Hans Christian Andersen

Andersens Märchen

Mit 124 Illustrationen

Hans Christian Andersen

Andersens Märchen

Mit 124 Illustrationen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Julius Reuscher
Illustrationen: John William Waterhouse, Vilhelm Pedersen
3. Auflage, ISBN 978-3-943466-65-2

www.null-papier.de/andersen

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Hans Chris­ti­an An­der­sen – Le­ben und Werk

Däu­me­lin­chen

Der stand­haf­te Zinn­sol­dat

Das alte Haus

Das Feu­er­zeug

Das häss­li­che jun­ge Ent­lein

Der Gar­ten des Pa­ra­die­ses

Der klei­ne Klaus und der große Klaus

Der Rei­se­ka­me­rad

Der Sand­mann

Ein­lei­tung

Mon­tag

Diens­tag

Mitt­woch

Don­ners­tag

Frei­tag

Sonn­abend

Sonn­tag

Der Schwei­ne­hirt

Der Tan­nen­baum

Des Kai­sers neue Klei­der

Die alte Stra­ßen­la­ter­ne

Die Ge­schich­te von ei­ner Mut­ter

Die klei­ne See­jung­frau

Die ro­ten Schu­he

Die Schnee­kö­ni­gin

Ers­te Ge­schich­te wel­che von dem Spie­gel und den Scher­ben han­delt

Zwei­te Ge­schich­te – Ein klei­ner Kna­be und ein klei­nes Mäd­chen

Drit­te Ge­schich­te – Der Blu­men­gar­ten bei der Frau, wel­che zau­bern konn­te

Vier­te Ge­schich­te – Prinz und Prin­zes­sin

Fünf­te Ge­schich­te – Das klei­ne Räu­ber­mäd­chen

Sechs­te Ge­schich­te – Die Lap­pin und die Fin­nin

Sie­ben­te Ge­schich­te – Von dem Schlos­se der Schnee­kö­ni­gin und was sich spä­ter dar­in zu­trug

Die glück­li­che Fa­mi­lie

Die Hir­tin und der Schorn­stein­fe­ger

Die Stör­che

Die Nach­ti­gall

Der En­gel

Der flie­gen­de Kof­fer

Der klei­ne Tuk

Die Blu­men der klei­nen Ida

Der Flachs

Die Nach­bars­fa­mi­li­en

Die wil­den Schwä­ne

El­fen­hü­gel

Die Flie­der­müt­ter­chen

Der Was­ser­trop­fen

Der Hals­kra­gen

Der böse Fürst

Das klei­ne Mäd­chen mit den Schwe­fel­höl­zern

Die Prin­zes­sin auf der Erb­se

Das Lie­bes­paar

Der un­ar­ti­ge Kna­be

Die Stopf­na­del

Das Gän­se­blüm­chen

Die Glo­cke

Der Buch­wei­zen

Der Ro­se­nelf

Hol­ger Dans­ke

Die Sprin­ger

Der Schat­ten

Töl­pel­hans

Fünf in ei­ner Scho­te

Der Schnee­mann

Die Tee­kan­ne

Die Ga­lo­schen des Glückes

I. Ein An­fang

II. Wie es dem Ge­richts­rat er­ging

III. Des Wäch­ters Aben­teu­er

IV. Ein Haupt­mo­ment

V. Die Ver­wand­lung des Schrei­bers

VI. Das Bes­te, was die Ga­lo­schen brach­ten

Dan­ke

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Hans Christian Andersen – Leben und Werk

Hans Chris­ti­an An­der­sen ist fast je­dem noch heu­te be­kannt als ei­ner der größ­ten Mär­chen­er­zäh­ler des 19. Jahr­hun­derts.

Sein be­weg­tes Le­ben be­gann am 2. April 1805 im dä­ni­schen Oden­se auf der In­sel Fü­nen. Er war der Sohn ei­nes ver­arm­ten Schuh­ma­chers und ei­ner Trin­ke­rin und hat­te da­durch al­les an­de­re als gute Voraus­set­zun­gen für sein künf­ti­ges Le­ben. Wäh­rend sei­ner Kind­heit konn­te Hans Chris­ti­an An­der­sen nur un­re­gel­mä­ßig zum Schul­un­ter­richt er­schei­nen, da das Geld stets knapp war und der Jun­ge dem Va­ter bei der Ar­beit hel­fen muss­te. 1816 starb der Va­ter und der 14-jäh­ri­ge An­der­sen ent­schloss sich dar­auf­hin, in die dä­ni­sche Haupt­stadt Ko­pen­ha­gen zu ge­hen, um dort sein Glück zu ver­su­chen. Die mu­ti­ge Ent­schei­dung – war er doch dort ganz auf sich al­lein ge­stellt – soll­te sich als Glücks­fall her­aus­stel­len. Denn nach­dem sich der Jun­ge zu­nächst ei­ni­ge Zeit als Schau­spie­ler und Sän­ger ver­sucht hat­te durch­zu­schla­gen, nahm ihn der Kon­fe­renz­rat Jo­nas Col­lin un­ter sei­ne Fit­ti­che. Er war da­mals Di­rek­tor des Kö­nig­li­chen Thea­ters in Ko­pen­ha­gen. Von da an ver­brach­te An­der­sen den Rest sei­ner Ju­gend im Haus des rei­chen Man­nes, der meh­re­re Kin­der hat­te. Zum Sohn des Hau­ses fühl­te sich der jun­ge Mann mehr als nur freund­schaft­lich hin­ge­zo­gen, doch auch zur jüngs­ten Toch­ter ver­band ihn eine in­ni­ge freund­schaft­li­che Be­zie­hung. Über Col­lin wur­de er Kö­nig Fried­rich VI. be­kannt, der ihm zu­nächst die Been­di­gung der schu­li­schen Lauf­bahn und spä­ter das Stu­di­um an der Uni­ver­si­tät in Ko­pen­ha­gen er­mög­lich­te. Wäh­rend die­ser Zeit war Hans Chris­ti­an An­der­sen be­reits durch klei­ne Ge­dich­te und Er­zäh­lun­gen auf­ge­fal­len. Der jun­ge Mann ver­lieb­te sich bald in eine Frau, die je­doch ei­nem an­de­ren ver­spro­chen war. Aus Lie­bes­kum­mer un­ter­nahm er zahl­rei­che Rei­sen durch ganz Eu­ro­pa, lan­de­te da­bei in Deutsch­land, Frank­reich, Eng­land, Spa­ni­en und Ita­li­en. Er ge­lang­te so­gar bis ins Os­ma­ni­sche Reich. In Dres­den war er mehr als drei­ßig Mal.

Sei­ne Rei­sen in­spi­rier­ten zahl­rei­che sei­ner Mär­chen, die oft­mals eben­falls exo­ti­sche Mo­ti­ve ha­ben. Auch der Ein­fluss Ita­li­ens spie­gelt sich dar­in wi­der.

Die Bil­dungs­schicht rea­gier­te be­geis­tert auf An­der­sens ers­te Ro­ma­ne und wei­te­re li­te­ra­ri­sche Wer­ke, so­dass er schnell auch in­ter­na­tio­nal Aner­ken­nung fand. Mit sei­nen Ro­ma­nen gilt er als Be­grün­der der Li­te­ra­tur des Rea­lis­mus in Dä­ne­mark. Im pri­va­ten Be­reich blieb Hans Chris­ti­an An­der­sen zeit sei­nes Le­bens al­lein. Al­ler­dings pfleg­te er in­ten­si­ve Freund­schaf­ten zu meh­re­ren Da­men. Zu die­sen, mit de­nen er lan­ge Brief­wech­sel führ­te, ge­hör­te auch die Sän­ge­rin Jen­ny Lind, die als »die schwe­di­sche Nach­ti­gall« be­kannt wur­de. Auch mit der Toch­ter des Ent­deckers des Elek­tro­ma­gne­tis­mus, Hans Chris­ti­an Oers­ted, ver­band ihn eine in­ni­ge Freund­schaft. Je­doch fühl­te er sich eben­falls zu Ed­vard Col­lin hin­ge­zo­gen, den er schon in sei­ner Ju­gend sehr gern ge­habt hat­te. Selbst als die­ser hei­ra­te­te, be­hiel­ten sie einen dau­er­haf­ten, re­gel­mä­ßi­gen Brief­kon­takt bei. Die Spe­ku­la­ti­on über An­der­sens Ho­mo­se­xua­li­tät be­gann des­halb be­reits zu sei­nen Leb­zei­ten, hat­te je­doch kei­nen Ein­fluss auf den ho­hen Sta­tus des Li­te­ra­ten.

Im Al­ter von 70 Jah­ren starb Hans Chris­ti­an An­der­sen hoch­ver­ehrt in Ko­pen­ha­gen am 4. Au­gust 1875. Er hat­te in sei­nem Le­ben zahl­lo­se Mär­chen, Ro­ma­ne und an­de­re li­te­ra­ri­sche Wer­ke ver­fasst und mit die­sen stets Er­folg ge­habt. Vie­le in­ter­na­tio­na­le Prei­se wur­den ihn zu­teil. So wur­de er nach sei­nem Tod mit ei­nem Staats­be­gräb­nis ge­ehrt und auf dem Ko­pen­ha­ge­ner As­sis­tenz­fried­hof bei­ge­setzt.

