Titel

Pierre Emme

Pasta Mortale

Palinskis zehnter Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

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1. Auflage 2009

 

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / Korrekturen: Susanne Tachlinski

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Renate Bregenzer / Pixelio

ISBN 978-3-8392-3402-0

1.

Bisher war das Essen in diesem Zeitgeistschuppen die reinste Zumutung gewesen, fand Palinski. Vor allem bei den wirklich ›erstklassigen‹ Preisen, die man hier im ›Desirée‹ in der Krottenbachstraße für das bestenfalls mittelmäßige Angebot nahm. Und mittelmäßig war schon eine sehr freundliche Beschreibung für eine kraftlose Rindssuppe mit Profiteroles aus dem Päckchen. Diese Consommé, wie sie sich großspurig in der Karte genannt hatte, war der reinste Beweis für die Richtigkeit der alten Küchenweisheit gewesen, dass die ›Suppe nicht ausgeht, solange der Wasserhahn noch funktioniert‹.

Oder was dem Gast da auf der bei flüchtigem Hinschauen optisch zugegebenermaßen nicht unerfreulichen, etwas großspurig als ›Hors d’œuvre Buffet‹ bezeichneten erweiterten Salatbar an nicht mehr vorhandener Frische und nie vorhanden gewesener Originalität angetan wurde. Der kleine Vorspeisenteller zu 9 Euro, der große zu 15. Wie in der Autobahnraststätte, nur nicht ganz so gut.

Und dann, als bisherige Krönung des Zugemuteten, die lederartigen Filet Mignons, die das Kauerlebnis, das einem eine Gummibadematte vermitteln musste, täuschend ähnlich nachempfinden hatten lassen. Dazu diese Sauce béarnaise, mit einem Salzgehalt wie das Tote Meer. Ganz zu schweigen von dem völlig zerkochten, mit Dosenmais veredelten Tiefkühlmischgemüse. Einzig die Petersilienerdäpfel hätten in Optik, Konsistenz und Würzung einigermaßen dem Standard entsprochen, hätten die dienstbaren Geister in der Küche als Grün nicht irrtümlich Dill erwischt. Aber bitte, das war, unabhängig davon, ob es den Angaben in der Speisenkarte entsprach oder nicht, Geschmackssache. Ein Glück für die Küche, dass Palinski dieses Kräutlein ganz gern mochte. Wenn auch eher am Lachs.

Dafür waren die Portionen übertrieben groß, was jedem einigermaßen kultivierten Gast einen weiteren gewichtigen Grund lieferte, an der Philosophie des dafür verantwortlichen Gastronomen zu zweifeln. Denn die Zeiten, in welchen Quantität gleichzeitig auch ein Qualitätskriterium war, waren Gott sei Dank schon lange passé.

Dabei war Palinski eigentlich nur ins ›Desirée‹ gekommen, weil sich Franz Ferdinand Lehberger hier mit ihm treffen wollte. Wer aber nicht gekommen war, war … Erraten.

Na, vielleicht verbargen sich ja in der Dessertkarte noch jene sensationellen ›kulinarischen Offenbarungen‹, von denen der juvenile Foodexperte des ›Klopfgeistes‹ (›WasWoWann in dieser Stadt los ist, lesen Sie nur bei uns‹) noch vor einigen Wochen so geschwärmt hatte.

Palinski blickte sich um. Es war erst kurz nach 13.30 Uhr, und der zwar nicht allzu große, immerhin aber doch etwa 60 Sitzplätze umfassende Fresstempel war bis auf zwei weitere Gäste an einem benachbarten Tisch gähnend leer. Falls das typisch für den Geschäftsgang des angeblichen In-Lokals war, dann würde dieses Ärgernis wahrscheinlich ohnehin schon bald ganz von selbst verschwinden. Möglicherweise sogar, noch ehe Palinskis Gastrokritik im neuen ›Wien Kulinarisch‹-Führer erschien. Was in ungefähr zwei Monaten der Fall sein sollte. Das nannte man Marktbereinigung, und die würde in diesem Fall auch zu Recht erfolgen.

Palinskis Blick arbeitete sich über die unvermeidliche Mousse au Chocolat, die Macedonia di frutta und Omas Pancakes (allein diese Bezeichnung verdeutlichte die exklusive Orientierungslosigkeit des dafür Verantwortlichen in diesem Lokal) bis hin zu Somlauer Nockerln. Um schließlich wohlgefällig auf den Kärntner Mohnnudeln haften zu bleiben. Das Risiko bei diesem Gericht erschien Palinski überschaubar. Es erinnerte ihn an die Ferien, die der kleine Mario mit seinen Eltern an einem schönen See im südlichsten Bundesland verbracht hatte. Mohnnudeln hatte er schon lange keine mehr gegessen. Allein schon wegen der in den handgewutzelten, aus Erdäpfelteig bestehenden Köstlichkeiten steckenden Kalorien. Aber das war bei den mehr als vier Kilo, die er durch die bisherige Mitarbeit an dem Gourmetführer bereits zugelegt hatte, auch egal.

Also, bei Mohnnudeln konnte wirklich nicht viel schiefgehen. Und eine letzte Chance auf einen positiven Teilaspekt hatte sich der Laden ja vielleicht verdient.

»Bringen Sie mir bitte eine Portion Kärntner Mohnnudeln. Und ein Glas von dem Zöbinger Eiswein«, konnte er dem nach Längerem wieder einmal vorbeiflanierenden Ober gerade noch entschlossen nachrufen. Der exquisit geschulte Mann, der sich um keinen Preis in der Vorwärtsbewegung einschränken lassen wollte, quittierte den Auftrag mit einem unmerklichen, für einen Spezialisten wie Palinski aber kaum zu übersehenden Nicken.

