Monika Felten

Die Saga von Thale

Folge VII:
Sieg der Finsternis

Roman

6

In den Höhlen der Kuriervögel von Nimrod herrschte beschauliche Ruhe. Zwölf der fünfzehn felsengrauen Vögel, die hier ihre Wohnstatt hatten, waren bereits von den nächtlichen Botenflügen oder der Jagd heimgekehrt und richteten sich darauf ein, den Tag im kühlen Dunkel der Höhlen zu verbringen. Einige widmeten sich noch der Gefiederpflege, andere hatten den wuchtigen Schnabel schon unter dem Flügel verborgen, schliefen oder dösten mit geschlossenen Augen vor sich hin.

In der mittleren Höhle hockten zwei Riesenalpe nebeneinander in einer Ecke und unterhielten sich über die erfolgreiche Jagd. Kein Laut drang aus den Schnäbeln, der die Ruhe der anderen gestört hätte, denn die gewaltigen Vögel verständigten sich mittels Gedankensprache und niemand außer den Nebelelfen wäre in der Lage gewesen, das stumme Gespräch der beiden zu belauschen. Irgendwann hockte sich einer der beiden zum Schlafen hin, doch der andere fand keine Ruhe.

»Wo Numair nur bleibt?« Chiriga, ein hellgraues Weibchen, hielt in der Gefiederpflege inne, blickte beunruhigt zum Höhleneingang und wandte sich wieder dem Riesenalp zu, der neben ihr vor sich hin döste. »Die Sonne ist längst aufgegangen.«

»Dein Sohn wird gewiss noch kommen, keine Sorge«, murmelte das Männchen träge.

»Aber er ist schon so lange fort«, wandte Chiriga ein. »Noch vor Sonnenuntergang ist er allein zur Jagd aufgebrochen. Ich weiß auch, dass er manchmal spät zurückkommt, aber so lange war er noch nie fort.«

»Numair ist ein guter Flieger.« Das Männchen blinzelte gelassen und fragte: »Warum rufst du ihn nicht?«

»Das versuche ich schon die ganze Zeit«, erwiderte Chiriga und schüttelte das Gefieder. »Immer wieder habe ich Gedankenrufe an ihn ausgesandt, doch seit Mitte der Nacht habe ich keine Antwort mehr erhalten.«

»Ihm wird schon nichts zugestoßen sein«, meinte das Männchen, öffnete den riesigen Schnabel und gähnte. »Numair ist noch sehr jung und lässt sich leicht ablenken. Wer weiß, vielleicht hat er ein nettes Weibchen getroffen und möchte nicht gestört werden.«

»Ich hoffe, du hast recht.« Das Riesenalpweibchen warf erneut einen besorgten Blick zum Höhleneingang.

»Chiriga, dein Sohn ist schon seit fünfzehn Sommern ausgewachsen«, sagte das Männchen. »Seit die Quarline von den Nebelelfen ausgerottet wurden, gibt es in ganz Thale kein Lebewesen mehr, das einem ausgewachsenen Riesenalp gefährlich werden könnte. Also beruhige dich und schlaf ein wenig.« Um seine Worte zu unterstreichen, schob er den Schnabel unter den Flügel und schloss die Augen.

Chiriga erwiderte nichts. Schweigend setzte sie die Gefiederpflege fort. Als sie damit fertig war, hockte auch sie sich hin, um ein wenig zu schlafen, doch sie fand keine Ruhe. Immer wieder schaute sie blinzelnd nach draußen, in der Hoffnung, die Silhouette ihres Sohnes am Himmel über Nimrod zu erblicken – vergeblich. Schließlich fiel sie in einen unruhigen Schlummer.

Plötzlich wurde es dunkel und vor dem Höhleneingang erschien die imposante Gestalt eines großen Riesenalps. Mit weit ausgebreiteten Flügeln verringerte er geschickt die Fluggeschwindigkeit, streckte die mächtigen Krallen vor und landete sicher auf dem schmalen Felsabsatz vor den Höhlen. Das scharrende Geräusch, mit dem die Hornkrallen über den Felsboden kratzten, weckte Chiriga, und sie sah auf in der Hoffnung, Numair sei endlich zurückgekommen. Doch der Riesenalp, dessen Ankunft sie aufgeschreckt hatte, war nicht ihr Sohn.