Den meis­ten sind heu­te die Mär­chen des Hans Chris­ti­an An­der­sen be­kannt. Er schrieb da­von mehr als 300 Stück, wel­che in acht Bän­den ver­öf­fent­licht wur­den. An­der­sen be­dien­te sich hier­bei haupt­säch­lich der Form des Kunst­mär­chens.

Der Be­griff Kunst­mär­chen be­deu­tet, dass die Mär­chen aus der Hand des Dich­ters selbst stam­men und die­se nicht, wie im Fal­le der Brü­der Grimm, aus Er­zäh­lun­gen an­de­rer zu­sam­men­ge­stellt wur­den. Al­ler­dings hat­ten auch An­der­sens Mär­chen teils alte Mo­ti­ve aus al­ler Her­ren Län­der, die er auf sei­nen zahl­rei­chen Rei­sen be­sucht hat­te. Als Quel­len dienten bei­spiels­wei­se alte grie­chi­sche und os­ma­ni­sche Le­gen­den, aber auch dä­ni­sche und deut­sche Volks­mär­chen. Die­se je­doch setz­te er völ­lig neu zu­sam­men und ver­leg­te sie teil­wei­se in an­de­re Zei­ten und Hand­lungs­räu­me. Ei­ni­ge der Mär­chen er­fand An­der­sen selbst ohne jeg­li­chen ge­schicht­li­chen Hin­ter­grund. Zu die­sen ge­hö­ren »Das klei­ne Mäd­chen mit den Schwe­fel­höl­zern«, »Das häss­li­che Ent­lein« so­wie sein wohl be­kann­tes­tes Mär­chen »Die Schnee­kö­ni­gin«, wel­ches bis heu­te auch un­zäh­li­ge fil­mi­sche und mu­si­ka­li­sche In­ter­pre­ta­tio­nen er­fuhr.

Be­kannt wur­den auch jene Mär­chen Hans Chris­ti­an An­der­sens, in de­nen er Ge­gen­stän­de zum Le­ben er­weck­te. Das wohl be­kann­tes­te die­ser Mär­chen ist »Der stand­haf­te Zinn­sol­dat«. Wei­te­re Mär­chen die­ser Mach­art sind »Die Stopf­na­del« oder »Der Tan­nen­baum«, in dem er einen Weih­nachts­baum ver­mensch­licht und zum Le­ben er­weckt.

Am Ende sei­nes Le­bens rück­ten im­mer wie­der auch neue tech­ni­sche Er­fin­dun­gen in den Fo­kus sei­ner Mär­chen, wie etwa in »Die große See­schlan­ge«.

Die Mär­chen er­schie­nen in den Jah­ren 1835-1848 so­wie 1858-1866 und wur­den bis heu­te in mehr als 80 Spra­chen über­setzt.

Auch wenn Hans Chris­ti­an An­der­sen die Mär­chen zu­nächst für Kin­der schrieb, sind sie heu­te vor al­lem bei er­wach­se­nen Le­sern be­liebt. Der hin­ter­grün­di­ge Hu­mor und die oft erns­te Hand­lung mit sub­ti­len Un­ter­tö­nen fin­den mehr bei Äl­te­ren An­klang.

Ne­ben den Mär­chen schrieb Hans Chris­ti­an An­der­sen mit »Ju­gend­le­ben und Träu­me ei­nes ita­lie­ni­schen Dich­ters« (Ori­gi­nal: »Im­pro­vi­sa­to­ren«) 1835 auch sei­nen ers­ten Ro­man. Die­ser er­zählt die Le­bens­ge­schich­te des Dich­ters An­to­nio, der durch die ver­schie­dens­ten Re­gio­nen Ita­li­ens reist. In die­sem Ro­man konn­te An­der­sen eine Viel­zahl sei­ner ei­ge­nen Ita­li­e­ner­leb­nis­se wie­der­ge­ben – und hat­te da­mit großen Er­folg: Er er­hielt für das Werk ein sehr statt­li­ches Dich­ter­ge­halt.

Der Ro­man »Nur ein Gei­ger« von 1837 er­zählt da­ge­gen von ei­nem Men­schen, dem es nicht ver­gönnt ist, mit sei­ner Ge­nia­li­tät als Gei­ger zu Er­folg zu ge­lan­gen. Er schei­tert letzt­end­lich an der ge­sell­schaft­li­chen Wirk­lich­keit.

Im Jah­re 1848 schrieb er den Ro­man »Die zwei Baro­nes­sen«, in dem es um die Über­win­dung der ge­sell­schaft­li­chen Schran­ken geht. Auch die­ses The­ma hat­te An­der­sen zeit­le­bens be­wegt. Mit dem Ro­man woll­te er zei­gen, dass der Geis­te­sa­del dem Adel von Ge­burt an über­le­gen und des­halb eine ge­sell­schaft­li­che Ab­gren­zung nicht mög­lich ist.

»Das Mär­chen mei­nes Le­bens« lau­tet der Ti­tel von Hans Chris­ti­an An­der­sens 1845/46 er­schie­ne­ner Au­to­bio­gra­fie, die in Dä­ne­mark erst zehn Jah­re spä­ter er­schi­en. Im Buch be­schreibt An­der­sen sich selbst als Men­schen mit all sei­nen Ei­gen­hei­ten und vor al­lem der Sehn­sucht, das Wun­der­ba­re im All­tag se­hen zu kön­nen.

Ne­ben den Mär­chen und Ro­ma­nen brach­te Hans Chris­ti­an An­der­sen auch zahl­rei­che Ge­dich­te so­wie Kurz­pro­sa her­vor, wel­che bis heu­te be­liebt sind.

Däumelinchen

Es war ein­mal eine Frau, die sich sehr nach ei­nem klei­nen Kin­de sehn­te, aber sie wuss­te nicht, wo­her sie es neh­men soll­te. Da ging sie zu ei­ner al­ten Hexe und sag­te zu ihr: »Ich möch­te herz­lich gern ein klei­nes Kind ha­ben, willst Du mir nicht sa­gen, wo­her ich das be­kom­men kann?«

»Ja, da­mit wol­len wir schon fer­tig wer­den!« sag­te die Hexe. »Da hast Du ein Gers­ten­korn; das ist gar nicht von der Art, wie sie auf dem Fel­de des Land­manns wach­sen, oder wie sie die Hüh­ner zu fres­sen be­kom­men; lege das in einen Blu­men­topf, so wirst Du et­was zu se­hen be­kom­men!«

»Ich dan­ke Dir!« sag­te die Frau und gab der Hexe fünf Gro­schen, ging dann nach Hau­se, pflanz­te das Gers­ten­korn, und so­gleich wuchs da eine herr­li­che, große Blu­me; sie sah aus wie eine Tul­pe, aber die Blät­ter schlos­sen sich fest zu­sam­men, ge­ra­de als ob sie noch in der Knos­pe wä­ren.

»Das ist eine nied­li­che Blu­me!« sag­te die Frau und küss­te sie auf die ro­ten und gel­ben Blät­ter, aber ge­ra­de wie sie dar­auf küss­te, öff­ne­te sich die Blu­me mit ei­nem Knall. Es war eine wirk­li­che Tul­pe, wie man nun se­hen konn­te, aber mit­ten in der Blu­me saß auf dem grü­nen Sa­men­grif­fel ein ganz klei­nes Mäd­chen, fein und nied­lich, sie war nicht über einen Dau­men breit und lang, des­we­gen wur­de sie Däu­me­lin­chen ge­nannt.

Eine nied­li­che, la­ckier­te Wal­nuss­scha­le be­kam sie zur Wie­ge, blaue Veil­chen­blät­ter wa­ren ihre Ma­trat­ze und ein Ro­sen­blatt ihr Deck­bett. Da schlief sie bei Nacht, aber am Tage spiel­te sie auf dem Tisch, wo die Frau einen Tel­ler hin­ge­stellt, um den sie einen gan­zen Kranz von Blu­men ge­legt hat­te, de­ren Sten­gel im Was­ser stan­den; hier schwamm ein großes Tul­pen­blatt, und auf die­sem konn­te Däu­me­lin­chen sit­zen, und von der einen Sei­te des Tel­lers nach der an­de­ren fah­ren; sie hat­te zwei wei­ße Pfer­de­haa­re zum Ru­dern. Das sah ganz al­ler­liebst aus. Sie konn­te auch sin­gen, und so fein und nied­lich, wie man es nie ge­hört hat­te.

Ein­mal nachts, als sie in ih­rem schö­nen Bet­te lag, kam eine Krö­te durch das Fens­ter her­ein­gehüpft, wo eine Schei­be ent­zwei war. Die Krö­te war häss­lich, groß und nass, sie hüpf­te ge­ra­de auf den Tisch her­un­ter, wo Däu­me­lin­chen lag und un­ter dem ro­ten Ro­sen­blatt schlief.

»Das wäre eine schö­ne Frau für mei­nen Sohn!« sag­te die Krö­te, und da nahm sie die Wal­nuss­scha­le, worin Däu­me­lin­chen schlief, und hüpf­te mit ihr durch die zer­bro­che­ne Schei­be fort, in den Gar­ten hin­un­ter.

