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Rudyard Kipling

Das Dschungelbuch

Rudyard Kipling

Das Dschungelbuch

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Illustrationen: John Lockwood Kipling, Paul Frenzeny, Henri Rousseau, W. H. Drake
Übersetzung: J. Schulze, Curt Abel-Musgrave
2. Auflage, ISBN 978-3-954181-62-9

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Inhaltsverzeichnis

Mo­g­lis Brü­der

Jagd­ge­sang des Sio­ni-Ru­dels

Kaas Jagd­tanz

Wan­der­lied des Af­fen­vol­kes

»Ti­ger – Ti­ger!«

Mo­g­lis Sie­ges­lied

Die wei­ße Rob­be

Lu­kan­non

Rik­ki-Tik­ki-Tavi

Dar­sies Sie­ges­ge­sang

Too­mai, der Lieb­ling der Ele­fan­ten

Schi­wa und die Heuschre­cke

Dan­ke

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Moglis Brüder


Nun bringt der Weih die dunkle Nacht,
Und »Mang«, die Fle­der­maus, er­wacht.
Der Stall birgt al­les Her­den­tier,
Denn bis zum Mor­gen herr­schen wir!
Die Stun­de stol­zer Kraft hebt an
Für Pran­ken­hieb und schar­fen Zahn.
Jagd­heil! und kühn ge­hetzt, ge­rafft:
Das Dschun­gel­recht ist jetzt in Kraft.

Nacht­ge­sang im Dschun­gel

Bild: 160_Das_Dschungelbuch_001.jpg

Ge­gen sie­ben Uhr an ei­nem recht schwü­len Som­mer­abend in den Sio­ni­ber­gen er­wach­te Va­ter Wolf, gähn­te, reck­te sich und streck­te die Läu­fe, einen nach dem an­de­ren, um das Schlaf­ge­fühl in sei­nen Pfo­ten los­zu­wer­den. Ne­ben ihm lag Mut­ter Wolf, die lan­ge graue Nase quer über den vier win­seln­den und quar­ren­den Jun­gen, und von drau­ßen her schi­en der Mond in die Höh­le, in der sie alle mit­ein­an­der haus­ten.

»A-ruff«, knurr­te Va­ter Wolf, »schon wie­der Zeit, auf Jagd zu ge­hen.« Gera­de woll­te er den Hang hin­ab­set­zen, als am Ein­gang der Höh­le ein klei­ner Schat­ten mit bu­schi­ger Rute er­schi­en und win­sel­te: »Glück sei mit dir, Häupt­ling der Wöl­fe! Und viel Glück dei­nen ed­len Kin­dern, wei­ße, schar­fe Zäh­ne mö­gen ih­nen wach­sen. Sol­len sie nie die Hun­gern­den und Dar­ben­den ver­ges­sen in die­ser Welt!«

Der Scha­kal war es – Ta­ba­qui, der Schüs­sel­le­cker. Die Wöl­fe in In­di­en ver­ach­ten ihn, weil er Un­heil stif­tend um­her­schweift und böse Ge­schich­ten er­zählt. Ja, er ver­schlingt so­gar alte Lum­pen und Le­der­stücke von den Ab­fall­hau­fen der Dör­fer. Aber sie fürch­ten ihn auch, denn Ta­ba­qui wird leicht von Toll­wut be­fal­len, viel leich­ter als ir­gend­ein an­de­res Tier im Dschun­gel. Dann ver­gisst er, dass er je Angst ge­habt hat, rennt blind­wü­tend durch die Wäl­der und beißt und würgt al­les, was ihm in den Weg kommt. Dann flüch­tet selbst der Ti­ger vor dem klei­nen Ta­ba­qui und ver­birgt sich im Dickicht; denn von der Toll­wut be­fal­len zu wer­den, ist die größ­te Schan­de für die Tie­re der Wild­nis. Wir Men­schen nen­nen es Hy­dro­pho­bie, aber die Be­woh­ner des Dschun­gel sa­gen ein­fach De­wa­nii – Wahn­sinn – und flüch­ten da­von.

»Tritt ein und schau«, sag­te Va­ter Wolf. »Fraß fin­dest du hier nicht.«

»Für einen Wolf wohl kaum«, ant­wor­te­te Ta­ba­qui. »Aber für ein so nied­ri­ges Ge­schöpf wie ich ist ein tro­ckener Kno­chen ein Fest­schmaus. Wer sind wir denn, wir Gidur­log, wir ar­mes Scha­kal­volk, dass wir wäh­le­risch sein könn­ten?« Er trat nach dem Hin­ter­grund der Höh­le und fand dort den Kno­chen ei­nes ge­ris­se­nen Bocks mit noch et­was Fleisch dar­an; bald saß er und knack­te ver­gnügt an dem Kno­chen.

»Tie­fen Dank für das präch­ti­ge Mahl«, sag­te er, sich die Lip­pen le­ckend. »Ah, wie schön sind die ed­len Kin­der! Wie groß und klar sind ihre Au­gen. Und so jung sind sie noch, die lie­ben Klei­nen! Frei­lich – frei­lich, es ist ja all­be­kannt, dass Kin­der von Kö­ni­gen schon Män­ner sind von Ge­burt an.«

Nun wuss­te Ta­ba­qui eben­so gut wie je­der an­de­re, dass man nichts Un­schick­li­che­res tun kann, als Kin­der ins Ge­sicht hin­ein zu lo­ben – denn das ist von schlim­mer Vor­be­deu­tung. Und es freu­te ihn, als Va­ter und Mut­ter Wolf be­tre­ten schwie­gen.