Da das Ganze nach den bisher gemachten Erfahrungen mindestens 30 Minuten dauern würde, na gut, vielleicht auch nur 20, die aber sicher, beschloss er, diese Zeit zu nutzen und ein wenig Platz vor dem entscheidenden letzten Gang zu schaffen. Und bei dieser Gelegenheit gleich auch ein durch die plötzliche Leere des Akkus seines Handys aufgeschobenes wichtiges Telefonat über die Festnetzleitung des Lokals zu erledigen. Das Gästetelefon würde ja hoffentlich in Ordnung sein.

Also stand Palinski auf und wandte sich zielstrebig dem im Untergeschoss befindlichen Hygienebereich zu.

 

*

 

Hans Bastinger war einer jener Menschen, die permanent unter dem Eindruck standen, die ganze Welt hätte sich überall und unter allen Umständen gegen sie verschworen.

Heute war wieder so ein typischer Tag. Keine großen Ungerechtigkeiten, nichts Spektakuläres, das ihm zugestoßen wäre, zumindest bis jetzt. Und doch war da dieser stets präsente Eindruck, dass alles, was sich gegen ihn wenden konnte, dies auch tat. Und das nicht irgendwann, sondern jederzeit.

Das hatte beim Frühstück begonnen, als sich seine Frau standhaft geweigert hatte, ihm 500 Euro zu borgen. Mit der von jedermann als fadenscheinig erkennbaren Ausrede, sie wäre gestern nicht mehr rechtzeitig zur Bank gekommen. Also hatte er mal wieder seine eigenen Reserven angreifen müssen, um genug Geld für das standesgemäße Einkochen der kleinen Blondine zu Mittag im ›Desirée‹ zu haben. Als er dann nach dem Hors d’œuvre vorgefühlt hatte, wie denn seine Chancen dafür standen, nach dem Dessert noch einen Nachtisch der ganz besonderen Art im Hotel ›Samarkand‹ konsumieren zu können, hatte ihn Dorli freundlich angelächelt und etwas von »Sorry, Alter, aber die Tante Mary is grad auf Besuch. Des müss ma verschiebn« gemurmelt.

Noch etwas. Am Vormittag hatte ihn ein Assistent eines früheren Kunden angerufen und angekündigt, für Bastinger wichtige Auftragsunterlagen beim Oberkellner des ›Desirée‹ zu hinterlassen. Anscheinend hatte sich da aber jemand einen schlechten Scherz erlaubt, denn der dienstbare Geist wusste trotz intensiver Befragung nichts von irgendwelchen Papieren. Das war schon sehr ärgerlich. Man kam sich irgendwie blöd vor.

Und nicht zuletzt war da noch die Tatsache, dass man in diesem blöden Nobelschuppen hier offenbar glaubte, ihn sukzessive bescheißen zu können. Indem man ihm ständig kleinere Portionen servierte als dem einzigen anderen männlichen Gast, dem Herrn am dritten Tisch beim Fenster. Gut, Bastinger war heute zum ersten Mal in diesem Restaurant und der andere Herr möglicherweise Stammgast, aber diese Ungleichbehandlung war mit nichts zu rechtfertigen. Das war eine bodenlose Sauerei, die ihn maßlos ärgerte.

Er hatte Dorli seine diesbezüglichen Beobachtungen zugeflüstert und sie um ihre Meinung dazu gebeten. Doch das blöde Weib hatte lediglich kindisch gelacht und etwas von »Verfolgungswahn« genuschelt. »Wahrscheinlich hast du den Ober mit deiner Fragerei verärgert, und das ist seine Rache«, hatte sie dann noch gemeint. Das war natürlich auch eine Möglichkeit.

Mit neidvoll klopfendem Herzen und überhöhtem Blutdruck beobachtete Bastinger argwöhnisch, wie der bevorzugte Gast noch Nachtisch bestellte. Kärntner Mohnnudeln, wie kaum zu überhören war. Na, diese Gelegenheit, die Berechtigung seines Verdachts zu beweisen, wollte er sich nicht entgehen lassen. Und das im unmittelbaren Vergleich, 1:1 sozusagen.

»Ich bekomme auch die Kärntner Mohnnudeln, Herr Ober«, rief er dem bereits fast enteilten Herrn über 15 Tische nach und konnte nur hoffen, dass seine Bestellung auch noch registriert worden war.

»Und was ist mit mir?«, monierte Dorli jetzt. »Ich hätte auch gerne etwas Süßes.«

»Dann bestell dir was«, konterte Bastinger eher unfreundlich.

Aber so ließ die junge Frau nicht mit sich umspringen. »So geht’s nicht«, meinte sie mit spitzem Mund, stand auf, nahm ihre Handtasche und folgte dem anderen Gast, der eben dabei war, den Speiseraum zu verlassen. Wohin Dorli unterwegs war und was sie da tun wollte, konnte Bastinger nur ahnen. Angesichts der bekannten besonderen Umstände war ihm das aber auch egal.

Inzwischen war der Ober, überraschend schnell, wie auch Bastinger registrierte, wieder erschienen und hatte dem derzeit abwesenden Stammgast ein Glas Wein hingestellt. Nach weiteren nur drei Minuten war der Mann in Schwarz wieder da, diesmal mit zwei Tellern Mohnnudeln. Den ersten Teller stellte er wie erwartet am Tisch neben dem Fenster ab, den zweiten eher lieblos vor ihm selbst, wie Bastinger fand. Ein kontrollierender Blick zum Tisch des anderen Gastes bestätigte dann rasch seinen durch den ersten Eindruck entstandenen Verdacht. Seine, Bastingers Portion, war definitiv kleiner als die des anderen. Diese Ungerechtigkeit fraß an seiner Seele wie eine Rotte hungriger Geier am Aas.

Zu blöd, dass er seine Kamera nicht dabeihatte, dachte der frustrierte Mann. Aber irgendetwas musste er gegen dieses schreiende Unrecht tun. Den Ober beschimpfen, den anderen Gast oder auch beide. Vielleicht würde es ja auch helfen, seinen Dessertteller aus Protest einfach auf die Erde zu hauen. Sonst würde ihn dieses fürchterliche Gefühl des Zurückgesetztwerdens noch auffressen.