Da floss ein großer, brei­ter Fluss; aber ge­ra­de am Ufer war es sump­fig und mo­ras­tig; hier wohn­te die Krö­te mit ih­rem Soh­ne. Hu, der war häss­lich und gars­tig und glich ganz sei­ner Mut­ter. »Koax, koax, brek­ke­re­ke­kex!« Das war al­les, was er sa­gen konn­te, als er das nied­li­che klei­ne Mäd­chen in der Wal­nuss­scha­le er­blick­te.

»Sprich nicht so laut, denn sonst er­wacht sie!« sag­te die alte Krö­te. »Sie könn­te uns noch ent­lau­fen, denn sie ist so leicht wie ein Schwa­nen­flaum! Wir wol­len sie auf eins der brei­ten See­ro­sen­blät­ter in den Fluss hin­aus­set­zen, das ist für sie, die so leicht und klein ist, ge­ra­de wie eine In­sel; da kann sie nicht da­von­lau­fen, wäh­rend wir die Staats­stu­be un­ten un­ter dem Mo­rast, wo Ihr woh­nen und hau­sen sollt, in Stand set­zen.«

Drau­ßen in dem Flus­se wuch­sen vie­le See­ro­sen mit den brei­ten, grü­nen Blät­tern, wel­che aus­sa­hen, als schwäm­men sie oben auf dem Was­ser; das Blatt, wel­ches am wei­tes­ten hin­aus­lag, war auch das aller­größ­te; da schwamm die alte Krö­te hin­aus und setz­te die Wal­nuss­scha­le mit Däu­me­lin­chen dar­auf.

Das klei­ne We­sen er­wach­te früh mor­gens, und da sie sah, wo sie war, fing sie recht bit­ter­lich an zu wei­nen; denn es war Was­ser zu al­len Sei­ten des großen, grü­nen Blat­tes, und sie konn­te gar nicht an das Land kom­men.

Die alte Krö­te saß un­ten im Mo­rast und putz­te ihre Stu­be mit Schilf und gel­ben Fisch­blatt­blu­men aus – es soll­te da recht hübsch für die neue Schwie­ger­toch­ter wer­den – und schwamm dann mit dem häss­li­chen Soh­ne zu dem Blat­te hin­aus, wo Däu­me­lin­chen stand. Sie woll­ten ihr hüb­sches Bett ho­len, das soll­te in das Braut­ge­mach ge­stellt wer­den, be­vor sie es selbst be­trat. Die alte Krö­te ver­neig­te sich tief im Was­ser vor ihr und sag­te: »Hier siehst Du mei­nen Sohn; er wird Dein Mann sein, und Ihr wer­det recht präch­tig un­ten im Mo­rast woh­nen!«

»Koax, koax, brek­ke­re­ke­kex!« war al­les, was der Sohn sa­gen konn­te.

Dann nah­men sie das nied­li­che, klei­ne Bett und schwam­men da­mit fort; aber Däu­me­lin­chen saß ganz al­lein und wein­te auf dem grü­nen Blat­te, denn sie moch­te nicht bei der gars­ti­gen Krö­te woh­nen oder ih­ren häss­li­chen Sohn zum Man­ne ha­ben. Die klei­nen Fi­sche, wel­che un­ten im Was­ser schwam­men, hat­ten die Krö­te wohl ge­se­hen und ge­hört, was sie ge­sagt hat­te; des­halb streck­ten sie die Köp­fe her­vor, sie woll­ten doch das klei­ne Mäd­chen se­hen. So­bald sie es er­blick­ten, fan­den sie das­sel­be so nied­lich, dass es ih­nen leid tat, dass es zur häss­li­chen Krö­te hin­un­ter soll­te. Nein, das durf­te nie ge­sche­hen! Sie ver­sam­mel­ten sich un­ten im Was­ser rings um den grü­nen Sten­gel, wel­cher das Blatt hielt, nag­ten mit den Zäh­nen den Stiel ab, und da schwamm das Blatt den Fluss hin­ab mit Däu­me­lin­chen da­von, weit weg, wo die Krö­te sie nicht er­rei­chen konn­te.

Däu­me­lin­chen se­gel­te vor vie­len Städ­ten vor­bei, und die klei­nen Vö­gel sa­ßen in den Bü­schen, sa­hen sie und san­gen: »Welch lieb­li­ches, klei­nes Mäd­chen!« Das Blatt schwamm mit ihr im­mer wei­ter und wei­ter fort; so reis­te Däu­me­lin­chen au­ßer Lan­des.

Ein nied­li­cher, wei­ßer Schmet­ter­ling um­flat­ter­te sie stets und ließ sich zu­letzt auf das Blatt nie­der, denn Däu­me­lin­chen ge­fiel ihm. Die­se war sehr er­freut; denn nun konn­te die Krö­te sie nicht er­rei­chen, und es war so schön, wo sie fuhr; die Son­ne schi­en auf das Was­ser, die­ses glänz­te wie das herr­lichs­te Gold. Sie nahm ih­ren Gür­tel, band das eine Ende um den Schmet­ter­ling, das an­de­re Ende des Ban­des be­fes­tig­te sie am Blat­te; das glitt nun viel schnel­ler da­von und sie mit, denn sie stand ja auf dem­sel­ben.

Da kam ein großer Mai­kä­fer an­ge­flo­gen, der er­blick­te sie und schlug au­gen­blick­lich sei­ne Klau­en um ih­ren schlan­ken Leib und flog mit ihr auf einen Baum; das grü­ne Blatt schwamm den Fluss hin­ab und der Schmet­ter­ling mit, denn er war an das Blatt ge­bun­den und konn­te nicht von dem­sel­ben los­kom­men.

Wie war das arme Däu­me­lin­chen er­schro­cken, als der Mai­kä­fer mit ihr auf den Baum flog! Aber haupt­säch­lich war sie des schö­nen, wei­ßen Schmet­ter­lings we­gen be­trübt, den sie an das Blatt fest­ge­bun­den hat­te; im Fall er sich nicht be­frei­en konn­te, muss­te er ja ver­hun­gern. Aber dar­um küm­mer­te sich der Mai­kä­fer gar nicht. Er setz­te sich mit ihr auf das größ­te, grü­ne Blatt des Bau­mes, gab ihr das Süße der Blu­men zu es­sen und sag­te, dass sie nied­lich sei, ob­gleich sie ei­nem Mai­kä­fer durch­aus nicht glei­che. Spä­ter ka­men alle die an­de­ren Mai­kä­fer, die im Bau­me wohn­ten, und be­such­ten sie; sie be­trach­te­ten Däu­me­lin­chen, und die Mai­kä­fer­fräu­lein rümpf­ten die Fühl­hör­ner und sag­ten: »Sie hat doch nicht mehr als zwei Bei­ne; das sieht er­bärm­lich aus.« – »Sie hat kei­ne Fühl­hör­ner!« sag­te eine an­de­re. »Sie ist so schlank in der Mit­te; pfui, sie sieht wie ein Mensch aus! Wie häss­lich sie ist!« sag­ten alle Mai­kä­fe­rin­nen, und doch war Däu­me­lin­chen so nied­lich. Das er­kann­te auch der Mai­kä­fer, der sie ge­raubt hat­te, aber als alle an­de­ren sag­ten, sie sei häss­lich, so glaub­te er es zu­letzt auch und woll­te sie gar nicht ha­ben; sie konn­te ge­hen, wo­hin sie woll­te. Sie flo­gen mit ihr den Baum hin­ab und setz­ten sie auf ein Gän­se­blüm­chen; da wein­te sie, weil sie so häss­lich sei, dass die Mai­kä­fer sie nicht ha­ben woll­ten, und doch war sie das Lieb­lichs­te, das man sich den­ken konn­te, so fein und klar wie das schöns­te Ro­sen­blatt.

Den gan­zen Som­mer über leb­te das arme Däu­me­lin­chen ganz al­lein in dem großen Wal­de. Sie flocht sich ein Bett aus Gras­hal­men und hing es un­ter ei­nem Klet­ten­blat­te auf, so war sie vor dem Re­gen ge­schützt; sie pflück­te das Süße der Blu­men zur Spei­se und trank vom Tau, der je­den Mor­gen auf den Blät­tern lag. So ver­ging Som­mer und Herbst. Aber nun kam der Win­ter, der kal­te, lan­ge Win­ter. Alle Vö­gel, die so schön vor ihr ge­sun­gen hat­ten, flo­gen da­von, Bäu­me und Blu­men ver­dorr­ten; das große Klet­ten­blatt, un­ter dem sie ge­wohnt hat­te, schrumpf­te zu­sam­men und es blieb nichts, als ein gel­ber, ver­welk­ter Sten­gel zu­rück; Däu­me­lin­chen fror er­schreck­lich, denn ihre Klei­der wa­ren ent­zwei und sie war selbst so fein und klein, sie muss­te er­frie­ren. Es fing an zu schnei­en, und jede Schnee­flo­cke, die auf sie fiel, war, als wenn man auf uns eine gan­ze Schau­fel voll wirft, denn wir sind groß, und sie war nur einen Zoll lang. Da hüll­te sie sich in ein ver­dorr­tes Blatt ein, aber das woll­te nicht wär­men; sie zit­ter­te vor Käl­te.