Im Höhleneingang stand Letivahr, der älteste und erfahrenste Kuriervogel von Nimrod. Gemeinsam mit Glamouron, dem Nebelelfen, flog er seit mehr als fünfzig Sommern im Auftrag des Druidenrats und sorgte für eine zuverlässige Verbindung zwischen dem Elfenkönig in den Sümpfen von Numark und dem Druidenrat in der Festungsstadt.

Auch in dieser Nacht war er wieder mit Glamouron unterwegs gewesen. Chiriga konnte den grauen Haarschopf des Elfen hinter Letivahrs Nackengefieder erkennen, während dieser die Höhle betrat. Diesmal schien es der Elf ziemlich eilig zu haben. Anders als üblich wartete er nicht, bis der Riesenalp den Flügel zum Hinuntersteigen ausbreitete, sondern sprang aus einer Höhe von mehr als zwei Längen zu Boden und eilte, ohne Letivahr das Fluggeschirr abzunehmen und ohne ein Wort des Grußes an Chiriga vorbei zu der kleinen Tür, die in die Festungsstadt führte.

»Was ist denn mit Glamouron los?«, sandte Chiriga einen verwunderten Gedanken an Letivahr, der sich mit schweren Schritten zu seiner Schlafstatt begab. »Ich habe noch nie erlebt, dass er fortgeht, ohne dir das Geschirr abzunehmen.«

Der große Riesenalp wirkte erschöpft und es dauerte eine Weile, ehe er auf die Frage antwortete. »Das Geschirr kann warten. Es stört mich nicht«, murmelte er schließlich, machte es sich auf der nestähnlichen Schlafstatt bequem und sagte: »Wir waren oben im Grasland, um …«

»Im Grasland?«, fiel ihm Chiriga verwundert ins Wort. »Ich denke, ihr kommt aus Numark?«

»Das stimmt«, sagte Letivahr. »Aber als wir auf dem Rückweg waren, bestand Glamouron plötzlich darauf, ins Grasland zu fliegen.«

»Ach, deshalb wart ihr so lange fort.«

»Ja, Glamouron meinte, er habe so ein seltsames Gefühl und wolle nachsehen, ob da oben alles in Ordnung sei. Mehr hat er nicht gesagt. Ich bin also nach Norden eingeschwenkt und habe das Grasland angeflogen.«

»Und? Habt ihr etwas entdeckt?« Chiriga täuschte ein Gähnen vor, damit Letivahr nicht merkte, wie angespannt sie war. Einerseits hoffte sie, Letivahr könne ihr etwas über Numairs Verbleib sagen, andererseits fürchtete sie sich nachzufragen, aus Angst, dass es keine guten Nachrichten wären.

»O ja, das haben wir.« Letivahr nickte, während er sein Bauchgefieder putzte, als gäbe es nichts Wichtigeres zu tun.

»Ja und …?« Chiriga starb fast vor Unruhe.

»Zunächst war alles wie immer«, berichtete Letivahr, ohne im Putzen innezuhalten. »Steppenbüffel, schlafende Dörfer, die Lagerfeuer der Hirten und Jäger.« Er zupfte eine gebrochene Feder aus seinem Gefieder und fuhr fort: »Aber dann, als Glamouron schon glaubte, sich getäuscht zu haben, und wir Kurs auf Nimrod nehmen wollten, sahen wir das verwüstete Dorf.«

»Was ist geschehen?« Obwohl Chiriga innerlich aufatmete, weil die Nachricht nicht Numair betraf, erschütterte sie die Vorstellung eines zerstörten Graslanddorfes zutiefst.

»Wir wissen es nicht«, gab Letivahr zu. »Das Dorf muss überfallen worden sein. Es war völlig niedergebrannt. Keine einzige Hütte ist von dem Feuer verschont geblieben. Es war ein heilloses Durcheinander und man konnte auch viele Blutspuren sehen, doch was Glamouron am meisten Kopfzerbrechen macht, ist, dass wir nirgends einen Dorfbewohner oder eines der Haustiere entdecken konnten. Das Dorf bestand aus mindestens fünfzehn Hütten, aber es war wie ausgestorben. Ich bin ein paar große Runden geflogen, aber wir haben weder Tierkadaver noch Leichen ausfindig gemacht.«

