Biblische Gestalten
Herausgegeben von
Christfried Böttrich und Rüdiger Lux
Band 24
Christoph Dohmen
Mose
Der Mann, der zum Buch wurde
Christoph Dohmen, Dr. theol., Jg. 1957. Nach dem Studium der Katholischen Theologie und Orientalistik/Semitistik 1985 Promotion und 1988 Habilitation an der Universität Bonn und einer Professur für Exegese des Alten Testaments an der Universität Osnabrück von 1990-2000 ist er seit 2000 Professor für Exegese und Hermeneutik des Alten Testaments an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg. Von 2001 bis 2013 war er Mitglied der Päpstlichen Bibelkommission im Vatikan. Gastprofessuren hat er in Jerusalem, Rom, Sofia und Luzern wahrgenommen. In unterschiedlichen Funktionen hat er an der Revision der Einheitsübersetzung (2016) mitgewirkt und die dazu 2017 erschienene »Kommentierten Studienausgabe« zum Alten Testament herausgegeben. Neben einem Forschungsschwerpunkte zum Buch Exodus arbeitet er vor allem zur Biblischen Hermeneutik und zum Verhältnisses von Bibel und Kunst.
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.
3. Auflage 2018
© 2011 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
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Cover: behnelux gestaltung, Halle/Saale
Satz: Steffi Glauche, Leipzig
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018
ISBN 978-3-374-03556-4
www.eva-leipzig.de
Cover
Titel
Über den Autor
Impressum
Vorwort
A. Einführung
1. Mit Mose zur Bibel
2. Wer ist Moses?
3. Wer war Moses?
B. Darstellung
1. Mose und seine fünf Bücher
1.1. Mose-Biographie oder Landverheißung?
1.2. Die Komposition der fünf Bücher
1.3. Glaubensgeschichte mit und durch Mose
2. Mose in seinen Büchern
2.1. Die Geburt einer Geschichte
2.2. Flucht zu den Ursprüngen?
2.3. Der »Beruf« des Mose
2.4. Gott und Mose: Schwierigkeiten im Mit- und Füreinander
2.5. Gottes undurchsichtige Pläne
2.6. Die Last der Zwischenstellung
2.7. Bei Gott braucht Israel einen Mittler
2.8. Geschriebenes Gotteswort
2.9. Mose sieht
2.10. Das leuchtende Angesicht der Tora
2.11. Ende vor dem Ende?
C. Wirkung
1. Vom Tod zum Nachleben
1.1. Moses Tod als Ausgangspunkt
1.2. Mose – Tora – Josua
2. Weitergabe und Aufnahme
2.1. Die Offenbarung im Mose-Bild
2.1.1. Die Tafeln
2.1.2. Die Hörner
2.1.3. Das Goldene Kalb
2.1.4. Dornbusch und Sinai
2.1.5. Das Offenbarungszelt
2.2. Mose als Thema früher Schriften
2.3. Poetische Verdichtungen der Bedeutung des Mose
2.4. Mose unter analytischem Blick (Sigmund Freud)
2.5. Mose als erzähltes Gesetz (Thomas Mann)
2.6. Reinheit des Denkens durch Mose in der Musik? (Arnold Schönberg)
2.7. Mose verfilmt?
2.8. Mose – mehr als eine Symbolfigur für Recht und Gesetz
Nachwort zur 3. Auflage
D. Verzeichnisse
1. Literaturverzeichnis
1.1. Kommentare
1.2. Monographien, Aufsätze, Lexikonartikel
1.3. Spezielle Literatur zu C. Wirkung
2. Abbildungsverzeichnis
Fußnoten
Biblische Theologie durch das Nachzeichnen biblischer Gestalten und ihrer Geschichte zu entfalten, ist das erklärte Ziel der Reihe »Biblische Gestalten«, deren Band »Mose« hier vorgelegt wird. Mose darf als Schlüsselfigur Biblischer Theologie, die mit Gerhard Ebeling sowohl die in der Bibel enthaltene Theologie als auch die von ihr ausgehende und mit ihr übereinstimmende Theologie meint, betrachtet werden. Denn Mose steht am Anfang dessen, was wir unter Bibel verstehen, insofern er in den biblischen Schriften in einzigartiger Weise mit dem Gedanken des schriftgewordenen Gotteswortes verbunden ist. Deshalb soll im vorliegenden Buch nicht die Biographie einer großen Gestalt der Welt- und Religionsgeschichte nachgezeichnet werden, sondern die Geschichte eines Zeugnisses. Es ist das Zeugnis einer lebendigen Beziehung, weil durch Mose der Grundstein für die Begegnung mit Gott im Wort gelegt wurde. Sie in der Gestalt des Mose zu entdecken, möchte ich die Leserinnen und Leser des vorliegenden Buches einladen.
Der Name Gottes ist in der Bibel nur in der Form der vier Konsonanten »JHWH« überliefert. Die Aussprache des als Tetragramm bezeichneten Wortes ist unbekannt. Das hängt damit zusammen, dass man den Namen Gottes wegen seiner besonderen Dignität im Judentum nicht ausspricht, sondern ihn beim Vorlesen durch Worte wie »mein Herr« (hebr. Adonaj) ersetzt. Diese Bezeichnung »Herr« meint nicht den Mann im Gegensatz zur Dame, sondern den »Gebieter«. In den Bibelzitaten wird im Folgenden dieser Gottesname durch »HERR« wiedergegeben; und nur dann, wenn religionswissenschaftliche Aspekte im Vordergrund stehen, wird das Tetragramm JHWH benutzt.
In den Fußnoten ist mehrfach vorkommende sowie für die Thematik grundlegende Literatur immer nur abgekürzt zitiert: Kommentare durch den Namen des entsprechenden biblischen Buches, sonstige Literatur durch das Erscheinungsjahr. Genaue Nachweise finden sich im Literaturverzeichnis.
Die Entstehung des Buches in allen Arbeitsphasen hat ermunternd und unterstützend meine Frau Ines Baumgarth-Dohmen begleitet. Ihr gilt weit mehr als ein Dankeswort, zumal sie mir als Kunstgeschichtlerin immer wieder neue Perspektiven auf Mose eröffnet und schließlich den Abschnitt C. 2.1. mit mir gemeinsam verfasst hat.