Noch eine Wei­le saß Ta­ba­qui und wei­de­te sich an dem Un­heil, das er an­ge­rich­tet hat­te. Dann sag­te er bos­haft:

»Schir Khan, der Ge­wal­ti­ge, hat sei­ne Jagd­grün­de ver­legt. Hier in die­sen Hü­geln wird er ja­gen im nächs­ten Mond – so sag­te er mir selbst.«

Schir Khan war der Ti­ger, der an den Ufern des Wain­gun­gaflus­ses leb­te – un­ge­fähr zwan­zig Mei­len ent­fernt.

»Dazu hat er kein Recht!« braus­te Va­ter Wolf auf. »Nach dem Ge­setz des Dschun­gels darf er sei­ne Jagd­grün­de nicht wech­seln ohne vor­he­ri­ge An­kün­di­gung. Al­les Wild wird er uns ver­grä­men auf zehn Mei­len im Um­kreis, und ich – ich muss jetzt ja­gen für zwei.«

»Sei­ne Mut­ter nann­te ihn nicht ohne Grund Lan­gri, den Lah­men«, warf Mut­ter Wolf ein. »Lahm auf ei­nem Fuß ist er von Ge­burt an. Da­rum auch reißt er nur Rind­vieh. Nun sind die Dör­f­ler am Wain­gun­ga zor­nig über ihn, und jetzt kommt er hier­her und wird un­se­re Dör­f­ler auf­brin­gen. Um sei­net­wil­len wer­den sie den Dschun­gel aus­räu­chern, wenn er schon wie­der weit fort ist; wir aber und un­se­re Jun­gen müs­sen dann flüch­ten, wenn das Gras in Brand ge­steckt ist. Wahr­lich, sehr dank­bar sind wir ihm, dem großen Schir Khan!«

»Soll ich ihm viel­leicht eu­ren Dank über­brin­gen?« frag­te Ta­ba­qui.

»Pack dich!« japp­te Va­ter Wolf. »Geh zu dei­nem Herrn und Meis­ter! Un­heil ge­nug hast du ge­stif­tet in ei­ner Nacht!«

»Ich gehe!« sag­te Ta­ba­qui ge­las­sen. »Da könnt ihr ihn schon hö­ren, den Schir Khan, drun­ten im Dickicht. Die Bot­schaft konn­te ich mir spa­ren.«

Lau­schend spitz­te Va­ter Wolf die Ohren. Dann ver­nahm er un­ten im Tal, das sich zu ei­nem klei­nen Bach hin­ab­senkt, das är­ger­li­che, schnar­ren­de, nä­seln­de Ge­win­sel ei­nes Ti­gers, der nichts ge­schla­gen hat­te und den es nicht küm­mert, dass al­les Dschun­gel­volk sein Miss­ge­schick er­fährt.

»Der Narr, der!« knurr­te Va­ter Wolf. »Die Nacht­ar­beit mit sol­chem Lärm zu be­gin­nen! Glaubt er etwa, dass un­se­re Bö­cke eben­so dumm sind wie sei­ne fet­ten Och­sen am Wain­gun­gafluss?«

»Still!« sag­te Mut­ter Wolf. »Still, Al­ter. Hörst du denn nicht? We­der Och­se noch Bock hetzt er heu­te … den Men­schen jagt er!«

Das Ge­win­sel des Ti­gers ging nun über in ein lang­ge­zo­ge­nes, sum­men­des Schnur­ren – so laut und doch so un­be­stimmt, dass es schi­en, als käme es aus al­len Him­mels­rich­tun­gen zu­gleich. Das war das Sum­men, das den Holz­fäl­lern und Zi­geu­nern, die in den Lich­tun­gen ras­ten, das Blut er­star­ren macht – kopf­los flie­hen sie dann, stür­zen wie von Sin­nen da­von, oft ge­ra­de hin­ein in den flam­men­den Ra­chen des Ti­gers.

Bild: 160_Das_Dschungelbuch_002.jpg

»Men­schen!« wie­der­hol­te Va­ter Wolf und fletsch­te sei­ne wei­ßen Zäh­ne. »Puh! Gibt es denn nicht ge­nug Ge­würm und Frösche in den Sümp­fen, dass er Men­schen fres­sen muss … und noch dazu in un­se­rem Ge­bie­te?«

Das Ge­setz des Dschun­gels, das nichts ohne gu­ten Grund vor­schreibt, ver­bie­tet den Tie­ren, Men­schen an­zu­grei­fen, mit der ein­zi­gen Aus­nah­me, wenn ein Tier sei­ne Jun­gen das Ja­gen und Tö­ten lehrt. Das aber darf nur ab­seits ge­sche­hen, nie­mals in den Jagd­grün­den des ei­ge­nen Ru­dels oder Stam­mes. Der wah­re Grund da­für ist, dass frü­her oder spä­ter, wenn ein Mensch ge­tö­tet ist, die Bleich­ge­sich­ter an­rücken auf Ele­fan­ten, mit Büch­sen be­waff­net, be­glei­tet von Hun­der­ten von brau­nen Die­nern, mit Gongs, Ra­ke­ten und Fa­ckeln. Dann ha­ben alle im Dschun­gel zu lei­den. Die Tie­re aber ge­ben als Grund an, dass der Mensch das schwäch­lichs­te und wehr­lo­ses­te al­ler Ge­schöp­fe ist, da­her sei es un­sport­lich, ihn an­zu­grei­fen. Sie sa­gen fer­ner – und das ist die Wahr­heit –, vom Men­schen­fleisch wür­den sie räu­dig und ver­lö­ren die Zäh­ne.

Lau­ter wur­de das Schnur­ren und en­de­te plötz­lich in ei­nem schar­fen, tief­keh­li­gen »Aaaoh!« beim Auf­sprung des Ti­gers.

