Ingrid Schmitz
Mordsdeal
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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1. Auflage 2007
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von aboutpixel.de
Gesetzt aus der 10/13,7 Punkt GV Garamond
ISBN 978-3-8392-3352-8
.
Bibliografische Information
der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
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›Alle Personen und Namen sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig
und nicht beabsichtigt.‹
Mia Magaloff suchte Trödelmarktsachen für den Verkauf zusammen. Sie holte das getöpferte Türschild hervor. Es sollte ein Bauernmotiv darstellen. Völlig unrealistisch. Zwei Gänse standen vor einem Bauernhof. Eine Gans hatte eine blaue Schleife um den Hals, die andere eine rote. Mia schüttelte sich. Wer ließ seine Gänse mit Schleifen um den Hals herumrennen? Nur ein durchgeknallter Bauer machte das, der vermutlich von den Erben spätestens nach einer Woche in die Psychiatrie gebracht wurde und dort unter Verschluss kam. Mia überlegte, ob sich der darunter stehende, in beigen Tonwürmern geformte Name Ilse Schröder negativ auf den Verkauf auswirken würde. Es war jetzt kein typisch niederrheinischer Name, kein Schild mit typisch niederrheinischen Gänsen, wenn man auf die Schleifen sah, aber probieren wollte sie es allemal. Sollte sich tatsächlich eine Frau mit dem Namen melden, konnte sie das Dreifache verlangen. Sie legte es in den bis oben hin gefüllten Karton, ließ ihn offen, damit nichts zerbrach und schleppte ihn zum Wagen.
Geschafft. Alle Trödelkartons waren verstaut. Was noch? Sie sah auf ihre Liste. Also, sie hatte: Klapptisch, Tischdecken, Klappstuhl, Rollwagen, Kasse mit Wechselgeld, Notizblock und Stift, Müllbeutel, Thermoskanne mit Kaffee, Butterbrote und was zum Naschen. Mia meinte, irgendetwas vergessen zu haben. Selbst wenn, war es nicht tragisch, denn ihre Standnachbarn in Rheinberg würden ihr aushelfen. Das taten sie immer. Sie machte sich auf den Weg.
Beim Abbiegen auf die A 57, Richtung Nijmwegen, hörte sie wieder dieses Quietschen. Nun gut, ihr alter Opel – nein, Opel wäre zu wenig gesagt: Beauty hieß der Schöne, den sie von Opa geerbt hatte – war mit seinen 15 Jahren nicht mehr der Jüngste. Da quietschte es schon mal. Vielleicht war es sein Altersquietschen, wie bei alten Menschen die Atemnot. Es hatte vor drei Wochen, so mir nichts, dir nichts, während der Fahrt angefangen. Sie dachte zuerst, das Geräusch käme von der Lenkung. Die Werkstattleute auch und erneuerten irgendeine Gummidichtung der Servolenkung, doch damit hatten sie das Problem noch nicht vollständig gelöst, wie der Meister meinte und Mia feststellte. Das leise Restquietschen – musste wohl ein Fachausdruck sein – käme vom langsamen Fahren, sie solle ruhig einmal tüchtig Gas geben. Der Wagen wäre wie ein gutes Rennpferd, einfach nicht zum Traben geeignet. Unter Rennpferd verstand Mia etwas anderes, auch wenn er 75 Ackergäule unter der Haube hatte. Na ja, sie hörte das Geräusch jetzt nur noch, wenn sie aufgeregt war.
Heute war es besonders laut.
Fast jeden Monat fuhr Mia hierher. Beinahe hätte sie in Gedanken die Abfahrt verpasst. Im letzten Moment bekam sie die Kurve und verließ die Autobahn an der Abfahrt 7 – Rheinberg, folgte dann der gut ausgeschilderten Strecke zu den Messehallen. Von Weitem sah sie das runde, futuristische Vordach mit den links und rechts aufragenden Türmen aus Eisenverstrebungen. Eine recht imposante Messehalle, in denen unter anderem auch Hundeschauen, Auto- und Fahrradmessen stattfanden.
Es war Sonntag, kurz vor sechs Uhr morgens. Für Mia nichts Tragisches, sie war eine unheilbare Frühaufsteherin. Das war vielleicht mit ein Grund, warum sie sich die letzten Jahre nicht mehr mit Bodo verstanden hatte, weil er nur unter Weckergewalt oder kurz vor dem Verhungern aufstand.
