»Altai, das sind die Himmel stützenden Berge, die sturzsteilen Schluchten, die ruhenden Täler. Das ist das Ineinanderfließen von Himmel und Wasser, Sonne und Gras. Altai, das ist der Reichtum unzähliger Generationen, das Schicksal der Tuwiner.«
Galsan Tschinag erhebt seine Stimme zu einem Lobgesang auf seine Heimat, den Altai.
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Galsan Tschinag, geboren 1943 in der Westmongolei, ist Stammesoberhaupt der turksprachigen Tuwa. Er studierte Germanistik in Leipzig und schreibt viele seiner Werke auf Deutsch. Er lebt in Ulaanbaatar und verbringt die restlichen Monate abwechselnd als Nomade in seiner Sippe und auf Lesereisen.
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Mein Altai
Erzählungen
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Unionsverlag
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© by Galsan Tschinag
Vignetten: Motive von Felszeichnungen und Hirschsteinen aus der Mongolei; Vorlagen von Eleonora Nowgorodowa, Zeichnungen von Inge Brüx
© by Unionsverlag, Zürich 2020
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Umschlag: nobleIMAGES (Alamy Stock Photo)
Umschlaggestaltung: Sven Schrape
ISBN 978-3-293-31018-6
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Hat nicht jedes Reh seine Mulde? Hat nicht jeder Ziesel sein Loch? Der Tuwiner hat den Altai.
Im Gebirge taugen große Worte nichts.
Man sagt »Altai« wie anderswo »Gott, Himmel, Mutter«, so viel Glauben und Hingabe entlockt dieser Name, so viel Trost und Hoffnung birgt er.
Altai – das sind die Himmel stützenden, Wolken wehrenden Berge mit den wilden weißen Gipfeln, den welken weißen Winden, den windungsreichen weißen Flüssen. Das sind die sturzsteilen, schwindeltiefen Schluchten mit den stillen schwarzen Wäldern, den starren schwarzen Felsen, den stummen schwarzen Schatten. Das sind die dahingeworfenen, ruhenden Täler mit den geborgenen grünen Gründen, den glatten grünen Hügeln, den großen grünen Ebenen. Das ist das blaue Ineinanderfließen von Himmel-Wasser-Himmel: Seen; das ist das goldene Ineinanderschwimmen von Sonne-Gras-Sonne: Steppen. Altai – das ist ein tönendes Farbenspiel zwischen Himmel und Erde. Das ist der Reichtum unzähliger Generationen: Wald, Wild, Weide. Altai – das ist das Schicksal der Tuwiner.
Ein Mensch ist geboren. Sein erster Schrei gibt Kunde von seiner Ankunft. Die Berge erwachen, nehmen ihn auf, halten einen Augenblick freudebenommen den Atem an und geben den Schrei weiter, den Wäldern, den Tälern, den Steppen, um wieder in Schlummer zurückzufallen.
Zwischen Geburt und Tod hat ein Herd gestanden. Einem Blütenkelch glich er, dem acht zarte Blättchen entsprossen. Als die Prise Sand verronnen war, fiel ein Wind ein und knickte die Blüte. Hilflos traurig hingen die acht zarten Blütenblätter über dem Stängel. Am erloschenen Herd steht der Vater wie ein angeschlagener Pfahl, und die acht Waisen fallen über ihn her wie acht graue Zieseljunge, die sich vor dem heranstürzenden Hochwasser dem alten Ziesel an den Hals werfen.
Die Gitterwände der kalten Jurte starren das verlassene Häuflein aus hundert trostlosen grauen Augen an.
Die tuwinische Jurte ist kein Repräsentationspalast, wie er in mancher Stadt steht, kein Puppenzelt, wie es der Fälscherpinsel von so manchem Farbenkleckser hervorzaubert. Sie ist nicht mit Gold und Silber gespickt, mit Samt und Seide behängt, mit Glas und Gips beladen.