Dicht vor dem Wal­de, wo­hin sie nun ge­kom­men war, lag ein großes Korn­feld, aber das Korn war schon lan­ge ab­ge­schnit­ten, nur die nack­ten, tro­ckenen Stop­peln stan­den aus der ge­fro­re­nen Erde her­vor. Sie wa­ren ge­ra­de wie ein gan­zer Wald für sie zu durch­wan­dern und sie zit­ter­te vor Käl­te! Da ge­lang­te sie vor die Türe der Feld­maus, die ein klei­nes Loch un­ter den Korn­stop­peln hat­te. Da wohn­te die Feld­maus warm und gut, hat­te die gan­ze Stu­be voll Korn, eine herr­li­che Kü­che und Spei­se­kam­mer. Das arme Däu­me­lin­chen stell­te sich in die Türe, ge­ra­de wie je­des an­de­re arme Bet­tel­mäd­chen, und bat um ein klei­nes Stück von ei­nem Gers­ten­korn, denn sie hat­te in zwei Ta­gen nicht das Min­des­te zu es­sen ge­habt.

»Du klei­nes We­sen!« sag­te die Feld­maus, denn im Grun­de war es eine gute alte Feld­maus, »komm her­ein in mei­ne war­me Stu­be und iss mit mir!«

Da ihr nun Däu­me­lin­chen ge­fiel, sag­te sie: »Du kannst den Win­ter über bei mir blei­ben, aber Du musst mei­ne Stu­be sau­ber und rein hal­ten und mir Ge­schich­ten er­zäh­len, denn die lie­be ich sehr.« Däu­me­lin­chen tat, was die gute alte Feld­maus ver­lang­te, und hat­te es au­ßer­or­dent­lich gut.

»Nun wer­den wir bald Be­such er­hal­ten!« sag­te die Feld­maus. »Mein Nach­bar pflegt mich wö­chent­lich ein­mal zu be­su­chen. Er steht sich noch bes­ser als ich, hat große Säle und trägt einen schö­nen, schwar­zen Samt­pelz! Wenn Du den zum Man­ne be­kom­men könn­test, so wä­rest Du gut ver­sorgt; aber er kann nicht se­hen. Du musst ihm die nied­lichs­ten Ge­schich­ten er­zäh­len, die Du weißt!«

Aber dar­um küm­mer­te sich Däu­me­lin­chen nicht, sie moch­te den Nach­bar gar nicht ha­ben, denn er war ein Maul­wurf.

Er kam und stat­te­te den Be­such in sei­nem schwar­zen Samt­pelz ab. Er sei reich und ge­lehrt, sag­te die Feld­maus; sei­ne Woh­nung war auch zwan­zig­mal grö­ßer, als die der Feld­maus. Ge­lehr­sam­keit be­saß er, aber die Son­ne und die schö­nen Blu­men moch­te er gar nicht lei­den, von die­sen sprach er schlecht, denn er hat­te sie noch nie ge­se­hen.

Däu­me­lin­chen muss­te sin­gen, und sie sang: »Mai­kä­fer flie­ge!« und: »Geht der Pfaf­fe auf das Feld.« Da wur­de der Maul­wurf in sie, der schö­nen Stim­me we­gen, ver­liebt, aber er sag­te nichts, er war ein be­son­ne­ner Mann.

Er hat­te sich vor kur­z­em einen lan­gen Gang durch die Erde von sei­nem bis zu ih­rem Hau­se ge­gra­ben; in die­sem er­hiel­ten die Feld­maus und Däu­me­lin­chen die Er­laub­nis, zu spa­zie­ren, so­viel sie woll­ten. Aber er bat sie, sich nicht vor dem to­ten Vo­gel zu fürch­ten, der in dem Gan­ge lie­ge; es war ein gan­zer Vo­gel mit Fe­dern und Schna­bel, der si­cher erst kürz­lich ge­stor­ben und nun be­gra­ben war, ge­ra­de da wo er sei­nen Gang ge­macht hat­te.

Der Maul­wurf nahm nun ein Stück fau­les Holz ins Maul, denn das schim­mert ja wie Feu­er im Dun­keln, ging dann vor­an und leuch­te­te ih­nen in dem lan­gen, dun­keln Gan­ge. Als sie da­hin ka­men, wo der tote Vo­gel lag, stemm­te der Maul­wurf sei­ne brei­te Nase ge­gen die De­cke und stieß die Erde auf, so­dass ein großes Loch wur­de, durch wel­ches das Licht hin­un­ter schei­nen konn­te. Mit­ten auf dem Fuß­bo­den lag eine tote Schwal­be, die schö­nen Flü­gel fest an die Sei­te ge­drückt, die Füße und den Kopf un­ter die Fe­dern ge­zo­gen; der arme Vo­gel war si­cher vor Käl­te ge­stor­ben. Das tat Däu­me­lin­chen leid, sie hielt viel von al­len klei­nen Vö­geln, sie hat­ten ja den gan­zen Som­mer so schön vor ihr ge­sun­gen und ge­zwit­schert; aber der Maul­wurf stieß ihn mit sei­nen kur­z­en Bei­nen und sag­te: »Nun pfeift er nicht mehr! Es muss doch er­bärm­lich sein, als klei­ner Vo­gel ge­bo­ren zu wer­den! Gott sei Dank, dass keins von mei­nen Kin­dern das wird; ein sol­cher Vo­gel hat ja au­ßer sei­nem Qui­vit nichts, und muss im Win­ter ver­hun­gern!«

»Ja, das mögt Ihr als ver­nünf­ti­ger Mann wohl sa­gen«, er­wi­der­te die Feld­maus. »Was hat der Vo­gel für all’ sein Qui­vit, wenn der Win­ter kommt? Er muss hun­gern und frie­ren; doch das soll wohl vor­nehm sein!«

Däu­me­lin­chen sag­te gar nichts; aber als die bei­den an­de­ren dem Vo­gel den Rücken wand­ten, neig­te sie sich her­ab, schob die Fe­dern bei­sei­te, wel­che den Kopf be­deck­ten, und küss­te ihn auf die ge­schlos­se­nen Au­gen.

»Vi­el­leicht war er es, der so hübsch vor mir im Som­mer sang«, dach­te sie. »Wie viel Freu­de hat er mir nicht ge­macht, der lie­be, schö­ne Vo­gel!«

Der Maul­wurf stopf­te nun das Loch zu, durch wel­ches der Tag her­ein­schi­en, und be­glei­te­te dann die Da­men nach Hau­se. Aber nachts konn­te Däu­me­lin­chen gar nicht schla­fen; da stand sie von ih­rem Bet­te auf und flocht von Heu einen großen, schö­nen Tep­pich, den trug sie zu dem Vo­gel, brei­te­te ihn über den­sel­ben und leg­te wei­che Baum­wol­le, wel­che sie in der Stu­be der Feld­maus ge­fun­den hat­te, an die Sei­ten des Vo­gels, da­mit er in der kal­ten Erde warm lie­gen möge.

»Lebe wohl, Du schö­ner, klei­ner Vo­gel!« sag­te sie. »Lebe wohl und habe Dank für Dei­nen herr­li­chen Ge­sang im Som­mer, als alle Bäu­me grün wa­ren und die Son­ne warm auf uns her­ab­schi­en!« Dann leg­te sie ihr Haupt an des Vo­gels Brust, er­schreck­te aber zu­gleich, denn es war ge­ra­de, als ob drin­nen et­was klopf­te. Das war des Vo­gels Herz. Der Vo­gel war nicht tot, er lag nur be­täubt da und war nun er­wärmt wor­den und be­kam wie­der Le­ben.

Im Herbst flie­gen alle Schwal­ben nach den war­men Län­dern fort; aber ist da eine, die sich ver­spä­tet, so friert sie so, dass sie wie tot nie­der­fällt, lie­gen bleibt, wo sie hin­fällt, und der kal­te Schnee sie be­deckt.

Däu­me­lin­chen zit­ter­te hef­tig, so war sie er­schro­cken, denn der Vo­gel war ja groß, sehr groß ge­gen sie, die nur einen Zoll lang war; aber sie fass­te doch Mut, leg­te die Baum­wol­le dich­ter um die arme Schwal­be, und hol­te ein Krau­se­münz­blatt, wel­ches sie selbst zum Deck­blatt ge­habt hat­te, und leg­te es über den Kopf des Vo­gels.

In der nächs­ten Nacht schlich sie sich wie­der zu ihm, und da war er nun le­ben­dig, aber ganz matt, er konn­te nur einen Au­gen­blick sei­ne Au­gen öff­nen und Däu­me­lin­chen an­se­hen, die mit ei­nem Stück fau­len Hol­zes in der Hand, denn eine an­de­re La­ter­ne hat­te sie nicht, vor ihm stand.

»Ich dan­ke Dir, Du nied­li­ches, klei­nes Kind!« sag­te die kran­ke Schwal­be zu ihr. »Ich bin herr­lich er­wärmt wor­den; bald er­hal­te ich mei­ne Kräf­te zu­rück und kann dann wie­der drau­ßen in dem war­men Son­nen­schein her­um­flie­gen!«

»O«, sag­te Däu­me­lin­chen, »es ist kalt drau­ßen, es schneit und friert! Bleib in Dei­nem war­men Bet­te, ich wer­de Dich schon pfle­gen!«

Dann brach­te sie der Schwal­be Was­ser in ei­nem Blu­men­blatt, und die­se trank und er­zähl­te ihr, wie sie ih­ren einen Flü­gel an ei­nem Dorn­busch ge­ris­sen und des­halb nicht so schnell habe flie­gen kön­nen, als die an­de­ren Schwal­ben, wel­che fort­ge­flo­gen sei­en, weit fort nach den war­men Län­dern. So sei sie zu­letzt zur Erde ge­fal­len. Mehr wuss­te sie nicht, und auch nicht, wie sie hier­her ge­kom­men war.