Dann er­tön­te Ge­heul – un­ti­ge­ri­sches Ge­heul und Ge­maunz von Schir Khan. »Er hat ge­fehlt«, sag­te Mut­ter Wolf. »Was war es?«

Va­ter Wolf trab­te ein paar Schrit­te vor die Höh­le und ver­nahm das wü­ten­de Ge­heul Schir Khans, der in den Bü­schen im Tal­grund her­um­feg­te.

»So ein Dumm­kopf«, brumm­te Va­ter Wolf. »In das Feu­er ei­nes Holz­fäl­lers ist er ge­sprun­gen und hat sich da­bei die Pfo­ten ver­brannt! Ta­ba­qui ist bei ihm.«

»Et­was kommt den Hü­gel her­auf«, flüs­ter­te Mut­ter Wolf und stell­te einen Lau­scher hoch. »Auf­ge­passt!«

In dem Ge­büsch ra­schel­te es lei­se, und Va­ter Wolf duck­te sich, zum Sprun­ge be­reit. Dann aber ge­sch­ah et­was höchst Selt­sa­mes. Der Wolf war ge­sprun­gen, be­vor er noch das Ziel er­kannt hat­te, und such­te sich nun plötz­lich mit­ten im Sat­ze auf­zu­hal­ten. Die Fol­ge war, dass er vier oder fünf Fuß ker­zen­ge­ra­de in die Luft schoss und fast auf der­sel­ben Stel­le lan­de­te, von der er ab­ge­sprun­gen war.

»Ein Mensch!« stieß er her­vor. »Ein Men­schen­jun­ges! Sieh nur!«

Gera­de vor ihm, an einen nied­ri­gen Zweig ge­klam­mert, stand ein nack­ter, brau­ner Jun­ge, der eben erst lau­fen ge­lernt hat­te – ein ganz zar­tes, klei­nes, kraus­lo­cki­ges We­sen, das da in der Nacht zu ei­ner Wolfs­höh­le ge­kom­men war. Es sah dem Wolf ins Ge­sicht und lach­te.

»Was?« frag­te Mut­ter Wolf. »Ist das ein Men­schen­jun­ges? Ich habe noch nie eins ge­se­hen. Bring es her!«

Wöl­fe, die ihre ei­ge­nen Jun­gen über Stock und Stein tra­gen, kön­nen, wenn nö­tig, ein Ei zwi­schen die Zäh­ne neh­men, ohne es zu zer­bre­chen. Ob­gleich sich Va­ter Wolfs Ra­chen über dem Kin­de schloss, so hat­ten sei­ne spit­zen Zäh­ne doch nicht ein­mal die wei­che Haut des stram­peln­den Klei­nen ge­ritzt, als er ihn zu sei­nen ei­ge­nen Jun­gen leg­te.

»Wie win­zig! Wie nackt und – wie tap­fer!« sag­te Mut­ter Wolf sanft. Der Klei­ne dräng­te die Wolfs­jun­gen bei­sei­te, um dicht an das war­me Fell der Mut­ter zu ge­lan­gen. »Ahai, er sucht sei­ne Nah­rung ganz wie die an­de­ren. Das also ist ein Men­schen­jun­ges? Sag, hat sich je eine Wöl­fin rüh­men kön­nen, ein Men­schen­jun­ges un­ter ih­ren Kin­dern zu ha­ben?«

»Hier und dort hör­te ich da­von, doch nie­mals in un­se­rem Ru­del oder zu mei­ner Zeit«, ant­wor­te­te Va­ter Wolf. »Wahr­haf­tig, ganz ohne Haar ist der Kör­per. Mit ei­nem Pran­ken­schlag könn­te ich es zer­quet­schen. Aber sieh doch, wie es auf­schaut zu uns, und nicht ein biss­chen Angst hat es.«

Da plötz­lich wur­de es dun­kel in der Höh­le. Dem Mond­lich­te wur­de der Ein­tritt ver­sperrt, denn Schir Khans mäch­ti­ger, ecki­ger Kopf und brei­te Schul­ter scho­ben sich in den Ein­gang. Ta­ba­qui rief hin­ter ihm her mit schril­ler Stim­me:

»Hier, mein Ge­bie­ter – hier ist es hin­ein­ge­gan­gen.«

»Schir Khan er­weist uns große Ehre!« sag­te Va­ter Wolf, doch Zorn glomm in sei­nen Au­gen. »Was wünscht Schir Khan?«

»Mei­ne Beu­te! Ein Men­schen­jun­ges ist hier her­ein­ge­flüch­tet! Sei­ne El­tern sind da­von­ge­lau­fen. Gib es her­aus! Es ge­hört mir!«

Wie Va­ter Wolf ge­sagt hat­te, war Schir Khan in das Feu­er ei­nes Holz­fäl­lers ge­sprun­gen, und der Schmerz in den ver­brann­ten Pfo­ten mach­te ihn ra­send. Aber Va­ter Wolf wuss­te, dass die Öff­nung der Höh­le zu klein sei, um dem Ti­ger Ein­gang zu ge­stat­ten. Schon in sei­ner jet­zi­gen Stel­lung wa­ren Schir Khans Schul­tern und Vor­der­tat­zen ein­ge­zwängt, und er glich ei­ner wü­ten­den Kat­ze, die ver­ge­bens ver­sucht, in ein Mau­se­loch zu drin­gen.