Sie ist das nützliche Miteinander von Holz und Filz: Sechzig dünne Dachstangen strahlen sich von der Lichtöffnung zum Gitterrund hinab, das das Türgestell umfasst. Sieben Filzstücke beschirmen das Jurtenvolk vor dem offenen Himmel, der Regen und Schnee, Hitze und Kälte gebiert. Die zwei Holzkisten im Dör sind keine Zaubertruhen voller Geld und Gold, Zimt und Zucker. Sie bewahren die paar Wechselkleider und Spielknöchelchen der Kinder, die paar Fangstricke und das Jagdgerät des Vaters, die paar Felle und das Nähzeug der Mutter.
Der einzige Reichtum in der tuwinischen Hütte sind die Kinder. Ihnen das Glück zu bewahren, sie vor der Not zu beschützen, das ist Erfüllung des Lebens. Jetzt sind sie in Not wie acht graue Zieseljunge im heranstürzenden Hochwasser. Doch selbst dem alten Ziesel, dem sie sich an den Hals geworfen haben, ist die Not zu groß.
Ein Rind bekommt einen Schlag ans Horn, hundert Rinder spüren es bis ins Mark. Das dünnhäutige Bergvolk eilt herbei – mit einer Handvoll Trockenquark für die Kinder, einem Schluck Branntwein für den Vater, einem Korb Trockenmist für den Herd.
Es war geschehen, als die ersten Espenknospen aufsprangen wie erwachende graue Sperlinge im Frühdämmer und als der große Fluss sich unter seinem Eisschild reckte wie der tolle graue Wolf in der Falle.
Nun ist es Sommer. Die Welt schwimmt in Pracht und Fülle. Es ist die Zeit der großen Regen, die der Erde und all ihren Bewohnern die Härte des Winters und Frühjahrs vom Leib waschen. Es ist die Zeit des Branntweins, der Feste und der Lieder, die den Herzen alle Nähte und Falten umstülpen.
Kaum einen halben Tag allein gelassen, überfallen die Kinder den heimkehrenden Vater wie acht graue Zieseljunge den plötzlich auftauchenden alten Ziesel.
»Altai!«, seufzt der Mann inmitten des grauen Häufleins, als könnte er die Berge ringsum zu einer Antwort bewegen. »Warum hast du das getan, mein Altai?«
Nichts regt sich, alles ist in Schlummer versunken, selbst der Fluss scheint fließend weiterzuschlummern.
»Tauber, gefühlloser Altai«, flüstert der Mann. Schwere Tränen rollen ihm über das wetterbraune Gesicht. Und dem Mann wird leichter ums Herz.
Aber du fühlst doch mit uns, Altai! Denn wir brauchen dich in Glück und Unglück, vor allem im Unglück. Du bist kein Festkleid, das wir nur an Sonntagen anlegen.
Was hast du nicht alles mit ansehen müssen? Wie oft bist du Zeuge von Geburt und Tod, von Treue und Verrat, von Sieg und Niederlage geworden. Und was musst du jetzt erleben, immer grauer, ewig junger Altai?
Sie ziehen fort, verlassen dich. Weil irgendwo in der Fremde gemahlener Weizen gegessen wird statt getrockneten Quarks, weil das Fleisch dort aus dem Teller einer Waage geholt wird statt von der Herde am Bergkamm, weil man dort die Hosen über Brettern herunterlässt, Bretter vor dem Gesicht, statt über Stein und Gräsern, den Sternenhimmel vor Augen. Deine Berge sind für sie nur noch Haufen aus Stein und Erde, deine Flüsse nichts als rinnendes Wasser, das Durst stillt und Schmutz abwäscht, deine Wälder nur Holz zum Behauen und Verbrennen und deine Steppen öde, staubige Weiten, beschwerliche Entfernungen …
Auch er will gehen, der Mann mit den acht Waisenkindern wie acht graue Zieseljunge, er will dich verlassen. Aber er ist nicht wie jene, die in fremde Wiegen steigen, weil sie dort mehr erhoffen. Er hat dich taub genannt, gefühllos, doch nicht aus Bosheit, nicht aus Undankbarkeit, nur aus verletzter Liebe. Weil er dich überschätzt hat, hadert er nun mit dir, als wärest du imstande gewesen, das Unglück von ihm abzuwenden. Vor Schmerz unfähig, deine Gegenwart zu spüren, der du ihn in den Armen hältst, seit er atmet, glaubt er nun, du versagst ihm die Teilnahme an seinem Geschick. Nur darum will er dich verlassen und weil er, der nach strengen Bergsitten zum Mann erzogen wurde, es nicht länger ertragen kann, an den Herd gefesselt, auf anderer Mitleid angewiesen, von nachbarlichen Gaben sein Leben zu fristen.
