogen nach Sendagaya im innerstädtischen Bereich. Die Räumlichkeiten dort waren neuer und vor allem größer, sodass wir einen Flügel aufstellen konnten. Aber dazu mussten wir wieder Geld aufnehmen. Wir wurden unsere Schulden einfach nicht los. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, erinnere ich mich nur daran, dass ich immerzu gearbeitet habe. Normalerweise verbringen junge Leute in diesem Alter wahrscheinlich mehr Zeit mit Vergnügungen, aber ich konnte es mir weder zeitlich noch wirtschaftlich erlauben, »der Jugend frohe Stunden« zu genießen. Doch ich las in jeder freien Minute. Jedes Buch, das mir in die Hände fiel. Lesen und Musikhören waren mein größtes Vergnügen, ganz gleich, wie viel ich zu tun hatte und wie ausgelaugt ich war. Diese Freude habe ich mir nie nehmen lassen.
Als ich Ende zwanzig war, begann das Lokal in Sendagaya endlich richtig gut zu laufen. Wir hatten noch immer Schulden, und das Geschäft ging mal besser, mal schlechter. Richtig zurücklehnen konnten wir uns nicht; dennoch stellte sich das Gefühl ein, es allmählich geschafft zu haben.
An einem sonnigen Nachmittag im April 1978 ging ich ins Tokioter Jingu-Stadion, um mir das Eröffnungsspiel der Central League anzuschauen, das zwischen den Yakult Swallows und den Hiroshima Carps stattfand. Es begann am frühen Nachmittag um eins. Ich war damals Fan der Swallows und machte häufiger Spaziergänge zum Stadion.
Die Swallows waren zu jener Zeit eine ziemlich schwache Baseballmannschaft (schon der Name klang nicht gerade stark), sie spielten ewig in der B-Klasse, hatten kein Geld und demzufolge auch keine prominenten Spitzenspieler. Natürlich waren sie auch wenig populär. Obwohl es sich um ein Eröffnungsspiel handelte, waren die Plätze auf dem Außenfeld fast leer. Ich lümmelte mich allein auf dem Rasen und trank ein Bier, während ich das Spiel verfolgte. Das Jingu-Stadion hatte damals keine Sitze auf dem Außenfeld – man ließ sich einfach auf der Böschung nieder. Der Himmel war klar, das Bier kalt und der weiße Ball auf dem grünen Rasen ein hübscher Anblick.
Der erste Schlagmann der Swallows war ein schlanker, unbekannter Spieler namens Dave Hilton aus Amerika. Er führte den ersten Schlag aus. Als Nummer 4 spielte Charlie Manuel. Er wurde später als Manager der Indians und der Phillies berühmt. Doch damals war er ein schlagkräftiger, unerschrockener Batter, der von den japanischen Fans »der rote Dämon« genannt wurde.
Der erste Pitcher der Hiroshima Carps war Sotokoba, glaube ich. Für Yakult spielte Yasuda. Als Sotokoba in der zweiten Hälfte des Innings eröffnete, schlug Hilton den Ball sauber nach links und erzielte einen Two-Base-Hit. Der schöne satte Ton, mit dem der Ball auf den Schläger traf, erfüllte das Stadion. Vereinzelter Applaus ertönte. Und just in diesem Moment kam mir völlig zusammenhanglos der Gedanke: »Ja – vielleicht kann ich einen Roman schreiben.«
Ich erinnere mich noch ganz genau an diesen Augenblick. Ich hatte das Gefühl, etwas sei langsam vom Himmel geflattert und ich hätte es mit meinen Händen aufgefangen. Warum es zufällig in meinen Händen landete, weiß ich nicht. Ich weiß es bis heute nicht. Doch was auch immer der Grund sein mag, es ist geschehen. Es war – wie soll ich sagen? – wie eine Offenbarung. Am besten passt wahrscheinlich der Ausdruck »Epiphanie«. Mein Leben veränderte sich völlig in dem Moment, als Dave Hilton im Jingu-Stadion den schönen Two-Base-Hit erzielte. Als das Spiel zu Ende war (ich weiß noch, dass die Swallows gewannen), fuhr ich mit der Bahn nach Shinjuku, um mir Manuskriptpapier und einen Füller zu kaufen. Damals gab es weder Textverarbeitungsgeräte noch Computer, und man schrieb jedes einzelne Zeichen mit der Hand. Dennoch verschafften mir diese Dinge ein ganz neues Gefühl. Ich weiß noch, wie aufgeregt ich war. Es war schon ziemlich lange her, dass ich mit einem Füller geschrieben hatte.
