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1. Auflage 2014
Alle Rechte vorbehalten
© 2014 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart
Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-025393-3
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-025394-0
epub: ISBN 978-3-17-025395-7
mobi: ISBN 978-3-17-025396-4
»To some people, these ideas may seem radical« (Durbin-Westby, Ne’eman & Topper 2011). Mit diesen Worten ziehen prominente Repräsentanten aus der US-amerikanischen Empowerment-Bewegung behinderter Menschen, zu der auch das Autistic Self Advocacy Network (ASAN) zählt, ein Resümee im Hinblick auf ein Positionspapier, mit dem sie sich vor kurzem in die politische Debatte über zukünftige Wege der Behindertenarbeit und entsprechende Gesetze eingebracht haben.
Ebenso radikal könnte der Ansatz des vorliegenden Buches eingeschätzt werden – bricht er doch gleichfalls wie das ASAN mit traditionellen Vorstellungen über Autismus als pathologisches Phänomen sowie mit der bisherigen einseitig ausgerichteten Autismusforschung und Praxis, die bislang über eine an Defiziten orientierte Denkfigur kaum hinausgekommen ist.
Vor diesem Hintergrund ließe sich das Buch auch mit dem Titel »Von der Tradition zur Innovation« versehen – und dies in dreifacher Hinsicht:
Erstens wird eine Verstehensperspektive herausgearbeitet, die einerseits auf der »Innensicht« und auf Vorstellungen von autistischen Personen basiert, die unter anderem den Begriff des Autismus-Spektrums favorisieren und Autismus nicht als unmittelbaren Ausdruck einer Störung betrachten. Das wird bis heute im Lager der hiesigen Autismusforschung und Fachwelt fast gänzlich ignoriert. Andererseits wird die Verstehensperspektive mit international diskutierten Theorien und neurowissenschaftlichen Erkenntnissen angereichert, die über die bislang im deutschsprachigen Raum verbreiteten Erklärungsansätze hinausgehen und zugleich die bisherige Sicht über Autismus wesentlich erweitern. Zum ersten Mal werden dabei der deutschsprachigen Leserschaft Ansätze vorgestellt, die bisher nur englischsprachig zugänglich waren.
Zweitens geht es um die Annahme und Wertschätzung von Autisten und Autistinnen in ihrem menschlichen So-Sein. Dies erfordert ein Konzept, das autistische Personen als »Experten in eigener Sache« akzeptiert, ernst nimmt und würdigt. Mit dem Empowerment liegt ein solcher Ansatz vor, der Betroffenen eine Stimme verleiht, die eindeutig ist: » Nothing about us without us!« (ASAN) – so lautet das Motto aus dem Autism Rights Movement, der Rechtebewegung autistischer Menschen, denen es neben Respekt, Antidiskriminierung und Akzeptanz des »autistischen Seins« insbesondere um gesellschaftliche Zugehörigkeit, um uneingeschränkte Inklusion in allen Lebensbereichen zu tun ist.
Drittens stellt sich die Frage nach einer Unterstützung, die der Verstehensperspektive und den Vorstellungen von autistischen Personen Rechnung tragen kann. Als erster Lehrstuhlinhaber für »Pädagogik bei Autismus« im deutschsprachigen Raum fokussiere ich hierzu verständlicherweise pädagogische Unterstützungsformen in Bereichen, die für Erziehung, Bildung und Soziale Arbeit von besonderer Bedeutung sind.
Damit hoffe ich, ein attraktives und vor allem innovatives Buch vorgelegt zu haben, welches zum Nachdenken anregen und richtungsweisende Impulse für die Praxis bieten soll.
Mein Dank gilt allen, die die Arbeit an diesem Buch unterstützt haben, vor allem Henriette Paetz für ihre kritisch-konstruktive Durchsicht, Zuarbeit und Übersetzung einiger Texte aus dem angloamerikanischen Sprachraum. Bedanken möchte ich mich zudem bei Herrn Dr. Klaus-Peter Burkarth vom Kohlhammer-Verlag für sein großes Interesse an der Realisierung des Buchprojekts.
Gewidmet habe ich das Buch autistischen Personen, denen ich begegnet bin und von denen ich viel gelernt habe, sowie insbesondere autWorkers (Hamburg) und Aspies e. V. (Berlin) zur Unterstützung ihrer Arbeit.
Georg Theunissen
Freiburg i. Br. und Halle a. S.
Ein Blick in die wissenschaftliche Literatur über Autismus genügt, um festzustellen, dass die weitaus meisten, vor allem deutschsprachigen Schriften Informationen über verschiedene klinische Bilder von Autismus als »tiefgreifende Entwicklungsstörung« verbreiten sowie spezifische Therapiemaßnahmen oder Interventionen empfehlen, bei denen eine Pathologisierung, Defizitbetrachtung und Behandlungsbedürftigkeit autistischen Verhaltens den spürbaren Hintergrund bildet. Diesbezüglich gibt es kaum Unterschiede im Aufbau, in der Darstellung und in den Botschaften der einschlägigen Fachliteratur, bei der das Lager der klinischen Disziplinen tonangebend ist, auf die sich nicht wenige Praktiker oder auch Eltern autistischer Kinder stützen. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn Autismus bis heute folgendermaßen skizziert wird:
»Der Begriff Autismus ist von dem griechischen Wort ›autos‹ = selbst abgeleitet und bezieht sich auf das zunächst offensichtliche Merkmal autistischer Menschen, ihre Selbstbezogenheit. Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, eine zentrale Wahrnehmungsund Informationsverarbeitungsstörung des Gehirns. Auffälligkeiten im Sozialverhalten, in der Kommunikation und Interaktion und in der Wahrnehmung (z. B. Fixierung auf Spezialinteressen) sind die Folge. Besonders beeinträchtigt sind alle Entwicklungsbereiche, die mit sozialem Lernen zusammenhängen. Es gibt zahlreiche Ausprägungen des Autismus (Frühkindlicher Autismus, High-functioning Autismus, Asperger-Syndrom, Atypischer Autismus), weshalb man heute im Allgemeinen von einer Autismusspektrumstörung (ASS) spricht, die alle Facetten beinhaltet« (Gier-Dufern & Selter 2012).