Der Herbst befällt die Welt. Er fällt mit Laubregen, Nachttau und dem Röhren der Hirsche, dringt in alle Falten und Spalten. Er raschelt und tuschelt wie eine verlorene Seele und schleicht Hauch um Hauch in das wirre Herz des Bruders.
Ehe der Steinadler seinen Horst verlässt, nimmt er ein letztes Mal Höhe, kreist mal in jagender Hast, mal in wiegender Ruhe über dem vertrauten Gipfel, lässt sich wie erschöpft nieder und hockt so lange auf einem Fleck, als könnte er sich nie mehr von dem abschiedsschweren Felsen lösen. Aber irgendwann spannt er plötzlich die Flügel, gewinnt augenblicklich Höhe und entschwindet wie ein davongeschleuderter schwarzer Stein.
Der Mann steigt zum bunten Gipfel hinauf. Abschiedsgedanken liegen ihm schwer wie Steine im Magen. Er reitet ziellos, hält an, springt ab, geht ein Stück, bleibt stehen, lässt sich nieder, kaut einen welken Grashalm, riecht an der Erde, befühlt die Steine. Mit Sonnenuntergang kommt er zum Odag, dem Jägerlager. Drei kräftige Pferde stehen am Quellbach, drei stramme Burschen hocken am Feuer. Die Pferde begrüßen einander mit einem Brummeln, die Burschen entbieten den Gruß der Jäger: »Aga schoralga? – Hast du reiche Beute gemacht, Bruder?« – »Dolup dshydry. Schoralga, ooldar? – Ich habe viel. Habt ihr reiche Beute, Jungen?«, erwidert der Mann.
Im Jägerkessel brodelt duftfrisches Murmeltierfleisch. Unter dem Odag, über der windgeschützten Seitenschlucht hängen die Rauchfetzen wie niedrige graue Wolken.
O mein Altai, mein reicher, großer Altai! Ist es deine Schuld, dass der Tod diesem Mann die Frau und seinen Kindern die Mutter entrissen hat?
Der Nachthimmel wacht wie ein großes, fragendes, schwarzes Auge, kühl und klar. Grünlich blinken die schweigenden Sterne hinab. Der abnehmende Mond ist plötzlich da und wirft seinen matten Schein auf das Lager. Tau glänzt schon im Gras. Am Horizont hinter den Steppen wetterleuchtet es. Tief in der Schlucht heult lang gezogen ein Wolf, und es dauert eine ganze Weile, bis vom Berg gegenüber das Antwortgeheul kommt. Die Pferde am Quellbach stellen die Ohren auf und schnauben unruhig. Aus großen dunklen Holzschalen schlürfen die Männer heiße Murmeltierbrühe. Die Knochen liegen um die Feuerstelle verstreut, und aus den Fleischresten auf der großen Steinplatte neben dem Herd steigt schwacher Dampf in die Nachtkühle.