Während er also eine geeignete Maßnahme überlegte, betrat ein weiterer Kellner, älter und kleiner als der erste, den Raum, ging schnurstracks zum Tisch beim Fenster, zog einen Zuckerstreuer heraus und begann – Bastinger konnte es kaum fassen – die Nudeln des anderen auch noch zu zuckern. Also nicht nur größere Portionen, sondern auch mehr Service. Alles in allem viel mehr Aufmerksamkeit, ja Liebe für den bevorzugten Stammgast.

Das schmerzte, aber nachdem der derart Zurückgesetzte jetzt endlich eine Idee hatte, wie er reagieren wollte, nicht mehr ganz so sehr. Kaum hatte der Zuckerer den Raum wieder verlassen, sprang Bastinger auch schon auf, um seinen kühnen Plan in die Tat umzusetzen.

Mein Gott, tat es gut, endlich etwas unternehmen zu können.

 

*

 

Doris Nekledar zog sorgfältig die Lippen nach, fuhr sich mit den Fingern durch die Frisur und richtete ein fehlgeleitetes Strähnlein wieder aus. Dann verließ sie die Damentoilette.

Wenn sie etwas hasste, dann Männer wie diesen Bastinger. Trugen ihre eindeutigen Absichten vor sich her wie der Priester die Monstranz zu Fronleichnam. Nicht, dass sie grundsätzlich etwas dagegen gehabt hätte. Sie lebte ganz gut von diesen geilen Böcken. Was sie aber regelmäßig zornig machte, war die unverschämte Art, wie manche dieser ›Gentlemen‹ sich in bestimmten Situationen verhielten. Wenn es aufgrund biologischer Gesetzmäßigkeiten nicht so klappte mit dem Sex nach dem Lunch, dann kam der wahre Charakter dieser Schweine ans Licht. Ihr scheinbares Interesse an dem Menschen, das mühsam übergestreifte gute Benehmen, oder was sie dafür hielten, war mit einem Schlag wie weggeblasen. Und das meistens noch während des Essens. Dann war’s vorbei mit der Großzügigkeit. Da musste man froh sein, wenn man sich noch selbst ein Dessert bestellen durfte.

Aber irgendwie war sie ja selbst auch schuld an dummen Situationen wie der gegenwärtigen. Warum hatte sie dem brunftigen Eber da oben die Sache mit der Marietant noch vor dem Hauptgang gebeichtet und nicht erst nach dem Kaffee? Das war ein taktischer Schnitzer gewesen.

Na, wieder etwas dazugelernt, dachte Dorli, die jetzt eben den Gastraum betrat. Mit dem, was sich ihrem unvorbereiteten Blick hier bot, hatte sie allerdings nicht gerechnet. Dabei verging ihr auch der Rest noch vorhandenen Appetits auf etwas Süßes endgültig.

Hansi, ihr enttäuschter heutiger Galan, saß mutterseelenallein in dem Restaurant, schaufelte mit hochrotem Gesicht irgendwelche grauschwarz gesprenkelten, länglichen Teigstücke in die kleine Öffnung zwischen seinen beiden fetten Hamsterbacken und machte zunächst noch einen durchaus zufriedenen Eindruck. Der währte aber nicht lange, denn kaum hatte sich Dorli dem Tisch auf etwa drei Meter genähert, als sich Bastingers Züge schmerzlich verzerrten. Er verdrehte die Augen, griff sich verzweifelt an den Kragenknopf, wohl um diesen zu öffnen, was ihm aber nicht gelang. Dann schnaufte er noch zwei-, dreimal heftig, und Speichel begann aus seinen Mundwinkeln zu tränzen, ehe sich sein Kopf aus einer Höhe von etwa 30 Zentimetern langsam, aber stetig auf den am Tisch vor ihm stehenden Teller zubewegte. Wo er schließlich auf den fettigen, jetzt plötzlich gar nicht mehr appetitlich wirkenden Mohnnudeln landete und mit leblos geöffneten Augen liegen blieb. Dann noch ein krächzend klingender Seufzer, ein letzter. Und das war’s dann auch schon gewesen. Gott, sah das grauslich aus.

Für Dorli war der Anblick auf jeden Fall mehr, als sie ertragen konnte. Bereits nach dem letzten Schnaufer Bastingers hatte die Frau die Atmung ebenfalls vorübergehend eingestellt. Wenn auch nur für Sekunden. Diesem selbstmörderischen Instinkt ließ sie kurz nach der Landung des Schädels auf dem Original Augarten Porzellanteller einen schrillen, lang anhaltenden Schrei folgen, der den genau zu diesem Zeitpunkt den Gastraum wieder betretenden Palinski an die jährlich stattfindende Zivilschutzübung erinnerte. Ja, genau, an den Tag, an dem man zu Mittag alle Sirenen der Stadt testete.

Während Frau Doris Nekledar über einem Stuhl des Nachbartisches zusammenbrach und leise vor sich hin wimmerte, hatten sich auch der Ober, der Küchenchef und ein weiterer Mann, der sich etwas später großspurig als ›Patron‹ des Etablissements vorstellen sollte, in der Szene eingefunden.

Während sich der Kellner relativ hilfsbereit um die zitternde Frau kümmerte, wälzten die beiden anderen Männer bereits Strategien, wie man die Presse am besten von diesem Debakel fernhalten konnte. Palinski dagegen begab sich zu dem Kopf am Teller und versuchte, den Puls am Hals zu finden, aber ohne Erfolg. Kein Zweifel, der verfressene Mohnnudelfreund war tot. Wahrscheinlich war sein total verfettetes Herz angesichts der gschmackigen Kärntner Spezialität ganz einfach vor Ehrfurcht erstarrt und dabei geblieben.