Dieser Beschreibung folgt dann ein Defizitkatalog gemäß der sogenannten »Symptom-Triade« (triad of impairments) nach den international bekannten und gebräuchlichen Klassifikationssystemen psychischer Störungen ICD-10 (Dilling u. a. 1993) und DSM-IV (APA 1994):
»Symptom-Triade nach ICD-10 und DSM-IV
• Qualitative Beeinträchtigung der wechselseitigen sozialen Interaktion
– Beeinträchtigung bei Blickkontakt, Mimik, Körperhaltung und Gestik zur Regulation sozialer Interaktionen
– Unfähig, altersgemäße Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzunehmen
– Mangel an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit
– Mangel, spontan Freude, Interessen oder Tätigkeiten mit anderen zu teilen
• Qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation
– Entwicklungsstörung der gesprochenen Sprache ohne Kompensation durch Gestik oder Mimik
– relative Unfähigkeit, eine Konversation zu beginnen oder aufrechtzuerhalten
– stereotype und repetitive oder eigentümliche Verwendung der Sprache
– Mangel an spontanen Als-ob-Spielen bzw. sozialen Interaktionsspielen
• Stereotypes Repertoire von Interessen und Aktivitäten
– Intensive Beschäftigung mit stereotypen und begrenzten Interessen
– Spezifische, nicht funktionale Handlungen oder Rituale
– Stereotype und repetitive motorische Manierismen
– Durchgängige Beschäftigung mit Teilobjekten oder nicht funktionalen Elementen von Gegenständen
Zusätzlich: Auffällige Entwicklung von frühester Kindheit an (Quelle: Monica Biscaldi-Schäfer und Klaus Hennighausen, 02.04.2011)« (Gier-Dufern & Selter 2012).
Diese »Symptom-Triade« wird durch eine Auflistung an Beeinträchtigungen in verschiedenen Wahrnehmungsbereichen und des Problemlösungsverhaltens ergänzt, wobei eine statische, generalisierende, negative Sprache (z. B. »Autistischen Menschen fehlt…«, »verhalten sich…«, »haben kein Verständnis…«, »Unfähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen«) unangenehm auffällt.
Solche Defizitkataloge sowie entsprechende Informationen, die gegenwärtig nicht selten als »Rüstzeug« im Rahmen einer Vorbereitung von Schulbegleiter(inne)n für autistische Kinder und Jugendliche oder gar zur Qualifizierung und Professionalisierung heilpädagogischer und psychologischer Fachkräfte dienen, zeichnen unzweifelhaft ein sehr einseitiges Bild über Personen, die als autistisch gelten.
Demnach erscheint das Verhalten und Erleben betroffener Personen als »gestört« und häufig krankhaft, was zu der Vorstellung verleitet, Autismus als »ein lebenslanges, sehr stark belastendes Leiden« (Poustka 2010, 11) und Betroffene als »therapiebedürftige Fälle« zu betrachten. Dagegen richtet sich seit einiger Zeit massive Kritik, die vor allem aus dem Lager der Selbstvertretung von Menschen im Autismus-Spektrum artikuliert wird (vgl. ASAN 2012b; Aspies e. V.; autWorker; Cohen-Rottenberg 2011, 90). So legen zum Beispiel alle 15 Autor(inn)en der vom Selbstvertretungsverein Aspies herausgegebenen Schrift »Risse im Universum« Wert auf die Feststellung: »Uns … ist allen gemeinsam, dass wir nicht als ›Fälle‹ oder ›Opfer‹ des Autismus gesehen werden wollen, von dem wir womöglich geheilt werden müssten« (Aspies e. V. 2010, 9); und an anderer Stelle schreiben Betroffene: »Die Art, wie wir anders sind als andere Menschen, zu pathologisieren, empfinden wir als Diskriminierung … Wir wehren uns dagegen, dass Autismus nur über Defizite definiert wird« (Aspies e. V. 2008). Dieser Protest gilt nicht nur dem traditionellen Autismus-Bild im Lager der helfenden Berufe, Fachwelt, Politik und Kostenträger, sondern ebenso den Vorurteilen, unreflektierten, einseitigen Ansichten über Autismus in der Öffentlichkeit und in den Medien.
Selbst die Autismusforschung war viele Jahre »nicht frei (…) von Mythen und Vorurteilen gegenüber autistischen Menschen« (Seng 2011, 5), hatte sie sich doch weithin vom traditionellen psychiatrischen Modell leiten lassen, welches Behinderungsformen mit kognitiven Beeinträchtigungen und (zusätzlichen) Verhaltensbesonderheiten (z. B. geistige Behinderung oder Autismus) überwiegend nihilistisch-pessimistisch prognostizierte (vgl. dazu Theunissen 2012, 38). Die Verallgemeinerung dieser psychiatrischen Sicht hatte nicht nur autistischen Personen mit schweren Beeinträchtigungen, sondern ebenso anderen Autist(inn)en in vielerlei Hinsicht geschadet. Wenngleich in den beiden Klassifikationssystemen der als »Asperger-Autisten« klassifizierten Personengruppe im Unterschied zu den sogenannten »Kanner-Autisten« kognitive Fähigkeiten, eine weithin normgerecht verlaufende Sprachentwicklung sowie spezielle Stärken oder Begabungen zugeschrieben werden, wurde die Defizit-Perspektive bei allen Autismus-Syndromen angelegt und weithin verallgemeinert.
Für Autist(inn)en scheint dies bis heute ein Problem zu sein, denn was hätte sie sonst zu der Aussage veranlassen können, »dass es selbst Psychologen oft genug unterläuft, von einem einzigen ›Fall‹ auf alle autistischen Menschen zu schließen. Das ist die Ursache für viele Klischees und Mythen« (Aspies e. V. 2010, 9). Umso erfreulicher ist es, dass die Autismusforschung von einer Generalisierung Abstand genommen und sich der Erkenntnis angeschlossen hat, dass es »den Autismus nicht gibt« (Poustka et al. 2004, 9 zit. z. Hartl 2010, 30). Das entspricht ebenso der Auffassung autistischer Menschen: »All autistics are as unique as other human beings« – so das Statement vom US-amerikanischen Autistic Self Advocacy Network (ASAN 2012). Hören wir hierzu stellvertretend für viele andere Autist(inn)en Brauns (2002, 9):
»Manche Autisten verleben still, in sich gekehrt, ihre Tage, andere toben herum, weil ihnen die Welt durch den Kopf rennt. Manche Autisten lernen es nie, sich richtig zu bedanken, anderen kommen diese Floskeln so trefflich über die Lippen, dass der Eindruck entsteht, sie verstünden, was ihnen da herausrutscht. Manche Autisten lachen gerne und plappern viel, andere sind eher sachlich und einsilbig. Manche Autisten verzweifeln an trübsinnigen Gedanken, andere haben ihre Zelte auf der heiteren Seite des Lebens aufgeschlagen.«
Diese Worte signalisieren, »dass jedes Leben einzigartig, spannend und kostbar ist« (Aspies e. V. 2010, 7) und dass es »selbstverständlich auch für Menschen mit einer Autismus-Diagnose« (ebd.) ein breites Spektrum an Verhaltensweisen gibt, welches eine Verallgemeinerung verbietet und nur personenbezogenen (subjektzentriert über individuelle Stärken und Probleme) erschlossen werden kann.