»Das ist wirklich seltsam«, stimmte Chiriga zu. »Wer könnte so etwas tun?«

»Genau das ist es, was Glamouron beunruhigt«, sagte Letivahr. »Wir wissen doch alle, dass niemand in Thale jemals so etwas Entsetzliches anrichten würde. Deshalb bin ich ohne Rast nach Nimrod zurückgeflogen, damit er dem Druidenrat von dem Überfall berichten kann.«

Mit raschen Schritten eilte Glamouron durch die hell erleuchteten Gänge der inneren Festung, in der sich neben dem großen Ratssaal auch die privaten Gemächer der Mitglieder des Druidenrats befanden. Das lange hellgraue Haar des hochgewachsenen Kurierreiters war an den Schläfen zu dünnen Zöpfen geflochten und fiel hinter den spitz zulaufenden Ohren offen über den dunklen Reiterumhang, den abzulegen er sich nicht die Zeit genommen hatte. Wie alle Elfen hatte Glamouron ein alterslos anmutendes, fein geschnittenes Gesicht, aus dessen Zügen sich nur selten eine Stimmung ableiten ließ. Doch diesmal zeugte eine steile Falte auf der hohen Stirn davon, dass er in großer Sorge war. Getrieben von dem Wunsch, die beunruhigende und traurige Nachricht über die Vernichtung des Graslanddorfes so schnell wie möglich Anthork, dem obersten Druiden von Nimrod, vorzutragen, suchte der Nebelelf eilig den Weg über gewundene Treppen und durch lange Flure, ohne auf einen der Menschen zu achten, die ihm begegneten und ihn freundlich grüßten. Eine innere Stimme sagte ihm, dass er keine Zeit verlieren durfte. Schon vor ein paar Sonnenläufen hatte er gespürt, dass sich etwas Bedrohliches näherte, aber das Gefühl war so flüchtig und schwer zu fassen gewesen wie die zarten Nebelschleier seiner Heimat, und so hatte er zunächst beschlossen, es nicht weiter zu beachten. Dennoch hatte ihn das mulmige Gefühl auch in den folgenden Sonnenläufen nicht losgelassen. Mit dem Flug ins Grasland hatte er sich eigentlich beweisen wollen, dass er sich zu Unrecht sorgte, doch was er dort vorgefunden hatte, hatte genau das Gegenteil bewirkt. Das zerstörte Dorf war zweifellos überfallen worden. Aber von wem? Thale war doch ein friedliches Land! Während des ganzen Heimflugs hatte sich Glamouron den Kopf darüber zerbrochen, wer zu einer solch grausamen Tat fähig sein mochte, und keine Antwort darauf gefunden.

Tief in Gedanken versunken, erreichte er den Teil der inneren Festung, in dem die Druiden wohnten. Die Sonne stand bereits kurz vor dem Zenit und die goldenen Strahlen fluteten durch die unzähligen hohen Fenster, die den Korridor vor den Gemächern des obersten Druiden erhellten. Es war die Zeit, in der die Mitglieder des Rats das Mittagsmahl einzunehmen pflegten, und Glamouron war sicher, dass er Anthork in seinen privaten Räumen antreffen werde. Er täuschte sich nicht. Die Fackel vor der Tür zu Anthorks Arbeitszimmer brannte – ein weithin sichtbares Zeichen dafür, dass sich der oberste Druide in seinen Räumen aufhielt.

Glamouron trat vor die Tür und ergriff den goldenen Türklopfer. Dreimal ließ er den Ring hart auf das glänzende Wappen Nimrods aufschlagen, das einen fliegenden Riesenalp zwischen zwei imposanten Türmen zeigte, bis er hörte, wie Anthork ihn gemessen hereinbat.

»Schön, dich zu sehen, Glamouron!«, begrüßte der hochgewachsene Druide den Elfen, als dieser das Zimmer betrat. Er trug eine lange, moosgrüne und mit goldenen Litzen verzierte Robe aus schwerem Samt, die um die Taille von einem breiten dunkelbraunen Gürtel mit goldener Schnalle gehalten wurde. Trotz des fortgeschrittenen Alters von mehr als fünfundsechzig Sommern war Anthork noch immer eine eindrucksvolle Persönlichkeit. Das schulterlange graue Haar wurde ebenso wie der lange Vollbart von vereinzelten dunklen Strähnen durchzogen, doch das tat der Ehrfurcht gebietenden Erscheinung des Druiden keinen Abbruch. Im Gegenteil, es verlieh ihm eine alterslose Würde, wie Glamouron sie bisher nur bei wenigen Menschen gesehen hatte. Das von tiefen Falten gefurchte Gesicht zeugte zudem von großer Weisheit und Erfahrung; an den grünen Augen hingegen schien die Zeit spurlos vorübergegangen zu sein. Wie schon in der Jugend blitzten sie oft schelmisch auf und wer Anthork gut kannte, konnte selbst dann ein gutmütiges Lachen in ihnen erkennen, wenn die Stimme ernst klang. Jetzt sah er den Elfen erfreut an, während er sich vom Tisch erhob, an dem er soeben das Mittagsmahl verzehrt hatte, und mit ausgestreckter Hand auf seinen alten Freund zuschritt.