Palinski, dem der Appetit auf Nachtisch gründlich vergangen war, trat rasch an seinen Tisch und leerte entschlossen das Glas Zöbinger Eiswein, das da auf ihn wartete. Ein Schnaps wäre ihm in dieser Situation allerdings lieber gewesen. Dann ging er hinaus, fand schließlich im Küchenoffice ein Telefon und alarmierte den Notarzt und Inspektorin Franka Wallner vom Kommissariat Döbling.

 

*

 

Nach dem kurzen, aber total verunglückten Intermezzo mit Inspektor Werner Musch als Chef der Kriminalabteilung am Koat Döbling war Franka Wallner Anfang April, also vor zwei Monaten zu deren Leiterin bestellt worden. Die Entscheidung, die Frau des inzwischen zum Landeskriminalamt versetzten Oberinspektors Helmut Wallner quasi als seine Nachfolgerin einzusetzen, wurde gelegentlich als nepotistisch bezeichnet. Objektiv durchaus zu Recht. Da Frau Wallner außerordentlich qualifiziert war und ihre Berufung von allen unmittelbar und auch nur mittelbar Betroffenen als Glücksfall angesehen wurde, war dieser Vorwurf aber nur rein akademischer Natur. Ja, selbst die neue grüne Bezirksrätin hatte keinerlei Grund zu Kritik an der Bestellung gefunden. Im Gegenteil, Wilma Bachler hatte der ersten Frau an der Spitze der Döblinger Kripo herzlich gratuliert und viel Erfolg für ihre Arbeit gewünscht. Palinski, der sich im Rahmen seiner Möglichkeiten stark für Franka eingesetzt hatte, war nach seinen unangenehmen Erfahrungen mit dem jüngeren Bruder Manfred Muschs, ja, dem vom Kriminalamt Wien, sehr froh über diese Entwicklung gewesen.

Übrigens, der kleine Musch, wie die frühere Fehlbesetzung noch heute genannt wurde, hatte sich einer neuen Herausforderung zugewandt. Er war jetzt Sicherheitschef eines neuen Einkaufszentrums im Süden von Wulkaprodersdorf und damit weiter weg von Döbling, als selbst die hartnäckigsten Optimisten zu hoffen gewagt hatten.

Nachdem der Notarzt nur mehr den Tod Hans Bastingers feststellen hatte können und auf plötzlichen Herzstillstand getippt, aber auch Fremdeinwirkung als Todesursache nicht ganz ausgeschlossen hatte, sicherten die Kollegen von der Spurensicherung alles, was ihnen aufgrund ihrer Kenntnisse und Vorschriften sichernswert erschien. Vor allem natürlich alles, was sich auf dem Tisch des bedauernswerten Mohnnudelfans befand.

Nachdem die Leiche aus allen möglichen Perspektiven abgelichtet, vermessen und dann endlich in Richtung Gerichtsmedizinisches Institut abtransportiert worden war, begann Markus Heidenreich, der ebenfalls erst vor Kurzem zum Stellvertreter Franka Wallners bestellt worden war, mit der Befragung der Zeugen.

»Frau Wallner lässt Sie schön grüßen«, richtete der junge Beamte, der von der Freundschaft seiner Chefin mit dem Leiter des ›Instituts für Krimiliteranalogie‹ wusste, Palinski freundlich aus. »Sie wäre gerne selbst gekommen, musste aber zu einem Termin ins Präsidium.«

Die Befragung der Zeugen, die eigentlich keine waren, da sie ja in den entscheidenden Augenblicken nicht im Speiseraum anwesend gewesen waren, brachte vorerst keinerlei nennenswerte Hinweise. Lediglich der Oberkellner sorgte mit dem Hinweis, dass ihn der später verstorbene Gast »die ganze Zeit über so gierig, ja schließlich sogar zornig angesehen habe«, für leichte Verwirrung.

Als bescheidenen Erfolg konnte Heidenreich immerhin verbuchen, dass er die geschickt getarnte Videokamera entdeckte, mit der der Raum überwacht wurde. Ein Umstand, der Palinski nicht nur entgangen war, sondern auch zum Nachdenken brachte. Was war los mit ihm? Früher waren ihm solche mitunter entscheidenden Details nie entgangen. War es das Alter, immerhin ging er munter auf seinen 47. Geburtstag zu, oder war es das gute Leben der letzten Monate, das ihn derart unaufmerksam hatte werden lassen?

Wie auch immer, nicht, dass sich Heidenreich und Palinski von der Auswertung des Videomaterials viel versprochen hätten. Aber da es sonst nichts gab, aus dem sich Hinweise auf die letzten Minuten im Leben dieses Bastingers erwarten ließen, ruhten alle Hoffnungen auf irgendwelchen zusätzlichen Erkenntnissen darauf. Außer dem natürlich, was die Obduktion noch an forensischen Beweisen liefern würde. Und der Laborbericht. Aber das dauerte halt seine Zeit.

Inzwischen hatte der Patron des seltsamen Lokals eine Runde Kaffee für alle Anwesenden geschmissen, der Arsch hatte tatsächlich diese Formulierung gebraucht. Und das zu einem Zeitpunkt, als der Tote gerade fünf Minuten abtransportiert worden war und die Beruhigungsspritze für seine bedauernswerte Begleiterin noch keinerlei Wirkung gezeigt hatte.

Dabei hatten er und der Chef de Cuisine die ganze Zeit keine anderen Sorgen, als Inspektor Heidenreich mehr oder weniger direkt zu beknien, die unangenehme »Geschäftsstörung«, wie der seelisch offenbar höchst deformierte Eigentümer des ›Desirée‹ den Vorfall von eben nannte, so diskret wie möglich zu behandeln. Gut, dafür hatte Palinski sogar ein gewisses Verständnis, welcher Wirt stand schon gerne mit einem verstorbenen Mohnnudelfan in den Schlagzeilen? Ja, er war sogar so weit, das heutige Testessen zu vergessen und dem ›Desirée‹ demnächst unter hoffentlich erfreulicheren Umständen noch eine Chance zu geben.