Dem Anschein nach wird jedoch »an dem gewohnten Autismusbild festgehalten« (Seng 2011, 13). Damit bekommen Autist(inn)en nach wie vor über die Klassifikationssysteme und Autismusforschung ein Defizitbild gespiegelt, das nicht nur Grund für gesellschaftliche Diskriminierungen, Benachteiligungen und Ausgrenzungen sein kann, sondern darüber hinaus eine selbsterfüllende Prophezeiung (self fulfilling prophecy) befördert, die ihre Chancen auf ein »inklusives und selbstbestimmtes Leben« zusätzlich erschwert. »Auch sie (gemeint sind Betroffene, G. T.) begreifen am Ende sich und ihr Autistischsein dann häufig als defizitär. Sie haben oft nicht die Möglichkeit, zu erfahren, dass ihr Anderssein je nach Kontext nicht zwangsweise als Defizit erscheinen muss, sondern sogar ein Potenzial darstellen kann, das sich sehr vorteilhaft für das eigene Leben entfalten kann« (Seng 2010, 20). »The result was« – so die Autistin R. Cohen-Rottenberg (2011, 55) – »depression, low self-esteem, and feelings of despair.«
Sengs Worte lassen erahnen, dass in der Tat allzu lange das Autismus-Bild unter Ausschluss Betroffener von Psychiatern oder Psychologen geprägt wurde und dass das Thema Autismus nicht mehr allein von Fachverbänden oder klinischen Disziplinen bestimmt werden sollte. Findet diese Einsicht hierzulande erst seit kurzem Gehör, spielt sie in anderen Staaten wie Australien, Großbritannien, Kanada und den USA schon seit mehreren Jahren eine prominente Rolle. Mehrere Forschergruppen und -institute im Bereich Autismus zeigen auf, wie fruchtbar eine Zusammenarbeit zwischen nicht-autistischen Wissenschaftler(inne)n und Betroffenen oder auch autistischen Forscher(inne)n sein kann, die sich zurecht als Experten in eigener Sache betrachten.
Eine federführende Rolle dieser Position nimmt dabei das US-amerikanische Autism Rights Movement (ARM) ein, insbesondere das ihr zugeordnete ASAN, welches eine Sicht von Autismus vertritt, die der herkömmlichen, defizitorientierten Betrachtung kontrapunktisch gegenübersteht.
Nach dem ASAN (2012) ist Autismus keine schwerwiegende, zu eliminierende Krankheit, sondern eine »neurologische Veränderung« (neurological variation) in Form eines menschlichen Seins (neurodiversity). Daher werden Bezeichnungen wie »Person mit Autismus« oder »Menschen mit autistischen Störungen« abgelehnt, und statt der »Mensch-zuerst-Sprache« (Walker 2012, 157) wird von autistischen Personen, Autist(inn)en oder Menschen im Autismus-Spektrum gesprochen:
»Saying ›person with autism‹ suggests that the autism can be separated from the person. But this is not the case… Autism is a part of me. Autism is hard-wired into the ways my brain works. I am autistic because I cannot be separated from how my brain works« (Sinclair 2012, 152; (fett im Original)).
Ferner klassifiziert das ASAN Autismus als Behinderung (developmental disability), die bei etwa 1 % der Bevölkerung in Erscheinung tritt. Dieser Wert wurde kürzlich vom US-amerikanischen National Institute of Mental Health (vgl. CDC 2012) auf der Grundlage von Erhebungen in mehreren US-Staaten bestätigt: » What was once considered a rare disorder (gemeint ist das Autismus-Spektrum, G. T.) is now reported as affecting 1 in 88 children« (Insel 2012).
Wie in den USA wird heute ebenso in vielen anderen Ländern Autismus wesentlich häufiger diagnostiziert als noch vor etwa 30 Jahren. Auch in Deutschland rechnen Experten mit etwa 1,16 % Menschen im Autismus-Spektrum, davon werden 2/3 dem sogenannten Asperger-Syndrom oder hochfunktionalen Autismus zugeordnet (vgl. Bölte 2010, 211; Dern 2008, 28; Poustka 2010, 12).
Was die Hintergründe dieser weltweit zu beobachtenden Zunahme an Autismus-Diagnosen betrifft, so wird insbesondere auf ein wachsendes gesellschaftliches Bewusstsein gegenüber behinderten Menschen sowie auf eine größere Sensibilität in Bezug auf Autismus, unter anderem bei Mädchen und Frauen (vgl. Preißmann 2013, 8) und vor allem im Hinblick auf Personen mit dem sogenannten Asperger-Syndrom, auf veränderte Kriterien zur Diagnostizierung des Autismus, auf eine frühere Diagnostizierung im frühkindlichen Alter sowie auf verfeinerte, genauere Instrumente zur Erfassung von Verhaltensweisen im sogenannten Autismus-Spektrum verwiesen (Raymaker 2008, 3). Ferner wurde mit Aufnahme der Kategorie Autismus in das US-amerikanische Einteilungssystem von Behinderungen für den Erziehungs- und Bildungsbereich in den 1990er Jahren der Weg für ein umfänglicheres Dienstleistungsangebot für Schüler/innen aus dem Autismus-Spektrum gegenüber anderen behinderten Kindern geebnet (Bell 2006). Daher scheinen für die Zunahme von Autismus gleichfalls Interessen von Eltern eine Rolle zu spielen, durch die Autismus-Diagnose anstelle anderer Behinderungsdiagnosen (v. a. »intellectual disability«, »learning disability«, »emotional/behavior disorders«) bessere Unterstützungsleistungen für ihr behindertes Kind zu bekommen. So gibt es zum Beispiel in den USA Gemeinden, in denen sehr viele weiße und reiche Familien leben und die Anzahl an autistischen Kindern seit einigen Jahren überdurchschnittlich hoch ist (Zarembo 2011). Dies wird mit engen nachbarschaftlichen Austauschprozessen, Beziehungen und sozialen Netzwerken in Verbindung gebracht (King & Bearman 2011; Liu, King & Bearman 2010). An dieser Stelle drängt sich der Verdacht auf, dass der Anstieg an Autismus-Diagnosen einen artifiziellen Charakter hat. Jenseits dieser Beobachtung wird in vielen Staaten der USA (z. B. in Kalifornien) derzeit der größte Zuwachs an Autismus-Diagnosen bei Kindern registriert, die bisher von sozialen Systemen (z. B. Schuloder Gesundheitsbehörden) marginalisiert wurden (Kinder aus sozial schwachen Familien, African American, Hispanic; vgl. Insel 2012).