»Das Vieh ist schon weg. Nur die Jurte ist noch da. Es gibt Leute, die sie haben wollen.« Der Mann redet mit leiser, brüchiger Stimme und starrt in das verlöschende Feuer. Einmal hebt er kurz den Blick zum fernen Horizont, von wo das Wetterleuchten herüberzuckt. Die Burschen hören schweigend zu und schlürfen ohne Hast ihre Suppe.
»Ich weiß nicht recht«, fährt der Mann fort. Er starrt auf die schwache blaue Flamme, die allein noch am Rest eines halben Pferdeapfels klebt. Gleich hinter dem großen Felsen, der sich wie ein freundlicher Vater der Lagerbewohner gegen den schneidenden gelben Westwind aufgereckt hat, heult wieder ein Wolf. Aus verschiedenen Richtungen kommt die Antwort. Die Pferde in den straffen Fesseln trappeln mühsam auf den Hufspitzen herbei und schnauben aufgeregt, die Augen im Mondschein voll Todesangst. Einer der Burschen greift im Sitzen nach seinem Gewehr, doch der neben ihm winkt gelassen ab: »Lass sie nur heulen.«
Die letzte schwache blaue Flamme an dem halben Pferdeapfel nimmt jetzt die Gestalt eines Ai-Blattes an, leuchtet auf, flackert und erlischt.
Der Mann sagt trotzig: »Was die anderen auch reden mögen – ich bleibe!« Dabei glaubt er zu sehen, wie der winzige Rauchfaden, in den das Flämmchen aufgegangen ist, seinen Weg zu den Schwaden nimmt, die noch immer über der windgeschützten Seitenschlucht hängen müssten wie niedrige blaue Wolken unter dem klaren, hohen Nachthimmel.
Am Horizont hinter den weiten Steppen wetterleuchtet es an drei Stellen zugleich, aber der Schein ist im Mondlicht so schwach, dass man ihn nur bemerkt, wenn man darauf gewartet hat.
O Altai, lieber großer Altai!
Du bist unser Erzeuger, unsere Nahrung, unser Obdach, du bist unser Gefährte in Freud und Leid, unsere Ruhestatt im Leben und im Tod.
Wie viele Generationen ruhen in dir. Wie viele Wünsche, Freuden, Tränen, wie viel Liebe und wie viel Willenskraft. Und wie viele Vermächtnisse. Sind wir nicht verloren ohne dich? Und du ohne uns, denn wer kann dich so ehren und lieben wie wir? Wer weiß so gut wie wir um die Freuden, die Tränen und die Vermächtnisse, die du birgst?
Die Not mag den Ziesel aus seinem Loch vertreiben und den Steinadler von seinem Horst – wir aber dürfen dich nicht verlassen.
Und wenn ich es auch getan habe, er darf und wird es nicht, denn sonst wären wir allesamt verloren, du, unser Altai, und wir, deine Tuwiner.
Wir sind nicht vergangen, wir sind verwandelt. Wir sind Licht und Schatten, Luft und Gras, Erde und Stein.
Vermisst ihr uns, so geht in den Tag und die Nacht hinein und befühlt und beriecht und belauscht die Erde und das Gras und den Wind.
Wir sind auch Erinnerungen und Geschichten.
Bewahrt sie, denn sie sind da für euch und alle, die nach euch kommen werden.
Wir sind Gleiche, kennen keinen Reichtum und keine Armut. Aber wir haben nicht vergessen, was sie bedeuten. Der Reichtum erhebt den schmutzigsten Sünder zum Erdengott und entzweit die Kinder einer Mutter. Die Armut zwingt den Ehrlichsten, zu lügen und zu stehlen.
Es ist gut, dass die fremde Sitte, auf Gräbern Reichtümer zu häufen, nicht über uns gekommen ist. Beneidet auch künftig die Fremden nicht um ihre Sitten und tut uns und euch nicht solches letzte Unrecht an, denn jeder Reichtum, der unser Grab belastet, ist im Reich der Gleichen unauslöschliches Schandwerk. Das beste Gold ist für uns wertlos. Behaltet es, und behaltet auch die Ziegel für kleine und große Denkmäler. Lasst die Menschen so gehen, wie sie gekommen sind: frei von Bürde.