Als man ihm dann aber auf seine Bitte hin, unter den konkreten Bedingungen eine rein rhetorische Höflichkeit, wie Palinski angenommen hatte, die Rechnung trotz der Umstände ohne jegliche Skrupel präsentierte und auch nicht die verdammten Kärntner Mohnnudeln vergessen hatte, immerhin zwölf Euro, war bei Palinski der Ofen aus. Eine Zeche von 86 Euro für ein Mahl, bei dem nur der Zöbinger Eiswein dem scheinbar hohen Qualitätsanspruch des Lokals entsprochen hatte, war an und für sich schon eine Frechheit. Und dazu noch eine männliche Leiche, mäßig appetitlich und ganz ohne gesonderten Zuschlag. Das war einfach zu viel, und jetzt war Schluss mit lustig. Der Testbericht würde eine deutliche Sprache sprechen. Die Frage war nur, wie viele Extrapunkte gab es für eine echte Leiche zum Dessert?

 

*

 

Im inzwischen renommierten und auch wirtschaftlich erfolgreichen ›Institut für Krimiliteranalogie‹, das vor mehr als zwei Jahren gegründet worden war, um eine formaljuridische Basis für die Zusammenarbeit Palinskis mit der Behörde zu schaffen, schupften Florian Nowotny, karenzierter Polizist und äußerst talentierter Jusstudent im dritten Semester, sowie Margit Waismeier, die ungemein kompetente Büroleiterin, das Tagesgeschäft.

Der Chef, also Mario Palinski himself, war inzwischen auch als Autor recht erfolgreich. Immerhin waren von seinem Erstlingswerk ›Verdammt und umgebracht‹ weltweit inzwischen mehr als 350.000 Stück verkauft worden, und das in acht Sprachen. Damit war er zwar noch kein ganz Großer im internationalen Literaturzirkus, aber auch kein Niemand mehr. Seit er es Anfang des Jahres sogar geschafft hatte, in eine Bestsellerliste zu kommen, nur in die finnische zwar, aber immerhin, und sich auch drei Wochen dort behaupten zu können, hatte er begonnen, ein wenig abzuheben. Seine Bedeutung zu überschätzen, komische Dinge zu tun und einer Menge Menschen nicht nur in seiner Umgebung damit auf die Nerven zu gehen. Vor allem dann, wenn er an einem neuen Roman arbeitete. Was er praktisch ständig tat, kontinuierlich und nur unterbrochen von kürzeren oder auch längeren Phasen schöpferischer Rekreation.

Wilma Bachler, die Frau, mit der Palinski seit mehr als 25 Jahren glücklich nicht verheiratet war, hatte ihre Lebensplanung rechtzeitig ein wenig korrigiert und war in die Politik gegangen. Seit den letzten Landtags- und Gemeinderatswahlen vertrat sie die Grünen auf Bezirksebene, saß als Bezirksrätin in der Döblinger Bürgervertretung. Daneben hatte sie auch innerhalb ihres beruflichen Umfeldes einen beachtlichen Karrieresprung geschafft. Mit Wirkung ab 1. September des Jahres, also in knapp drei Monaten, würde sie die Direktion der AHS in der Klostergasse in Währing übernehmen.

Wilma hatte damit fast jederzeit eine exzellente Ausrede, falls ihr ihr Mario mit seinem mitunter überkandidelten, egozentrierten Verhalten auf die Nerven ging. Und das war häufig der Fall, sodass sich die beiden Partner in letzter Zeit eher selten zu Gesicht bekamen.

Befragt, worauf sie diese Veränderung ihres Mannes zurückführe, hatte sich Wilma erst vor wenigen Tagen Margit Waismeier anvertraut. »Ich denke, er hat in der Vergangenheit nie richtig Erfolg gehabt, daher auch kaum Anerkennung geerntet und nur wenig Geld verdient. Jetzt hat er das alles oder glaubt zumindest, es zu haben«, hatte die Palinski-Expertin analysiert. »Ich betrachte sein derzeitiges Verhalten als das Aufarbeiten eines gewissen Nachholbedarfs. Sachen zu tun, die er früher offenbar nicht tun konnte oder durfte. Und die er vermisst hat, obwohl man ihm das gar nicht angemerkt hat.« Wilma war sich aber sicher, dass diese Phase auch wieder vorübergehen würde, denn »im Grunde genommen benimmt er sich wie ein Kind, das endlich ein lang ersehntes Spielzeug bekommen hat. Das ihm aber mit der Zeit auch wieder langweilig werden wird«.

Major Jonathan ›Fink‹ Brandtner vom Niederösterreichischen Landeskriminalamt, der mit Palinski bei der Lösung des aufsehenerregenden ›Siebener-Tontine-Falles‹ im Dezember vergangenen Jahres zusammengearbeitet hatte, hatte sich bei dieser Gelegenheit in Margit Waismeier und ihren Sohn Markus verliebt. Und war dabei auf Gegenliebe gestoßen. Die beiden turtelten seither wie die legendären Täubchen, und der Achtjährige freute sich über seinen väterlichen Freund.

Aber auch Palinski war glücklich über diese Entwicklung. Aus einem durchaus egoistischen Grund. Ende vergangenen Jahres hatte es so ausgesehen, als ob es einem bayerischen Diplomingenieur gelingen könnte, ›seine‹ Margit und den kleinen Markus nach München zu verschleppen. Dank Fink war dieser Albtraum verhindert und damit die Gefahr jedweder Irritation für die flexible Gestaltung seines individuellen Tagesablaufes gebannt worden. Denn Margit wäre nicht zu ersetzen gewesen, weder was Loyalität als auch Kompetenz betraf.