Zu danken habe ich auch bei diesem Buch meiner Sekretärin Frau Annemarie Dengg, die nicht nur alles geschrieben – und oft wieder umgeschrieben – hat, sondern stets die für alle notwendige und hilfreiche Ruhe ausstrahlte. Mein Assistent Dr. Matthias Ederer hat kritisch mit- und gegengelesen und manch gute Anregung gegeben. Ihm wie auch den studentischen Hilfskräften an meinem Lehrstuhl Stephanie Wäckerle und Verena Speiseder, die das Korrekturlesen übernommen haben, möchte ich herzlich danken.
Franz Mußner, dem Freund und Kollegen, sei das Buch zum 95. Geburtstag gewidmet.
Regensburg,
am Beginn des jüdischen Jahres 5771
Christoph Dohmen
Die Darstellung des biblischen Mose im Rahmen der Reihe der »Biblischen Gestalten« will nicht eine Person der Vergangenheit auferstehen lassen und als Mensch mit Stärken und Schwächen in den Höhen und Tiefen ihrer Lebensgeschichte verständlich machen, sondern sie sucht vielmehr zu entdecken und zu verstehen, was die Erzählungen über eine Person durch ihre Geschichte sagen oder mitteilen wollen. Von einer Person zu erzählen ist selbst dann, wenn es anscheinend nur um »pure Fakten« geht, nicht von der Absicht des Erzählers zu lösen, die Ereignisse eines Lebens auszuwählen, zu gewichten und in Beziehung zu einem größeren Lebenskontext zu stellen. Das weiß jeder, der schon einmal einen Lebenslauf zu schreiben hatte, denn dabei muss man sich selbst je nach Anlass und Absicht immerzu entscheiden, was aus dem eigenen Leben für die jeweilige Absicht erwähnenswert oder gar notwendig zu berichten ist und auch wie es berichtet werden soll. Selbst die Mitteilung des elementarsten Faktums der Geburt, das als solches eigentlich noch nichts Besonderes und Individuelles über eine Person aussagt, lässt Aussageabsichten deutlich erkennen, wenn man bedenkt, wie mehr oder weniger Ausführlichkeit und Detailliertheit bei dieser Angabe unsere Wahrnehmung aller weiteren Angaben über die Person lenkt und bestimmt. So kann jemand die Geburt nur durch das Geburtsjahr – ohne Monat und Tag – angeben, oder präzisiert durch Stunden-, Minuten- und Sekundenangaben. Erweiterte Angaben im Sinne von »geboren als soundsovieltes Kind« oder präzisierte Angaben über die Eltern durch deren Berufe und Lebensalter etc. lenken bewusst dahin, die Person nicht isoliert zu betrachten, sondern als Teil einer Gemeinschaft und als »Kind seiner Zeit«, was gelegentlich durch entsprechende Erweiterungen beim Geburtsjahr oder Geburtsort angezeigt wird, wenn dabei auf bestimmte Ereignisse Bezug genommen wird. Daran ist zu erkennen, dass es eine enge Verbindung gibt zwischen den Lebensbeschreibungen einzelner Personen und der Erzählung der menschlichen Geschichte. Gerade das Grundelement der individuellen Lebensgeschichte, die Geburt als Kind von einer bestimmten Mutter und einem bestimmten Vater, deutet auf Geschichte hin, weil diese sich als Geschehen in der Zeit an der Folge von Generationen ablesen lässt. Die einfachste und elementarste Geschichtsdarstellung ist die der Genealogie, d. h. der Herkunftsangabe A = Kind der Eltern M(utter)-A und V(ater)-A, die wiederum Kinder der Eltern M-M-A und V-M-A sowie M-V-A und V-V-A sind usw., oder auch im Sinne nachfolgender Generationen denkbar: M-A und V-A hatten die Kinder A-1; A-2; A-3, die wiederum die Kinder A-1’; A-1’’ und A-2’ usw. hervorgebracht haben. Dass und wie aus solchen genealogischen Stücken Geschichtserzählungen werden, lässt sich auch und gerade in der Bibel sehr gut ablesen, weil sich dort nicht selten genealogische Kurzangaben mit längeren Erzählungen abwechseln. Man gibt also die Generationenfolge an und fügt dann bei bestimmten Personen wiederum einzelne für einen jeweiligen Erzählkontext wichtige weitere Informationen durch die Erzählung von Einzelereignissen hinzu. Wenn größere Geschichtserzählungen bereits vorliegen und überliefert werden, ist es dann auch möglich, durch die Rückführung auf reine Namensfolgen der Generationen die Geschichte kurz zu fassen bzw. so zu erinnern, wie es z. B. zur Eröffnung des Neuen Testaments in Mt 1 geschieht, wenn dort durch ein genealogisches Gerüst die Geschichte Israels rekapituliert und zur Voraussetzung der im Neuen Testament erzählten Geschichte von Jesus dem Christus vorgelegt wird. Am zuletzt genannten Beispiel, beim ersten Satz des Neuen Testaments, wird recht anschaulich, dass eine enge Verbindung zwischen der Darstellung einer Person und der Botschaft, die durch diese Darstellung übermittelt werden soll, besteht. Ganz wörtlich lautet der erste Satz nämlich »Buch der Geschichte Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams.« Das »Buch der Geschichte Jesu Christi«, von dem hier gesprochen wird, beginnt nicht biographisch bei den Eltern Jesu und seiner Geburt, sondern ganz einfach damit, dass das, was von Jesus erzählt wird, in einem großen Sinn- und Bedeutungshorizont der Geschichte Gottes mit dem Volk Israel steht, was durch den Rückbezug auf David und Abraham und d. h. auf den Traditionszusammenhang der mit diesen beiden verbundenen Verheißungen hergestellt wird.
Die Botschaft der Bibel ist aufs Engste mit der Erzählung einer geschichtlichen Entwicklung verbunden, die sich als solche gar nicht von der Darstellung von Personen lösen lässt. Die enge Verbindung von Personendarstellung und biblischer Botschaft findet sich in einzigartiger Weise bei Mose. Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, dass Mose die wichtigste und auch die zentralste menschliche Gestalt der Bibel ist, insofern man die Bibel als »Heilige Schrift« versteht, wie es im Judentum und Christentum der Fall ist. Juden und Christen verstehen ihr heiliges Buch – ungeachtet der Differenzen zwischen jüdischer und christlicher Bibel1 – nicht als Wort Gottes, das Gott geschrieben und dem Menschen übergeben hätte, sondern als Zeugnis der Gottesbegegnung bzw. Gottesbeziehung von Menschen. In diesem Sinne wird die Bibel als »Gotteswort in Menschenwörtern« verstanden.