»Ich hoffe, du hattest einen angenehmen Flug«, sagte er lächelnd und deutete auf zwei wuchtige gepolsterte Stühle, die vor dem knisternden Kaminfeuer standen. »Nimm Platz«, forderte er den Elfen auf, während er es sich in einem der beiden Stühle bequem machte. »Du hast sicher viel zu erzählen.«

»Ja, das habe ich!«

Glamourons bitterer Tonfall ließ den Druiden aufhorchen. Besorgt runzelte er die Stirn und fragte: »Was ist geschehen? Du klingst bedrückt.«

Der Elf antwortete nicht sofort. Mit einem leisen Seufzer ließ er sich in die Polster des Stuhls sinken und starrte schweigend in die Flammen des Kaminfeuers, als müsste er nach den richtigen Worten suchen. »Es gab einen Überfall«, sagte er schließlich.

»Einen Überfall?«, wiederholte Anthork überrascht. »Wo?«

»Im Grasland. Weit oben im Norden. Ein Dorf wurde dem Erdboden gleichgemacht.«

»Bei der Göttin, woher weißt du das?«, fragte der Druide zutiefst betroffen. »Ich denke, du warst in Numark, um …«

»Da war ich auch.« Glamouron nickte. »Auf dem Rückflug haben Letivahr und ich jedoch einen Umweg gemacht, weil ich das unbestimmte Gefühl hatte, dass im Norden etwas nicht in Ordnung sei.« Er machte eine kurze Pause und sah den obersten Druiden ernst an. »Zunächst konnten wir nichts Ungewöhnliches finden und wollten schon umkehren, doch bei Sonnenaufgang sah ich die schwarzen Rauchwolken am Horizont.« Glamourons Stimme bebte, als er stockend weitersprach. »Wir sind sofort dorthin geflogen, aber das Dorf war bereits völlig zerstört. Wir konnten überhaupt nichts mehr tun.«

»War es ein großes Dorf?«, fragte der Druide.

»Fünfzehn Hütten, vielleicht zwanzig. Ich habe sie nicht gezählt. Alles lag in Schutt und Asche.«

»Und die Menschen, die dort lebten?«, wollte Anthork wissen.

»Verschwunden!« Der Nebelelf schüttelte verzweifelt den Kopf und zog die Schultern hoch. »Das Dorf war leer. Es gab dort weder Tote noch Verwundete oder gar Überlebende – nichts. Nicht einmal ein Haustier oder versprengtes Vieh konnte ich finden, als ich mit Letivahr die Umgebung des Dorfes absuchte.«

»Aber das ist unmöglich!«, rief Anthork aus.

»Und doch ist es die Wahrheit.« Glamouron seufzte. »Die Spuren, die wir gefunden haben, weisen darauf hin, dass nicht nur die Einwohner, sondern auch alle Tiere, egal ob tot oder lebendig, verschleppt wurden. Eine breite Schneise aufgewühlter Erde und zertretenen Grases führte vom Dorf fort. Leider wurde sie durch zahlreiche Schleifspuren völlig unkenntlich gemacht, doch die Blutflecke an den Grashalmen stammten eindeutig von Menschen.«

»Wohin führt sie? Warum habt ihr sie nicht verfolgt?«

»Das war uns leider nicht möglich. Aber ich weiß auch so, wohin die Grasländer verschleppt wurden.«

»In die Finstermark!« Die Augen des Druiden weiteten sich, als er sich selbst die Antwort auf die Frage gab. »Aber dort lebt niemand. Bei den Toren, das ist einfach unglaublich.«

»Dort lebte niemand«, berichtigte ihn der Elf. »Wie es aussieht, hat sich dort etwas oder jemand niedergelassen, der uns nicht gerade freundschaftlich gesonnen ist. Und nicht nur einer. Um ein Dorf dieser Größe zu überfallen und die Einwohner zu verschleppen, bedarf es vieler starker Krieger.«