Mia parkte ihren Wagen in der Nachbarhalle und hinterlegte die 20 Euro Kaution, die sie beim Herausfahren wiederbekam. Sie bepackte den mitgebrachten Rollwagen und machte sich auf den Weg zu ihrem reservierten Platz. Seit Jahren hatte sie immer denselben Standort, so wie auch die anderen Trödler es bevorzugten, an gewohnter Stelle zu stehen. Das war jetzt in erster Linie keine Marketingstrategie, sondern so, als würde man zu Hause immer seinen Stammplatz am Esstisch oder auf der Couch belegen oder den Tisch im Restaurant vorbestellen. Mit einem Unterschied: Zu Hause musste man niemanden bestechen und in der Messehalle auch nicht, sondern nur rechtzeitig reservieren – entweder telefonisch, schriftlich oder persönlich. Mia war bekannt wie eine bunte Trödlerin. Anruf und Überweisung der Standgebühr waren zum Ritual geworden.
Seltsam, heute war sie nicht die Erste, wie sonst immer. Es hatten schon sehr viele Händler hierhergefunden. Sie gaben ihren Partnern oder Hilfen Kommandos, begrüßten ihre Standnachbarn und schlichen um die Kartons herum, ob sie nicht ein Schnäppchen zum Wiederverkaufen fanden. Ein lästiges Volk. Mia gehörte gerne dazu, weil sie sich keine aufregenderen und unterschiedlicheren Familienmitglieder vorstellen konnte, obwohl sie mit der Familie ihres Mannes schon so manches Stück erlebt hatte.
»Hallo Mia! Hier bin ich!«, rief Gitti Stöckskes laut und wedelte dabei mit den Armen, so, als ob Mia zum ersten Mal hier wäre und nicht wüsste, wo sie hin sollte.
»Guten Morgen, Gitti. Schön, dich zu sehen. Na, dann wollen wir mal, was? Auf eine volle Kasse.« Mia holte tief Luft und wuchtete alles vom Transportwagen. Sie stellte den Aluminium-Klapptisch, den sie von ihrem Cousin Waldemar bekommen hatte auf, legte die blutrote Pannesamtdecke darüber und befestigte sie an den Kantenfalten mit den schwarz angemalten Wäscheklammern, die sie von ihrem letzten Kunstwerk übrig behalten hatte. Eine strahlende Fünfzigerin gab ihr vor ein paar Monaten den Auftrag, sich eine Skulptur zur Befreiung vom Hausfrauendasein einfallen zu lassen. Mia konnte sich zunächst nichts darunter vorstellen, da sie sich mit der Rolle nie aufgehalten hatte. Sämtliche Versuche, aus ihr eine tüchtige Hausfrau zu machen, waren bereits in den Anfängen gescheitert. Von ihrem Aussteuergeld hatte sie sich erst einmal eine vernünftige Stereoanlage gekauft, und die geerbten Handtücher dienten als Unterlagen für ihre ersten Gipsfiguren. Später hatte Bodo es dann versucht, sie an den Herd zu bekommen. Zunächst mit Komplimenten, auf die sie jedoch nicht hereinfiel. Nein, ihr Braten war nicht zart, die Soße nicht lecker und aus ihren Kuchen hätte sie wunderbare Prototypen schnitzen können. Irgendwann hatte Bodo es dann aufgegeben und sich selbst die Schürze umgebunden, was niedlich aussah, aber nur, wenn er nichts darunter trug.
Trotzdem war Mia etwas zur Befreiungsskulptur eingefallen: Sie hatte eine dicke Frau modelliert, die schwarze Wäscheklammern in sich hineinstopfte. Wohlgemerkt, die Frau war vorher schlank und nur von den Wäscheklammern so aufgedunsen.
Ihre Kundin war begeistert gewesen. Was aus der glücklichen Frau geworden war, hatte Mia nie erfahren. Ob sie rückfällig wurde, wusste sie nicht.