Inzwischen hatte die Beziehung Margits zu Brandtner allerdings eine Intensität erreicht, die Palinski auch wieder Kopfzerbrechen zu bereiten begann. Was war, wenn die beiden heirateten, möglicherweise ein Kind bekamen und Margit sich in der Folge aus dem Berufsleben zurückzog? Ob sie in München nicht für ihn arbeitete, in Tulln oder wo immer auch das Paar dann leben würde, war schließlich egal.

Im Institut angelangt, wurde Palinski von den Niederungen des Alltags eingeholt. Margit präsentierte ihm eine Liste mit den Namen jener Personen, die sich seit gestern telefonisch gemeldet hatten und unbedingt mit ihm sprechen wollten. »Kann das nicht einer von euch erledigen«, quengelte der Chef wie so oft los. »Was soll ich zum Beispiel mit …«, er blickte auf das Papier, »mit einem Herrn Werner Krusche aus Baden besprechen, was nicht auch Florian besprechen könnte. Oder du. Wozu habe ich euch eigentlich?«

Margit regte sich über das täglich fast gleichlautende Räsonieren Palinskis nicht mehr auf. Sie wusste, er würde schließlich ohnehin tun, was sie ihm sagte. Und das bisschen rituelle Weigerung, na bitte, wenn Mario damit glücklich wurde. Sie verdrehte nur die Augen und blickte zu Florian, der eben den Raum betreten hatte und ein Lachen verbeißen musste.

»Was soll ich denn machen, wenn die Menschen mit dem Schmied reden wollen und sich nicht mit einem Schmiedl zufriedengeben?«, äußerte sie scheinbar resignierend. »Das sind halt die Bürden, die die Popularität mit sich bringt, lieber Mario.«

Da hatte sie natürlich wieder recht, fand jetzt auch der Chef und nahm das Papier an sich. »Na ja, das stimmt schon«, räumte er ein. »Ich werde das dann gleich erledigen. Es ist gar nicht einfach, so gefragt zu sein«, meinte er noch entschuldigend zu seinen beiden Mitarbeitern. Dann ging er in sein Büro und verschloss sorgfältig die Tür hinter sich. Wieder etwas, das er früher kaum, ja eigentlich nie getan hatte. Ratlos und ein wenig frustriert zuckte Margit mit den Achseln und blickte Florian fragend an. Der wieder schüttelte nur den Kopf.

In seinem Büro legte sich Palinski sofort auf die bequeme Couch, rollte sich in Fötushaltung zusammen und versuchte, die leichte Panik, die ihn auf dem Weg vom ›Desirée‹ zum Büro zu überfallen begonnen hatte und nach wie vor gefangen hielt, irgendwie in den Griff zu bekommen. Da er inzwischen die Gründe für diese seit mehreren Wochen immer wieder und immer stärker auftretenden Angstzustände zu kennen glaubte, hoffte er, damit auch den Schlüssel für die Lösung des eigentlichen Problems finden zu können. Oder sollte er sich doch professioneller Hilfe bedienen, wie ihm Miki Schneckenburger, der einzige seiner Freunde, dem er sich anvertraut hatte, empfohlen hatte?

Wie auch immer, Georg Maynars Name stand neuerlich auf der Liste der Rückrufwünsche. Und wenn er diesmal abermals nicht darauf reagierte, würde selbst dieser freundliche, langmütige Mann irgendwann die Geduld mit ihm verlieren. Und dann würde Palinskis Höhenflug beendet sein, bevor er überhaupt noch richtig abgehoben hatte.

Palinski blickte auf die Uhr. Es war kurz nach 4 Uhr Nachmittag. Um 18 Uhr musste er auf der Fledermaus-Probe sein. Das war auch so eine Sache, in die er sich im wahrsten Sinne des Wortes hineintheatern hatte lassen. Und die ebenfalls zu einem nicht unwesentlichen Teil zu seinen gelegentlichen, immer häufiger werdenden Anfällen von Verunsicherung beitrug. Na, wie auch immer. Vielleicht sollte er versuchen, eine Stunde zu schlafen. Es war eigenartig, bei aller Unruhe, die ihn so erfasste, hatte er bisher noch nie Probleme mit dem Einschlafen gehabt. Und Schla…fen … wa…r …

Einige Minuten später kam Margit leise in den Raum, trat an Palinskis Liege und breitete liebevoll eine leichte Decke über ihren dezent schnarchenden Chef.

 

*

 

Helmut Ondrasek war der Leiter der Theatercompany, der weit über Wien und das Umland hinaus bekannten Laien-Schauspielergruppe mit Sitz in seiner geräumigen Villa in Klosterneuburg. Der begeisterte Bühnennarr hatte die Doppelgarage auf seinem Grundstück zu einer kleinen Probebühne ausgebaut. Hier sollten heute Abend auch die letzten Detailproben für die Döblinger Fledermaus stattfinden. Dem sehr engagierten Projekt der Döblinger Truppe im Rahmen der diesjährigen Bezirksfestwochen. Danach standen neben der Generalprobe direkt vor der Villa Wertheimstein nur noch zwei Abstimmungsproben auf der Bühne im Haus der Begegnung in der Gatterburggasse an.