Spätabends, als wir die Bar geschlossen hatten, setzte ich mich an den Küchentisch, um zu schreiben. Diese paar Stunden bis zum Morgengrauen waren meine einzige freie Zeit. So schrieb ich innerhalb eines halben Jahres den Roman Wenn der Wind singt. Als ich die erste Fassung fertig hatte, ging auch die Baseball-Saison zu Ende. Übrigens enttäuschten die Yakult Swallows in diesem Jahr die Prognosen der meisten Leute. Sie gewannen die Liga und schlugen danach sogar die Hankyu Braves, die über die besten Werfer in ganz Japan verfügten. Es war wirklich eine wunderbare Spielzeit, und mir hüpfte das Herz.
Wenn der Wind singt ist kurz, eher eine Novelle als ein Roman. Aber dieses Buch zu schreiben kostete mich große Mühe. Zum einen hatte ich kaum Zeit, aber vor allem keine Ahnung davon, wie man eine Erzählung schreibt. Ich hatte so gut wie alle russischen Romane des 19. Jahrhunderts und massenweise amerikanische Hardboiled-Krimis verschlungen, aber einen ernsthaften modernen japanischen Roman hatte ich, ehrlich gesagt, noch nie in der Hand gehabt. Ich wusste nicht, welche Romane gerade in Japan gelesen wurden, und auch nicht, wie ich einen schreiben sollte.
Ach, es wird schon gehen, dachte ich und schrieb in den paar Monaten einen Erzähltext, wie ich ihn mir in etwa vorstellte. Leider war ich nicht sonderlich beeindruckt von meinem Werk. Es hatte zwar die ungefähre Form eines Romans, las sich aber weder interessant, noch erweckte es in mir den Wunsch, es zu Ende zu lesen. Und wenn schon der, der den Text geschrieben hatte, so empfand, wie musste sich dann erst der Leser fühlen! Ich war enttäuscht von mir. Anscheinend hatte ich doch kein Talent zum Schreiben. Normalerweise hätte ich an diesem Punkt einfach aufgegeben, doch in meinen Händen spürte ich noch ganz deutlich das, was mir auf dem Rasen im Jingu-Stadion zugefallen war.
Nach eingehender Überlegung wurde mir klar, dass mein Unvermögen auf diesem Gebiet ganz natürlich war. Ich hatte ja in meinem ganzen Leben noch nie einen Roman geschrieben. Wie konnte ich erwarten, gleich beim ersten Versuch etwas Bahnbrechendes hervorzubringen? Man konnte sich vermutlich nicht einfach vornehmen, einen guten Roman zu schreiben. Aber wenn ich sowieso keinen guten Roman schreiben konnte, warum dann nicht meine vorgefertigten Ansichten über Romane und Literatur über Bord werfen und einfach frei nach Belieben schreiben, was mir in den Kopf kam?
Obwohl »einfach frei nach Belieben schreiben, was einem in den Kopf kommt« nicht so leicht ist, wie es klingt. Besonders für einen Unerfahrenen ist es ein beinahe unmögliches Unterfangen. Um meine Einstellung von Grund auf zu revolutionieren, beschloss ich, vorläufig auf den Füller zu verzichten, der eine irgendwie »literarische« Attitüde in mir hervorrief. Stattdessen holte ich die Olivetti mit lateinischer Tastatur hervor, die wir im Schrank hatten. Ich wollte meinen Romananfang versuchsweise auf Englisch verfassen. Zu verlieren hatte ich ja nichts.
Meine Beherrschung der englischen Sprache war natürlich nicht gerade berauschend. Mir standen nur eine begrenzte Anzahl an Vokabeln und Konstruktionen zur Verfügung, und so gerieten meine Sätze naturgemäß sehr kurz. Ganz gleich, welche komplizierten Gedanken ich in meinem Kopf ausbrütete, auf Englisch konnte ich sie so nicht ausdrücken. Also formulierte ich ihren Inhalt in möglichst einfachen Worten, paraphrasierte leicht verständlich, entfernte alles Überflüssige aus meinen Schilderungen und beschränkte mich auf das, was in mein begrenztes Gefäß passte. Ein roher, sehr kompakter Text entstand. Während ich mich mühsam voranarbeitete, entwickelte ich allmählich einen persönlichen Rhythmus.
Ich bin ein in Japan geborener Japaner, und die japanische Sprache hat mein Leben von Anfang an bestimmt. Mein ganzes System ist so vollgepackt mit japanischen Wörtern und Ausdrücken wie ein bis unters Dach vollgestopfter Schuppen. Wenn ich also die Gefühle und Bilder in mir in Worte umzuwandeln versuche, entsteht ein hektisches Kommen und Gehen, das mitunter sogar zu einem Zusammenbruch des Systems führen kann. Doch die begrenzten Ausdrucksmöglichkeiten, die mir in der Fremdsprache zur Verfügung standen, ließen diese Möglichkeit von vorneherein nicht zu. Damals entdeckte ich, dass man auch mit einer begrenzten Anzahl von Wörtern und Idiomatischen Wendungen Gefühle und Absichten zum Ausdruck bringen kann, sofern es einem gelingt, sie wirksam zu verbinden und diese Kombination effektiv einzusetzen. Mit anderen Worten, es ist nicht nötig, komplizierte Sätze aneinanderzureihen. Und es bedarf erst recht keiner blumigen Ausdrucksweise, um andere Menschen zu beeindrucken.