Dieses Grundverständnis der Bibel als Heilige Schrift ist untrennbar mit der Gestalt des Mose bzw. der Darstellung des Mose als Mittler einer göttlichen Offenbarung verbunden. Da sind zum einen die ersten fünf Bücher der Bibel – Pentateuch bei Christen und Tora bei Juden genannt –, die von der Tradition Mose als Verfasser zugeschrieben werden, die zugleich aber in ihrem größten Teil auch von ihm und über ihn berichten, so dass der Verbindungspunkt zwischen äußerer Gestalt und dem Inhalt in der Gestalt des Mose liegt. Die herausragende Bedeutung des Mose für die gesamte biblische Botschaft lässt sich von diesen fünf Büchern des Mose her ableiten, wenn man auf die besondere Bedeutung dieser Bücher im Gesamt der Bibel für Juden und Christen achtet.
Die Jüdische Bibel ist traditionell in drei unterschiedlich gewichtete Teile unterteilt: Tora (Weisung), Nebiim (Propheten) und Ketubim (Schriften).
Am Gebrauch der Heiligen Schrift im Gottesdienst der Synagoge lässt sich die je eigene Bedeutung dieser drei Teile gut ablesen. Die Tora steht im Mittelpunkt: sie wird in einer durchgängigen Lesung von Sabbat zu Sabbat normalerweise im Verlauf eines Jahres vollständig vorgelesen. Aus dem Bereich der »Propheten«, der eigentlich noch einmal in »vordere/frühe Propheten« (von Josua bis 2Könige) und »hintere/späte Propheten« (von Jesaja bis Maleachi) unterteilt ist, werden ausgewählte Lesungen, die den jeweiligen Toraabschnitten zugeordnet sind, im Gottesdienst vorgelesen. Der Bereich der »Schriften« spielt abgesehen von den Psalmen liturgisch eine geringere Rolle. Dieser Gebrauch spiegelt in gewisser Weise eine Wertigkeit der einzelnen Teile der Heiligen Schrift im Judentum wider, die sich in den Texten selbst schon andeutet und darauf zurückzuführen ist, dass das erwähnte Grundverständnis als Heilige Schrift in allen drei Teilen von der »Tora des Mose« abgeleitet wird. Das ist vor allem an den inhaltlich parallel gestalteten Eröffnungen der beiden Teile von Propheten und Schriften abzulesen:
Josua 1,7–8 |
Psalm 1,1–2 |
»7 Sei nur mutig und stark und achte genau darauf, dass du ganz nach der Weisung handelst, die mein Knecht Mose dir gegeben hat. Weich nicht nach rechts und nicht nach links davon ab, damit du Erfolg hast in allem, was du unternimmst. 8 Über dieses Gesetzbuch sollst du immer reden und Tag und Nacht darüber nachsinnen, damit du darauf achtest, genau so zu handeln, wie darin geschrieben steht. Dann wirst du auf deinem Weg Glück und Erfolg haben.« |
»1 Wohl dem Mann, der nicht dem Rat der Frevler folgt, nicht auf dem Weg der Sünder geht, nicht im Kreis der Spötter sitzt, 2 sondern Freude hat an der Weisung des Herrn, über seine Weisung nachsinnt bei Tag und bei Nacht. 3 Er ist wie ein Baum, der an Wasserbächen gepflanzt ist, der zur rechten Zeit seine Frucht bringt und dessen Blätter nicht welken. Alles, was er tut, wird ihm gut gelingen.« |
Auf den ersten Blick scheint die Christliche Bibel einen solchen Vorrang der Mosebücher nicht zu kennen. Bei genauerer Betrachtung der Entstehungsgeschichte der christlichen Bibel in ihren zwei Teilen von Altem und Neuem Testament ist aber zu erkennen, dass auch die christliche Bibel ihr Verständnis als Heilige Schrift von »Mose«, d. h. von der Tora bzw. von der dem Christentum vorausliegenden Heiligen Schrift, der Bibel Israels, her bezieht. Hier ist es nötig, die »Entstehung« der Christlichen Bibel aus Altem und Neuem Testament im Überblick nachzuzeichnen.
Der Ursprung der zweieinen Bibel im Christentum
Sehr früh schon haben die Christen damit begonnen, ihre Christusverkündigung nicht nur mündlich weiterzugeben, sondern auch schriftlich zu fixieren. Gleichwohl geschah dies nicht in der Weise, dass die frühen Christen diese Verkündigung als »Heilige Schrift« konzipiert hätten, vielmehr ging diese Verkündigung von der anerkannten einzigen Heiligen Schrift, der Bibel Israels, aus.
Fragt man nun danach, wann, wie und warum es zur zweigeteilten christlichen Bibel gekommen ist bzw. was dazu geführt hat, dass die Christusverkündigung selbst zur vorhandenen Heiligen Schrift hinzugefügt wurde, dann stößt man auf Marcion, einen der bekanntesten Häretiker der frühen Kirche. Dieser Theologe des 2. Jh.s hat nicht das »Alte Testament« als Altes Testament verworfen, wie es nach ihm benannte spätere Tendenzen (Marcionismus) in der Kirche immer wieder versuchten, denn ein Altes Testament gab es zu seiner Zeit noch nicht. Marcion ging es auch in erster Linie gar nicht um die Bibel Israels im Christentum – also das spätere Alte Testament –, sondern er, der in hellenistisch-gnostischen Gedanken beheimatet war, unterschied dualistisch zwischen zwei verschiedenen Göttern mit ihren je eigenen Werken: dem Schöpfergott auf der einen Seite, der die von ihm geschaffene Welt durch sein Gesetz beherrsche, welches sich in der Bibel Israels niedergeschlagen habe, und dem fremden Gott auf der anderen Seite, der ausschließlich ein guter Gott sei und sich in seiner erbarmenden Güte in Jesus Christus geoffenbart habe. So gedacht ist es konsequent und logisch, dass die Bibel Israels für den christlichen Glauben abgelehnt werden muss, denn sie zeugt nach Marcions Auffassung vom Schöpfergott und nicht von dem Gott, den Jesus in seiner Verkündigung bezeugt habe. Marcion bleibt allerdings nicht bei dieser negativen Abgrenzung stehen, sondern er geht noch einen Schritt weiter, indem er einen verbindlichen Kanon von Schriften festlegt. Dazu gehören folgende zuvor von allen Bezügen zur Bibel Israels »gereinigte« Schriften: zehn Paulusbriefe (Gal, 1/2Kor, Röm, 1/2Thess, Eph, Kol, Phil, Phlm) und das ebenso »gereinigte« Lukasevangelium. Mit diesem »Kanon« bestätigt Marcion indirekt Geltung und Autorität der Bibel Israels in der frühen Kirche, denn sein Kanon ist ja nicht durch Reduktion eines vorliegenden neutestamentlichen oder gar alt- und neutestamentlichen Kanons zustande gekommen, sondern Marcion stellt seine eigene Bibel als verbindliche Urkunde erstmals zusammen. Die Idee einer solchen verbindlichen Urkunde übernimmt er von der vorliegenden Heiligen Schrift des Judentums. Marcions Bibel beansprucht somit, an die Stelle der Bibel Israels für die Christen zu treten. Der sich darin äußernde kühne Vorstoß Marcions, die Bibel Israels, die einzige Heilige Schrift des frühen Christentums, durch einen Kanon von Schriften zu ersetzen, die die Christusbotschaft beinhalten und betreffen, hat die Kirche dazu gedrängt, ihr eigenes Verhältnis zur Bibel Israels in Verbindung mit der mündlichen und schriftlichen Christusverkündigung zu klären. Wir wissen leider nichts über die entsprechenden Diskussionen in der Kirche, aber uns ist das Ergebnis bekannt: Es liegt in der zweieinen Bibel aus Altem und Neuem Testament vor.