Nicht Hitze und nicht Kälte gibt es für uns. Und nicht Lüge und nicht Schmerz. Wir sehen keinen Edlen stürzen und keinen Halunken sich erheben. Wir kennen nicht Kummer und nicht Ärger.
Aber wir kennen auch keine Freuden mehr. Für uns gibt es kein Frühlingserwachen und kein Wiedersehen mehr. Wir hören keinen Vogel zwitschern und sehen keine Knospe aufspringen.
Und wir sind machtlos. Wir haben keinen Einfluss auf das, was mit uns und mit euch geschieht, wir können uns und euch nicht helfen. Hofft nicht auf uns, doch vergesst uns auch nicht, denn wir sind da.
Wir sind nicht vergangen, wir sind verwandelt. Wir sind Licht und Schatten, Luft und Gras, Erde und Stein.
Vermisst ihr uns, so geht in den Tag und die Nacht hinein und befühlt und beriecht und belauscht die Erde und das Gras und den Wind.
Wir sind auch Erinnerungen und Geschichten.
Bewahrt sie rein und lernt daraus, denn sie sind da für euch und alle, die nach euch kommen werden.
Tut es, ihr Ungleichen und Unzulänglichen, aber Hoffnungsvollen und Mächtigen, tut es nicht um des Todes, sondern um des Lebens willen.
Wie der Chara-Chöl im Winter aussah, wusste ich nicht. Weiß, sagte Vater. Ich wollte es ihm glauben, denn an windigen Tagen hüpften Tausende weiße Wellen wie spielende Lämmer über den Wasserspiegel, und es war möglich, dass sie einmal den ganzen See bedeckten. Sonst, an windstillen Tagen, sah er schwarz aus wie der sternenlose Nachthimmel.
Vielleicht hatte er daher seinen Namen. Aber wir durften diesen Namen nicht aussprechen. Wir nannten ihn »Meer«, wie wir es von den Eltern hörten. Sie erzählten auch, dass der Meeresgeist streng sei.
Vor vielen, vielen Jahren war ein Tross über den zugefrorenen See gezogen. Da war das Eis gebrochen, und der See hatte Menschen und Tiere verschlungen. Seitdem hieß er der Schwarze See, und das war ein Fluch der Ertrunkenen.
Wenn der See den Rest einer Gitterwand oder eines Holzeimers oder anderer Gegenstände ans Ufer spülte, sprach sich das herum wie etwa die Nachricht vom Tod eines blutjungen Menschen, und dann sah man Angst auf den Gesichtern der Erwachsenen.
Einmal fanden wir Kinder beim Wasserholen ein faustgroßes Holz mit drei durchgehenden Löchern. Es war der Rest eines Dachreifens. Das Holz fühlte sich kalt und glitschig an wie Lehm und zerfiel in unseren Händen. Still gingen wir mit unseren Krügen nach Hause und erzählten keinem etwas davon, auch untereinander erwähnten wir es nie wieder.
Ein andermal entdeckten mein Bruder und ich am Seeufer das Abflussbrett einer Kinderwiege. Es war ganz erhalten, jedoch ebenso zu Lehm geworden wie der Dachreifenrest. Wir ließen die Zieselmäuse liegen, die wir in den Wasserlöchern am See ertränkt hatten, und rannten nach Hause.
In der Nacht weckte mich mein Bruder und flüsterte: »Ob das Kind auch so langsam gestorben ist wie die Zieselmaus?« Da brach ich in Tränen aus. Mein Bruder zog die Decke über unsere Köpfe und greinte mit. »Habt ihr euch gezankt?«, fragte Mutter, die aus dem Schlaf geschreckt war. Wir weinten so heftig, dass wir nicht antworten konnten. Alle erwachten, und die Öllampe wurde angezündet.