Erst viel später fand ich heraus, dass die Schriftstellerin Ágota Kristóf mehrere ausgezeichnete Romane in einem ähnlichen Stil geschrieben hatte. Sie war Ungarin und musste während des Ungarnaufstands 1956 in die Schweiz fliehen, wo sie beinahe unfreiwillig begann, auf Französisch zu schreiben, in einer Fremdsprache, die sie sich erst aneignen musste. Doch mittels der fremden Sprache gelang es ihr, einen völlig neuen Stil hervorzubringen. Ihre Prosa verfügt über den schönen Rhythmus der kurzen Sätze, enstanden durch eine direkte unumwundene Ausdrucksweise, und präzise Beschreibungen ohne Effekthascherei. Und doch gelingt es ihr, ohne bedeutende Geschütze aufzufahren, das Geheimnis, das im Inneren einer Geschichte liegt, an die Oberfläche zu bringen. Ich erinnere mich, dass ich, als ich zum ersten Mal einen Roman von ihr las, etwas Vertrautes darin verspürte. Das große Heft, ihr erster auf Französisch geschriebener Roman, erschien 1986, etwa sieben Jahre nach Wenn der Wind singt.
Als ich »entdeckt« hatte, welche interessanten Ergebnisse ich erzielte, wenn ich in einer fremden Sprache schrieb, und mir einen eigenen Schreibrhythmus angeeignet hatte, packte ich die Schreibmaschine mit der lateinischen Tastatur wieder in den Schrank. Ich setzte mich mit Manuskriptpapier und Füller an den Schreibtisch und »übersetzte« das, was ich auf Englisch geschrieben hatte, ins Japanische. Ich nenne es zwar »übersetzen«, aber natürlich handelte es sich nicht um eine wörtliche Übertragung, sondern eher um eine freie Anverwandlung. Und es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Auf diese Weise kam unweigerlich ein neuer japanischer Stil zustande, der zugleich mein eigener war. Der Stil, den ich selbst gefunden hatte. Sieh mal an, dachte ich, so musst du schreiben.
Hin und wieder bekomme ich zu hören, meine Sätze klängen wie eine Übersetzung. Ich weiß nicht, was genau damit gemeint ist, aber ich vermute, es trifft zu – und auch wieder nicht. Dieses erste Kapitel hatte ich tatsächlich »übersetzt«, zumindest was den praktischen Vorgang betraf. Mein Ziel war es, einen flexiblen, »neutralen« Stil zu schaffen, der auf überflüssige Schnörkel verzichtete. Ich wollte kein gesichtsloses, verwässertes Japanisch schreiben, sondern einen eigenen natürlichen Erzählton kreieren, der möglichst weit entfernt von dem üblichen »romanhaften Stil« war. Und dazu musste ich zu ungewöhnlichen Mitteln greifen. Und wenn ich ehrlich bin, war die japanische Sprache damals für mich genau das – ein Mittel zum Zweck.
Offenbar gibt es Menschen, die dies als eine Beleidigung der japanischen Sprache auffassen. Aber Sprachen sind von Natur aus sehr zäh und besitzen eiserne Kräfte, da sie sich auf eine lange Geschichte stützen. Wer auch immer wie auch immer mit ihnen verfährt – es ist unmöglich, ihre Identität und Autonomie zu schädigen, auch wenn mehr oder weniger rücksichtslos mit ihnen umgegangen wird. Mit allen in der Sprache zur Verfügung stehenden Möglichkeiten und Mitteln zu experimentieren ist das Vorrecht eines jeden Schriftstellers, und wer dazu nicht den Mut aufbringt, wird nie etwas Neues schaffen. Mein Stil unterscheidet sich von dem Tanizakis und Kawabatas. Was auch ganz normal ist. Denn ich bin ein eigenständiger Autor. Ich bin Haruki Murakami.