»Wir Wöl­fe sind ein frei­es Volk«, sag­te der Wolf. »Un­se­re Be­feh­le neh­men wir nur von dem Füh­rer des Ru­dels, aber nicht von ir­gend­ei­nem ge­streif­ten Viehmör­der. Das Men­schen­jun­ge ge­hört uns. Wir kön­nen es tö­ten oder am Le­ben las­sen, ganz nach un­se­rem Be­lie­ben!«

»Be­lie­ben oder Nicht­be­lie­ben! Was schwatzt du für dum­mes Zeug? Bei dem Och­sen, den ich so­eben schlug, soll ich hier ste­hen und mir die Nase wund­sto­ßen am Ein­gang eu­rer Hun­de­be­hau­sung, um das zu ver­lan­gen, was mir ge­bührt? Schir Khan ist es, der mit dir spricht!«

Des Ti­gers Ge­brüll er­füll­te die Höh­le mit rol­len­dem Don­ner. Mut­ter Wolf schüt­tel­te ihre Jun­gen von sich ab; sie sprang vor, und ihre Au­gen starr­ten wie zwei grü­ne Mond­si­cheln in der Dun­kel­heit auf die bei­den lo­hen­den Lich­ter im ge­wal­ti­gen Kop­fe Schir Khans.

Bild: 160_Das_Dschungelbuch_003.jpg

»Und ich, Rasch­ka, der Dä­mon, bin’s, der jetzt spricht und dir ant­wor­tet. Das Men­schen­jun­ge ge­hört mir, du lah­mer Lan­gri – und mein wird es blei­ben. Es soll nicht ge­tö­tet wer­den! Es soll le­ben, um mit dem Pack zu ren­nen und zu ja­gen, und zu­letzt – sieh dich vor, du großer Jä­ger klei­ner, nack­ter Jun­gen, du al­ter Pad­den­fres­ser, du Fisch­fän­ger! –, sieh dich vor, denn zu­letzt, ganz zu­letzt soll es dich het­zen, un­ser klei­nes Men­schen­jun­ges, ja, und soll dir das Fell über die Kat­ze­noh­ren zie­hen. Und nun pack dich fort! Oder ich schwör’s bei dem letz­ten Sam­bar, den ich schlug (ich ver­grei­fe mich nicht am hung­ri­gen Her­den­vieh), ich schwör’s, du ver­brann­tes Biest, lah­mer sollst du zu dei­ner Mut­ter zu­rück­keh­ren, als du zur Welt ge­kom­men bist. Fort mit dir!«

Ganz ver­blüfft blick­te Va­ter Wolf sie an. Fast ver­ges­sen hat­te er die Zeit, da er Mut­ter Wolf sich er­rang im of­fe­nen, ehr­li­chen Kampf ge­gen fünf an­de­re Wöl­fe – da­mals, als sie mit dem Pack lief und nicht um­sonst der Dä­mon ge­nannt wur­de.

Schir Khan wür­de es wohl mit Va­ter Wolf auf­ge­nom­men ha­ben, aber ge­gen Mut­ter Wolf an­zu­ge­hen, das wag­te er denn doch nicht, denn er wuss­te, dass sie alle Vor­tei­le der Lage für sich hat­te und es einen Kampf auf Tod und Le­ben ge­ben wür­de. So zog er sich knur­rend aus dem en­gen Ein­gang zu­rück und brüll­te, als er frei war:

»Im ei­ge­nen Hof kläfft je­der Hund! Aber wir wol­len doch erst ein­mal se­hen, was das Ru­del zu die­ser Ge­schich­te sa­gen wird. Mir al­lein ge­hört das Men­schen­jun­ge, und zwi­schen mei­ne Zäh­ne wird es doch noch kom­men zu­letzt, ihr busch­schwän­zi­gen Spitz­bu­ben, ihr!«

Mut­ter Wolf warf sich keu­chend zwi­schen ihre Jun­gen nie­der, und Va­ter Wolf sag­te jetzt mit be­sorg­ter Mie­ne: »Schir Khan hat nicht ganz un­recht. Das Men­schen­jun­ge muss dem Ru­del ge­zeigt wer­den. Willst du es wirk­lich be­hal­ten?«

»Wirk­lich be­hal­ten?« frag­te sie ent­rüs­tet. »Nackt und ganz al­lein kam es zu uns in der Nacht und sehr hung­rig und hat­te doch nicht ein biss­chen Furcht. Sieh doch nur, jetzt hat es schon wie­der eins mei­ner Kin­der bei­sei­te ge­drückt. Und die­ser lah­me Vieh­schläch­ter hät­te es bei­na­he ver­schlun­gen und sich dann zum Wain­gun­gaflus­se aus dem Stau­be ge­macht, wäh­rend die Dorf­be­woh­ner hier alle Schlupf­win­kel durch­sucht hät­ten, um Ra­che zu neh­men! Ihn be­hal­ten? Na­tür­lich will ich das. Lieg still, klei­ner Frosch. Oh, mein Mo­g­li – denn Mo­g­li, Frosch, wer­de ich dich nen­nen –, der Tag wird für dich kom­men, die­sen Schir Khan zu ja­gen und zu het­zen, wie er dich heu­te ge­hetzt hat!«

»Aber was wird un­ser Ru­del dazu sa­gen?« mein­te Va­ter Wolf.

Das Ge­setz des Dschun­gels stellt es je­dem Wol­fe frei, sich von dem Ru­del zu tren­nen, wenn er die Wöl­fin in sein La­ger holt. So­bald aber sei­ne Jun­gen groß ge­nug sind, um auf ei­ge­nen Läu­fen zu ste­hen, muss er sie zur Rats­ver­samm­lung brin­gen, die ein­mal im Mo­nat zur Zeit des Voll­monds tagt; und dort wer­den sie von al­len Wöl­fen des Rats in Au­gen­schein ge­nom­men und an­er­kannt. Nach die­ser Mus­te­rung ha­ben die Jun­gen das Recht, frei um­her­zu­strei­fen; und be­vor sie nicht ih­ren ers­ten Bock ge­ris­sen ha­ben, darf un­ter kei­nen Um­stän­den ein er­wach­se­ner Wolf sie an­grei­fen oder tö­ten. Das Ge­setz des Dschun­gels ist streng, und wer ge­gen die Vor­schrift fehlt, wird ohne Gna­de mit dem Tode be­straft. Wenn man ein biss­chen nach­denkt, muss man zu­ge­ben, dass es so sein muss.