Mia unterbrach das Dekorieren des Tisches, sah auf und lächelte spontan. Sie konnte nicht anders. Das schokoladenbraune Gesicht mit den strahlend dunklen Augen und dem hinreißenden Lächeln gehörte zu einer jungen, bestgebauten Frau mit schwarzen Löckchen. Wäre Mia ein Mann gewesen, sie hätte sich sofort in sie verliebt, so war sie ihr lediglich sehr sympathisch.
»Hi, ich bin Sameja.« Sie reichte ihr die Hand. »Schöne Grüße von Manu. Sie wird nicht mehr kommen. Sie braucht jetzt die Sachen aus ihrer Kinderzeit selbst.«
»Ach.« Mia schob eine dunkle Strähne aus der Stirn. »Ist sie tatsächlich schwanger? Das ist ja wunderbar. Was sagen ihre Eltern dazu? Werden sie Zeit für das Baby haben?«
Sameja schien die Frage seltsam vorzukommen, sie kräuselte ihre glatte Stirn, die süße Fältchen hervorbrachte. »Ich denke schon, sonst macht es der Kindsvater, der ist den ganzen Tag zu Hause.«
*
Sameja und Mia unterhielten sich, mal bei Mia und mal bei Sameja am Stand, über die Regeln und Bräuche dieser Messehalle. Noch war ein wenig Zeit, bis die Besucher eingelassen wurden. Mia bewunderte immer wieder die afrikanischen Masken und das Kunsthandwerk.
Gitti hingegen hatte für so etwas keine Zeit. Sie war dabei, das Porzellan auszupacken. Die Zeitungen, mit denen sie es eingewickelt hatte, waren zerfleddert und vergilbt. Sie legte sie sorgsam in den Karton unter den Tapeziertisch zurück. Ihr Mann Heiner kam hinzu. Er zerrte an seinem Hosenbund, der unaufhörlich den bierfassdicken Bauch hinunterrutschte. Heiner hatte abgenommen. Seitdem – nein, eigentlich schon länger – war er unausstehlich.
»Geht das nicht schneller? Gleich werden die Türen geöffnet, und du bist immer noch mit dem Müll beschäftigt. Wieso nimmst du den Rummel überhaupt mit?« Er suchte etwas. »Wo sind meine Tabakdosen? Sag bloß, die hast du zu Hause vergessen?«
»Weiß ich doch nicht, wo die sind.« Sie musste nicht aufschauen, den Blick kannte sie. »Um deine Sachen kümmere ich mich nicht mehr. Habe genug zu tun. Du könntest ruhig mal mit anpacken. Alles muss ich alleine machen.«
Ein Hüne stand plötzlich vor Gittis und Heiners Stand. Gitti zuckte zusammen, sie hatte ihn weder kommen gesehen noch gehört. Der leicht Angegraute schien jünger zu sein, als er aussah. Sein rosafarbenes Gesicht war rund, die Augen versteckten sich fast darin. Baby ja, würde er einen Spitznamen bekommen, müsste er Riesenbaby heißen. Allerdings fehlte es ihm gehörig an Freundlichkeit. Babies wurden schon mal ungemütlich, wenn der Spinat nicht schmeckte oder sie nicht bekamen, was sie wollten.
»Tag, Heiner.« Die Stimme klang wenigstens wie die eines Erwachsenen.
Heiner scharrte mit den Füßen, wie ein Bulle, der jede Sekunde auf den lächerlichen Torero losgeht.
»Was willst du hier? Wie bist du hier hereingekommen? Noch ist für Besucher nicht geöffnet.«
Daniel ging nicht darauf ein. »Hör zu, ich muss mit dir reden.« Er sah sich hektisch um, schaute dann zu Gitti, die nun mit den Diddl-Blöcken beschäftigt war und über jeden Einzelnen strich, bevor sie ihn hinlegte.
»Warum hast du mir nie geantwortet? Länger kann ich nicht warten. Es muss jetzt ...«
Heiner scherte sich nicht darum, er wühlte murrend in den Kartons.
»Kannst du dir bitte ein paar Minuten Zeit nehmen?«, fragte Daniel im versucht schärferen Ton. »Mir ist da noch eine Idee gekommen. Die wird dich interessieren.«
Heiner wurde es warm. Er riss an seinem obersten Kragenknopf, der mit einem lauten Pling in der Porzellantasse landete. Nur in welcher?
»Geht nicht. Komme hier nicht weg. Geschäfte. Verstehst du?« Er suchte immer noch.