Eines schönen Sonntagmorgens im Frühling erhielt ich den Anruf eines Redakteurs der Literaturzeitschrift Gunzo. »Herr Murakami«, sagte er. »Ihr Roman Wenn der Wind singt, den Sie eingesendet haben, ist für unseren Nachwuchspreis nominiert.« Seit jenem Eröffnungsspiel im Jingu-Stadion war fast ein Jahr vergangen, und ich hatte meinen dreißigsten Geburtstag gefeiert. Es war elf Uhr am Vormittag, glaube ich, aber ich hatte noch fest geschlafen, weil ich am Abend zuvor bis spät gearbeitet hatte. Schlaftrunken nahm ich den Hörer ab und begriff zuerst gar nicht richtig, was mir der Anrufer mitteilte. Offen gesagt, hatte ich schon fast vergessen, dass ich das Manuskript an die Redaktion von Gunzo geschickt hatte. Ich hatte es fertig geschrieben und jemandem übergeben. Damit war mein Bedürfnis, »etwas zu schreiben«, befriedigt gewesen. Für mich war es ein Werk, das ich eben einfach heruntergeschrieben hatte. Deshalb war ich sogar etwas trotzig und hatte überhaupt nicht damit gerechnet, für einen Preis nominiert zu werden. Ich hatte das Manuskript nicht einmal kopiert. Wäre ich nicht nominiert worden, wäre es wahrscheinlich für immer verschwunden (denn die Manuskripte wurden nicht zurückgeschickt). Und ich hätte vielleicht nie wieder einen Roman geschrieben. Das Leben geht manchmal ganz schön seltsame Wege.
Dem Redakteur zufolge waren fünf Einsendungen einschließlich meiner eigenen in die Endausscheidung gelangt. Aha, dachte ich, war aber so verschlafen, dass die Realität des Ganzen nicht zu mir durchdrang. Ich stand auf, wusch mich, zog mich an und machte mit meiner Frau einen Spaziergang. Als wir an der örtlichen Grundschule vorbeikamen, sahen wir im Gebüsch eine Brieftaube sitzen. Sie schien sich am Flügel verletzt zu haben, und ich hob sie auf. An einem Bein trug sie einen Ring mit einem Namen. Sie behutsam mit beiden Händen umschließend, beschloss ich, sie zu dem Polizeihäuschen an der Omotesando in Aoyama zu bringen, das am nächsten lag. Auf unserem Weg durch die Nebenstraßen von Harajuku spürte ich die Wärme der verletzten Taube. Sie zitterte ein wenig. Es war ein frischer Sonntag, und die Bäume, die Häuser und die Schaufenster glänzten in der Frühlingssonne.
Da wusste ich es plötzlich. Ich würde den Gunzo-Nachwuchspreis bekommen. Und Schriftsteller werden. Und Erfolg haben. Vielleicht wirkt es unbescheiden, aber ich war fest davon überzeugt. Es hatte nichts mit Logik zu tun, es war reine Intuition.
Im folgenden Jahr schrieb ich Pinball 1973 als Fortsetzung zu Wenn der Wind singt. Auch damals hatten wir noch die Bar, und ich schrieb immer bis fast zum Morgengrauen am Küchentisch. Deshalb nenne ich diese beiden Werke liebevoll und auch etwas verlegen meine »Küchentisch-Romane«. Kurz nachdem ich Pinball 1973 fertiggestellt hatte, beschloss ich, die Bar zu verkaufen und ganz Schriftsteller zu werden. Anschließend schrieb ich den Roman Wilde Schafsjagd, den ich als den eigentlichen Beginn meiner Karriere als Schriftsteller betrachte.
Dennoch schätze ich meine beiden »Küchentisch-Romane« als wichtige Werke, die ich nicht missen möchte. Sie sind wie alte Freunde. Vielleicht werde ich ihnen nie wieder begegnen, aber vergessen werde ich sie ganz bestimmt nie. Sie sind wichtig und unersetzlich. Sie machten mir Mut und wärmten mir das Herz.
Ich erinnere mich noch sehr genau an das, was ich vor dreißig Jahren auf der Böschung im Jingu-Stadion empfand, als mir dieses Etwas in die Hände geflattert kam. Ein Jahr später, an jenem Frühlingsnachmittag, weckte die Wärme der verletzten Taube, die ich an der Grundschule von Sendagaya fand, das gleiche Gefühl in mir. Und immer wenn ich darüber nachdenke, was es bedeutet, einen Roman zu schreiben, kommt es mir wieder in den Sinn. Diese Erinnerungen lassen mich an mich selbst glauben und von den Möglichkeiten träumen, die daraus erwachsen. Es ist wunderbar, dass dieses Gefühl sich noch immer in mir bewahrt hat.
Juni 2014
WENN DER WIND SINGT
1
»So etwas wie ein vollkommener Stil existiert nicht. Ebenso wenig wie vollkommene Verzweiflung«, erklärte mir ein Schriftsteller, den ich als Student zufällig kennengelernt hatte.
Die wahre Bedeutung dieser Aussage wurde mir erst sehr viel später bewusst, damals war sie mir immerhin ein gewisser Trost. Es gab also keinen vollkommenen Stil.