Va­ter Wolf war­te­te, bis sei­ne Klei­nen lau­fen konn­ten, und dann nahm er sie alle mit Mut­ter Wolf und Mo­g­li ei­nes Nachts mit zum Rats­fel­sen, ei­ner Hü­gel­kup­pe, die mit Stei­nen und Ge­röll be­deckt war und die wohl hun­dert Wöl­fen und mehr ein si­che­res Ver­steck bot. Ake­la, der große, graue Ein­sie­del­wolf, war dank sei­ner Stär­ke und Schläue der Füh­rer des Ru­dels. Er lag lang aus­ge­streckt auf ei­nem ra­gen­den Fels­block, und et­was tiefer un­ter­halb kau­er­ten mehr als vier­zig Wöl­fe von je­der Far­be und Ge­stalt. Da wa­ren dachs­graue Ve­te­ra­nen, die es al­lein mit je­dem Bock auf­nah­men, bis her­un­ter zu den schwar­zen, drei Jah­re al­ten Wöl­fen, die mein­ten, sie könn­ten es auch. Der große, graue Ein­zel­gän­ger hat­te das Ru­del nun schon ein Jahr lang ge­führt. In sei­ner Ju­gend war er zwei­mal in Wolfs­fal­len ge­ra­ten, und ein­mal hat­te man ihn bei­na­he er­schla­gen; des­halb kann­te er ein gut Teil von den Sit­ten und Ge­bräu­chen der Men­schen.

Bild: 160_Das_Dschungelbuch_004.jpg

In der Ver­samm­lung wur­de we­nig ge­spro­chen. Mit­ten im Krei­se, um den die El­tern sa­ßen, stol­per­ten und pur­zel­ten die Klei­nen um­her; ab und zu kam ein Alt­wolf laut­los her­bei, sah sich die Jun­gen ge­nau an, be­schnüf­fel­te sie sorg­fäl­tig und schritt dann wie­der gra­vi­tä­tisch auf sei­nen Platz zu­rück. Manch­mal schob eine be­sorg­te Mut­ter ihr Klei­nes recht weit hin­aus in das hel­le Mond­licht, um ganz si­cher zu sein, dass man es nicht über­se­hen habe. Von sei­nem Fel­sen rief Ake­la im­mer wie­der: »Ihr kennt das Ge­setz – ihr kennt das Ge­setz wohl! Äu­get ge­nau, ihr Wöl­fe!« Und ängst­li­che Müt­ter nah­men den Ruf auf und wie­der­hol­ten: »Äu­get – äu­get ge­nau, o Wöl­fe!«

Und zu­letzt – Mut­ter Wolfs Na­cken­haa­re stell­ten sich hoch – zu­letzt schob Va­ter Wolf »Mo­g­li, den Frosch«, in den Kreis. Da saß er la­chend und spiel­te mit klei­nen Stein­chen, die im Mond­licht glänz­ten. Ake­la hob sei­nen Kopf nicht von den Pran­ken, son­dern wie­der­hol­te den ein­tö­ni­gen Ruf: »Äu­get – äu­get ge­nau!«

Da kam ein dump­fes Ge­brüll hin­ter den Fel­sen her­vor. Es war Schir Khans Stim­me: »Das Jun­ge ge­hört mir! Gebt es mir! Was hat das freie Volk mit ei­nem Men­schen­jun­gen zu schaf­fen?«

Ake­la rühr­te nicht ein­mal die Lau­scher, er sag­te nur: »Äu­get wohl, ihr Wöl­fe! Was geht das freie Volk die Wei­sung ei­nes Fremd­lings an?«

Da er­hob sich im Rate ein Grol­len und Mur­ren. Ein jun­ger Wolf im vier­ten Jahr griff Schir Khans Fra­ge auf und warf sie Ake­la zu: »Was hat das freie Volk mit ei­nem Men­schen­jun­gen zu schaf­fen?«

Das Ge­setz des Dschun­gels be­stimmt, dass im Fal­le ei­ner Mei­nungs­ver­schie­den­heit, ob ein Jun­ges im Ru­del auf­ge­nom­men wer­den soll oder nicht, min­des­tens zwei Mit­glie­der des Ra­tes zu­guns­ten des Klei­nen spre­chen müs­sen, doch ha­ben die bei­den El­tern kei­ne Stim­me.

»Wer spricht für das Jun­ge?« frag­te Ake­la. »Wer un­ter dem frei­en Vol­ke spricht für ihn?«

Kei­ner mel­de­te sich, und Mut­ter Wolf mach­te sich be­reit zu ih­rem letz­ten Kampf – denn sie wuss­te, dass es ihr letz­ter sein wür­de, wenn es zum Kamp­fe kam.

In die­sem Au­gen­blick stell­te sich Balu auf die Hin­ter­bei­ne und knurr­te – Balu, der schläf­ri­ge, brau­ne Bär, der die jun­gen Wöl­fe das Dschun­gel­ge­setz lehrt. Der ein­zi­ge Fremd­ling ist er im Rate der Wöl­fe, er kann ge­hen und kom­men, ganz wie er will, denn er lebt nur von Nüs­sen, Wur­zeln und Ho­nig.