»Und ob. Heiner, darum geht es ja. Bitte, nur ein paar Minuten. Wo können wir ungestört reden?«
Heiner schnaubte, ging um den Tisch und riss Daniel am Ärmel. »Hier entlang.«
*
Heiner kam zurück an den Stand. Er war das Riesenbaby losgeworden und beobachtete nun Gitti beim Verhandeln. Es betraf die hässliche, papageienfarbene Vase aus Murano, die er noch nie leiden konnte. Gitti hatte sie ihm seinerzeit abgeschwatzt, kurz bevor sie zum Hotel gingen. Als er ihr das mundgeblasene Ding für viel Geld kaufte, dachte er, es könne sie später im Doppelzimmer auf eine Idee bringen, aber sie bekam urplötzlich Kopfschmerzen, und aus war der Traum. Umtausch ausgeschlossen - das galt für seine Frau und die Vase.
»30 Euro«, hörte er Gitti sagen. »Sie ist mundgeblasen mit Abriss.«
»Abriss?« Die Kundin schüttelte energisch den Kopf. »Ist bestimmt eine Nachbildung, kennt man ja, alles wird heutzutage nachgebildet. Muss man fein aufpassen, und mit Abriss schon gar nicht. Nee, danke, nicht mit mir.«
Sie wollte gehen.
»Das hier oben nennt man Abriss.« Gitti zeigte auf die Öffnung und hob drei Finger. »Sie ist ein Original. Mein Mann kann es bezeugen. Er hat mir die Vase damals geschenkt, nicht wahr, Heiner?«
»Ja, habe ich.« Heiner trat näher. »Aber es hat nicht geholfen.« Gitti wurde rot.
»Fünf Euro und sie gehört Ihnen. Vielleicht haben Sie ja mehr Glück damit.« Heiner hielt die Hand auf.
Gitti drehte sich mit einem Entsetzensschrei ab, die Kundin zückte ihre Börse. »Hab ich doch gewusst.«
*
Gitti war den Tränen nahe. Sie hätte mehr rausgeschlagen, wenn nicht bei dieser Kundin, dann bei der nächsten. Sie war um jeden Euro verlegen und wollte hier ihr Haushaltsgeld aufbessern. Von Heiners Verdienst als selbstständiger Vertreter war nicht viel zu erwarten. Er handelte mit Gegenständen, die Gott und die Welt nicht brauchten. Billige Restposten kaufte er auf. Kein Wunder, dass es Restposten waren, kein Mensch wollte das Zeug haben. Sie erinnerte sich an die schwarzen Vakuumsäcke in allen Größen. Welche Hausfrau kaufte sich schwarze Vakuumsäcke, bei denen man den Inhalt nicht sah? Sie waren höchstens etwas für den Sarg, nicht für den Haushalt. Jetzt hatte er auch noch solch einen Sack mitgeschleppt, den würde sie Mia nachher schenken.
Gittis Wut verflog nicht. Es musste raus. Sie warf ihm vor, er mache ihr das Geschäft kaputt.
»Blöde Pflaume. Wer verdient denn hier das dicke Geld? Das kommt bestimmt nicht von diesem Trödelkram hier. Frag doch deinen Sohn, ob er dir hilft. Aber nein, der Herr ist sich zu fein, will sich die Finger nicht schmutzig machen, wie? Ist ja ein Student, pah, mit 23 Jahren. Das Eine sage ich dir, wenn der nicht bald auszieht, gibt es einen Höllenärger. Den lasse ich von der Polizei abholen, wegen Hausfriedensbruch.«
»Son Blödsinn, das könnte man höchstens dir vorwerfen.«
Gitti vergoss stille Tränen.
*
Mia hatte immer wieder zu Heiner und Gitti gesehen und war keinesfalls überrascht, dass auch dieser Streit wieder so endete. Sie beobachtete, wie die Trödelmarktbesucher pikiert an deren Stand vorbeigingen und sich nicht mehr trauten, nach dem einen oder anderen Preis zu fragen. Mia sah auf den Tisch und dann im Umhängebeutel nach. Nun wusste sie, was sie vergessen hatte: Die Papiertaschentücher für Gitti. Sie versuchte es mit Aufmunterungsparolen.