Dennoch ergriff mich, sooft ich mich hinsetzte, um etwas zu schreiben, ein Gefühl der Mutlosigkeit, weil der Kreis der mir zur Verfügung stehenden Themen so begrenzt war. Wenn ich zum Beispiel über Elefanten schreiben konnte, hieß das noch lange nicht, dass ich über ihre Wärter schreiben konnte. In der Art eben.
Acht Jahre verbrachte ich in diesem Dilemma. Acht Jahre sind eine lange Zeit.
Solange man die Haltung hat, dass man aus allem etwas lernen kann, ist das Älterwerden natürlich nicht so schmerzhaft. Eine Binsenweisheit.
An die ich mich seit meinem zwanzigsten Lebensjahr zu halten bemühte. Weshalb ich mehrmals ernsthaft Prügel bezog, hintergangen und missverstanden wurde und überhaupt ganz schön merkwürdige Dinge erlebte. Massen von Leuten suchten mich auf, um mir ihre Geschichte zu erzählen, stampften über mich hinweg wie über eine Brücke und kamen nie wieder. Ich selbst hielt in dieser Zeit den Mund und erzählte niemandem etwas. Bis ich irgendwann Ende zwanzig war.
Jetzt will ich erzählen.
Natürlich löst das kein einziges Problem, und wahrscheinlich bin ich, wenn ich am Ende meiner Geschichte angelangt bin, in genau der gleichen Lage wie am Anfang. Schlussendlich ist Schreiben kein Mittel zur Selbsttherapie, sondern nicht mehr als ein schwacher Versuch.
Beim Erzählen ehrlich zu bleiben ist extrem schwierig. Je mehr ich mich bemühe, ehrlich zu sein, desto tiefer sinken die richtigen Worte in irgendwelche dunklen Abgründe.
Ich will mich nicht herausreden. Zumindest ist das, was ich gerade schreibe, im Moment das Beste, was ich zustande bringe. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Und vielleicht, wenn alles gut läuft, entdeckt man ja später, nach Jahren oder Jahrzehnten, dass man erlöst ist. Denke ich. Und der Elefant kehrt in die Steppe zurück, und ich kann die Welt mit schöneren Worten beschreiben als denen, die mir augenblicklich zur Verfügung stehen.
* * *
Über das Schreiben habe ich viel von Derek Hartfield gelernt. Alles, sollte ich vielleicht sagen. Bedauerlicherweise war Hartfield selbst ein in jeder Hinsicht unproduktiver Autor. Sie brauchen ihn nur einmal zu lesen und wissen sofort Bescheid. Sein Stil ist unmöglich, die Handlung völlig wirr, die Themen unreif. Dennoch gehört er zu den seltenen Autoren, die ihren Stil als Waffe einzusetzen wissen. In puncto kriegerischer Haltung steht Hartfield selbst Zeitgenossen wie Hemingway oder Fitzgerald in nichts nach, finde ich. Schade ist nur, dass er seine Widersacher nie richtig zu fassen bekam. Letztendlich kann man sein ganzes Werk nur als fruchtlos bezeichnen.
Acht Jahre und zwei Monate lang führte er seinen vergeblichen Kampf, dann starb er. Eines schönen Sonntagmorgens, es war der 6. Juni 1938, sprang er mit einem Bild von Hitler in der rechten und einem Schirm in der linken Hand vom Dach des Empire State Building. Wie schon sein Leben erregte auch sein Tod kein besonderes Aufsehen.
Als ich in den Sommerferien in der neunten Klasse an einem scheußlichen Ausschlag in der Leistengegend litt, fiel mir zufällig eine vergriffene Ausgabe von Hartfields erstem Roman in die Hände. Der Onkel, der mir das Buch schenkte, bekam drei Jahre später Darmkrebs. Sie schnitten ihn auseinander, und er starb mit Plastikschläuchen in allen Ein- und Ausgängen seines Körpers einen qualvollen Tod. Als ich ihn das letzte Mal sah, war er zu einem rötlich-braunen Äffchen zusammengeschrumpft.
* * *
Ursprünglich hatte ich drei Onkel, aber einer war bereits vor Schanghai umgekommen, als er zwei Tage nach Kriegsende auf eine der Landminen getreten war, die er selbst vergraben hatte. Der Einzige von den dreien, der noch am Leben war, arbeitete als Zauberer und tingelte durch die Badeorte des ganzen Landes.