»Das Men­schen­jun­ge, das Men­schen­jun­ge?« frag­te er. »Ich spre­che für das Men­schen­jun­ge. Wa­rum denn nicht? Was kann ein Men­schen­jun­ges dem Pa­cke scha­den? Wie? Schö­ne Re­den hal­ten kann ich nicht, aber ich spre­che die Wahr­heit. Nehmt ihn auf und lasst ihn mit dem Ru­del lau­fen. Ich selbst wer­de ihn un­ter­rich­ten.«

»Noch einen Für­spre­cher brau­chen wir!« sag­te Ake­la. »Ba­lus Wort gilt, er ist der Leh­rer der Jun­gen. Wer spricht noch au­ßer Balu?«

Ein dunk­ler Schat­ten fiel in den Kreis. Es war Bag­hi­ra, der schwar­ze Pan­ther, tin­ten­schwarz über und über, doch mit der Pant­her­zeich­nung, die in der Sei­de des Fel­les zu­wei­len auf­leuch­te­te. Je­der kann­te Bag­hi­ra, und nie­mand kreuz­te gern sei­nen Pfad; denn schlau war er wie Ta­ba­qui, stark wie der Büf­fel und toll­kühn wie Ha­thi, der Ele­fant, wenn er ver­wun­det ist. Aber sei­ne Stim­me war sanft wie wil­der Ho­nig, der vom Bau­me tröp­felt, und sein Fell wei­cher als Flaum­fe­dern.

»Du, Ake­la, und ihr, das freie Volk!« schnurr­te er. »Ich habe kein Recht in eu­rer Ver­samm­lung; doch nach dem Dschun­gel­ge­set­ze kann das Le­ben ei­nes Jun­gen, des­sen Auf­nah­me be­strit­ten wird, für einen Preis er­kauft wer­den. Und das Ge­setz schreibt nicht vor, wer den Preis be­zah­len soll und wer nicht. Spre­che ich wahr?«

»Gut, sehr gut!« jaul­ten die im­mer hung­ri­gen jun­gen Wöl­fe. »Hört, was Bag­hi­ra sagt! Um einen Preis ist das Jun­ge ein­zu­kau­fen in das Ru­del. So steht’s im Ge­setz!«

»Ich habe kein Recht, hier zu spre­chen, so bit­te ich um eure Er­laub­nis!«

»Sprich nur!« schri­en zwan­zig Stim­men.

»Ein nack­tes Jun­ges zu tö­ten ist Schmach und Schan­de. Im üb­ri­gen taugt es bes­ser dazu, euch an ihm zu er­pro­ben, wenn es erst groß und er­wach­sen ist. Balu hat ge­spro­chen. Den Wor­ten Ba­lus füge ich nur einen Bul­len hin­zu – fett, sage ich euch, und eben erst ge­tö­tet! Kei­ne hal­be Mei­le liegt er von hier, wenn ihr be­reit seid, das Men­schen­jun­ge auf­zu­neh­men nach dem Ge­setz. Leuch­tet euch das ein?«

Da tön­te es bunt durch­ein­an­der: »Wa­rum soll­ten wir nicht? Was kann es scha­den? Es wird ja doch im Win­ter­re­gen um­kom­men oder in der Son­ne ver­dor­ren. Was kann uns denn so ein nack­ter Frosch an­tun? Lasst ihn mit dem Ru­del lau­fen! Wo ist dein Bul­le, Bag­hi­ra! Wir stim­men für den An­trag!«

Und wie­der er­klang Ake­las hei­se­res Bel­len vom Fel­sen her: »Äu­get, ihr Wöl­fe! Äu­get ge­nau!«

Mo­g­li spielt ver­son­nen mit den Stein­chen; so wur­de er es gar nicht ge­wahr, dass die Wöl­fe ei­ner nach dem an­de­ren her­an­ka­men, um ihn zu be­äu­gen. Dann lie­fen sie alle den Hü­gel hin­ab zu dem to­ten Bul­len, und nur Ake­la, Bag­hi­ra, Balu und Mo­g­lis ei­ge­ne Wöl­fe blie­ben zu­rück. Schir Khans Ge­brüll er­füll­te die Nacht, denn er war sehr zor­nig, dass man ihm Mo­g­li nicht aus­ge­lie­fert hat­te.

»Heu­le nur!« brumm­te Bag­hi­ra in sei­nen Bart. »Heu­le nur! Die Zeit wird kom­men, dann wird das nack­te Ding dir in ei­ner an­de­ren Ton­art auf­spie­len – oder ich weiß nichts vom Men­schen.«

»Gut ge­tan!« sag­te Ake­la. »Men­schen und ihre Jun­gen sind sehr klug. Wer weiß – er kann uns spä­ter eine Hil­fe wer­den.«

»Wahr­lich, Hil­fe in der Not; denn kei­ner kann hof­fen, das Ru­del ewig zu füh­ren«, sag­te Bag­hi­ra.

Ake­la ant­wor­te­te nicht. Er ge­dach­te der Zeit, die für je­den Lei­ter ei­nes Ru­dels kommt, wenn sei­ne Stär­ke von ihm weicht, wenn er schwach und im­mer schwä­cher wird, bis zu­letzt die ei­ge­nen Wöl­fe über ihn her­fal­len und ihn rei­ßen. Ein neu­er Füh­rer er­steht, bis auch er an die Rei­he kommt, ge­tö­tet zu wer­den.

»Nimm das Men­schen­jun­ge fort mit dir«, sag­te Ake­la zu Va­ter Wolf, »und er­zie­he es, wie es sich ziemt für einen vom frei­en Volk.«

… Und so ge­sch­ah es, dass Mo­g­li im Ru­del der Sio­ni­wöl­fe auf­ge­nom­men wur­de um den Preis ei­nes fet­ten Bul­len und auf Ba­lus Für­spra­che.