Die Company, die bereits unter Ondraseks Vater gegründet worden war, vereinigte Theaterverrückte aller sozialen Schichten und beseitigte diese. Das konnte bedeuten, dass eine Ex-Generaldirektorin ein Stubenmädchen und eine Supermarktkassiererin die Herzogin spielte, die die Ex-Generaldirektorin, also das Stubenmädchen durch die Kulissen scheuchte. Und das in ein und derselben Inszenierung. Die Fledermaus war nach langen Jahren reinen Sprechtheaters der erste Schritt der Truppe ins bisher unbekannte Genre des Musiktheaters. Verantwortlich für dieses kühne Vorhaben und eigentlicher Spiritus Rector der Inszenierung war Impresario Giancarlo Lucione, der Spross einer alten Triestiner Familie. ›Gica‹, wie ihn seine zahlreichen Freunde nannten, war vor einigen Jahren umständehalber nach Wien gekommen und ebendieser Umstände namens Anni wegen auch hier ansässig geworden. Lucione war ein begeisterter Sänger und als begnadeter italienischer Optimist auch der Meinung, eine hervorragende Tenorlage sein Eigen zu nennen. Das traf zwar irgendwie zu, andererseits aber auch wieder nicht. Denn wenn Gica leise sang, was seinem Temperament entsprechend so gut wie nie der Fall war, dann klang seine Stimme wunderbar rein, klar, ja überirdisch schön. Sang das nur etwas mehr als 1,60 Meter kleine Kraftbündel aber so wie immer, dann bedeutete das volle Inbrunst und größte Lautstärke, also fortissimo, wie es fortissimoer gar nicht mehr ging. Und genau so klang es dann auch. Ordentlich laut. Aber Gica liebte seinen Gesang, und viele Menschen mochten den lustigen Mann aus Triest so sehr, dass sie seine Arien in Kauf nahmen.

Im Sommer vor einem Jahr hatte Gica es sogar geschafft, die Rolle des Kammerdieners des Prinzen Orlofsky beim Operettensommer in Baden zu ergattern. Nur die Zweitbesetzung, aber immerhin eine Chance, seine Stimme unter Beweis zu stellen. Man konnte sich gar nicht vorstellen, wie sehr Giancarlo, der als Italiener Verdi, Rossini und Puccini natürlich besser kannte als Johann Strauß, enttäuscht gewesen war, nachdem er erkannt hatte, dass es sich bei dem Ivan ausschließlich um eine reine Sprechrolle eher geringen Umfanges handelte.

Aber bitte, er hatte die Fledermaus kennen- und schätzen gelernt. Und dabei auch seine Lieblingsrolle, die des Gesangslehrers und Rosalindeverehrers Alfred entdeckt. Seitdem war kein Tag vergangen, an dem Gica nicht mindestens drei- bis viermal ein fröhliches ›Täubchen, das entflattert ist‹ angestimmt hätte. Und er hatte auch keine Gelegenheit ausgelassen, Helmut Ondrasek mit dem Projekt einer Döblinger Fledermaus in den Ohren zu liegen. So lange und penetrant, dass der gutmütige Patron der Theatercompany und leidliche Bariton schließlich zugestimmt und gleichzeitig auch die Rolle des Gefängnisdirektors Frank für sich reserviert hatte.

Palinski sah in dem stilisierten Kosakenkostüm eigentlich nicht schlecht aus. Seine nicht mehr wegzuleugnende mittelleichte Wampe wölbte sich keck über dem breiten Gürtel des Kammerdieners Ivan. Gut, dass er in dieser Rolle nicht singen musste. Andererseits aber auch wieder irgendwie schade. Komisch, dass gewisse Dinge, die man gerade gar nicht kann, so attraktiv für einen sein konnten.

»Es wird Zeit für deinen nächsten Termin«, Margit beugte sich liebevoll über das riesige Kind, das da locker und entspannt auf der Couch lag. »Ohne dich klappt es doch nicht bei dem Fest des Prinzen Orlofsky. Und ein, zwei Telefonate musst du vorher auch noch erledigen. Das hast du mir versprochen.«

»Da, da«, murmelte Ivan Palinski verschlafen und setzte sich langsam auf. »Wie spät ist es denn eigentlich?«

 

*

 

Langsam wurde Franz Ferdinand Lehberger, dem sonst nicht zu Aberglauben und dergleichen mehr neigenden Herausgeber, die Häufung an unerklärlichen Todesfällen im Umfeld seines neuen Gastronomie-Führers doch etwas unheimlich.

Da war zunächst der Unfall des Bankmenschen gewesen, der ihm die Aufstockung des Kreditrahmens mit dem Hinweis verweigert hatte, dass diese »Restaurantführer ja lediglich Zeitgeistscheiß sind, mit dem man heute kein Geld mehr verdienen kann«. Schön, dass nicht alle Kreditgeber so dachten, aber dass der Banker zwei Tage später beim Betreten des Liftes im zwölften Stock keine Gondel, sondern nur nach unten hin eine große gähnende Leere vorgefunden hatte, hatte Lehberger betroffen gemacht. Auch wenn er dem Mistkerl von Bankmenschen unmittelbar nach der negativen Nachricht alles Schlechte an den Hals gewünscht hatte.

Als Nächstes hatte es den langjährigen Journalisten und Gastronomiekritiker Johann ›Jo‹ Grusinek auf der Heimfahrt nach dem Test des ›Le Jolly Poulard‹ erwischt. Der zugegebenermaßen leicht betrunkene Grusinek war in der U-Bahnstation Schwedenplatz vor eine einfahrende Garnitur gestürzt und hatte das nicht überlebt. Auch dieser Fall bestach durch den absoluten Mangel an Transparenz, diesen dichten Schleier an Vermutungen und Spekulationen, die Jos Ende ausgelöst hatte. Das war vor knapp drei Wochen gewesen.

Dann die Geschichte letzten Dienstag nach dem Presseempfang in der ›Villa Caprese‹. Diese nach wie vor ungeklärte Explosion in der Küche, die Küchenchef Lois Brenneisl fast den rechten Arm gekostet hätte. Der talentierte Kochkünstler, der heuer sicher für den dritten Goldenen Kochlöffel fällig gewesen wäre, lag noch immer im Krankenhaus und hatte Glück gehabt, überhaupt noch am Leben zu sein. Mit dem kreativen Kochen war es zumindest für die nächsten Jahre vorüber.