* * *
Über guten Stil schrieb Hartfield:
»Die Tätigkeit des Schreibens besteht darin, sich seiner Distanz zur Umgebung zu vergewissern. Was ein Schriftsteller braucht, ist nicht Empfindsamkeit, sondern ein Zollstock.« (»Was ist schlimm an guter Laune?«, 1936)
Ich nahm also einen Zollstock und fing an, mich gründlich umzuschauen. Es war in dem Jahr, als Kennedy erschossen wurde. Danach vergingen noch fünfzehn Jahre, in denen ich eine Menge aufgab. Wie man Ballast aus einem Flugzeug mit Motorschaden abwirft, um das Gewicht zu verringern – erst kommt das Gepäck dran, dann die Sitze und zum Schluss die bedauernswerten Stewardessen –, so warf ich vieles über Bord, ohne mir dafür etwas anderes anzueignen.
Ob das richtig war? Ich bin nicht davon überzeugt. Auch wenn ich mich in jedem Fall leichter fühle. Aber die Frage, was überhaupt von mir bleibt, wenn ich alt werde und sterbe, macht mir Angst. Ich fürchte, nach meiner Verbrennung wird kein einziger Knochen von mir übrig bleiben.
»Wer ein schwarzes Herz hat, der hat schwarze Träume. Und wer ein noch schwärzeres Herz hat, der träumt überhaupt nicht«, pflegte meine verstorbene Großmutter zu sagen.
In der Nacht, in der sie starb, drückte ich ihr als Erstes sanft die Augen zu und faltete ihr die Hände. Als ich das tat, verflüchtigte sich der Traum, den sie neunundsiebzig Jahre lang geträumt hatte, wie ein Sommerregen auf heißem Asphalt, und nichts blieb davon zurück.
* * *
Ich schreibe jetzt noch etwas über das Schreiben. Aber das ist dann das letzte.
Für mich ist das Schreiben eine mühsame Tätigkeit. Manchmal bringe ich einen Monat lang keine Zeile zustande, dann wieder schreibe ich drei Tage und Nächte durch, aber am Ende ist das Ergebnis wertlos.
Und trotz allem habe ich Freude am Schreiben. Denn verglichen mit dem richtigen Leben fällt es viel leichter, einen Sinn darin zu finden.
Als mir das klar wurde – ich war damals noch ganz jung –, verschlug es mir vor Überraschung eine Woche lang die Sprache. Mit ein wenig Umsicht könnte ich die Welt ganz nach meinem Geschmack gestalten, sämtliche Werte umkehren, ja sogar den Fluss der Zeit ändern … bildete ich mir ein.
Dass ich in eine Falle geraten war, merkte ich leider erst viel später. Und ich zog eine Linie durch die Mitte meines Hefts und schrieb die Dinge, die ich erreicht hatte, auf die linke Seite. Verluste kamen auf die rechte – die Dinge, die ich zerstört, im Stich gelassen, geopfert und verraten hatte … Ich konnte sie gar nicht alle aufzählen.
Zwischen dem, was wir zu erkennen suchen, und unseren tatsächlichen Erkenntnissen liegt eine tiefe Kluft. So tief, dass auch der längste Zollstock sie nicht ermessen kann. Was ich hier schreibe, ist nicht mehr als eine Liste. Es ist weder Literatur noch Kunst. Es ist nur ein Heft mit einem Strich in der Mitte. Andererseits lässt sich vielleicht doch die eine oder andere Lehre daraus ziehen.
Sollten Sie jedoch auf der Suche nach Kunst oder Literatur sein, müssen Sie die alten Griechen lesen. Denn um wahre Kunst hervorzubringen, braucht man unbedingt eine Sklavenhaltergesellschaft. Bei den alten Griechen lief das so: Die Sklaven bestellten die Felder, bereiteten das Essen zu und ruderten die Boote, während die Einwohner der Polis sich im Schein der Mittelmeersonne der Dichtung oder der Mathematik hingaben. So ist das mit der Kunst.
Menschen, die um drei Uhr morgens in der Küche im Kühlschrank nach etwas Essbarem stöbern, können nur solches Zeug wie das hier schreiben.
So einer bin ich.
2
Meine Geschichte beginnt am 8. August 1970 und endet achtzehn Tage später, am 26. August desselben Jahres.
3
»Die Reichen sollen Kacke fressen«, brüllte Ratte mich an, beide Hände auf die Theke gelegt, mit grimmiger Miene.
Aber wahrscheinlich schrie er gar nicht mich an, sondern die Kaffeemühle hinter mir. Denn er saß ja direkt neben mir. Wie dem auch sei, nach seinem Ausbruch trank er wie immer ungerührt und mit sichtlichem Genuss sein Bier.
Außerdem nahm sowieso niemand Notiz von Rattes Geschrei. Die kleine Bar war voller Leute, und jeder schrie jeden an. Es war wie auf einem Passagierschiff kurz vor dem Untergang.