Zehn oder zwölf Jah­re müsst ihr nun über­sprin­gen und euch selbst das selt­sa­me Le­ben aus­ma­len, das Mo­g­li un­ter den Wöl­fen führ­te; denn al­les im ein­zel­nen zu er­zäh­len, wür­de Bän­de fül­len. Mit den Wolfs­jun­gen wuchs er auf, aber die­se wa­ren na­tür­lich schon groß und stark, ehe noch Mo­g­li alle sei­ne Milch­zäh­ne hat­te. Va­ter Wolf lehr­te ihn al­les, was ein Wolf wis­sen muss­te, und weih­te ihn in das Le­ben des Dschun­gels ein, bis je­des Ra­scheln im Gra­se, je­der Hauch der war­men Nacht­luft, je­der Ruf der Eule über sei­nem Kopf, je­der Krat­zer von den Kral­len der Fle­der­mäu­se, wenn sie eine Wei­le im Baum ge­ras­tet hat­ten, und je­der klat­schen­de Sprung des kleins­ten Sil­ber­fi­sches im Tei­che – bis dies al­les sei­ne ge­naue Be­deu­tung für ihn hat­te. Und wenn er nicht lern­te, dann lag er in der Son­ne und schlief und aß und leg­te sich wie­der schla­fen. War er durs­tig oder heiß, schwamm er in den Wei­hern des Wal­des. Hat­te er ein Ge­lüs­te nach Ho­nig (Balu sag­te ihm näm­lich, dass Ho­nig und Nüs­se min­des­tens so gut schmeck­ten wie Fleisch), dann klet­ter­te er in den Bäu­men um­her, und Bag­hi­ra zeig­te ihm, wie er das tun müs­se. Der schwar­ze Pan­ther war ein ver­stän­di­ger Leh­rer. Er sprang zu­erst selbst den Baum hin­auf, als sei es gar kein Kunst­stück, streck­te sich be­quem auf ei­nem Aste aus und rief: »Komm her zu mir, klei­ner Bru­der!« An­fäng­lich woll­te Mo­g­li sich an­klam­mern wie das Faul­tier, aber spä­ter schwang er sich durch die Baum­kro­nen fast so kühn wie der graue Affe.

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Er hat­te bald auch sei­nen Platz bei dem Rats­fel­sen in der Ver­samm­lung. Und hier mach­te er ei­nes Ta­ges die selt­sa­me Ent­de­ckung, dass die Wöl­fe sei­nen Blick nicht aus­hal­ten konn­ten. Starr­te er ei­nem von ih­nen ge­ra­de ins Ge­sicht, so senk­te der Wolf die Au­gen. Und so ge­wöhn­te er sich dar­an, rein aus Mut­wil­len, sie an­zu­star­ren. Oft aber auch zog er mit sei­nem klei­nen, flin­ken Hän­den die Dor­nen aus den Bal­len sei­ner Freun­de, denn Wöl­fe lei­den schreck­lich un­ter Dor­nen und Sp­lit­tern in ih­ren Pfo­ten und ih­rem Fell. Zu­wei­len schlich er sich des Nachts nahe an die Dör­fer und be­trach­te­te neu­gie­rig die brau­nen Be­woh­ner der Hüt­ten; aber er miss­trau­te den Men­schen, denn Bag­hi­ra hat­te ihm eine Kas­ten­fal­le ge­zeigt, die mit schwe­ren Fang­ei­sen so ge­schickt im Gra­se ver­bor­gen war, dass Mo­g­li bei­na­he hin­ein­ge­ra­ten wäre. Am liebs­ten ging Mo­g­li mit dem Pan­ther so recht in das dunkle, feucht­war­me Herz des Ur­wal­des, um dort den schwü­len Tag über zu schla­fen und des Nachts Bag­hi­ra auf der Jagd zu be­glei­ten. Wenn der Pan­ther hung­rig war, würg­te er rechts und links al­les, was ihm in den Weg kam, und so tat auch Mo­g­li – mit ei­ner ein­zi­gen Aus­nah­me. So­bald er alt und ver­stän­dig ge­nug ge­wor­den, sprach Bag­hi­ra zu ihm: »Der gan­ze Dschun­gel ge­hört dir, und du darfst al­les er­le­gen, was du zu tö­ten ver­magst – aber um des Bul­len wil­len, für den du er­kauft wur­dest, darfst du nie­mals Rind­vieh tö­ten oder es­sen, es sei jung oder alt. So lau­tet das Ge­setz des Dschun­gels.«

Und Mo­g­li ge­horch­te ge­wis­sen­haft. Er wuchs und wur­de so stark, wie ein Kna­be wer­den muss, der nicht weiß, was ler­nen heißt, und an nichts zu den­ken hat, als was man es­sen kann.

Mut­ter Wolf er­zähl­te ihm ein- oder zwei­mal, dass man Schir Khan nicht trau­en dür­fe und dass er die Pf­licht habe, ei­nes Ta­ges den Ti­ger zu tö­ten. Ein Jung­wolf wür­de zu je­der Stun­de die­ser Mah­nung ge­dacht ha­ben; Mo­g­li aber ver­gaß sie im­mer und im­mer wie­der, denn er war nur ein Kna­be. Er selbst wür­de sich al­ler­dings einen Wolf ge­nannt ha­ben, hät­te er die Spra­che der Men­schen re­den kön­nen.

Häu­fig kreuz­te Schir Khan her­aus­for­dernd Mo­g­lis Pfad im Dschun­gel; denn Ake­la wur­de äl­ter und schwä­cher, und der lah­me Ti­ger schloss Freund­schaft mit den Jung­wöl­fen des Ru­dels, die ihm folg­ten um des Beu­te­ab­falls wil­len. Das aber wäre nie ge­sche­hen in den Ta­gen von Ake­las Macht. Schir Khan schmei­chel­te den jun­gen Wöl­fen und frag­te oft ver­wun­dert, warum sich so star­ke, jun­ge Jä­ger von ei­nem ver­re­cken­den al­ten Wol­fe und ei­nem nack­ten Men­schen­jun­gen lei­ten lie­ßen.