Den gan­zen Win­ter blieb sie nun da un­ten, Däu­me­lin­chen pfleg­te sie und hat­te sie lieb, we­der der Maul­wurf noch die Feld­maus er­fuhr et­was da­von, denn sie moch­ten die arme Schwal­be nicht lei­den.

So­bald das Früh­jahr kam und die Son­ne die Erde er­wärm­te, sag­te die Schwal­be Däu­me­lin­chen Le­be­wohl, die das Loch öff­ne­te, wel­ches der Maul­wurf oben ge­macht hat­te. Die Son­ne schi­en herr­lich zu ih­nen her­ein und die Schwal­be frag­te, ob sie mit­kom­men wol­le, sie könn­te auf ih­rem Rücken sit­zen, sie woll­ten weit in den grü­nen Wald hin­ein­flie­gen. Aber Däu­me­lin­chen wuss­te, dass es die alte Feld­maus be­trü­ben wür­de, wenn sie sie ver­lie­ße.

»Nein, ich kann nicht!« sag­te Däu­me­lin­chen.

»Lebe wohl, lebe wohl, Du gu­tes, nied­li­ches Mäd­chen!« sag­te die Schwal­be und flog hin­aus in den Son­nen­schein. Däu­me­lin­chen sah ihr nach und das Was­ser trat ihr in die Au­gen, denn sie war der ar­men Schwal­be von Her­zen gut.

»Qui­vit, qui­vit!« sang der Vo­gel und flog in den grü­nen Wald. Däu­me­lin­chen war recht be­trübt. Sie er­hielt gar kei­ne Er­laub­nis, in den war­men Son­nen­schein hin­aus­zu­ge­hen. Das Korn, wel­ches auf dem Fel­de, über dem Hau­se der Feld­maus ge­sät war, wuchs auch hoch in die Luft em­por; das war ein ganz dich­ter Wald für das arme, klei­ne Mäd­chen, das nur einen Zoll lang war.

»Nun sollst Du im Som­mer Dei­ne Aus­s­teu­er nä­hen!« sag­te die Feld­maus zu ihr; denn der Nach­bar, der lang­wei­li­ge Maul­wurf in dem schwar­zen Samt­pel­ze, hat­te um sie ge­freit. »Du musst so­wohl Wol­len-wie Lei­nen­zeug ha­ben, denn es darf Dir an nichts feh­len, wenn Du des Maul­wurfs Frau wirst!«

Däu­me­lin­chen muss­te auf der Spin­del spin­nen, und die Feld­maus mie­te­te vier Spin­nen, wel­che Tag und Nacht für sie span­nen und web­ten. Je­den Abend be­such­te sie der Maul­wurf und sprach dann im­mer da­von, dass, wenn der Som­mer zu Ende gehe, die Son­ne lan­ge nicht so warm schei­nen wer­de, sie bren­ne ja jetzt die Erde fest wie einen Stein; ja, wenn der Som­mer vor­bei sei, dann wol­le er mit Däu­me­lin­chen Hoch­zeit hal­ten. Aber sie war gar nicht er­freut dar­über, denn sie moch­te den lang­wei­li­gen Maul­wurf nicht lei­den. Je­den Mor­gen, wenn die Son­ne auf­ging, und je­den Abend, wenn sie un­ter­ging, stahl sie sich zur Tür hin­aus, und wenn dann der Wind die Kornäh­ren trenn­te, so­dass sie den blau­en Him­mel er­bli­cken konn­te, dach­te sie dar­an, wie hell und schön es hier drau­ßen sei, und wünsch­te sehn­lichst, die lie­be Schwal­be wie­der­zu­se­hen; aber die kam nicht wie­der; sie war ge­wiss weit weg in den schö­nen grü­nen Wald ge­zo­gen.

Als es nun Herbst wur­de, hat­te Däu­me­lin­chen ihre gan­ze Aus­s­teu­er fer­tig.

»In vier Wo­chen sollst Du Hoch­zeit hal­ten!« sag­te die Feld­maus. Aber Däu­me­lin­chen wein­te und sag­te, sie wol­le den lang­wei­li­gen Maul­wurf nicht ha­ben.

»Sch­nick­schnack!« sag­te die Feld­maus. »Wer­de nicht wi­der­spens­tig, denn sonst wer­de ich Dich mit mei­nen wei­ßen Zäh­nen bei­ßen! Es ist ja ein schö­ner Mann, den Du be­kommst! Die Kö­ni­gin selbst hat kei­nen sol­chen schwar­zen Samt­pelz! Er hat Kü­che und Kel­ler voll. Dan­ke Du Gott für ihn!«

Nun soll­ten sie Hoch­zeit ha­ben. Der Maul­wurf war schon ge­kom­men, Däu­me­lin­chen zu ho­len; sie soll­te bei ihm woh­nen, tief un­ter der Erde, nie an die war­me Son­ne her­aus­kom­men, denn die moch­te er nicht lei­den. Das arme Kind war sehr be­trübt; sie soll­te nun der schö­nen Son­ne Le­be­wohl sa­gen, die sie doch bei der Feld­maus hat­te von der Tür aus se­hen dür­fen.

»Lebe wohl, Du hel­le Son­ne!« sag­te sie, streck­te die Arme hoch em­por und ging auch eine klei­ne Stre­cke wei­ter vor dem Hau­se der Feld­maus; denn nun war das Korn ge­ern­tet, und hier stan­den nur die tro­ckenen Stop­peln. »Lebe wohl, lebe wohl!« sag­te sie und schlang ihre Arme um eine klei­ne rote Blu­me, die da stand. »Grü­ße die klei­ne Schwal­be von mir, wenn Du sie zu se­hen be­kommst!«

»Qui­vit, qui­vit!« er­tön­te es plötz­lich über ih­rem Kop­fe, sie sah em­por, es war die klei­ne Schwal­be, die ge­ra­de vor­bei kam. So­bald sie Däu­me­lin­chen er­blick­te, wur­de sie sehr er­freut; die­se er­zähl­te ihr, wie un­gern sie den häss­li­chen Maul­wurf zum Man­ne ha­ben wol­le, und dass sie dann tief un­ter der Erde woh­nen sol­le, wo nie die Son­ne schei­ne. Sie konn­te sich nicht ent­hal­ten, da­bei zu wei­nen.

»Nun kommt der kal­te Win­ter«, sag­te die klei­ne Schwal­be; »ich flie­ge weit fort nach den war­men Län­dern, willst Du mit mir kom­men? Du kannst auf mei­nem Rücken sit­zen! Bin­de Dich nur mit Dei­nem Gür­tel fest, dann flie­gen wir von dem häss­li­chen Maul­wurf und sei­ner dun­keln Stu­be fort, weit über die Ber­ge, nach den war­men Län­dern, wo die Son­ne schö­ner scheint als hier, wo es im­mer Som­mer ist und herr­li­che Blu­men gibt. Flie­ge nur mit mir, Du lie­bes, klei­nes Däu­me­lin­chen, die mein Le­ben ge­ret­tet hat, als ich wie tot in dem dun­keln Erd­kel­ler lag!«

»Ja, ich wer­de mit Dir kom­men!« sag­te Däu­me­lin­chen und setz­te sich auf des Vo­gels Rücken, mit den Fü­ßen auf sei­ne ent­fal­te­ten Schwin­gen, band ih­ren Gür­tel an ei­ner der stärks­ten Fe­dern fest, und da flog die Schwal­be hoch in die Luft hin­auf, über Wald und über See, hoch hin­auf über die großen Ber­ge, wo im­mer Schnee liegt; Däu­me­lin­chen fror in der kal­ten Luft, aber dann ver­kroch sie sich un­ter des Vo­gels war­men Fe­dern und streck­te nur den klei­nen Kopf her­vor, um all’ die Schön­hei­ten un­ter sich zu be­wun­dern.

Da ka­men sie denn nach den war­men Län­dern. Dort schi­en die Son­ne weit kla­rer als hier, der Him­mel war zwei­mal so hoch, und an Grä­ben und He­cken wuch­sen die schöns­ten, grü­nen und blau­en Wein­trau­ben. In den Wäl­dern hin­gen Zitro­nen und Ap­fel­si­nen, hier duf­te­te es von Myr­ten und Krau­se­mün­ze, auf den Land­stra­ßen lie­fen die nied­lichs­ten Kin­der und spiel­ten mit großen, bun­ten Schmet­ter­lin­gen. Aber die Schwal­be flog noch wei­ter fort, und es wur­de schö­ner und schö­ner. Un­ter den herr­lichs­ten grü­nen Bäu­men an dem blau­en See stand ein blen­dend wei­ßes Mar­mor­schloss aus noch al­ten Zei­ten. Weinre­ben rank­ten sich um die ho­hen Säu­len em­por; ganz oben wa­ren vie­le Schwal­ben­nes­ter, und in ei­nem der­sel­ben wohn­te die Schwal­be, wel­che Däu­me­lin­chen trug.