Die Kirche folgte Marcion zwar darin, dass sie die Zeugnisse der Christusbotschaft – das spätere Neue Testament – als Heilige Schrift anerkannt hat, gleichwohl ist diese Anerkennung für sie in absoluter Entgegensetzung zu Marcion nur in der Verbindung mit der Bibel Israels und nicht lösgelöst von ihr denkbar. Die Kirche unterstreicht somit in der zweigeteilten Heiligen Schrift von Altem und Neuem Testament, dass sie den Juden Jesus von Nazaret nur aus der Einheit und Einzigkeit des Gottes heraus verstehen und verkündigen kann, der sich Israel offenbart hat. Dieser Gott, so die Antwort der Kirche auf Marcions Vorstoß, ist es auch, der sich in und durch Jesus offenbart. Die eine Heilige Schrift der Christen in zwei Teilen hält diesen Glauben an den Gott Israels, den Schöpfer der Welt, den Jesus bezeugt und verkündigt hat, für alle Zeiten unaufgebbar und unumstößlich fest. Die christliche Bibel aus Altem und Neuem Testament legt also zuerst einmal ein theologisches Bekenntnis ab: Es ist ein und derselbe Gott, der Israel erwählt und sich ihm offenbart hat und der sich sodann in Jesus, dem Christus/Messias, offenbart hat.
Die Antwort auf Marcion, wie sie die frühe Kirche in der einen Schrift aus zwei Teilen vorgelegt hat, hat eine Konsequenz. Marcion gilt seither der Kirche als »Häretiker«. Das zugrunde liegende griechische Wort bezeichnet ein »Auswählen, Bevorzugen«. Erst durch den spezifisch christlichen Gebrauch des Begriffs bekommt das Wort seinen negativen Unterton im Sinne der Bedeutung »leugnen«. Bei Marcion ist der Bedeutungswandel und das damit begründete Verständnis von Häresie noch gut greifbar. Marcion wählt aus, er bevorzugt einen Teil der für das Christentum konstitutiven Überlieferung. Da man sich in der frühen Kirche noch bewusst war, dass die Botschaft von Jesus, dem Christus, nur aus dem Ganzen der Offenbarung Gottes heraus verkündigt und verstanden werden kann, hat man auch gesehen, dass eine Auswahl und eine Bevorzugung innerhalb dieses Ganzen zur Leugnung des tragenden Fundamentes führen muss. Das Häresieproblem ist am Anfang ein Problem der Halbwahrheit; dies wird bei Marcion ganz deutlich; und die halbe Wahrheit, so ein jüdisches Sprichwort, ist die gefährlichste Lüge, weil sie nicht auf etwas Falschem in der Aussage beruht, sondern sich die Wahrheit selbst, als verkürzte und reduzierte, zu Diensten macht, und weil man sie deshalb nicht entlarven kann, indem man sie ihrer Falschheit überführt, also durch eine Richtigstellung, sondern nur durch Ergänzungen, Auffüllungen und Komplementierung zur ganzen Wahrheit.
Marcions Vorstoß hat die frühe Kirche zwar abgelehnt und hat, indem sie sein Ansinnen einer christlichen Bibel ohne die Bibel Israels als Häresie verworfen hat, die Notwendigkeit der Verbindung zwischen Christentum und Judentum festgehalten, aber sie hat es unterlassen, positiv ein Verständnis der Besonderheit ihrer zweigeteilten Einheit der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments in der Lehre zu formulieren. Deshalb konnte es im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder zu Tendenzen kommen, die als Marcionismus gekennzeichnet wurden, die aber anders als Marcion den dann schon als Altes Testament bekannten ersten Schriftteil der christlichen Bibel ablehnten bzw. mit unterschiedlichen Argumenten zu entwerten oder zu verwerfen suchten.