»Man er­zählt sich im Dschun­gel«, nä­sel­te er dann wohl höh­nisch, »dass ihr in der Rats­ver­samm­lung nicht wagt, dem Men­schen­kind in die Au­gen zu schau­en!« Dann knurr­ten die jun­gen Wöl­fe und sträub­ten das Fell.

Bag­hi­ra, der sei­ne Au­gen und Ohren über­all hat­te, er­fuhr da­von; und er warn­te Mo­g­li, dass Schir Khan ihm ei­nes schö­nen Ta­ges auf­lau­ern und ihn er­wür­gen wer­de. Aber Mo­g­li lach­te nur und ant­wor­te­te: »Ich habe doch das Ru­del und habe dich und habe Balu, der zwar faul ge­wor­den ist, aber im­mer noch für mich ein paar Schlä­ge aus­tei­len wür­de. Wa­rum also mich fürch­ten?«

An ei­nem sehr hei­ßen Tage war es, da über­kam den schwar­zen Pan­ther ein neu­er Ge­dan­ke – viel­leicht hat­te er et­was ge­hört, oder Ikki, das Sta­chel­schwein, hat­te ihm da­von er­zählt. Kurz und gut, zu Mo­g­li sag­te er plötz­lich im tiefs­tens Dschun­gel, als des Kna­ben Kopf auf Bag­hi­ras schwar­zem, schim­mern­dem Fell ruh­te:

»Klei­ner Bru­der, wie oft sag­te ich dir schon, dass Schir Khan dein Feind ist?«

»So oft, als Nüs­se an der Pal­me dort hän­gen«, ant­wor­te­te Mo­g­li, der na­tür­lich nicht zäh­len konn­te. »Doch, was soll’s? Schläf­rig bin ich, Bag­hi­ra, und Schir Khan ist nichts als ein lan­ger Schwanz und ein großes Maul, wie Mao, der Pfau.«

»Aber jetzt ist nicht Zeit zum Schla­fen. Balu weiß es; ich weiß es; das Ru­del weiß es, und so­gar die dum­men, dum­men Rehe wis­sen’s. Dir hat es auch Ta­ba­qui er­zählt.«

»Ho, ho«, höhn­te Mo­g­li. »Ta­ba­qui kam vor kur­z­em zu mir, das Maul voll fre­cher Re­dens­ar­ten: ich sei ein nack­tes Men­schen­jun­ges und tau­ge nicht ein­mal, um Erd­nüs­se aus­zu­gra­ben. Aber ich, ich pack­te ihn beim Schwan­ze und schwang ihn zwei­mal ge­gen eine Pal­me, um ihn An­stand zu leh­ren.«

»Dumm­heit war das! Ta­ba­qui ist zwar ein Un­heil­stif­ter, den­noch hät­te er dir von Din­gen er­zäh­len kön­nen, die dich nahe an­ge­hen. Sperr die Au­gen auf, klei­ner Bru­der. Schir Khan wird es nicht wa­gen, dich im Dschun­gel zu wür­gen; aber be­den­ke, Ake­la ist sehr alt ge­wor­den, und bald wird der Tag kom­men, an dem er nicht mehr den Bock zu rei­ßen ver­mag, und dann – hört er auf, Füh­rer des Ru­dels zu sein. Vie­le Wöl­fe, die dich da­mals im Rat mus­ter­ten, sind nun schon er­graut; die Jun­gen aber hän­gen Schir Khan an, der ih­nen vor­schwatzt, dass für ein Men­schen­jun­ges kein Platz ist im Ru­del. In kur­z­em wirst du ein Mann sein.«

»Und was ist denn ein Mann, dass er nicht mit sei­nen Brü­dern lau­fen soll?« frag­te Mo­g­li er­regt. »Im Dschun­gel bin ich ge­bo­ren, nach dem Ge­setz des Dschun­gel habe ich ge­lebt. Kei­ner ist im Ru­del, dem ich nicht schon einen Dorn aus der Pfo­te zog. Es sind doch mei­ne Brü­der.«

Bag­hi­ra streck­te sich in sei­ner gan­zen Län­ge aus und schloss halb die Au­gen. »Klei­ner Bru­der«, sag­te er, »füh­le mir ein­mal un­ter den Kie­fer.«

Mo­g­li hob sei­ne star­ke brau­ne Hand, und ge­ra­de un­ter Bag­hi­ras sei­di­gem Kinn, dort, wo die ge­wal­ti­gen Mus­keln spiel­ten un­ter dem glän­zen­den Fell, da fühl­te er eine klei­ne, kah­le Stel­le.

»Kei­ner im Dschun­gel weiß, dass ich, Bag­hi­ra, die­ses Zei­chen tra­ge – die Spur ei­nes Hals­rin­ges; und doch, mein klei­ner Bru­der, ist es wahr, dass ich un­ter Men­schen ge­bo­ren bin, und un­ter Men­schen siech­te mei­ne Mut­ter da­hin und ver­en­de­te – in den Kä­fi­gen des Kö­nigs­pa­las­tes zu Udai­pur. Das war der Grund, warum ich den Preis für dich zahl­te, als du noch ein klei­nes, nack­tes Jun­ges warst. Ja, auch ich kam un­ter Men­schen zur Welt. Ich hat­te nie­mals den Dschun­gel ge­se­hen. Sie füt­ter­ten mich hin­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­