»Hier ist mein Haus!« sag­te die Schwal­be. »Aber willst Du Dir nun selbst eine der präch­tigs­ten Blu­men, die da un­ten wach­sen, aus­su­chen, dann will ich Dich hin­ein­set­zen und Du sollst es so gut ha­ben, wie Du es nur wün­schest!«

»Das ist herr­lich!« sag­te Däu­me­lin­chen und klatsch­te in die klei­nen Hän­de.

Da lag eine große, wei­ße Mar­mor­säu­le, wel­che zu Bo­den ge­fal­len und in drei Stücke ge­sprun­gen war, aber zwi­schen die­sen wuch­sen die schöns­ten, großen, wei­ßen Blu­men. Die Schwal­be flog mit Däu­me­lin­chen hin­un­ter und setz­te sie auf eins der brei­ten Blät­ter. Aber wie er­staun­te die­se! Da saß ein klei­ner Mann mit­ten in der Blu­me, so weiß und durch­sich­tig, als wäre er von Glas; die nied­lichs­te Gold­kro­ne trug er auf dem Kop­fe und die herr­lichs­ten, kla­ren Flü­gel an den Schul­tern, er selbst war nicht grö­ßer als Däu­me­lin­chen. Es war der Blu­me En­gel. In je­der Blu­me wohn­te so ein klei­ner Mann oder eine Frau, aber die­ser war der Kö­nig über alle.

»Gott, wie ist er schön!« flüs­ter­te Däu­me­lin­chen der Schwal­be zu. Der klei­ne Prinz er­schrak sehr über die Schwal­be, denn sie war ge­gen ihn, der so klein und fein war, ein Rie­sen­vo­gel; aber als er Däu­me­lin­chen er­blick­te, wur­de er hoch­er­freut; sie war das schöns­te Mäd­chen, das er je ge­se­hen hat­te. Des­we­gen nahm er sei­ne Gold­kro­ne vom Haup­te und setz­te sie ihr auf, frag­te, wie sie hei­ße und ob sie sei­ne Frau wer­den wol­le, dann sol­le sie Kö­ni­gin über alle Blu­men wer­den! Ja, das war wahr­lich ein an­de­rer Mann als der Sohn der Krö­te und der Maul­wurf mit dem schwar­zen Samt­pel­ze. Sie sag­te des­halb ja zu dem herr­li­chen Prin­zen, und von je­der Blu­me kam eine Dame oder ein Herr, so nied­lich, dass es eine Lust war; je­der brach­te Däu­me­lin­chen ein Ge­schenk, aber das bes­te von al­len wa­ren ein Paar schö­ne Flü­gel von ei­ner großen, wei­ßen Flie­ge; sie wur­den Däu­me­lin­chen am Rücken be­fes­tigt, und nun konn­te sie auch von Blu­me zu Blu­me flie­gen. Da gab es vie­le Freu­de, und die Schwal­be saß oben in ih­rem Nes­te und sang ih­nen vor, so gut sie konn­te; aber im Her­zen war sie doch be­trübt, denn sie war Däu­me­lin­chen gut und hät­te sich nie von ihr tren­nen mö­gen.

»Du sollst nicht Däu­me­lin­chen hei­ßen!« sag­te der Blu­me­nen­gel zu ihr. »Das ist ein häss­li­cher Name und Du bist schön. Wir wol­len Dich Maja nen­nen.«

»Lebe wohl, lebe wohl!« sag­te die klei­ne Schwal­be und flog wie­der fort von den war­men Län­dern, weit weg nach Deutsch­land zu­rück; dort hat­te sie ein klei­nes Nest über dem Fens­ter, wo der Mann wohnt, der Mär­chen er­zäh­len kann, vor ihm sang sie »Qui­vit, qui­vit!«

Da­her wis­sen wir die gan­ze Ge­schich­te.

Der standhafte Zinnsoldat

Es wa­ren ein­mal fünf­und­zwan­zig Zinn­sol­da­ten, die wa­ren alle Brü­der, denn sie wa­ren aus ei­nem al­ten zin­ner­nen Löf­fel ge­macht wor­den. Das Ge­wehr hiel­ten sie im Arm und das Ge­sicht ge­ra­de aus; rot und blau, über­aus herr­lich war die Uni­form; das Al­ler­ers­te, was sie in die­ser Welt hör­ten, als der De­ckel von der Schach­tel ge­nom­men wur­de, in der sie la­gen, war das Wort »Zinn­sol­da­ten!« Das rief ein klei­ner Kna­be und klatsch­te in die Hän­de; er hat­te sie er­hal­ten, denn es war sein Ge­burts­tag, und er stell­te sie nun auf dem Ti­sche auf. Der eine Sol­dat glich dem an­de­ren leib­haft, nur ein ein­zi­ger war et­was ver­schie­den; er hat­te nur ein Bein, denn er war zu­letzt ge­gos­sen wor­den, und da war nicht mehr Zinn ge­nug da: doch stand er eben so fest auf sei­nem einen Bein als die an­de­ren auf ih­ren zwei­en, und ge­ra­de er ist es, der sich be­merk­bar mach­te.

Auf dem Tisch, auf wel­chem sie auf­ge­stellt wur­den, stand vie­les an­de­re Spiel­zeug, aber das, was am meis­ten in die Au­gen fiel, war ein nied­li­ches Schloss von Pa­pier. Durch die klei­nen Fens­ter konn­te man ge­ra­de in die Säle hin­ein­se­hen. Drau­ßen vor dem­sel­ben stan­den klei­ne Bäu­me rings um einen klei­nen Spie­gel, der wie ein klei­ner See aus­se­hen soll­te. Schwä­ne von Wachs schwam­men dar­auf und spie­gel­ten sich. Das war al­les nied­lich, aber das Nied­lichs­te war doch ein klei­nes Mäd­chen, das mit­ten in der of­fe­nen Schloss­tür stand; sie war auch aus Pa­pier aus­ge­schnit­ten, aber sie hat­te ein schö­nes Kleid und ein klei­nes, schma­les, blau­es Band über den Schul­tern, ge­ra­de wie eine Schär­pe; mit­ten in die­ser saß ein glän­zen­der Stern, ge­ra­de so groß wie ihr gan­zes Ge­sicht. Das klei­ne Mäd­chen streck­te ihre bei­den Arme aus, denn sie war eine Tän­ze­rin, und dann hob sie das eine Bein so hoch em­por, dass der Zinn­sol­dat es durch­aus nicht fin­den konn­te und glaub­te, dass sie ge­ra­de wie er nur ein Bein habe.

»Das wäre eine Frau für mich«, dach­te er; »aber sie ist et­was vor­nehm, sie wohnt in ei­nem Schlos­se, ich habe nur eine Schach­tel und da sind wir fünf­und­zwan­zig dar­in, das ist kein Ort für sie; doch ich muss su­chen, Be­kannt­schaft mit ihr an­zu­knüp­fen!« Und dann leg­te er sich, so lang er war, hin­ter eine Schnupf­ta­baks­do­se, wel­che auf dem Ti­sche stand; da konn­te er recht die klei­ne, fei­ne Dame be­trach­ten, die fort­fuhr auf ei­nem Bein zu ste­hen, ohne um­zu­fal­len.

Als es Abend wur­de, ka­men alle die an­de­ren Zinn­sol­da­ten in ihre Schach­tel und die Leu­te im Hau­se gin­gen zu Bet­te. Nun fing das Spiel­zeug an zu spie­len, so­wohl »Es kom­men Frem­de!« als auch »Krieg füh­ren« und »Ball ge­ben«; die Zinn­sol­da­ten ras­sel­ten in der Schach­tel, denn sie woll­ten mit da­bei sein, aber sie konn­ten den De­ckel nicht auf­he­ben. Der Nuss­knacker schoss Pur­zel­bäu­me, und der Grif­fel be­lus­tig­te sich auf der Ta­fel; es war ein Lärm, dass der Ka­na­ri­en­vo­gel da­von er­wach­te und an­fing mit­zu­spre­chen, und zwar in Ver­sen. Die bei­den ein­zi­gen, die sich nicht von der Stel­le be­weg­ten, wa­ren der Zinn­sol­dat und die Tän­ze­rin; sie hielt sich ge­ra­de auf der Ze­hen­spit­ze und bei­de Arme aus­ge­streckt; er war eben so stand­haft auf sei­nem einen Bei­ne; sei­ne Au­gen wand­te er kei­nen Au­gen­blick von ihr weg.

Nun schlug die Uhr zwölf, und klatsch!, da sprang der De­ckel von der Schnupf­ta­baks­do­se, aber da war kein Ta­bak dar­in, nein, son­dern ein klei­ner schwar­zer Ko­bold. Das war ein Kunst­stück.

»Zinn­sol­dat«, sag­te der Ko­bold, »hal­te Dei­ne Au­gen im Zaum!«

Aber der Zinn­sol­dat tat, als ob er es nicht hör­te.

»Ja, war­te nur bis mor­gen!« sag­te der Ko­bold.

Als es nun Mor­gen wur­de und die Kin­der auf­stan­den, wur­de der Zinn­sol­dat in das Fens­ter ge­stellt, und war es nun der Ko­bold oder der Zug­wind, auf ein­mal flog das Fens­ter zu und der Sol­dat stürz­te drei Stock­wer­ke hoch hin­un­ter. Das war eine er­schreck­li­che Fahrt. Er streck­te das Bein ge­ra­de in die Höhe und blieb auf der Helm­spit­ze mit dem Ba­jon­net ab­wärts zwi­schen den Pflas­ter­stei­nen ste­cken.