Heiner tat so, als ginge es ihn alles nichts mehr an. Er saß auf seinem Klappstuhl und schüttete sich mit zittrigen Händen aus der Thermoskanne Kaffee ein. Knurrend fummelte er an seiner Hosentasche, stand auf und zerrte das Handy heraus. Die polyphonen Geräusche wurden immer lauter.
Er drückte mit seinen dicken Fingern auf den Tasten herum, fluchte, fluchte noch einmal und brummelte in Richtung Gitti: »Bin mal eben weg.«
Gitti hatte wohl beschlossen, nicht mehr mit Heiner zu sprechen. Sie nickte noch nicht einmal, sondern strafte ihn mit Missachtung. Er merkte es nicht, walzte alles zur Seite, was ihm im Weg stand. Mia musste sich in Sicherheit bringen. Aber wenn sie gewollt hätte, hätte er den Kampf verloren und er wäre auf dem Tisch gelandet. Auch sie war nicht gerade ein Fliegengewicht, und wenn ihr Angriff überraschend kam, hatte sie gute Chancen.
*
Heiner hielt den Blick stur geradeaus. Er ging schnellen Schrittes durch die Hallen, hob ab und zu anstandshalber die Hand zum Gruß. In der Nachbarhalle angekommen, suchte er Hillas neuen Standplatz. Früher hatten sie immer nebeneinander gestanden. Da waren die beiden Schwestern Gitti und Hilla noch ein Herz und eine Seele. Irgendwann gab es Riesenkrach zwischen den beiden. Heiner hatte sich nicht eingemischt. Bisher war ihm die 10 Jahre jüngere Schwägerin egal gewesen. Bisher. Vor ungefähr einem halben Jahr kam es dann anders, was er noch heute bereute.
Heiner erreichte den letzten Trödelstand der Halle und japste. Nicht, weil er außer Puste war, sondern weil es ihn aufregte, was Hilla ihm geschrieben hatte. Diesen Befehlston konnte er nicht ab und Erpressung schon gar nicht. Hilla sah heute wieder furchtbar aus. Sie war seit gestern noch dicker geworden und ihre rote Kurzhaarfrisur mit dem ausrasierten Schwabbelnacken noch fettiger. Er verstand nicht mehr, wie er sich jemals mit dieser Frau amüsieren konnte.
»Da bist du ja endlich. Wir müssen reden.« Hilla fuchtelte mit ihren Armen. Die Metalldose auf der Ecke flog scheppernd auf den Boden. »Herrgottsakra.« Sie hob sie auf, warf sie zu der Sparschweinhenne, die vom Tisch sprang und nur noch als Keramikpuzzle zu verkaufen war. »Mistvieh, blödes. Ich hab es so satt.« Sie besann sich und flüsterte: »Entweder hilfst du mir jetzt, oder ich lasse alles auffliegen.«
»Das tust du nicht.« Heiner beugte sich vor. Er konnte ihr billiges Parfum riechen, es war hart an der Ekelgrenze. »Ich kümmere mich drum. Lass erst einmal alles, wie es ist, dann kann nichts passieren.«
»Wie lange soll ich denn noch warten? Das gibt Ärger. Heute Abend, Punkt acht beim Alten, oder ich führe einige Telefonate, die deiner Karriere schaden dürften.« Sie schlug mit der Faust auf den Tisch. Die Bastfigur streckte sich.
Heiner sah Hilla groß an. »Du mieses Stück. Wenn du das tust ... dann ...«
»Was dann?«
»Dann hängst du genauso mit drin wie ich.«
*
Mia war rundum zufrieden. Sie erlebte heute einen Trödeltag ganz nach ihrem Geschmack. Sie hatte sehr gut verkauft, und die immer wieder gestellten Fragen: »Was kostet das? Wie alt ist das? Haben Sie das auch in Rot?« und »Verkaufen Sie auch die Pannesamtdecke?«, regten sie überhaupt nicht mehr auf. Mia glaubte, den Grund zu kennen. Es lag an Sameja, ihrer Trödelnachbarin, die ein wenig exotisches Frischblut unter die Trödelhändler brachte und mit der sie sich auf Anhieb seelenverwandt fühlte. Vielleicht sollte Mia mal eine Rückführung machen lassen, ob sie in vergangenen Zeiten zum Stamm der Massai gehörte – groß genug war sie ja. Wenn Sameja das machen würde, käme bestimmt heraus, dass sie im früheren Leben Bäuerin am Niederrhein gewesen war, denn ihre Aussprache besaß den typisch niederrheinischen Slang. Sie sprachen darüber, und die Erklärung fand sich sehr schnell, auch ohne Hypnose: »Ich bin das Kind einer niederrheinischen Mutter und mein Vater kommt aus Benin, das ist in Westafrika, aber wo er da genau lebt, weiß ich nicht. Ich habe nur ein Foto von ihm.« Samejas strahlendes Lächeln verschwand. Sie senkte den Kopf.