»Blutsauger sind das«, sagte Ratte und schüttelte angewidert den Kopf. »Nichts haben die drauf. Wenn ich so einen reichen Stinker nur sehe, kriege ich die Krätze.«
Ich nickte schweigend, die Lippen an den dünnen Rand meines Bierglases gelegt. Ratte verstummte und starrte eingehend auf seine langen Finger, die er auf der Theke hin und her wendete, als würde er sie über einem Lagerfeuer wärmen. Ergeben schaute ich zur Decke. Er würde nicht wieder anfangen, bevor er seine zehn Finger nicht der Reihe nach gründlich inspiziert hatte. So war es immer.
Den ganzen Sommer über schütteten Ratte und ich so viele Biere in uns hinein, dass man mit der Menge wahrscheinlich ein fünfundzwanzig Meter langes Schwimmbecken hätte füllen können. Und mit den Schalen der Erdnüsse, die wir verzehrten, hätte man den Fußboden von Jays Bar fünf Zentimeter hoch bedecken können. Aber anders hätten wir diesen stinklangweiligen Sommer nicht überlebt.
Über der Theke hing ein nikotinverfärbter Holzschnitt, den wir, wenn die Langweile unerträglich wurde, stundenlang anstarrten. Das Bild war wie eine Art Rorschachtest für uns. Ich sah darin zwei grüne Affen, die zwei Tennisbälle durch die Luft warfen.
Als ich das Jay, dem Bartender, erzählte, warf er einen Blick auf den Holzschnitt und sagte unverbindlich, so könne man es auch sehen.
»Symbolisiert es denn irgendetwas?«, fragte ich.
»Der linke Affe bist du, der rechte bin ich. Wenn ich dir eine Flasche Bier zuwerfe, wirfst du mir Geld zu.«
Beeindruckt trank ich einen Schluck Bier.
»Ich kriege die Krätze«, wiederholte Ratte, nachdem er die Inspektion seiner Finger abgeschlossen hatte.
Dass Ratte über die Reichen wetterte, war nichts Neues, er hasste sie wirklich. Seine Eltern waren auch ziemlich wohlhabend, aber jedes Mal wenn ich ihn darauf hinwies, sagte er: »Dafür kann ich doch nichts.« – »Doch, kannst du«, sagte ich manchmal (vor allem, wenn ich zu viel Bier intus hatte). Aber danach kam ich mir immer mies vor. Denn Ratte hatte ja eigentlich recht.
»Weißt du, warum ich die Reichen so hasse?«, fuhr Ratte an diesem Abend fort. Es war das erste Mal, dass er seinen Gedanken weiterführte.
Ich schüttelte den Kopf. Keine Ahnung.
»Weil die Reichen nicht denken können. Die brauchen eine Taschenlampe und einen Zollstock, um sich den Arsch zu kratzen.«
Das war einer seiner Lieblingssprüche.
»Meinst du?«
»Ja doch. Diese Typen haben nichts im Kopf. Die tun nur so, als würden sie denken … Und warum, meinst du, ist das so?«
»Sag schon.«
»Weil sie es nicht nötig haben. Klar müssen sie ihren Grips gebrauchen, um reich zu werden, aber reich bleiben geht von selbst. Ein Satellit braucht ja auch keinen Sprit. Er fliegt einfach immer nur im Kreis. Aber bei uns, bei dir und bei mir, ist das was anderes. Wir müssen uns ständig das Hirn zermartern. Über alles und jedes – wie morgen das Wetter wird und wie groß der Badewannenstöpsel sein muss. Habe ich recht?«
»Ja, klar«, sagte ich.
»So ist das nämlich.«
Als Ratte das losgeworden war, holte er ein Papiertaschentuch aus der Tasche und schnäuzte sich geräuschvoll. Mir war unklar, inwieweit er dieses Gerede ernst meinte.
»Aber sterben tun wir am Ende doch alle«, wandte ich versuchsweise ein.
»Ja, klar kratzen wir alle irgendwann ab. Aber bis dahin haben wir noch fünfzig Jahre zu leben, in denen wir unentwegt nachdenken müssen. Das schafft dich mehr, als fünftausend Jahre zu leben, ohne zu denken. Habe ich recht?«
Er hatte recht.
4
Ich hatte Ratte drei Jahre zuvor im Frühling kennengelernt, als wir auf die Uni kamen. Wir waren damals beide total betrunken gewesen. Deshalb habe ich keinerlei Erinnerung daran, wie und warum wir um vier Uhr morgens in Rattes lackschwarzem Fiat 600 gestrandet waren. Vielleicht hatten wir einen gemeinsamen Freund.
Jedenfalls waren wir voll wie tausend Mann und bretterten mit achtzig Sachen durch die Gegend. Weshalb wir durch die gepflegte Hecke eines Parks sowie ein paar Rhododendronbüsche brachen und schließlich gegen einen Steinpfeiler krachten. Es war reines Glück, dass wir unverletzt davonkamen.