Kann man von Marcion her nachvollziehen, warum die Schriften der Christusverkündigung zur Heiligen Schrift, der Bibel Israels, von den Christen hinzugenommen wurden, so stellt sich nun für das Verständnis die Frage, warum die Christen die Bibel Israels nicht einfach um diese Schriften erweiterten, um so eine neue christliche Bibel hervorzubringen, sondern die komplexe und komplizierte Konzeption einer zweigeteilten Einheit wählten. Die Antwort auf diese Frage findet man im Rückblick auf die Entstehung bzw. Konstituierung des Biblischen Kanons, d. h. der Schriftensammlung der Bibel Israels. Die traditionelle Ausprägung der Bibel Israels liegt in der dreigliedrigen Fassung der Hebräischen Bibel aus Tora, Nebiim (Propheten) und Ketubim (Schriften) vor, die die jüdische Schriftbezeichnung TaNaK markiert, denn dieses Kunstwort ergibt sich aus den Anfangsbuchstaben der drei Kanonteile. Ein Blick auf die Konstituierung des dreigliedrigen Hebräischen Kanons von Tora, Nebiim und Ketubim hebt zwei für das spätere christliche Alte Testament wichtige Faktoren hervor. Zum einen wird deutlich, dass man nicht solange von einem offenen Kanon sprechen kann, bis definitive Urteile über seinen endgültigen Gesamtumfang und die Textgestalt zu finden sind. Zum anderen sieht man, dass es den einen und einzigen Kanon der Bibel Israels nicht gibt, sondern lediglich den Kanon einer Glaubensgemeinschaft. Im Blick auf die Entstehung der Bibel Israels bedeutet das allerdings auch nicht die völlige Auflösung in undurchschaubare Pluralität von diversen Büchern, sondern es lässt sich beobachten, dass das sukzessive Wachstum der Heiligen Schrift bei allen Variationen doch an Fixpunkten orientiert ist, die sich in der älteren zweigliedrigen Struktur von Tora und Propheten widerspiegeln.2
Die Gegenüberstellung der dreigliedrigen TaNaK-Struktur der Hebräischen Bibel und des Alten Testamentes (s. Abb. 1) zeigt, wenn man von einer ursprünglichen Zweierstruktur von Tora-Propheten ausgeht, dass im christlichen Alten Testament nicht, wie oft gemutmaßt, die Propheten ans Ende – und damit näher ans Neue Testament – gerückt worden sind, sondern dass an Stelle eines dritten Kanonteils die (späteren) »Schriften« in den zweiten Teil, nämlich die Propheten, eingeordnet worden sind.3 Diese Kompositionsstruktur einer erweiterten Zweigliedrigkeit von Tora und Propheten ist aber nicht auf die christliche Gestalt des Alten Testaments zurückzuführen, sondern geht wohl schon auf die Tradition der (jüdischen) Übersetzung der Hebräischen Bibel ins Griechische4 zurück.
Ausgehend von dem zweigeteilten Kanon (Tora-Propheten) ist das Wachstum des Kanons in unterschiedlichen Gruppen bzw. Glaubensgemeinschaften verschieden verlaufen. Der Weg eines dritten Kanonteils, der als TaNaK Grundlage des pharisäisch-rabbinischen Judentums wurde, ist nur eine mögliche Fortführung des zweigeteilten Kanons. Die Struktur, die dem Alten Testament zugrunde liegt, muss im Kontext der Septuagintatradition als eine andere Möglichkeit betrachtet werden, die als innere Erweiterung der älteren Zweiteilung zu verstehen ist. Dass eine solche Kanonstruktur mit einem übermächtigen »Propheten-Teil« dem Christentum entgegenkommt, liegt auf der Hand, denn sie unterstreicht die prophetisch-eschatologische Perspektive, unter der das Christentum die Bibel Israels wahrnimmt. Sie soll schließlich auch zur umfassenden Perspektive des Alten Testaments im Christentum werden. Dies gilt nicht nur aufgrund der beschriebenen Erweiterung des Schriftenteils »Propheten« und des damit einhergehenden Übergewichtes gegenüber der Tora, sondern die Unvergleichlichkeitsaussage in Bezug auf Mose am Ende der Tora in Dtn 34,10, die zuerst einmal den Vorrang der Tora (Mose) vor den »Propheten« sicherstellte, kann nämlich auch umgekehrt in der Weise gelesen werden, dass Mose der größte Prophet aller Zeiten ist und somit die Tora (Mose) selbst prophetisch rezipiert werden kann.
Aus den genannten Beobachtungen lässt sich etwas vereinfacht die unterschiedliche Struktur von TaNaK und Altem Testament auf eine jeweils eigene Rezeption der vorausgehenden bzw. vorgegebenen Tora-Propheten-Schrift zurückführen.
Die grundlegende, ältere zweiteilige Kanonstruktur der Bibel Israels (Tora-Propheten) bildet den Schlüssel zum Verständnis der zweieinen christlichen Bibel aus Altem und Neuem Testament. Es ist nämlich nicht von der Hand zu weisen, dass das Modell für die eine Schrift in zwei Teilen keine christliche Erfindung ist, sondern eine Nachbildung der Struktur dieser Tora-Propheten-Schrift. Die innere Grenze zwischen Tora und Propheten stellt den Ort der Weichenstellung für das Gesamtverständnis dieser Schrift dar, denn der Hinweis, dass es keinen größeren Propheten als Mose geben werde (vgl. Dtn 34,10), muss man als Leseanweisung verstehen, die sicherstellt, dass die Propheten im Licht der Tora zu lesen sind, und nicht umgekehrt, selbst dann, wenn auch die Tora als Prophetie verstanden wird, was die Position der Tora vor den Propheten sicherstellt. Die Bibel Israels gilt dem frühen Christentum zu jeder Zeit uneingeschränkt als die Heilige Schrift, nicht zuletzt aus der Einsicht, dass die Christusverkündigung nur auf der Basis dieser Schrift geschehen kann. In und durch die Schrift hält die frühe Kirche also fest, dass Gott sich nicht nur – und vor allem nicht zuerst – in Jesus Christus offenbarte, sondern dass er sich zuerst Israel und dann erst in Israel durch Jesus Christus der Welt offenbart hat. Auf die Heilige Schrift bezogen bedeutet das, dass der Bibel Israels im Christentum eine zeitliche und theologische Vorrangstellung zukommt, die man als »Prae« der Bibel Israels bezeichnen kann. Diese »Vorrangstellung« der Bibel Israels als Altes Testament in der christlichen Bibel, das »Prae« der Bibel Israels in der »Prae-Position« des Alten Testaments in der zweigeteilten christlichen Bibel, schreibt das Christentum auch in der Korrelation – nicht Opposition – der Begriffe »alt – neu« der Buchteilebezeichnung (AT – NT) fest. Aus dem Anordnungsprinzip, dass die »Christusbücher« als Neues Testament der Bibel Israels als Altem Testament im Sinne eines zweiten Kanonteils angefügt werden, ergibt sich eine sachlich notwendige Leserichtung – vom Alten zum Neuen Testament –, die auch die Interpretationsrichtung festlegt. Die auch in der christlichen Einheit von Altem und Neuem Testament weiter bestehende besondere Autorität der Mosebücher zeigt sich daran, dass sie kompositionell in der Bibel aus Altem und Neuem Testament den Evangelien gegenüberstehen, wenn die Bücher sachlich in je vier Gruppen geteilt werden.5
Altes Testament |
Neues Testament |
Tora |
Evangelien |
Bücher der Geschichte |
Apostelgeschichte |
Bücher der Weisheit |
Apostelbriefe |
Bücher der Prophetie |
Johannesoffenbarung |
Die vier Teile der christlichen Bibel (Tora – Propheten – Evangelien – Taten und Worte der Apostel) stellen Jesus nicht nur, wie es auch in vielen Erzählungen der Evangelien geschieht, an die Seite des Mose, sondern deuten für die Christen, dass die Botschaft über Jesus, den Christus, d. h. Messias der Bibel Israels, nur in Verbindung mit und durch die Autorität des Mose – das bedeutet des Pentateuch – verstanden werden kann.