Das Dienst­mäd­chen und der klei­ne Kna­be ka­men so­gleich hin­un­ter, um zu su­chen; aber, ob­gleich sie nahe dar­an wa­ren, auf ihn zu tre­ten, so konn­ten sie ihn doch nicht er­bli­cken. Hät­te der Zinn­sol­dat ge­ru­fen: »Hier bin ich!« so hät­ten sie ihn wohl ge­fun­den, aber er fand es nicht pas­send, laut zu schrei­en, weil er in Uni­form war.

Nun fing es an zu reg­nen; die Trop­fen fie­len im­mer dich­ter, es ward ein or­dent­li­cher Platz­re­gen; als der­sel­be zu Ende war, ka­men zwei Stra­ßen­jun­gen vor­bei.

»Sieh Du!« sag­te der eine, »da liegt ein Zinn­sol­dat! Der soll hin­aus und se­geln!«

Sie mach­ten ein Boot von ei­ner Zei­tung, setz­ten den Sol­dat mit­ten in das­sel­be, und nun se­gel­te er den Rinn­stein hin­un­ter; bei­de Kna­ben lie­fen ne­ben­her und klatsch­ten in die Hän­de. Was schlu­gen da für Wel­len in dem Rinn­stein und wel­cher Strom war da! Ja, der Re­gen hat­te aber auch ge­strömt. Das Pa­pier­boot schau­kel­te auf und nie­der, mit­un­ter dreh­te es sich so ge­schwind, dass der Zinn­sol­dat beb­te; aber er blieb stand­haft, ver­zog kei­ne Mie­ne, sah ge­ra­de aus und hielt das Ge­wehr im Arm.

Mit ei­nem Male trieb das Boot un­ter eine lan­ge Rinn­stein­brücke; da wur­de es ge­ra­de so dun­kel, als wäre er in sei­ner Schach­tel.

»Wo­hin mag ich nun kom­men?« dach­te er. »Ja, ja, das ist des Ko­bolds Schuld! Ach säße doch das klei­ne Mäd­chen hier im Boo­te, da möch­te es mei­net­we­gen noch ein­mal so dun­kel sein!«

Da kam plötz­lich eine große Was­ser­rat­te, wel­che un­ter der Rinn­stein­brücke wohn­te.

»Hast Du einen Pass?« frag­te die Rat­te. »Her mit dem Pas­se!«

Aber der Zinn­sol­dat schwieg still und hielt das Ge­wehr noch fes­ter.

Das Boot fuhr da­von und die Rat­te hin­ter­her. Hu! Wie fletsch­te sie die Zäh­ne und rief den Holz­spä­nen und dem Stroh zu:

»Halt auf! Halt auf! Er hat kei­nen Zoll be­zahlt; er hat den Pass nicht ge­zeigt!«

Aber die Strö­mung wur­de stär­ker und stär­ker! Der Zinn­sol­dat konn­te schon da, wo das Brett auf­hör­te, den hel­len Tag er­bli­cken, aber er hör­te auch einen brau­sen­den Ton, der wohl einen tap­fe­ren Mann er­schre­cken konn­te; denkt nur, der Rinn­stein stürz­te, wo die Brücke en­de­te, ge­ra­de hin­aus in einen großen Kanal; das wür­de für ihn eben so ge­fähr­lich ge­we­sen sein, als für uns, einen großen Was­ser­fall hin­un­ter­zu­fah­ren.

Nun war er schon so nahe da­bei, dass er nicht mehr an­hal­ten konn­te. Das Boot fuhr hin­aus, der arme Zinn­sol­dat hielt sich so steif er konn­te, nie­mand soll­te ihm nach­sa­gen, dass er mit den Au­gen blin­ke. Das Boot schnurr­te drei-, vier­mal her­um und war bis zum Ran­de mit Was­ser ge­füllt, es muss­te sin­ken. Der Zinn­sol­dat stand bis zum Hal­se im Was­ser, und tiefer und tiefer sank das Boot, mehr und mehr lös­te das Pa­pier sich auf; nun ging das Was­ser über des Sol­da­ten Kopf. Da dach­te er an die klei­ne, nied­li­che Tän­ze­rin, die er nie mehr zu Ge­sicht be­kom­men soll­te, und es klang vor des Zinn­sol­da­ten Ohren:


»Fah­re, fah­re Kriegs­mann!
Den Tod musst Du er­lei­den!«

Nun ging das Pa­pier ent­zwei und der Zinn­sol­dat stürz­te hin­durch, wur­de aber au­gen­blick­lich von ei­nem großen Fisch ver­schlun­gen.

Wie war es dun­kel da drin­nen! Da war es noch schlim­mer als un­ter der Rinn­stein­brücke, und dann war es so sehr eng; aber der Zinn­sol­dat war stand­haft und lag so lang er war, mit dem Ge­weh­re im Arm.

Der Fisch fuhr um­her, er mach­te die al­ler­schreck­lichs­ten Be­we­gun­gen; end­lich wur­de er ganz still, es fuhr wie ein Blitz­strahl durch ihn hin. Das Licht schi­en ganz klar und je­mand rief laut: »Der Zinn­sol­dat!« Der Fisch war ge­fan­gen wor­den, auf den Markt ge­bracht, ver­kauft und war in die Kü­che hin­auf­ge­kom­men, wo die Kö­chin ihn mit ei­nem großen Mes­ser auf­schnitt. Sie nahm mit zwei Fin­gern den Sol­dat mit­ten um den Leib und trug ihn in die Stu­be hin­ein, wo alle den merk­wür­di­gen Mann se­hen woll­ten, der im Ma­gen ei­nes Fi­sches her­um­ge­reist war; aber der Zinn­sol­dat war gar nicht stolz. Sie stell­ten ihn auf den Tisch und da – wie son­der­bar kann es doch in der Welt zu­ge­hen! Der Zinn­sol­dat war in der­sel­ben Stu­be, in der er frü­her ge­we­sen war, er sah die­sel­ben Kin­der und das­sel­be Spiel­zeug stand auf dem Ti­sche, das herr­li­che Schloss mit der nied­li­chen, klei­nen Tän­ze­rin; sie hielt sich noch auf dem einen Bein und hat­te das an­de­re hoch in der Luft, sie war auch stand­haft; das rühr­te den Zinn­sol­dat, er war nahe dar­an, Zinn zu wei­nen, aber es schick­te sich nicht. Er sah sie an, aber sie sag­ten gar nichts.

Da nahm der eine der klei­nen Kna­ben den Sol­da­ten und warf ihn ge­ra­de in den Ofen, ob­wohl er gar kei­nen Grund da­für hat­te; es war si­cher der Ko­bold in der Dose, der schuld dar­an war.

Der Zinn­sol­dat stand ganz be­leuch­tet da und fühl­te eine Hit­ze, die er­schreck­lich war; aber ob sie von dem wirk­li­chen Feu­er oder von der Lie­be her­rühr­te, das wuss­te er nicht. Die Far­ben wa­ren ganz von ihm ab­ge­gan­gen; ob das auf der Rei­se ge­sche­hen oder ob der Kum­mer dar­an schuld war, konn­te nie­mand sa­gen. Er sah das klei­ne Mäd­chen an, sie blick­te ihn an, und er fühl­te, dass er schmel­ze, aber noch stand er stand­haft mit dem Ge­weh­re im Arm. Da ging eine Tür auf, der Wind er­griff die Tän­ze­rin und sie flog, ei­ner Syl­phi­de gleich, ge­ra­de in den Ofen zum Zinn­sol­da­ten, lo­der­te in Flam­men auf und war ver­schwun­den, da schmolz der Zinn­sol­dat zu ei­nem Klum­pen, und als das Mäd­chen am fol­gen­den Tage die Asche her­aus­nahm, fand sie ihn als ein klei­nes Zinn­herz; von der Tän­ze­rin hin­ge­gen war nur der Stern noch da, und der war kohl­schwarz ge­brannt.

Das alte Haus

Da stand in ei­ner Ne­ben­stra­ße ein al­tes, al­tes Haus, wel­ches fast drei­hun­dert Jah­re alt war; denn das konn­te man an dem Bal­ken le­sen, wo die Jah­res­zahl zu­gleich mit Tul­pen und Hop­fen­ran­ken aus­ge­schnit­ten war. Da stan­den gan­ze Ver­se in der Schreibart der al­ten Zeit, und über je­dem Fens­ter war im Bal­kon ein bis zur Frat­ze ver­zo­ge­nes Ge­sicht aus­ge­schnitzt. Das eine Stock­werk reich­te weit über das an­de­re her­vor, und un­ter dem Da­che war eine blei­er­ne Rin­ne mit ei­nem Dra­chen­kopf an­ge­bracht; das Re­gen­was­ser soll­te aus dem Ra­chen her­aus­lau­fen, aber es lief aus dem Bauch, denn es war ein Loch in der Rin­ne.