»Wir haben unsere Falle verloren, Vater«, sagte mein Bruder schließlich. »Ja, unsere Falle haben wir verloren, Mutter«, sagte ich. Die Eltern nannten uns dumme Jungen und waren beruhigt. Aber bevor sie wieder einschliefen, beteten sie mehrmals: »O du Heiliger Geist des großen goldenen Muttermeers!«
Wenn es geschneit hatte, war die Welt ringsum weiß, nur der See blieb schwarz. Eigentlich schneite es den ganzen Sommer, aber der erste Schnee wurde der genannt, der die Erde unter Pferdehufen und Kinderfüßen dröhnen ließ, als wäre sie aus hartem Eisen. Nach diesem Schnee ritten ein paar Männer vom Ail los, um die Kamele einzufangen, die man im Frühsommer freigelassen hatte. Manchmal blieben die Männer vier Tage weg, aber sie kamen immer mit den Kamelen wieder.
Dann begann der große Umzug in das warme Herbstlager.
In der letzten Nacht konnte keiner richtig schlafen. Sogar die Kinder, die sonst in den Frühstunden so fest schliefen, dass nichts sie zu wecken vermochte, sprangen unter dem ersten Gelb des neuen Tages von selbst auf und lösten alle Gurte und Bänder der Jurte, ohne dass der Vater es ihnen zu befehlen brauchte. Dann schlürfte man in aller Eile ein paar Schalen Tee gleich vom Feuer weg.
Kinder, Erwachsene und Hunde hasteten lärmend durcheinander. Die Yaks reckten die Hälse und schnupperten nach Osten, die Pferde wurden unruhig, die Stuten stießen kurze Wieherlaute aus und fielen die Wallache an wie zur Paarungszeit. Das machte die Freude auf den Umzug.
Bevor der Choitbak-Sack und das Geschirr eingepackt wurden, verrichtete Mutter das Abschiedsgebet: Das Gesicht dem See zugewandt, tauchte sie den zwölfäugigen Spritzer in die schäumende, euterwarme Milch, versprühte sie mit weit ausholenden, feierlichen Bewegungen und sprach dabei so inbrünstig, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Sie pries den See, den Himmel über ihm und die Berge um ihn, weil sie uns den Sommer über wohl erhalten hatten, und bat sie, uns nicht zu vergessen, bis sie uns im nächsten Frühjahr wieder in ihre beschützenden Arme aufnehmen würden. Aber See, Berge und Himmel schwiegen, so wie sie seit Tausenden von Jahren geschwiegen hatten, wie sehr die armen schwachen Menschen sie auch rühmten und anflehten.
Der Zug erreichte den Ag-Chem und sein großes grünes Tal erst nach drei Tagen, und hier sah man noch einmal Fliegen, schlief im heißen Flussbettsand ein und hörte im Schlaf den Lärm der Vogelschwärme, die sich zur Reise versammelten.
Da dachte man wieder an den fernen Chara-Chöl, dachte an den bevorstehenden langen Winter und wünschte, dass er bald käme, damit er auch schnell verginge. Man malte sich schon den Augenblick aus, da man an der Spitze des langen Zuges auf dem Pass stand, den Chara-Chöl vor sich, und den Spruch flüsterte, den man den ganzen langen Winter mit sich getragen hatte: »Sei gegrüßt, großes goldenes Muttermeer!« Diese Sehnsucht kam wohl daher, dass man hier so sicher aufgehoben war. Im Ag-Ghem, dem milchweißen Fluss, so wurde erzählt, war nie ein Mensch ertrunken.
Der Chara-Chöl, der Schwarze See mit seinen tausend weißen Wellen wie spielende Lämmer an windigen Tagen, schwarz wie der sternenlose Nachthimmel bei Windstille, dieses mal stumm wachende, mal wild blitzende Auge des Altai, dieses Grab so mancher Menschen war die Wiege meiner Kindheitssommer.