Es hat somit den Anschein, dass in der Vergangenheit autistische Personen oftmals als »geistig behindert« fehldiagnostiziert1 oder aus sozialen Gründen nicht adäquat erfasst waren. In nahezu allen US-Bundesstaaten gibt es einen deutlichen Zusammenhang zwischen Abnahme der Anzahl sogenannter geistig oder lernbehinderter Schüler/innen und Zunahme an autistischen Kindern und Jugendlichen. »Higher autism prevalence was significantly associated with corresponding declines in the prevalence of mental retardation and learning disabilities« (Shattuck 2006, 1028). Ausnahme bildete Kalifornien, wo die Zunahme autistischer Kinder nicht mit einer korrelierenden verringerten Prävalenz anderer Behinderungsformen einherging (ebd., 1034).2
Aber nicht nur die Fehldiagnosen, sondern ebenso häufige Wechsel der Autismus-Diagnosen gaben Anlass zu massiver Kritik und zur Suche nach einer Alternative, die mit einem von der Autistin D. Raymaker entworfenen Ansatz des Autismus-Spektrums vorgelegt wurde (ASAN 2012). Diesbezüglich werden sieben charakteristische Merkmale des Autismus herausgestellt, die für alle autistischen Personen in unterschiedlichem Ausprägungsgrad typisch sind:
Dieser Aspekt lenkt den Blick auf das breite Feld an Wahrnehmungsbesonderheiten, die bei autistischen Personen beobachtbar sind und insbesondere von Betroffenen3 (z. B. Schuster 2007) immer wieder herausgestellt werden, zum Beispiel eine Hyper- oder auch Hyposensibilität gegenüber Geräuschen, Lichtverhältnissen, Temperaturen, Schmerzen, Textilien, Körperberührungen oder Geschmacksstoffen; ferner eine Synästhesie, sogenannte Filterschwäche, Überselektivität, mangelnde zentrale Kohärenz wie auch eine »beachtliche Beobachtungsgabe für Details« (ebd., 24): Hinzu kommen Schwierigkeiten der Wahrnehmung des eigenen Körpers: »Mein Körper etwa war mir auch nie wirklich vertraut« (Rainer, zit. n. Aspies e. V. 2010, 125). Über Probleme der eigenen Körperwahrnehmung berichtet gleichfalls Williams (2014), indem Menschen aus dem Autismus-Spektrum häufig ihren Körper »oder einzelne Körperteile als ›leblos‹, als etwas Fremdes oder von der Person Getrenntes erleben«.
Berichten und Beobachtungen zufolge (u. a. von Asperger 1944) hat es den Anschein, dass viele autistische Personen beim Lernen angesichts ihres »anderen Denkens« und kreativen Potenzials »weitgehend auf sich selbst gestellt« (Seng 2011, 30) sind, sich selbst Wege erarbeiten und selbstentwickelte Strategien nutzen (z. B. über Grafiken, Schaubilder, Diagramme), um Aufgaben zu lösen (vgl. Realitätsfilter 2013; Williams 1994, 171); zudem verweigern sich manche vorgegebenen Lern- und Problemlösungswegen, indem sie ihre eigenen nutzen (vgl. Williams 1994, 85, 181). »Sie tun sich schwer«, schreibt Schuster (2007, 81), »Kenntnisse von anderen Menschen, zum Beispiel dem Lehrer, zu übernehmen. Vieles können sie sich nur autodidaktisch beibringen.« Hierzu die Bemerkung einer autistischen Person: »Gesichtsausdrücke und dadurch ausgedrückte Emotionen müssen ›gelesen‹ werden, systematisch erarbeitet werden, ausgehend von der Stirn, den Falten an der Nasenwurzel bis hin zum Mund, alle diese Partien werden einzeln betrachtet und dann zusammengebracht« (L. v. Dingens, zit. n. Aspies e. V. 2010, 161).
Neben dieser Besonderheit und Stärke der Selbstbildung (dazu auch Williams 1994, 76, 100, 125) zeigen einige Autist(inn)en ein ungewöhnliches Lernverhalten, wenn sie mit schwierigen Aufgaben (z. B. im Bereich der Mathematik) beginnen, bevor sie sich einfachen (z. B. Addition) zuwenden. Darüber hinaus gilt es, Schwierigkeiten im Rahmen exekutiver Funktionen sowie Besonderheiten zu beachten, die sich auf Leistungsstärken im Bereich der »flüssigen Intelligenz« (Schnelligkeit bei der Erfassung von Zeichen, Mustern oder beim Puzzle legen) und auf Probleme bei der Bewältigung von Aufgaben beziehen, die verbale Fähigkeiten abverlangen. Andererseits können begabte Autist(inn)en mit besonders kreativen kognitiven Leistungen, indem zum Beispiel in Zahlen »eine Art Muster« erkannt werden (Mukhopadhyay 2005, 34), oder anderen Verstandesleistungen imponieren, indem sie sich wie beispielsweise Grandin (1997, 171) der Visualisierung und Logik bedienen, »um Probleme zu lösen und herauszufinden, wie Menschen reagieren werden… oder wie die Täuschung funktioniert«. Dem Anschein nach wird nicht selten auf eine »Verbildlichung« (dazu auch Grandin 1995; 2014; Soulières et al. 2011b) zurückgegriffen: »Ich lerne am schnellsten, wenn ich Sachen verbildliche. Zum Beispiel Vokabeln lerne ich, indem ich die zu lernenden Wörter real auf meinen Tisch lege« (zit. n. Realitätsfilter 2013, 2); oder: »Wenn ich lernen muss, benutze ich eine Assoziationstechnik. Ich verbinde den Inhalt aus dem Unterricht mit bestimmten Bildern, die ich dann ›speichere‹« (zit. n. ebd., 2).