Alle die an­de­ren Häu­ser in der Stra­ße wa­ren neu und hübsch, mit großen Fens­ter­schei­ben und glat­ten Wän­den; man konn­te wohl se­hen, dass sie mit dem al­ten Hau­se nichts zu tun ha­ben woll­ten, sie dach­ten wohl: »Wie lan­ge soll die­ses alte Ge­rüm­pel hier noch zum all­ge­mei­nen Är­ger­nis in der Stra­ße ste­hen! Auch springt der Er­ker so weit her­vor, dass nie­mand aus un­sern Fens­tern se­hen kann, was auf je­ner Sei­te vor­geht! Die Trep­pe ist so breit, wie zu ei­nem Schlos­se und so hoch, wie zu ei­nem Kirch­turm. Das ei­ser­ne Ge­län­der sieht aus wie die Tür zu ei­nem Erb­be­gräb­nis­se, und dann hat es mes­sin­ge­ne Knöp­fe. Es ist recht ab­ge­schmackt!«

Gera­de ge­gen­über in der Stra­ße stan­den auch neue Häu­ser, sie dach­ten wie die an­de­ren, aber am Fens­ter saß hier ein klei­ner Kna­be mit fri­schen, ro­ten Wan­gen, mit hel­len, strah­len­den Au­gen; ihm ge­fiel das alte Haus noch am meis­ten, und das so­wohl im Son­nen­schein wie im Mon­den­schein. Und sah er hin­über nach der Mau­er, wo der Kalk ab­ge­fal­len war, dann konn­te er sit­zen und die son­der­bars­ten Bil­der her­aus­fin­den, ge­ra­de wie die Stra­ße frü­her aus­ge­se­hen ha­ben moch­te, mit Trep­pen, Er­kern und spit­zen Gie­beln, er konn­te Sol­da­ten mit Hel­le­bar­den se­hen, und Dach­rin­nen, die wie Dra­chen und Lind­wür­me her­um­lie­fen. Das war so recht ein Haus zum An­schau­en; und da drü­ben wohn­te ein al­ter Mann, der trug Knie­ho­sen, hat­te einen Rock mit großen, mes­sin­ge­nen Knöp­fen und eine Perücke, der man es an­se­hen konn­te, dass es eine wirk­li­che Perücke war. Je­den Mor­gen kam ein al­ter Auf­wär­ter zu ihm, wel­cher rein mach­te und Gän­ge be­sorg­te, sonst war der alte Mann in den Knie­ho­sen ganz al­lein in dem al­ten Hau­se. Manch­mal kam er an das Fens­ter und sah hin­aus, und der klei­ne Kna­be nick­te ihm zu, und der alte Mann nick­te wie­der, so wur­den sie mit­ein­an­der be­kannt und wa­ren Freun­de, ob­gleich sie nie mit­ein­an­der ge­spro­chen hat­ten, aber das war auch gar nicht nö­tig.

Der klei­ne Kna­be hör­te sei­ne El­tern sa­gen: »Der alte Mann da drü­ben hat es recht gut, aber er lebt er­schreck­lich ein­sam!«

Am nächs­ten Sonn­tag nahm der klei­ne Kna­be et­was und wi­ckel­te es in ein Stück Pa­pier, ging vor die Haus­tür und als der, wel­cher die Gän­ge be­sorg­te, vor­bei­kam, sag­te er zu ihm: »Höre, willst Du dem al­ten Man­ne da drü­ben die­ses von mir brin­gen? Ich habe zwei Zinn­sol­da­ten, dies ist der eine, er soll ihn ha­ben; denn ich weiß, er ist schreck­lich ein­sam.«

Der alte Auf­wär­ter sah ganz ver­gnügt aus, nick­te und trug den Zinn­sol­da­ten hin­über in das alte Haus. Da­rauf wur­de an­ge­fragt, ob der klei­ne Kna­be nicht Lust habe, selbst hin­über zu kom­men, und einen Be­such ab­zu­stat­ten, und dazu er­hielt er von sei­nen El­tern die Er­laub­nis, und so kam er in das alte Haus.

Die Mes­sing­knöp­fe auf dem Trep­pen­ge­län­der glänz­ten weit stär­ker als sonst; man hät­te glau­ben kön­nen, dass sie des Be­su­ches we­gen po­liert wor­den sei­en, und es war, als ob die aus­ge­schnitz­ten Trom­pe­ter – denn in der Tür wa­ren Trom­pe­ter aus­ge­schnitzt, die in Tul­pen stan­den – aus al­len Kräf­ten blie­sen, die Ba­cken sa­hen weit di­cker aus als zu­vor. Ja, sie blie­sen: »Trat­te­ra­tra! Der klei­ne Kna­be kommt! Trat­te­ra­tra!« – und dann ging die Tür auf. Die gan­ze Flur war mit al­ten Bil­dern, Rit­tern in Har­ni­schen und Frau­en in sei­de­nen Klei­dern ver­ziert; und die Har­ni­sche ras­sel­ten und die sei­de­nen Klei­der rausch­ten! – Dann kam da eine Trep­pe, die ging ein großes Stück hin­auf und ein klei­nes Stück hin­un­ter, und dann ge­lang­te man auf einen Al­tan, der frei­lich sehr ge­brech­lich, mit großen Lö­chern und lan­gen Spal­ten ver­se­hen war, aber aus al­len wuch­sen Gras und Blät­ter, der gan­ze Al­tan, der Hof und die Mau­ern wa­ren mit so vie­lem Grün be­wach­sen, dass es wie ein Gar­ten aus­sah, aber es war nur ein Al­tan. Hier stan­den alte Blu­men­töp­fe, die Ge­sich­ter und Eselsoh­ren hat­ten; die Blu­men wuch­sen aber ge­ra­de so wie wil­de Pflan­zen. In dem einen Top­fe wuch­sen nach al­len Sei­ten Nel­ken über, das heißt das Grü­ne da­von, Schöß­ling auf Schöß­ling, die spra­chen ganz deut­lich: »Die Luft hat mich ge­strei­chelt, die Son­ne hat mich ge­küsst und mir zum Sonn­tag eine klei­ne Blu­me ver­spro­chen, eine klei­ne Blu­me zum Sonn­tag!«

Dann ge­lang­te er in ein Zim­mer, wo die Wän­de einen Über­zug von Schweins­le­der hat­ten, und dar­auf wa­ren gol­de­ne Blu­men ge­druckt.


»Ver­gol­dung ver­geht,
Aber Schweins­le­der be­steht -«

sag­ten die Wän­de.

Da stan­den Lehn­stüh­le mit ho­hen Rücken, ganz bunt aus­ge­schnitzt und mit Ar­men an bei­den Sei­ten. »Set­zen Sie sich! Neh­men Sie Platz!« sag­ten die­se. »Au, wie es in mir knackt! Nun be­kom­me ich wohl auch die Gicht, wie der alte Schrank! Gicht im Rücken, au!«

Und dann kam der klei­ne Kna­be in das Zim­mer, wo der Er­ker war und wo der alte Mann saß.

»Vie­len Dank für den Zinn­sol­da­ten, mein klei­ner Freund!« sag­te der alte Mann. »Und herz­li­chen Dank da­für, dass Du zu mir her­über­kommst.«

»Dank! Dank!« oder »Knack! Knack!« sag­te es in al­len Mö­beln; es wa­ren ih­rer so vie­le, dass sie ein­an­der fast im Wege stan­den, um den klei­nen Kna­ben zu se­hen.

Mit­ten an der Wand hing das Ge­mäl­de ei­ner schö­nen Dame, die jung und fröh­lich aus­sah, aber ganz so ge­klei­det, wie vor al­ten Zei­ten, mit Pu­der im Haar und steif ste­hen­den Klei­dern; sie sag­te we­der »Dank«, noch »Knack«, sah aber mit ih­ren mil­den Au­gen den klei­nen Kna­ben an, wel­cher so­gleich den al­ten Mann frag­te: »Wo­her hast Du sie be­kom­men?«

»Vom Tröd­ler drü­ben!« sag­te der alte Mann. »Dort hän­gen vie­le Bil­der! Nie­mand kennt sie oder be­küm­mert sich dar­um, denn sie sind alle be­gra­ben, aber vor Zei­ten habe ich die­se ge­kannt, und nun ist sie seit ei­nem hal­b­en Jahr­hun­dert tot!«

Un­ter dem Ge­mäl­de hing un­ter Glas und Rah­men ein Strauß ver­welk­ter Blu­men, die wa­ren ge­wiss auch vor ei­nem hal­b­en Jahr­hun­dert ge­pflückt, so alt sa­hen sie aus. Der Per­pen­di­kel an der großen Uhr ging hin und her und die Zei­ger dreh­ten sich, und al­les im Zim­mer wur­de noch äl­ter, aber das merk­ten sie nicht.

»Sie sa­gen zu Hau­se«, sag­te der klei­ne Kna­be, »dass Du er­schreck­lich ein­sam bist!«

»O«, sag­te er, »die al­ten Ge­dan­ken, mit dem, was sie mit sich füh­ren kön­nen, kom­men und be­su­chen mich, und jetzt kommst Du ja auch! Ich bin ganz zu­frie­den!«

Dann nahm er von dem Schrank ein Buch mit Bil­dern, dar­in wa­ren lan­ge Auf­zü­ge, die son­der­bars­ten Kut­schen, wie man sie heut­zu­ta­ge nicht sieht, Sol­da­ten und Bür­ger mit we­hen­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­