In diesem Sinne kann man mit Fug und Recht von Mose als der Zentralgestalt der Bibel, bei Juden wie bei Christen, sprechen. Bevor die Darstellung der Gestalt des Mose in der Bibel einsetzen kann, um die biblische Botschaft herauszuarbeiten, die mittels der Darstellung der Gestalt des Mose verkündigt werden soll, ist es nötig, die biblische Darstellung von den Fragen abzugrenzen, die sich uns Heutigen in Bezug auf eine Person stellen. Die beiden folgenden Abschnitte der Einführung wenden sich deshalb der Frage zu: Wer ist und wer war Mose?
»Wer ist Mose?«, ist die Frage nach der Bedeutung, die der Gestalt des Mose zukommt. Eine Antwort auf diese Frage lässt sich aber nicht für alle Zeiten und Kulturen bzw. religiösen Kontexte in gleicher Weise finden. Vielmehr wechselt das Bild von Mose sehr stark im Laufe der Jahrhunderte, und Juden, Christen und Muslime verbinden je Eigenes mit Mose. Die erste und ganz allgemeine Sicht, die der Blick ins Konversationslexikon eröffnet, zeigt Mose gerne als Religionsstifter an der Seite von Zarathustra, Laotse, Jesus von Nazaret, Mani, Mohammed u. a. Wie auch einige andere der genannten Personen entzieht Mose sich aber schnell diesem Versuch, ihn als Stifter einer Religion zu betrachten.
Das Judentum nämlich, das man auf ihn zurückführen möchte, erkennt Mose zwar als Mittler göttlicher Offenbarungen an, aber die mit Mose verbundene und von ihm übermittelte Offenbarung begründet nicht die Religion des Judentums. Die Heilige Schrift des Judentums hält das selbst fest, wenn sie bei der Erzählung von der Berufung des Mose den Mose berufenden Gott sich vorstellen lässt als
»Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. … Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört.« (Ex 3,6 f.)
Im Selbstverständnis des Judentums stiftet Mose folglich nicht die Religion, sondern wird berufen, einer vorhandenen Beziehung zwischen Israel und seinem Gott eine neue Gestalt zu geben. Man könnte zwar an eine »Mosaische Religion« denken, deren Hauptinhalt das monotheistische Bekenntnis, der Eingottglaube, wäre, und Mose auf diesem Weg den Religionsstiftern zuordnen, doch findet sich dann keine gelebte Religion, die sich aus dieser Konzeption ableiten lässt, weil Judentum, Christentum und Islam zwar als monotheistischen Religionen charakterisiert werden können, aber alle drei – wenn auch auf je eigene Weise – den Eingottglauben nicht als theoretisches Konzept, sondern als Folge der Offenbarungen des einen, wahren Gottes erkennen. Das, was ihnen dabei gemeinsam ist, führen sie auf einen gemeinsamen Ursprung, der in Abraham gesehen wird, zurück, weshalb die drei Religionen, ohne ihr monotheistisches Bekenntnis zu betonen, gerne als »Abrahamitische Religionen« bezeichnet werden. Diese Überlegungen schmälern in keiner Weise die Bedeutung, die Mose in allen drei genannten Religionen zukommt, stellen allerdings das Bild des Religionsstifters Mose infrage, wie es bei genauerer Betrachtung ebenso für Jesus in Bezug auf das Christentum und Mohammed in Bezug auf den Islam infrage zu stellen ist. Auch mit Jesus von Nazaret beginnt keine neue Religion, sondern innerhalb der Religion des Judentums entwickelt sich aus dem Bekenntnis zu Jesus als dem Messias eine neue Richtung, die erst später zur eigenständigen Religion wird; und auch Mohammed ist nicht als Religionsstifter, sondern als wichtigster und letzter Prophet eines Offenbarungsgeschehens, das Judentum und Christentum miteinschließt, zu erkennen.
Insofern Mose nicht als Stifter einer Religion betrachtet werden kann, jedoch die mit ihm verbundene Offenbarung (Tora) für die Religionen von Judentum, Christentum und Islam von entscheidender Bedeutung ist, muss die Frage, wer Mose ist, an die Tora selbst gestellt werden. Sie endet im sog. Mose-Epitaph von Dtn 34,10–12 damit, dass Mose als »Prophet« gewürdigt wird.