»Ich werde sofort einen Suchtrupp zusammenstellen, der die Hintergründe des Überfalls und das Schicksal der Grasländer aufklären soll«, entschied Anthork. »Wenn es wirklich so ist, wie du vermutest, und sich in der Finstermark ein kriegerisches Volk niedergelassen hat, müssen wir uns wappnen und alles dransetzen, dass es einen solchen Überfall nicht noch einmal wagt.« Er verstummte und blickte Glamouron fragend an. »Ich weiß, dass du von dem langen Flug erschöpft bist, und würde auch Letivahr gern die wohlverdiente Ruhe gönnen, doch ich muss dich bitten, heute Nacht noch einmal ins Grasland zu fliegen, um den anderen den Weg zu weisen.«

»Selbstverständlich.« Glamouron erhob sich und deutete eine Verbeugung an. »Ich werde bereit sein. Ihr könnt Euch auf mich verlassen.«

»Gut.« Auch Anthork stand auf und seufzte tief. »Ich wünschte, unser Zusammentreffen hätte erfreu…« In diesem Augenblick wurde die Tür zum Arbeitszimmer aufgerissen und ein Hauptmann der Stadtwache stürmte herein.

»Entschuldigt, ehrwürdiger Anthork«, stieß er atemlos hervor. »Aber ich bringe wichtige und schlimme Neuigkeiten.« Er verstummte und deutete eine knappe Verbeugung an.

»Mir scheint, dies ist heute kein besonders guter Sonnenlauf«, murmelte der Druide leise und richtete das Wort an den Hauptmann.

»Nun, das unziemliche Auftreten sei Euch verziehen. Sagt, was ist geschehen?«

»Der gefangene Magier ist fort«, berichtete der Hauptmann mit steinerner Miene.

»Fort? Bei den Toren, wie konnte das geschehen?« Anthorks Stimme zitterte. Für den alten Mann, der Thale fast vierzig Sommer ohne nennenswerte Zwischenfälle regiert hatte, waren zwei so entsetzliche Neuigkeiten in kürzester Zeit etwas, das ihn bis ins Mark erschütterte. In seinen Gedanken herrschte ein solches Durcheinander, dass er nicht einmal in der Lage war, angesichts der Meldung Zorn zu spüren.

»In den frühen Morgenstunden kamen zwei Krieger aus Daran in den Kerker. Sie führten Papiere mit sich, die besagten, dass Asco-Bahrran zum Zweck des Verhörs nach Daran überführt werden solle. Die Papiere waren vom Kommandanten der Stadtwache unterzeichnet und der Kerkermeister sah keinen Grund, den Befehl zu missachten.«

»Er hat den Magier gehen lassen?«, fragte Anthork fassungslos.

»Ohne sich noch einmal zu versichern, ob die Papiere ihre Richtigkeit haben?«

»Ja, das hat er. Der Magier wurde gefesselt und an die Krieger übergeben. Kurz nach Sonnenaufgang haben die drei mit ihren Pferden das große Flügeltor passiert. Niemand weiß, wo sie jetzt sind.«

»Bei den Toren, das sind in der Tat schlimme Neuigkeiten.« Gedankenverloren strich sich der oberste Druide mit der Hand über den Bart. »Dann werde ich heute wohl gleich zwei Suchtrupps ausschicken müssen. Einen ins Grasland und einen, der den Magier wieder zurückbringt«, überlegte er laut und wandte sich wieder an den Hauptmann. »Ich danke Euch, Ihr könnt gehen«, sagte er, worauf sich der Krieger verneigte und zur Tür schritt. »Und stellt den Kerkermeister unter Arrest«, rief Anthork ihm nach. »Irgendjemand muss Asco-Bahrran zur Flucht verholfen haben, und er ist der Einzige, der uns darüber Auskunft geben kann.«

Als sich die Tür hinter dem Hauptmann geschlossen hatte, wandte sich der oberste Druide wieder an Glamouron. »Du solltest dich jetzt stärken und ein wenig ausruhen. Ich werde derweil den Druidenrat einberufen und den anderen von den Vorkommnissen berichten. Wenn die Sonne untergeht, wird der Suchtrupp ins Grasland aufbrechen. Fünf oder sechs Riesenalpe mit Reitern müssen genügen, die anderen werden sich umgehend auf die Suche nach Asco-Bahrran machen. Der Magier ist unberechenbar und gefährlich. Er darf nicht entkommen.«