Wenngleich schon Kanner (1943) und Asperger (1944) auf Sonderinteressen, sogenannte Inselbegabungen oder spezifische Stärken als autismustypische Merkmale hinweisen, hat dieses Thema erst in den letzten Jahren die Wertschätzung erfahren, die ihm unzweifelhaft zusteht. Allzu lange war es bei Menschen mit dem sogenannten frühkindlichen oder atypischen Autismus nahezu völlig ausgeblendet oder als pathologisch (zwanghaft, stereotyp) entwertet worden. Heute wird hingegen davon ausgegangen, dass etwa 90 % aller autistischen Personen spezielle Interessen entwickeln und dass alle Autist(inn)en in der Ausbildung von Interessen unterstützt werden sollten (vgl. Dawson & Mottron 2011, 33; Jordan & Caldwell-Harris 2012, 1 f.; Klin et al. 2007, 96).
Die Bedeutung von Spezialinteressen (kognitiv, emotional, sozial, beruflich) und die damit verknüpften Fähigkeiten und Stärken (Motivation, Sorgfalt, Durchhaltevermögen, Präzision, Detailgenauigkeit, Verantwortungsbewusstsein…) kann für eine autistische Person nicht hoch genug eingeschätzt werden (Attwood 2003; Theunissen & Paetz 2010, 25 ff.; Theunissen & Schubert 2010; Winter-Messiers 2007). »›Narrow but deep‹, these ›special interests could be anything from mathematics to ballet, from doorknobs to physics, and from politics to bits of shiny paper« (ASAN 2012). Stellvertretend für viele andere autistische Personen berichtet zum Beispiel Miggu (zit. n. Aspies e. V. 2010, 14): »Etwa mit vier begann mein Interesse an Science-Fiction zu erwachen. Star Trek Raumschiff Enterprise habe ich regelmäßig mit meinem fünf Jahre älteren Bruder geschaut… Das Interesse an diesem Themengebiet hat mit den Jahren nie aufgehört«; und an späterer Stelle schreibt er: »Mit 12 habe ich angefangen, mich für Fremdwörter zu interessieren. Fremdwörter waren für mich wie Magie« (ebd., 25).
Hierunter werden alle Verhaltensweisen gefasst, die als physisch oder motorisch auffällig gelten wie beispielsweise mit dem Oberkörper schaukeln, Zehengang, auf den Füßen wippen, mit den Händen flattern, bizarre oder verkrampfte Armbewegung, steife Körperhaltung u. a. m.
Solche Verhaltensweisen, die Auswirkungen auf Köperhaltung, Balance, Geschicklichkeit und Handlungen haben, können stark oder auch schwach ausgeprägt in Erscheinung treten: »Autisten typische Bewegungen findet man bei mir kaum und auch nur dann, wenn man gezielt darauf achtet. Ein leichtes seitliches Hin- und Herwiegen des Körpers oder auf den Fußaußenkanten zu stehen bei längeren Wartezeiten oder Gewichtsverlagerungen von der Ferse auf Zehenspitzen und zurück bei Anspannungen fallen nicht von sich aus auf. Auch das Wedeln mit den Händen bei Stress oder Verbiegen der Finger bei starker Freude halten sich in sehr engem Rahmen und sind nicht weiter auffällig« (L. v. Dingens, zit. n. Aspies e. V. 2010, 164).
Welche soziale Auswirkungen motorische Auffälligkeiten haben können, zeigt die folgende Aussage: »Andere Kinder wollten nicht mit ihm spielen. Warum war es nur so langsam? Es sah nie den Ball, den man ihm zuwarf. Es lief auch nie weg, beim Kriegen spielen. Und seine Bewegungen waren auch irgendwie seltsam. Es wirkte so hölzern und ungelenk. Das Kind wurde von anderen Kindern immer nur ausgelacht« (H.-L. T., zit. n. Aspies e. V. 2010, 182).
Neben Schwierigkeiten im Rahmen motorischer Fertigkeiten (z. B. motorische Unbeholfenheit beim Binden einer Schleife) oder bei der Ausführung und Planung von Bewegungs- oder Handlungsabläufen in Verbindung mit einer Apraxie, Dyspraxie (Koordinationsstörung) oder dissoziativen Störung lassen sich unter diesem vierten Aspekt aber auch motorische Stärken (hohes Geschick) erfassen.
Dieser Aspekt spielt im Leben autistischer Menschen oftmals eine zentrale Rolle und verweist auf potenzielle Ängste, die entstehen können, wenn sich Betroffene in veränderten oder unbekannten Situationen zurechtfinden müssen. Ferner erstreckt er sich auf Kompetenzen eines Organisierens, Erstellens von Zeitplänen oder Tagesabläufen, an denen alltägliche Handlungen ausgerichtet werden. Am Erstellen und Einhalten von Stundenplänen und Regeln haben »manche Menschen im autistischen Spektrum ein großes Vergnügen« (ASAN 2012). Wie subjektiv bedeutsam ein regelmäßig durchgeführter, beständiger Ablauf im Kontext einer Aktivität sein kann, führt uns Brauns plastisch vor Augen: Üblicherweise musste er immer zum Flötenunterricht, der eines Tages abgebrochen wurde: »Eine Ordnung drohte einzustürzen. Das Blockflötenspiel war völlig unwichtig. Wichtig waren die Fußwege zum Flötenhaus und zurück. Dieser dreigute Teil meines Lebens durfte mir nicht genommen werden. Warum sollte ich bestraft werden? Ich hatte doch nichts ausgefressen« (Brauns 2002, 134).