»Aber nicht wieder ist in Israel ein Prophet aufgetreten wie Mose, den der HERR von Angesicht zu Angesicht kannte, in Bezug auf all die Zeichen und Wunder, die der HERR ihn sandte, zu tun im Land Ägypten, dem Pharao und all seinen Dienern und seinem ganzen Land; und in Bezug auf alle Machterweise und alle furchterregenden und großen Taten, die Mose vor den Augen ganz Israels getan hat.« (Dtn 34,10–12)
Dieser Text sagt weder »wer« noch »was« Mose ist, aber der Vergleich, der mit den Propheten gezogen wird, erlaubt, Mose zumindest in die Nähe zu dem zu bringen, was die biblische Prophetie ausmacht.6 Selbst wenn man die Formulierung als Unvergleichlichkeitsaussage versteht, die Mose von allen Propheten absetzt, dann bleibt aber das Prophetische doch der gemeinsame Bezugspunkt, insofern Mose eben nicht von Priestern, Volksführern u. Ä. abgesetzt wird. Dtn 34,10 lässt sich in der kanonischen Buchstruktur der Bibel aber nicht nur als Auszeichnung des Vorrangs der Tora (= Mose) vor den Propheten (im Sinne des Kanonteils Nebiim) lesen und verstehen, wie es in der Tora-Perspektive des TaNaK zu erkennen ist, sondern auch, was die Propheten-Perspektive des Alten Testaments widerspiegelt, als Zuordnung des Mose zu den Propheten bzw. als Einordnung des Mose unter die Propheten, wenn auch als größter unter ihnen. Das hier angesprochene und für Mose reklamierte Prophetische ist einerseits auf die Art des Empfangs der göttlichen Botschaft zu beziehen und andererseits auf die sich daraus ergebende Bedeutung der durch Mose vermittelten Inhalte. Diese doppelte Perspektive blickt von Dtn 34 auf den größeren Erzählzusammenhang des Pentateuchs zurück. Schon in Dtn 18 wird Israels spezielles Gottesverhältnis im Blick auf die Propheten dargelegt:
»Wenn du in das Land hineinziehst, das der HERR, dein Gott, dir gibt, sollst du nicht lernen, die Gräuel dieser Völker nachzuahmen. Es soll bei dir keinen geben, der seinen Sohn oder seine Tochter durchs Feuer gehen lässt, keinen, der Losorakel befragt, Wolken deutet, aus dem Becher weissagt, zaubert, Gebetsbeschwörungen hersagt oder Totengeister befragt, keinen Hellseher, keinen, der Verstorbene um Rat fragt. Denn jeder, der so etwas tut, ist dem HERRN ein Gräuel. Wegen dieser Gräuel vertreibt sie der HERR, dein Gott, vor dir. Du sollst ganz und gar bei dem HERRN, deinem Gott, bleiben. Denn diese Völker, deren Besitz du übernimmst, hören auf Wolkendeuter und Orakelleser. Für dich aber hat der HERR, dein Gott, es anders bestimmt. Einen Propheten wie mich wird dir der HERR, dein Gott, aus deiner Mitte, unter deinen Brüdern, erstehen lassen. Auf ihn sollt ihr hören. Der HERR wird ihn als Erfüllung von allem erstehen lassen, warum du am Horeb, am Tag der Versammlung, den HERRN, deinen Gott, gebeten hast, als du sagtest: Ich kann die donnernde Stimme des HERRN, meines Gottes, nicht noch einmal hören und dieses große Feuer nicht noch einmal sehen, ohne dass ich sterbe. Damals sagte der HERR zu mir: Was sie von dir verlangen, ist Recht. Einen Propheten wie dich will ich ihnen mitten unter ihren Brüdern erstehen lassen. Ich will ihm meine Worte in den Mund legen, und er wird ihnen alles sagen, was ich ihm auftrage.« (Dtn 18,9–18)
Interessant ist im vorliegenden Kontext, dass gerade nicht ein Nachfolger des Mose angekündigt wird, mit dem Gott in gleicher Weise wie mit Mose umgehen würde, sondern die Zusage knüpft vielmehr an den Ausgangspunkt der »Mose-Prophetie« an. Auf die konkrete Situation am Gottesberg wird angespielt, und zwar in der Weise, dass die von Gott als rechtens erachtete Bitte des Volkes um Vermittlung (Ex 20,18) in den Mittelpunkt gestellt wird. Später – an der Grenze zum Verheißenen Land – rekapituliert Mose für die Generation, die in dieses Land ziehen wird, die Ereignisse vom Gottesberg und stellt dabei die Besonderheit der Vermittlungssituation eigens heraus.7 Die Einzigartigkeit wird in Dtn 5,4 durch die quasi paradoxe Umschreibung einer »vermittelten Unmittelbarkeit« hervorgehoben. Es ist eine Unmittelbarkeit (»von Angesicht zu Angesicht«), die gebrochen bzw. vermittelt ist (»mitten aus dem Feuer« und »ich stand zwischen dem HERRN und euch, um euch die Worte …«). Sie verweist aber nicht zuerst auf die Einmaligkeit eines vergangenen Geschehens, sondern zeichnet die von Mose für alle späteren Zeiten übermittelten Worte in einzigartiger Weise aus.
»Und dann rief Mose zu ganz Israel und er sagte:
Höre, Israel, die Gebote und Satzungen, die ich heute in eure Ohren spreche. Ihr sollt sie lernen und bewahren, um sie zu tun.
Der HERR, unser Gott, hat mit uns einen Bund am Horeb geschlossen.
…
Von Angesicht zu Angesicht sprach Gott mit euch am Berg mitten aus dem Feuer.
Ich stand zwischen dem HERRN und euch zu jener Zeit, um euch die Worte des HERRN zu verkünden, denn ihr fürchtetet euch vor dem Feuer und stiegt nicht auf den Berg.« (Dtn 5,1–5)
Die Einzigartigkeit der Mose-Prophetie wird in der Bibel selbst betont, wenn Mose von allen anderen Propheten dadurch abgesetzt wird, dass die Weise seines Offenbarungsempfangs sich unvergleichlich unterscheidet, denn Gott offenbart sich nach Num 12,6 f. seinen Propheten in »Erscheinungen« und spricht im Traum zu ihnen, während er mit Mose nicht rätselhaft, sondern unmittelbar »von Mund zu Mund« spricht, und Mose darf sogar seine Erscheinung, »Gottes Gestalt«, sehen:
»Von Mund zu Mund rede ich mit ihm mit völliger Deutlichkeit, nicht im Rätsel, und er schaut die Gestalt des (erscheinenden) Ewigen.« (Num 12,8 in der Übersetzung von Moses Mendelsohn)
Die Besonderheit liegt deutlich darin, dass Gott mit Mose unmittelbar verkehrt. Diese Unmittelbarkeit wird in der Hebräischen Bibel variationsreich umschrieben. So heißt es beispielsweise in Dtn 34,10, dass Gott Mose »von Angesicht zu Angesicht kannte«, und in Ex 33,11, dass Gott mit Mose »von Angesicht zu Angesicht spricht«.
In der jüdischen Tradition ist daraus die besondere Stellung der Mose-Prophetie abgeleitet und ihr absoluter Vorrang begründet worden, der zugleich für die gesamte Tora steht, wenn die Tora von der übrigen Prophetie abgesetzt wird. Die genannte Unmittelbarkeit der Mose-Prophetie bringt der Babylonische Talmud in einem schönen, selbstredenden Bild zum Ausdruck. Die Propheten, so heißt es dort, hätten durch einen nicht hell leuchtenden Spiegel geschaut, Mose hingegen durch einen hell leuchtenden Spiegel. Das Bild lässt sich auch so verstehen und wiedergeben, dass die Propheten durch ein trübes Glas und Mose durch ein durchsichtiges geschaut habe.8
Die so gesehene Mose-Prophetie begründet im Judentum einen Vorrang des Mose. Dies vor allem nachdem der jüdische Philosoph, Rechtsgelehrte und Arzt Mose ben Maimon, genannt Maimonides (1135–1204), der Prophetie in seinen berühmten 13 Glaubenssätzen9 eine besondere Rolle zuerkannt und dabei der mit der Person des Mose verbundenen Prophetie, die zur von ihm vermittelten Tora führt, eine Schlüsselstellung zugewiesen hat. Das zeigt sich deutlich durch den inneren Zusammenhang der Glaubenssätze 6–9 des Maimonides. »Glaubenssatz 6 spricht von den Worten der Propheten, Glaubenssatz 7 von der vorrangigen Prophetie des Moses, Glaubenssatz 8 von der Verbalinspiration der Thora und Glaubenssatz 9 vom abschließenden Charakter der Thora, die keiner Ergänzung oder Veränderung mehr bedarf.«10 Die Kürze und Dichte dieser Glaubenssätze lässt erkennen, dass das, was die Tora für das Judentum bedeutet, aufs Engste mit dem Verständnis der einzigartigen Prophetie des Mose verbunden ist.