»Hm, ich kenne eine Journalistin, die sich für ein westafrikanisches Projekt einsetzt«, sagte Mia. »Ich frage sie mal, wo das war und ob sie dir weiterhelfen kann.« Mia versuchte sie wieder zum Lächeln zu bringen: »Westafrika, oh, das hört sich nach Abenteuer an. Ich würde gerne einmal auf Safari gehen. Mit einem Jeep durch die Savanne fahren und wild drauflos schießen.«
Sameja sah Mia entsetzt an. Sie rückte von ihr ab.
»Nein, nein, bleib hier, keine Angst, so gewalttätig bin ich nicht. Mit dem Fotoapparat meinte ich, mit meiner Spiegelreflex. Muss doch spannend sein, die wilden Tiere so nah und live zu sehen. Was habt ihr denn da so in Benin?«
Sameja zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich war noch nie dort.«
Mia zeigte auf die afrikanischen Kunstgegenstände und Masken.
»Die sind aus Krefeld, von einem Möbelladen.«
Nachdem die ersten Trödler gegen 17.30 Uhr langsam die Sachen einpackten und alle anderen Händler damit ansteckten, entstand das gleiche hektische Treiben wie heute Morgen. Mia klappte ihren Rollwagen auf und stellte die fertig gepackten Kartons darauf, legte den schwarzen Unterbettsack darüber. Sie fragte sich nur, wie sie ihm die Luft entziehen sollte, wenn sie keine Pumpe hatte. Aber einem geschenkten Gaul ... Obwohl sie gut verkauft hatte, wurde sie das Gefühl nicht los, dass es noch mehr Dinge geworden waren, die sie wieder mit nach Hause nehmen musste. Das Rätsel löste sich schnell. Sie hatte heute wieder neue Dinge angekauft, die sie gut gebrauchen konnte. So gut, dass sie vermutlich auch nach einer Woche auf dem Speicher landeten, um weiterverkauft zu werden. Ein Ende des lustigen Reigens war nicht abzusehen. Mia schwor sich, sofort damit aufzuhören, wenn sie dort mal einen Gegenstand entdeckte, der ihr schon einmal gehört hatte.
*
Heiner fuhr um 19.55 Uhr mit seinem Kombi am ›Schwarzen Pfuhl‹ in Neersen vorbei und bog rechts ab, Richtung Innenstadt. Diesmal war es eine Marterstrecke für ihn. Hilla hing ihm am Hals und der Alte am Bein.
Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen. Hilla hatte bei ihnen zu Hause angerufen, wollte sich wieder mit Gitti versöhnen, die war aber nicht da, und so erzählte sie unaufgefordert, dass sie nun wieder für einen Alten in Neersen sorge, wofür sie eine beträchtliche monatliche Summe bekomme. Der 80-Jährige habe Geld wie Heu und sei auf sie angewiesen. Dieses Gefühl habe sie noch nie gehabt, es gebe ihr Selbstsicherheit und, ja, auch ein wenig Macht.
Heiner hatte sich nicht für solche Gefühlsduseleien interessiert, aber dass der Alte Geld wie Heu haben sollte, ließ bei ihm sofort das Vertreterherz höher schlagen. Er hatte da etwas für ihn, und so düste er damals zum ersten Mal von Anrath nach Neersen.