Mit wehenden Umhängen preschten drei Reiter durch die dichten Wälder, die sich von der Ebene Nimrods bis nach Daran erstreckten. Um kein Aufsehen zu erregen, hatten sie zunächst den üblichen Weg nach Daran gewählt und waren auf der gut ausgebauten Straße der Händler geblieben, solange sie noch von den Mauern der Festungsstadt beobachtet werden konnten. Doch kaum, dass sie das schützende Dickicht der Wälder erreicht hatten, hatten sie die Straße verlassen und die Pferde bei der ersten Gelegenheit nach Norden gelenkt, fort von der viel befahrenen Straße und den Menschen, die sie verraten konnten. Seitdem ritten sie in scharfem Galopp über holprige Wege mit tief ausgefahrenen Wagenspuren. Aber der Boden war trocken, und sie kamen gut voran.

An einer Weggabelung zügelte Asco-Bahrran das Pferd und rief die beiden Krieger zu sich, die ihn begleiteten. »Hier trennen sich unsere Wege«, erklärte er knapp und deutete nach rechts. »Ihr nehmt den Weg, und ich reite dort entlang.«

»Aber so war es nicht abgemacht«, entgegnete einer der Krieger. »Okowan sagte, wir sollen Euch bis ins Grasland begleiten.«

»Was Okowan sagte, ist mir gleich«, knurrte Asco-Bahrran. »Ich brauche keine Kindermädchen, die auf mich aufpassen. Ihr habt euren Lohn bereits erhalten, und jetzt verschwindet.« Die Krieger zögerten und sahen sich unschlüssig an. Offenbar nahmen sie die Abmachung mit Okowan genauso ernst wie einen Befehl.

»Verschwindet, sage ich«, befahl Asco-Bahrran noch einmal etwas lauter und fügte hinzu: »Ich entlasse euch hiermit aus Okowans Diensten. Und vergesst nicht: Ihr habt mich niemals gesehen – verstanden?«

Die Krieger nickten knapp und lenkten ihre Pferde auf den schmalen Pfad, der rechts von dem breiteren Hauptweg abzweigte. Nach ein paar Schritten ließen sie die Pferde antraben und waren bald nicht mehr zu sehen. Asco-Bahrran wartete, bis der Hufschlag verklungen war, dann setzte auch er den Weg fort. Er war froh, die beiden Krieger los zu sein. In Nimrod würde man vermutlich längst bemerkt haben, dass er geflohen war, und überall nach ihm suchen. Er musste auf der Hut sein und drei Reiter waren selbst unter dem dicken Blätterdach der Bäume für die scharfen Augen der Riesenalpe, die zweifellos Jagd auf ihn machen würden, leicht zu entdecken. Jetzt, da er allein war, fühlte er sich in den Wäldern verhältnismäßig sicher. Aber sein Ziel lag hoch oben im baumlosen Grasland und zum ersten Mal in seinem Leben bedauerte er, dass es ihm trotz eingehender Bemühungen in all den Sommern nicht gelungen war, das Geheimnis der Nebelelfen zu lüften, die auf eine unglaubliche Weise mit der Umgebung verschmelzen konnten, sodass sie nahezu unsichtbar waren.

»Zieh das an.« Mit einer knappen Bewegung schleuderte Okowan dem jungen rothaarigen Mädchen, das an einem Tisch im Haus der Sinne auf Gäste wartete, einen schlichten grauen Kittel entgegen. Er war ein wenig ärgerlich, dass sich gerade keine andere Hure im Haus befand, doch sein Anliegen duldete keinen Aufschub, und so musste er sich mit dem Mädchen begnügen, das erst seit wenigen Sonnenläufen im Haus seines Vaters arbeitete. Es war zierlich und sehr hübsch. Mit den langen Haaren, dem fein geschnittenen Gesicht mit großen dunkelbraunen Augen und dem kindlichen Schmollmund war es unter den Gästen des Hauses sehr begehrt. Doch Bran, der Kerkerwächter, beanspruchte es für sich und hatte für seine Gesellschaft schon viele Sonnenläufe im Voraus bezahlt. Wie immer, wenn eine neue, junge Hure ins Haus der Sinne kam, war er einer der Ersten, die sich an ihren Diensten erfreuten.