Diese Schwierigkeiten betreffen verbale und non-verbale Kommunikationsformen. Einerseits lassen sich unter diesem sechsten Bereich das Ausbleiben einer verbalen Sprache, Verzögerungen oder Besonderheiten in der Sprachentwicklung (das Vertauschen von Personalpronomina), spezielle Sprachphänomene (z. B. Echolalie, Neologismen, auffällige Intonation), semantisch-pragmatische oder andere Verständnisschwierigkeiten (wörtliches Verstehen, Ironie missverstehen, Mentalisierungsprobleme) wie auch Schwierigkeiten, Emotionen oder Befindlichkeiten auszudrücken, erfassen. Zur Verdeutlichung der Schwierigkeit, den Bedeutungsgehalt von Wörtern und Sätzen zu verstehen (literality), ein Beispiel von Brauns (2002, 187): »›Du bist ja eine richtige Leseratte‹« wurde ihm signalisiert. Daraufhin suchte er sich in der Bücherei ein Buch über Leseratten und fragte sich: »Wie sah eine Leseratte aus? Vielleicht wie eine Wasserratte … Das Bild einer Wasserratte hatte ich vor Augen. Das Bild einer Leseratte jedoch nicht. Vielleicht hatten Leseratten zitronengelbes Fell und kirschrote Ohren und spitze Zähne, mit denen sie an den Buchstaben knabberten wie ich an Russischbrot« (ebd., 188).
Andererseits sollten neben diesem »Mentalisierungsproblem« außergewöhnliche sprachliche Leistungen (Neologismen als kreative Leistung, Verfassen von Gedichten oder autobiographischen Texten, enzyklopädische Wortschatzsammlungen, Verständigung in mehreren Fremdsprachen) nicht unberücksichtigt bleiben.
Das betrifft zum Beispiel den Umgang mit sozialen Konventionen, auf den ASAN (2012) verweist: »delayed responses to social stimulus, or behaving in an ›inappropriate‹ manner to the norms of a given social context (for example, not saying ›hi‹ immediately after another person says ›hi‹).«
Wie zuvor lässt sich ebenso an dieser Stelle ein »Mentalisieren« (Frith zit. n. Schuster 2007, 89) ins Spiel bringen, wenn Schwierigkeiten zu Tage treten, soziale Interaktionen zu erfassen, aufrechtzuerhalten oder zu pflegen. Allerdings haben längst nicht alle autistischen Personen signifikante Probleme, »die Perspektiven anderer einzunehmen« (ebd., 92), wie es mit Blick auf die »Theory of Mind« (vgl. dazu Fangmeier 2013) nicht selten behauptet wird. Diesbezüglich wird Autist(inn)en im Hinblick auf ihr Sozialverhalten oder Verhalten in sozialen Situationen mangelnde Empathie nachgesagt. Auch hierzu bedarf es einer differenzierten Betrachtung, die ich später noch aufgreifen werde: Geht es um kognitive Empathie, um »die Fähigkeit, sich in den mentalen Zustand eines anderen hineinversetzen zu können« (Dern & Schuster 2007, 52), sind Interaktionsprobleme, zum Beispiel unangemessene Verhaltensweisen in sozialen Situationen, in Betracht zu ziehen; geht es um affektive Empathie, die die direkte Reaktion auf ein Gefühl einer anderen Person bezeichnet, so kann sehr wohl ein (»instinktives«) Mitgefühl auftreten, da kein Mentalisieren notwendig ist (ebd. 52; Seng 2011, 16 ff., 50; Schuster 2007, 111 f.). Der bereits oben erwähnte Rückgriff auf Visualisierung und Logik (Verstandesleistung) ist eine Möglichkeit, sich im Falle kognitiver Empathieprobleme selbst zu helfen und soziale Situationen aufrechtzuerhalten oder »auszuhalten«.
Mit dieser Einteilung, die zunächst nur auf der weltweit operierenden »website Change.org« (einer Empowerment-Plattform für sozialen Wandel) veröffentlicht wurde, werden zentrale Aspekte des Autismus aufgegriffen und zugleich neutralisiert, so dass nicht nur potenzielle Schwierigkeiten, sondern gleichfalls Stärken erfasst werden können. Die prominente Bedeutung des Ansatzes liegt darin, dass er (1) die traditionellen Einteilungen des Autismus überflüssig werden lässt, da zwischen dem »Asperger-Syndrom und klassischen Autismus mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede angenommen werden… (und, G. T.) die Schwierigkeiten im Wesentlichen gleicher Natur (sind, G. T.), welche Diagnose eine autistische Person auch immer bekommt« (Lawson 2011, 154), (2) Merkmale (z. B. unübliches Lernverhalten; Wahrnehmungsbesonderheiten) berücksichtigt, die bisher in den Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV sowie diagnostisch vernachlässigt wurden, (3) auf eine Sprache und Beschreibung verzichtet, die Defizite hervorhebt, (4) das Autismus-Spektrum nicht unmittelbar mit Störungen (autism-spectrum disorders) assoziiert (dazu Dawson & Mottron 2011, 34), sondern als eine menschliche Bedingung (condition) betrachtet (daher auch die von S. Baron Cohen favorisierte Bezeichnung »autism spectrum condition«), (6) durch die Würdigung von speziellen Interessen und Stärken der traditionellen Pathologisierung des Autismus kontrapunktisch gegenübersteht und (7) für eine funktionale Sicht autistischen Verhaltens wegebnend ist, welche einerseits zum Verstehen betroffener Personen beiträgt und andererseits signalisiert, dass es wichtig ist, zwischen typischen autistischen Verhaltensweisen und zusätzlichen Verhaltensauffälligkeiten zu differenzieren (vgl. dazu auch Theunissen & Paetz 2011, 100 ff.).
Was die Lesart dieser sieben Aspekte betrifft, so müssen sie bis in die frühe Kindheit nachweisbar sein, wenn einer Person ein Autismus im Sinne des Spektrums attestiert werden soll. Das erfordert eine sorgfältige Anamnese oder Aufbereitung der Lebensgeschichte. Grundsätzlich können die genannten Kriterien bei einer Person in abgeschwächter oder stark ausgeprägter Form in Erscheinung treten. »Viele Wissenschaftler gehen daher inzwischen von einem fließenden Übergang zwischen Autismus und Normalität aus; zunehmend begreifen sie Autismus nicht als Störung sondern als ein Spektrum von neurologischen Zuständen, auf dessen Skala die typisch autistischen Züge mehr oder weniger stark ausgeprägt sind« (Dern & Schuster 2007, 50). Der Ausprägungsgrad kann bei jedem der sieben Punkte unterschiedlich sein, und dies bedeutet, dass die einzelnen Charakteristika nur individuell erschlossen werden können. Dabei darf jedoch ihr Zusammenspiel und -wirken nicht aus dem Blick geraten, wenn eine Einschätzung im Hinblick auf Autismus vorgenommen werden soll. Ebenso wichtig ist es, das Autismus-Spektrum im Hinblick auf Funktionsebenen nicht als ein Kontinuum misszuverstehen, bei dem an dem einen Ende schwere Formen des sogenannten frühkindlichen Autismus oder low-functioning autism mit massiven kognitiven Beeinträchtigungen und an dem anderen Ende leichte Formen des sogenannten Asperger-Syndroms oder high-functioning autism mit hoher Intelligenz platziert werden.