Heiner wusste noch genau, was er dachte, als er das Haus des Alten sah. Er dachte, Hilla hatte mal wieder maßlos übertrieben. Die Hütte war nur groß, aber unscheinbar – von wegen reich, dann betrat er sie und staunte. Ein Raumgestalter hatte sich ausgetobt. Die Marmorböden, edlen Stofftapeten und Schränke, Tische und Kommoden aus wertvollem Mahagoniholz beeindruckten ihn sehr. Abgerundet wurde das Ambiente mit einer Wohnlandschaft aus schwerem Stoff, passend dazu Gardinen und luxuriöse Lampen. Die Ölbilder an den Wänden stammten mit Sicherheit nicht aus dem Kaufhaus.
So hatte Heiner mit seinen alten Vertreteraugen sofort den Wert taxiert, Rückschlüsse auf den möglichen Kontostand des Alten gezogen und sich unbeobachtet die Hände gerieben.
Dass die Sache einen Haken hatte, hätte er wissen müssen. Der Alte sah nicht nur aus wie ein Gnom: klein, schmalbrüstig und krumm, sondern er verhielt sich auch so: stur, mürrisch und verletzend. Zudem war er ungepflegt. Es wäre eigentlich Hillas Aufgabe gewesen, aus ihm einen Menschen zu machen.
Nach stundenlangen Erklärungen und Verhandlungen mit dem Alten, der auch einen Namen hatte, nämlich Stephan Wagner, erklärte dieser sich bereit – zwei Flaschen Rotwein später – in regelmäßigen Abständen eine Großpackung der Pillen abzunehmen, sogar für 10 Jahre. Ohne Vertrag, gegen jährliche Vorkasse. Ein Mann ein Wort - versteht sich. Es war harte Arbeit für Heiner gewesen, aber das immer wiederkehrende Argument, er könne dadurch Arztkosten sparen, hatten ihn schließlich doch überzeugt. Heiner wollte sich an dem Abend ein Taxi nehmen und zurückfahren lassen, aber der Alte hatte darauf bestanden, dass er sein Gast sei. Hilla sollte auch gleich dableiben, und so hatte der Alte Schicksal gespielt, ohne es zu wissen.
*
»Da bist du ja endlich! Komm schnell rein!« Hilla war zuerst da. Heiner hatte den himmelblauen Fiat schon vor der Tür stehen sehen und sich innerlich auf die Schimpfkanonade vorbereitet. Hätte er gewettet, er hätte für die ersten beiden Begrüßungssätze 100 Euro bekommen, für die nachfolgenden aber nichts.
Sie warf die Eichentür ins Schloss, dass es rumste. Hilla sah aus, als hätte sie Großkampftag im Putzen. Sie hatte sich in einen alten Kittel gezwängt und an den Händen befanden sich rote, dicke, aber viel zu große Gummihandschuhe. Auf dem Kopf trug sie eine Blümchen-Duschhaube und über die Schuhe je einen Plastikbeutel, mit Einmachgummi befestigt. Sie schob ihr hinten zusammengeknotetes Geschirrtuch wieder als Mundschutz hoch und atmete schwer.
»Wie siehst du denn aus?«, fragte Heiner.
»Du solltest dir besser auch etwas suchen. Wir dürfen keine Spuren hinterlassen. Die Sachen vom Alten werden dir nicht passen, hm, am besten ist, du hängst dir ein Bettlaken um. Bleib da stehen, ich hole schnell was. Ach ja, und du brauchst Gefrierbeutel für die Füße – Moment.«
Sie ging vor in die Küche und kramte in der Schublade. Heiner marschierte durch ins Schlafzimmer. Er ließ Hillas Gezeter an sich abprallen und sah als Erstes zum Bett. Gestern Abend hatte der Alte fiebrig und schweißgebadet darin gelegen. Heute Abend war das Fieber wie vom Tod weggeblasen. Blass und friedlich ruhte Stephan Wagner in den Kissen, man musste genau hinschauen, wollte man ihn erkennen. Er lag da wie ein in die Schrottpresse gekommener Oldtimer, vermutlich mit ähnlich viel Metall im Körper.
Bei Heiner wollte Panik aufkommen. »Das hast du jetzt davon, das war eine Scheißidee von dir, unauffällig so weiterzumachen, als sei nichts geschehen. Du hättest bei ihm bleiben müssen und ihn versorgen sollen oder einen Arzt rufen, stattdessen kommst du zum Trödeln nach Rheinberg. So etwas Hirnrissiges.«
Hilla, die absolut nicht weinerlich war, wischte sich mit dem Dreieckszipfel des Handtuchs eine schwerfällige Träne aus dem Auge.