»Der siebente Glaubensartikel des Maimonides lautet: ›Ich glaube mit vollkommenem Glauben, daß die Prophetie unsres Lehrers Mose, über ihm sei Friede, wahr ist; und daß er der Vater der Propheten vor ihm und nach ihm war.‹ Mit diesem Glaubenssatz, der unmittelbar an die Bezeugung der prophetischen Wahrheit anschließt, wird der Primat Mosis statuiert. Damit bewegt sich Maimonides ganz in den Bahnen der Tradition, die ausdrücklich feststellt, daß kein Prophet etwas Neues lehren könne, was nicht bereits in der Thora des Moses enthalten sei (Sabb 104 a) … . Obwohl aber Mose als Vater der Propheten ›Av la-Nebiim‹ bezeichnet wird, wählt Maimonides doch die Titulierung Mosche Rabbejnu, Mose unser Lehrer. Einen höheren Titel als diesen vermag das Judentum nicht zu verleihen. Mose wird nicht als Heiliger bezeichnet, erhält nicht das Prädikat ›göttlich‹ oder dergleichen. Er ist der Lehrer kat exochen, der Lehrer aller Zeiten und Generationen. Wenn sich Maimonides zu der Behauptung versteigt, daß Mose der Vater der Propheten vor und nach ihm ist, so wird hier eine Variante des talmudischen Grundsatzes angeschlagen, daß es kein Vorher und Nachher in der Thora gäbe. Was uns in geschichtlicher Abfolge geboten wird, ist dennoch nichts anderes, als ein aus der Ewigkeit durch die Zeit in die Ewigkeit gesprochenes Wort, das nicht an die Gezeiten des Lebens gebunden bleibt.
Dennoch war sich die Tradition des Judentums der Entwicklung im Sinne der Interpretation voll bewußt. Eine Aggada erzählt, daß Mose in der Welt der Wahrheit (im Jenseits) in der Schule des Rabbi Akiba die Thora lernt und dabei erfährt, wie jeder Buchstabe und jedes Krönchen auf jedem Buchstaben in tiefsinniger Weise ausgedeutet wird (Menachoth 29 b). Welch theologischer Humor (eine Seltenheit) ist in dieser Legende enthalten. Mose, der Vater der Propheten, der die Offenbarung unmittelbar von Gott empfangen hat, der nun mit ihm wie ein Mensch zu einem Freund gesprochen hat, nicht in Träumen und Visionen, wie zu den anderen Propheten, muß sich durch einen Schriftgelehrten späterer Jahrhunderte belehren lassen … . In dem siebenten Glaubenssatz des Maimonides wird bereits das formative Element in der Thora, in den fünf Büchern Mose, angedeutet, das in den zwei folgenden Sätzen noch weiter ausgeführt erscheint. Wenn Mose der Vater der Propheten ist, so ist seine Prophetie die Wurzel aller anderen Prophetie. Das Wort Av Vater, das hier für Mose gebraucht wird, in seiner Beziehung zu den Propheten vor und nach ihm, ist nicht nur im ursprünglichen Sinn zu verstehen, sondern klingt im rabbinischen Sprachgebrauch des Maimonides wohl auch an den Terminus ›Av Beth Din‹ Vater des Gerichtshofes an, die gängige Bezeichnung für den Vorsitzenden eines rabbinischen Kollegiums … . Es ist für den jüdischen Sprachgebrauch überaus wesentlich, daß Mose als unser Lehrer, als Vater und Haupt der Propheten, nicht aber als Gesetzgeber bezeichnet wird. Diese Bezeichnung findet sich zwar in modernen hebräischen Texten, die bereits von der westlichen Bibelwissenschaft beeinflußt sind, aber für das traditionelle Verständnis ist Mose nicht der Gesetzgeber, sondern der Empfänger des Gesetzes, der es in prophetischer Schau entgegennimmt und als Lehrer seinem Volke vermittelt.«11
Die Mose-Prophetie wird auch im Christentum anerkannt. Ja, sie dient sogar als Grundlage zur Interpretation der Bedeutung Jesu, wie die Predigt des Petrus sehr deutlich zeigt.
»Also kehrt um, und tut Buße, damit eure Sünden getilgt werden und der Herr Zeiten des Aufatmens kommen lässt und Jesus sendet als den für euch bestimmten Messias. Ihn muss freilich der Himmel aufnehmen bis zu den Zeiten der Wiederherstellung von allem, die Gott von je her durch den Mund seiner heiligen Propheten verkündet hat. Mose hat gesagt: Einen Propheten wie mich wird euch der Herr, euer Gott, aus euren Brüdern erwecken. Auf ihn sollt ihr hören in allem, was er zu euch sagt. Jeder, der auf jenen Propheten nicht hört, wird aus dem Volk ausgemerzt werden. Und auch alle Propheten von Samuel an und alle, die später auftraten, haben diese Tage angekündigt. Ihr seid die Söhne des Propheten und des Bundes, den Gott mit euren Vätern geschlossen hat, als er zu Abraham sagte: Durch deinen Nachkommen sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen. Für euch zuerst hat Gott seinen Knecht erweckt und gesandt, damit er euch segnet und jeden von seiner Bosheit abbringt.« (Apg 3,19–26).
Schließlich findet sich auch in der Rede des Stephanus ein wichtiger Hinweis auf die Mose-Prophetie, insofern die ganze Darstellung des Mose in dieser »Formel« zusammengefasst wird:
»Dies ist der Mose, der zu den Israeliten gesagt hat: Einen Propheten wie mich wird Gott euch aus euren Brüdern erwecken.« (Apg 7, 37)
Gerade weil es hier nicht nur um den Erfüllungsgedanken – Jesus ist der von Mose angekündigte Prophet 12