Das Mädchen fing das Kleidungsstück auf und betrachtete es verwundert. »Na los, worauf wartest du noch? Ich hab nicht ewig Zeit. Zieh das Ding an«, fuhr Okowan das Mädchen an. Die Kleine zuckte zusammen, als wäre sie geschlagen worden, und erhob sich. Den Kittel in der Hand ging sie auf eine schmale Tür am Ende der Schankstube zu, hinter der sich eine kleine Kammer befand. »Du kannst das ruhig hier machen«, schnauzte Okowan sie an. »Bei den Gästen bist du doch auch nicht so zimperlich.« Das Mädchen wandte sich gehorsam um und kam zurück. Den Blick fest auf den Boden geheftet, löste es die Verschnürung des engen roten Kleides an den Schultern und ließ es zu Boden gleiten. »Na also!« Okowan starrte auf die knospenden Brüste und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich muss schon sagen, dieser versoffene Kerkerwärter Bran hat einen guten Geschmack«, bemerkte er und fügte hinzu: »Ich werde noch darauf zurückkommen, doch zuerst habe ich eine andere Aufgabe für dich.« Er drehte sich um, nahm einen tönernen Topf vom Tresen der Schankstube und reichte ihn dem Mädchen, das gerade den Gürtel des Kittels schnürte. »Bring das dem alten Bran«, befahl er knapp. »Du findest ihn in der Arrestzelle der Stadtwache in der inneren Festung.«

»In der Arrestzelle?« Das Mädchen blickte verwundert auf. »Was hat er denn angestellt?«

»Woher soll ich das wissen?«, brauste Okowan auf und funkelte sie drohend an. »Ich habe nur zufällig gehört, dass man ihn heute eingesperrt hat. Und du stellst besser keine Fragen, klar? Du gehst dorthin und gibst dich als seine Tochter aus. Tu ein bisschen verwirrt und traurig, damit die Wachen es dir auch glauben. Sag, dass du ihn besuchen möchtest, weil du dich um ihn sorgst.« Mit seinen dicken Fingern tätschelte er dem Mädchen die Wange. »Ich bin sicher, einem so hübschen, unschuldigen Mädchen wie dir werden sie einen Besuch bei dem geliebten Vater nicht abschlagen. Schon gar nicht, wenn sie hören, dass du seine Tochter bist und ihm etwas zu essen bringen möchtest.« Er grinste breit. »In dem Topf ist eine sehr schmackhafte kalte Suppe – sein Leibgericht. Er wird sich sicher freuen, wenn du sie ihm bringst.«

»Ja, Herr.« Das Mädchen nickte und wandte sich zu Tür. »Warte«, rief Okowan ihr nach und fragte: »Wie ist dein Name?«

»Yemina«, antwortete das Mädchen errötend.

»Also, Yemina«, mahnte er, »denk immer daran: Du bist Brans Tochter!« Seine Stimme wurde leise und nahm einen unheilvoll drohenden Tonfall an. »Sollte ich herausbekommen, dass du den Wachen verraten hast, wer dich wirklich geschickt hat, wirst du dir wünschen, niemals geboren worden zu sein. Haben wir uns verstanden?«

»Ja, Herr.«

»Und mach etwas mit deinen Haaren«, befahl Okowan. »Binde sie zusammen oder besorg dir ein Kopftuch. Kein anständiges Weib in Nimrod läuft mit offenen Haaren herum.«

»Ja, Herr.«

»Gut. Jetzt verschwinde und bring Bran die Suppe.« Okowan zog einen Stuhl unter einem der Tische hervor und setzte sich. »Und beeil dich«, rief er dem Mädchen nach, das bereits an der Tür stand. »Ich warte hier, bis du zurückkehrst.«

Die Schatten der Fensterkreuze, die das Sonnenlicht auf die Tische der Schankstube warf, wanderten auf den Boden und von dort auf die nächste Tischplatte, ehe das Mädchen zurückkehrte. Den tönernen Topf in den Händen und das Gesicht von der Anstrengung des weiten Fußmarsches gerötet, betrat es den inzwischen gut besuchten Schankraum, in dem Okowan voller Unruhe wartete.