Als ich, durch den Schock nüchtern geworden, die verbeulte Tür auftrat und aus dem Wagen kletterte, sah ich, dass die Motorhaube zehn Meter weiter vor einem Affenkäfig gelandet und der vordere Teil des Wagens völlig eingedrückt war. Das Getöse hatte die Affen geweckt, die jetzt kreischend durch den Käfig tobten.
Ratte legte beide Hände auf das Lenkrad und beugte sich vor, doch nicht, weil er verletzt gewesen wäre, sondern um die Pizza, die er eine Stunde zuvor gegessen hatte, auf das Armaturenbrett zu kotzen. Ich stieg auf das Dach des Wagens und schaute durch das Verdeck auf den Fahrersitz.
»Alles in Ordnung?«
»Ja, nur zu viel getrunken. Ich musste kotzen.«
»Kannst du raus?«
»Du musst mich ziehen.«
Ratte machte den Motor aus, nahm seine Zigaretten vom Armaturenbrett, steckte sie in die Tasche, griff bedächtig nach meiner Hand und kletterte durch das Verdeck ins Freie. Schweigend saßen wir auf dem Dach, blickten auf den heller werdenden Himmel und rauchten jede Menge Zigaretten. Aus irgendeinem Grund fühlte ich mich an einen Panzerfilm mit Richard Burton in der Hauptrolle erinnert. Woran Ratte dachte, weiß ich nicht.
»Wir hatten ganz schön Dusel«, sagte er nach etwa fünf Minuten. »Unglaublich, dass wir nichts abgekriegt haben, was?«
Ich nickte. »Aber der Wagen ist im Eimer.«
»Macht nichts. Ein Auto kann man kaufen, Glück nicht.«
Ich sah Ratte ein wenig erstaunt an. »Bist du reich oder so was?«
»So ungefähr.«
»Dann ist ja gut.«
Ratte schüttelte mürrisch den Kopf. »Jedenfalls hatten wir Glück.«
»Du sagst es.«
Ratte drückte seine Zigarette an der Sohle seines Turnschuhs aus und schnippte sie in Richtung des Affenkäfigs.
»Was hältst du davon, wenn wir uns zusammentun? Wir wären ein unschlagbares Team.«
»Was machen wir für den Anfang?«
»Bier trinken.«
Wir zogen uns an einem Automaten in der Nähe ein halbes Dutzend Dosen Bier und legten uns damit an den Strand. Als sie leer waren, starrten wir aufs Meer. Es war ein herrlicher Tag.
»Du kannst mich ›Ratte‹ nennen.«
»Wie bist du denn zu dem Namen gekommen?«
»Habe ich vergessen. Irgendwas Blödes von früher. Am Anfang habe ich es gehasst, aber jetzt nicht mehr. Man gewöhnt sich an alles.«
Nachdem wir die leeren Bierdosen ins Meer geworfen hatten, legten wir uns auf die Uferböschung, zogen uns unsere Dufflecoats über die Köpfe und schliefen eine Stunde. Als ich aufwachte, spürte ich, wie eine ungewöhnliche Energie meinen Körper durchströmte. Ein sonderbares Gefühl.
»Ich könnte hundert Kilometer laufen«, sagte ich zu Ratte.
»Ich auch«, sagte er.
In Wirklichkeit mussten wir allerdings drei Jahre lang die Schäden am Park in Raten abbezahlen. Bei der Stadtverwaltung. Mit Zinsen.
5
Ratte war erstaunlich unbelesen. Lange sah ich ihn nie irgendetwas anderes lesen als den Sportteil der Zeitung oder irgendwelche Wurfsendungen aus dem Briefkasten. Wenn ich mir hin und wieder die Zeit mit einem Buch vertrieb, beäugte er es neugierig wie eine Fliege eine Fliegenklatsche.
»Warum liest du eigentlich?«
»Warum trinkst du Bier?«, fragte ich zwischen zwei Bissen eingelegter Makrele und Salat, ohne ihn anzusehen.
Ratte nahm sich Zeit zum Nachdenken. »Das Gute an Bier ist, dass man alles wieder auspinkeln kann. Rein wie raus, es bleibt nichts drin«, sagte er und sah mir weiter beim Essen zu. »Und warum liest du gerade dieses Buch?«
Nachdem ich den letzten Bissen Makrele mit Bier hinuntergespült hatte, schob ich den Teller beiseite, griff nach der Ausgabe von Die Erziehung der Gefühle, die neben mir lag, und blätterte darin.
»Weil Flaubert schon tot ist.«
»Liest du keine lebenden Autoren?«
»Lebende Autoren lohnen sich nicht.«
»Warum nicht?«
Route 66.