Wie problematisch die Annahme eines Kontinuums einzuschätzen ist, führt uns zum Beispiel die ASAN-Aktivistin Amanda Baggs vor Augen, die aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes (schwere körperliche Beeinträchtigungen, hohe Unselbstständigkeit, nicht-sprechend) zumeist als »schwerst autistisch« (profoundly autistic) oder »low-functioning« etikettiert, gelegentlich auch als »leicht autistisch« (mildly autistic) eingeschätzt wurde, jedoch in keiner Weise intellektuell beeinträchtigt (geistig behindert), wohl aber nach eigenen Angaben »schwer behindert« (severely disabled) und einfach autistisch ist: »Just ›autistic‹ is enough, no modifiers needed« (Baggs 2007, 5; dazu auch Theunissen & Paetz 2011, 37, 44; Sequenzia 2012a; b).
Ebenso wurde die Aktivisten Sue Rubin im Hinblick auf ihre Intelligenz und Kommunikation völlig falsch eingeschätzt (vgl. Rubin 2005; Rubin et al. 2001)4. Bis zu ihrem 13. Lebensjahr galt S. Rubin als schwer autistisch und stark intellektuell beeinträchtigt, was sie durch negative Zuschreibungen und diskriminierende Reaktionen ihres Umfeldes zu spüren bekam. Mit Hilfe einer PC-Tastatur und der Gestützten Kommunikation gelang es ihr, ihrem Umfeld ihre kognitiven Fähigkeiten und ihre Kenntnisse über Autismus unter Beweis zu stellen. Heute kommuniziert sie ohne physische Unterstützung. Als Repräsentantin der Selbstvertretungs- und Rechtebewegung (ARM) demonstriert sie politisches Engagement, wenn es zum Beispiel um traditionelle und falsche Auffassungen über Autismus in der Öffentlichkeit geht.
Raymaker (2008, 3), Kapp und Ne’eman (2012, 3) sehen die Gefahr, dass nicht nur durch die Beschreibung eines Kontinuums oder der (bekannten) Autismus-Syndrome eine Spaltung innerhalb der » autistic community« begünstigt würde, sondern darüber hinaus falsche Vorstellungen über den Unterstützungsbedarf von Autist(inn)en mit (über-)durchschnittlicher Intelligenz entstehen könnten. In der Tat kann die Annahme eines Kontinuums zur Überschätzung der lebenspraktischen Selbsthilfe-Fähigkeiten (functional skills; adaptive skills) von sogenannten high functioning oder Asperger-Autisten im Erwachsenenalter führen und ein »fehlendes Bewusstsein« im Hinblick auf ihre speziellen Bedürfnisse befördern (Ne’eman 2012). Da es in Wirklichkeit mehr Gemeinsamkeiten denn Unterschiede zwischen Personen aus dem Autismus-Spektrum mit Lernschwierigkeiten (intellectual disabilities) und Autist(inn)en ohne zusätzlichen kognitiven Beeinträchtigungen gebe, sei daher die Sicht des Autismus-Spektrums hilfreich, um Autismus zu verstehen. Tatsächlich sind die Grenzen zwischen den verschiedenen Formen des Autismus fließend, und nicht selten wurde in der Vergangenheit bei einzelnen Personen zunächst ein frühkindlicher Autismus, später ein high functioning oder Asperger-Syndrom oder im Kindes- und Jugendalter eine geistige Behinderung, sozio-emotionale oder Borderline Störung, später im Erwachsenalter ein frühkindlicher, atypischer oder Asperger-Autismus diagnostiziert (dazu Theunissen & Paetz 2011, 12).
Seng (2011, 11) zufolge wird bis heute »Autismus in der Regel nicht adäquat von den Diagnosekriterien erfasst«, und da sich dem Anschein nach »eine zunehmende Beliebigkeit der Diagnosestellungen« (ebd., 11) in den letzten Jahren abgezeichnet hat, fühlte sich wohl die American Psychiatric Association (APA) dazu veranlasst, sich diesem Problem anzunehmen und in der 2013 veröffentlichen Neuauflage ihres diagnostischen und statistischen Handbuches Psychischer Störungen, dem DSM 5, Autismus neu zu fassen.