Heiner konnte sich nicht vom Anblick des Alten lösen. »Du bekommst einen dran, wegen unterlassener Hilfeleistung. In Wirklichkeit wirst du ihn bestimmt totgepflegt haben und willst es mir nun anhängen, was?« Heiner schnappte sich sämtliche Pillenpackungen und seine Pillenbeutel vom Nachttisch und balancierte alles auf den Armen. Es misslang und purzelte auf den Boden.
Hilla schüttelte den Kopf: »Das nützt dir gar nichts, ein paar von deinen Pillen habe ich gesichert.«
Heiner bekam einen Schweißausbruch nach dem anderen und kämpfte verzweifelt um seine Unschuld: »Und wieso liegt er mit Klamotten im Bett? Hier stimmt doch was nicht! Hast du ihn die Treppe runtergeschubst und dann ins Bett gehievt?«
Hilla schnappte nach Luft. »Lenk nicht von deinen Pillen ab. Wer weiß, welche Giftstoffe da drin sind. Komm, zieh dir was über und pack mit an, wir müssen ihn ...«
»Ha, meine Pillen sind Placebos!«
»Sag ich doch.«
»Pla-ce-bos, echte Placebos, ohne Wirkstoff. Milchzucker. Können gar nicht schädlich sein.«
»Was? Ohne Wirkung? Das ist Betrug. Du hast viel Geld dafür kassiert. Außerdem brauchte er doch seine Medikamente, fürs Herz, die Nieren, die Leber ... Komm, hilf mir, wir müssen ihn in die Decke einwickeln.«
»Für wie blöd hältst du mich? Ich habe ihm natürlich gesagt, dass er seine alten Tabletten weiterhin nehmen muss.«
Hilla zog die Kaschmirdecke vom Stuhl. Eine bunte Mischung aus roten, grünen und blauen Tabletten und Kapseln prasselte auf den Boden. Sie gaben ein geheimnisvolles Muster ab.
Beide hielten die Luft an.
Nachdem der erste Schrecken vorüber war, hatte Heiner sich wieder gefangen. Er ging zum Wagen und kam mit einer Pumpe und einem schwarzen Sack wieder. In Vertretermanier führte er vor, wie praktisch dieser Sack war. Er merkte nicht, wie Hilla unter der Duschhaube dampfte.
»Der ist vollkommen luftundurchlässig und stabil. Gib mir ein paar Handtücher.«
Sie griff wahllos in den Schrank und reichte ihm einen Packen.
Heiner betätigte die Pumpe. Ein Heidenkrach entstand. Er rief: »Der Sack übersteht so manchen Transport. Ich habe noch mehr davon im Auto. Kostet das Stück nur ...«
Hilla schrie zurück: »Hör auf damit, sonst brauche ich tatsächlich noch einen – für dich.«
»Und jetzt?« Hilla drohte vom Schreien heiser zu werden, dabei hatte Heiner die Pumpe längst abgestellt.
»Jetzt können wir uns Zeit lassen, der hält erstmal dicht. Wir packen ihn vorerst unters Bett. Dafür ist der Sack ja auch gemacht.«
Heiner kam ächzend aus der Hocke hoch. Die Knie wurden immer schwächer. Obwohl er nur noch 99 kg wog – in der Mitte. Hilla stellte sich vor ihn und versuchte ihn zu umfassen. Es wäre ihr auch nicht gelungen, wenn Heiner sie nicht weggedrückt hätte.
»Lass das.«
Hilla hatte ihren x-ten Liebesbrief an Heiner diesmal nicht an sein Postfach geschickt, sondern zu Hause gelassen und zerrissen. Nun musste sie es ihm persönlich beichten. Sie klammerte sich wieder an ihn. »Heiner, seitdem wir das hier zusammen erlebt haben, seitdem weiß ich, was für ein toller Mann du bist. Ich glaube, nein, ich habe mich ... in dich verliebt.«
Heiner sah sie an. Das hatte selbst Gitti noch nie zu ihm gesagt, oder schon lange nicht mehr, überhaupt hatte er schon lange nicht mehr mit ihr ... Er überlegte kurz, dann warf er sie aufs Bett und zerrte an ihrem Kittel.