»Und?«, flüsterte er. »Hat man dich zu Bran gelassen?«

»Ja, Herr.« Yemina schaffte es nicht, dem feisten Sohn des Freudenhausbesitzers in die Augen zu sehen, als sie ihm zitternd den Tontopf reichte. »Er war sehr hungrig, weil das Mittagsmahl so dürftig war, und hat gleich alles aufgegessen. Ich soll Euch ausrichten, dass Ihr ein gutes Herz habt und er Euch sehr dankbar ist«, berichtete sie und fügte hastig hinzu: »Aber keine Sorge, niemand hat uns gehört. Wir waren allein.«

»Das ist gut.« Okowan gluckste zufrieden. »Das ist sehr gut!« Er stellte den Tontopf auf den Tresen und rief nach der Küchenmagd. »Reinige dies Gefäß mehrfach gründlich mit kochendem Wasser«, trug er ihr auf und fügte schmunzelnd hinzu: »Ich möchte nicht, dass sich jemand an den Suppenresten den Magen verdirbt.«

Die Magd nahm den Topf an sich und verschwand in der Küche. »Und nun zu dir, Yemina«, säuselte Okowan und legte dem Mädchen einen Arm um die Schultern. »Ich finde, es ist an der Zeit, dass wir beide uns ein wenig näher kennenlernen.« Ohne auf den leisen Protest des Mädchens zu achten, das plötzlich zu zittern anfing, schob er es vor sich her zu der Tür, hinter der sich seine privaten Räume befanden. Und während er das Mädchen die Treppe hinaufführte, weilten seine Gedanken kurz bei Bran, der zur selben Zeit in der Arrestzelle qualvoll und einsam mit dem Tode rang. Das Gift in der Suppe war ebenso zuverlässig wie tödlich, und Okowan zweifelte nicht daran, dass es in diesem Augenblick die erwünschte Wirkung tat.

7

»Der Kerkerwächter ist tot?« Stirnrunzelnd legte Anthork die Schriftstücke aus der Hand, in denen er gerade gelesen hatte, und erhob sich von dem Stuhl am Ende des wuchtigen Ratstisches. Unmittelbar nach Glamourons Besuch hatte er den Ratssaal aufgesucht, um die von ihm einberufene Sitzung des Druidenrates vorzubereiten und sich über den Vorfall im Kerker kundig zu machen. Inzwischen lagen alle nötigen Landkarten bereit, und auch die gefälschten Papiere, die zur Freilassung Asco-Bahrrans geführt hatten, waren von ihm bereits weitgehend gesichtet worden.

»Bei den Toren, wie konnte das geschehen?«, fragte er fassungslos und besorgt.

»Man vermutet, dass er an einem großen Fleischstück erstickt ist, das in seinem Essen war«, erwiderte der Bote. »Der Wachhabende fand ihn leblos am Boden liegend, als er die leere Schüssel aus der Zelle holen wollte.«

»Erstickt?« Anthork runzelte die Stirn und überlegte kurz. »Sobald die Sitzung vorüber ist, will ich den Leichnam mit eigenen Augen sehen. Richte dem Kommandanten der Stadtwache aus, er möge den Toten so lange in ein kühles Kellergewölbe schaffen. Es scheint mir ein sehr ungewöhnlicher Zufall zu sein, dass der einzige Zeuge, der uns Näheres über die Flucht des Magiers Asco-Bahrran hätte erzählen können, so unerwartet verstirbt.«

»Ich werde den Kommandanten sofort unterrichten.« Der Bote verneigte sich und schickte sich an, den Ratssaal zu verlassen. Als er die Tür öffnete, kamen ihm drei Druiden in langen bestickten Roben entgegen. Zwei von ihnen waren hochgewachsen und für das Amt, das sie innehatten, noch sehr jung. Der dritte hingegen wirkte alt und gebrechlich; er trug einen langen knorrigen Stab bei sich, mit dessen Hilfe er sich langsam vorantastete. Das schüttere schlohweiße Haar und der dichte Vollbart reichten ihm bis zur Hüfte und die trüben Augen in dem von tiefen Falten gefurchten Gesicht irrten suchend umher.

Der Bote wartete voller Hochachtung, bis die drei ehrwürdigen Männer den Saal betreten hatten, dann verneigte er sich kurz und eilte hinaus.

»Jeroen, Artair und Sheridan«, rief Anthork erfreut aus. »Wie schön, dass ihr dem Ruf so schnell gefolgt seid.« Mit wenigen Schritten war er bei dem alten Druiden und geleitete ihn zu einem Platz am Ende des Ratstisches, bevor auch er sich setzte.