Wurde im DSM IV Autismus analog zum ICD-10 als eine »tiefgreifende Entwicklungsstörung« ausgewiesen und in verschiedene Formen differenziert, ist mit dem DSM 5 in der Tat eine weitreichende Veränderung vollzogen worden, indem auf eine Einteilung »autistischer Syndrome« sowie auf eine Klassifikation in high-functioning Autismus oder low-functioning Autismus gänzlich verzichtet wird. Stattdessen werden unter dem neuen Begriff » autism spectrum disorder« (Autismus-Spektrum-Störung) ähnlich wie beim Ansatz des ASAN nur noch spezifische Merkmale des Autismus aufgelistet (vgl. APA 2012; übersetzt ins Deutsche und sinngemäß erläutert vom Verfasser):
A. Dauerhafte Defizite in der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion (die nicht für eine allgemeine Entwicklungsverzögerung sprechen) in allen drei Unterkategorien:
1. Defizite in der sozial-emotionalen Wechselseitigkeit
(z. B. im Rahmen einer »normalen« Konversation; reduzierter Austausch von Interessen oder Emotionen; reduzierte Initiative oder Vermeidung sozialer Interaktionen)
2. Defizite in der nonverbalen Kommunikation im Rahmen sozialer Interaktionen
(z. B. schlechte integrierte verbale und nonverbale Kommunikation; fehlender Blickkontakt, schwache Körpersprache, Mimik oder Gestik; Defizite im Verständnis und Gebrauch nonverbaler Kommunikation)
3. Defizite in der Entwicklung und Aufrechterhaltung von Beziehungen, entsprechend dem Entwicklungsstand
(z. B. Schwierigkeiten bei der Aufrechterhaltung von Interaktionen in verschiedenen sozialen Kontexten; Schwierigkeiten beim gemeinsamen Phantasiespiel und bei einer Schließung von Freundschaften; scheinbares Desinteresse an anderen Personen)
B. Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten in mindestens zwei von vier Unterkategorien:
1. Stereotype(r) oder repetitive(r) Sprache, motorische Bewegungen oder Gebrauch von Objekten
(z. B. einfache, motorische Stereotypien; Echolalie, repetitiver Umgang mit Objekten; idiosynkratische (eigensinnige) Sätze)
2. Exzessives Festhalten an Routine, ritualisiertes Sprachverhalten (verbal, non-verbal), ausgeprägter Widerstand gegenüber Veränderung
(z. B. motorische Rituale; Beharren auf Routine oder gleichförmige Nahrung; sich ständig wiederholende Fragen; Veränderungsangst bzw. extreme Stressreaktionen bei schon geringen situativen Veränderungen)
3. Stark eingeschränkte, fixierte Interessen, die mit »abnormer« Intensität oder Fokussierung einhergehen
(z. B. starke Bindung an ungewöhnliche Objekte; eng umschriebene, exzessive, perseverative Beschäftigung mit ungewöhnlichen Dingen oder Interessen)
4. Hyper oder Hypo-ausgeprägtes (Wahrnehmungs-)Verhalten im Hinblick auf sensorische Reize oder ungewöhnliches Interesse an sensorischen Umgebungsreizen
(z. B. scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber sensorische Reize wie Schmerz, Hitze, Kälte; ablehnende Reaktion in Bezug auf bestimmte Geräusche oder Gewebe; übermäßiges Beschnuppern oder Berühren von Objekten; Faszination an leuchtenden oder sich drehenden Objekten)
C. Die Symptome müssen in der frühen Kindheit vorhanden sein
D. Die Gesamtheit der Symptome begrenzen und beeinträchtigen das Alltagsverhalten (everyday functioning)
Darüber hinaus gibt es zusätzliche Codes für »Komorbiditäten« (wie z. B. intellektuelle Beeinträchtigungen (sog. »geistige Behinderung«), Sprach- oder Kommunikationsstörungen, Epilepsie, Aufmerksamkeitsstörungen, Regression).
Im Unterschied zum DSM IV und zu der bisherigen Übereinkunft, zwischen drei Kernbereichen von Funktionsstörungen (triad of impairments) zu differenzieren, werden mit der Zusammenfassung der ersten beiden Bereiche nur noch zwei Hauptkategorien unterschieden. Dieser Schritt wird vor allem mit der engen Verflechtung von Defiziten in der Kommunikation mit sozialen Verhaltensweisen begründet. Des Weiteren soll die Auswahl aller genannten Symptome, die sorgfältig empirisch erforscht wurde (vgl. Moran 2012), zu einer verbesserten spezifizierten Beurteilung des Autismus im Sinne einer »Autismus-Spektrum-Störung« beitragen, wobei zugleich auch eine Einschätzung und Einteilung der beiden Kernkategorien in drei unterschiedliche Schweregrade
1. benötigt Unterstützung (requiring support)
2. benötigt umfangreiche Unterstützung (requiring substantial support)
3. benötigt sehr umfangreiche Unterstützung (requiring very substantial support)
zur Bestimmung eines Unterstützungsbedarfs vorgesehen ist.
Nichtsdestotrotz stellt sich die Frage, ob es sich bei dieser Neuausrichtung um einen tatsächlichen Fortschritt handelt (vgl. Tebartz van Elst 2013b, 8 ff.). Während vonseiten der Pharmaindustrie die Veränderungen begrüßt werden, gibt es im Lager der Autismusforschung zum Teil vehemente Kritik; so behauptet zum Beispiel der Autismusforscher F. Volkmar (zit. n. Kambhampaty 2012), »dass 60 % aller high-functioning autistischen Patienten mit sozialen Interaktionsproblemen und normaler Intelligenz zukünftig ihre Diagnose verlieren würden«; und dies würde ebenso für 78 % aller »Asperger Patienten« gelten. Nach D. Regier, Direktor der Forschungsabteilung der APA, beruhen diese Zahlen allerdings auf einer völlig unzureichenden, nicht repräsentativen Untersuchung und Analyse, weshalb der Einwand unzutreffend sei (vgl. dazu auch Schmidt 2012, 3).
Des Weiteren gibt es neben einigen Eltern(vereinigungen) vonseiten einer Gruppe an Erwachsenen, die sich selbst als Asperger bezeichnen und in den USA unter »Aspies« organisiert haben, scharfen Protest, der sich insbesondere gegen die Aufhebung des Asperger-Syndroms durch die Verschmelzung der Symptomatik mit der Form des »frühkindlichen Autismus« richtet (vgl. Adams 2010; Aspies for Freedom 2012). Nach Schmidt (2012) geht es hierbei unter Berufung auf Kamp-Becker wohl um die Besorgnis von sogenannten Asperger-Autisten, mit ihrer bisherigen »Exklusiv-Diagnose«, die gegenüber anderen Autismus-Diagnosen »positiv assoziiert« werde, »einen Status zu verlieren« (ebd., 4). Auch diese Befürchtung hat die APA zurückgewiesen, indem einerseits den Mitgliedern der Aspies-Gruppe vorgeworfen wird, dass sie selbst die Kriterien des DSM IV nicht erfüllen würden und daher ihre »Selbstdiagnose Asperger« anzuzweifeln sei (S. Swedo, Vorsitzende der DSM-5 Arbeitsgruppe, Neurodevelopmental Disorders, zit. n. Moran 2012). Anderseits sei mit »sozialer Kommunikationsstörung« (social communication disorder) eine neue Klassifikations-Kategorie außerhalb des Autismus-Spektrums geschaffen worden, die sich auf Auffälligkeiten bezieht, die bislang nicht explizit im DSM IV berücksichtigt waren und die daher die Möglichkeit bietet, Symptome zu erfassen, welche bislang denen einer autistischen Kommunikationsstörung ähneln, aber nicht mit eingeschränkten Interessen oder repetitiven Verhaltensweisen verknüpft sind. Dadurch könnten Personen präziser erfasst werden, die bisher unter der Kategorie »PDD-NOS« (nicht näher spezifizierte tiefgreifende Entwicklungsstörung) klassifiziert und diagnostisch erfasst wurden (ebd.).
autism spectrum disorder