Und jetzt das. Ein toter Gast im ›Desirée‹, wie ihm Mario Palinski, der für Jo Grusinek als Tester eingesprungen war, eben telefonisch mitgeteilt hatte. Natürlich hatte das bedauerliche Opfer überhaupt nichts mit dem Verlagsprojekt zu tun gehabt. Hatte sich wahrscheinlich selbst zu Tode gefressen und dann noch die außerordentliche Geschmacklosigkeit besessen, sich ein Luxusrestaurant als Ort für sein letztes Stündchen auszusuchen. Manche Leute kannten ja wirklich keinen Genierer.

Und dennoch, dieses massive Auftreten von Tod und Verderben war nicht gut fürs Geschäft. Es sah ja fast so aus, als ob ein böser Fluch auf dem neuen Gastroführer lag und der Weg dahin mit Leichen gepflastert war.

Halt, vielleicht konnte man das ja marketingmäßig irgendwie nutzen? ›Kulinarisches Wien – der mörderisch gute Gastroführer.‹

Vielleicht sollte er seine Spezialisten darauf ansetzen. Schaden konnte es ja nicht, einmal darüber nachzudenken.

 

*

 

Palinski hatte Lehberger eigentlich gar nicht anrufen wollen. Er hatte die Nummer des Verlegers nur eingetippt, um die zehn Minuten Wartezeit sinnvoll zu nutzen, die ihm die Sekretärin Georg Maynars genannt hatte. »Der Chef spricht gerade, wir rufen Sie aber zuverlässig zurück«, hatte ihm die sympathische Stimme verheißen.

Und dann das. Lehberger hatte sich nicht nur den aktuellen Vorfall berichten lassen, sondern ihn auch über drei andere, weitere Geschehnisse informiert. Die zwar nicht unbedingt zusammengehörten, im Konnex betrachtet aber doch sehr sonderbar wirkten. Ob es so etwas wie einen bösen Fluch wirklich gab? Der einen unaufhaltsam seinem Schicksal zutrieb und auf dem Weg dahin im Kopf blockierte. Sodass man nicht mehr denken konnte, einem nichts mehr einfiel, und die Angst schließlich zum täglichen Weggefährten wurde.

Wann rief denn dieser Maynar jetzt endlich an? Die angekündigte Zeit war doch schon längst vorüber. Und in einer Viertelstunde musste er bereits bei der Probe in Klosterneuburg sein. Da war auf jeden Fall ein Taxi fällig. Und wenn schon. Das konnte er sich jetzt immer und jederzeit leisten. Selbst wenn ›Kloburg‹ nicht gleich neben Döbling läge, sondern neben Innsbruck.

Verdammt, wo blieb denn dieser Anruf aus Deutschland? Ach, da war er ja, hoffentlich zumindest. »Palinski, guten Tag.«

Es war tatsächlich Georg Maynar, der geduldige, langmütige Verleger von Palinskis beiden Romanen. Dem erfolgreichen ersten und einem seit acht Monaten eher zögerlich anlaufenden zweiten Roman.

»Ich möchte unbedingt noch heuer Ihren neuen Roman herausbringen«, das erzählte ihm Maynar jetzt schon seit Anfang des Jahres. »Die Geschichte, die Sie da skizziert haben, passt sehr gut in die Zeit, und wir sollten beim Weihnachtsgeschäft unbedingt dabei sein. Auch die Italiener haben mehrfach angefragt.«

Die Italiener, das war der große Mailänder Verlag, der aus durchaus erklärungsbedürftigen Gründen seinerzeit die fremdsprachigen Rechte an den beiden Romanen sowie Optionen auf alle folgenden Manuskripte erworben hatte. Gegen gutes Geld, sehr gutes sogar, da gab es nichts daran zu deuteln. Und dennoch, diese Connection bereitete Palinski nach wie vor Kopfschmerzen.

»Klar, Herr Maynar«, versicherte Palinski. Jetzt war Anfang Juni, überlegte er. Also gut. »Sie bekommen das fertige Manuskript … Ende August. Also spätestens Mitte September. Das verspreche ich Ihnen.«

»Sie haben exakt bis zum 16. August Zeit. Spätestens an diesem Tag muss das Manuskript im Lektorat sein, sonst ist eine Veröffentlichung in diesem Jahr einfach nicht mehr drin.« Maynars geduldige, langmütige Stimme hatte plötzlich einen sehr bestimmten Klang angenommen. »Und Sie wissen hoffentlich, was das für Sie bedeutet.«

»Na ja, klar. Natürlich weiß ich …, das ist doch selbstverständlich«, Palinski fühlte sich, als ob in seinem Magen eine mittlere Million junger Schmetterlinge aus ihren Larven gekrochen wären und ihre ersten Flugversuche gestartet hätten.

»Also spätestens 16. August«, ermahnte Maynar nochmals, »und keinen Tag später. Setzen Sie sich endlich auf Ihren Hintern und schreiben Sie, Herr Pé«, das war Palinskis Pseudonym. »Sie können es ja, und Sie haben uns das schon bewiesen. Schönen Tag noch.«

Ehe Mario Palinski vulgo Jean Marie Pé noch etwas sagen konnte, hatte der Deutsche das Gespräch auch schon beendet.

Bis Mitte August, das waren gerade noch zehn Wochen. Das konnte nicht gut gehen. Er merkte, wie ihn die Angst überfiel. Nicht leise, schleichend wie sonst meistens, sondern schlagartig. Maynar hatte ja leicht reden, der wusste nicht, wie das war. Wenn man das hatte, was Palinski zu haben befürchtete. Nämlich ein erstklassiges erstes Kapitel und seither nur mehr ein großes Loch dort, woher sonst die Ideen strömten. Da kam nichts heraus, aber schon gar nichts außer beiläufigem, routinemäßigem Blabla. Wie sollte er es unter diesen Bedingungen schaffen, bis Mitte August auch nur eine einigermaßen brauchbare Kurzgeschichte zu schreiben, geschweige denn einen ernst zu nehmenden Roman mit 400.000 Zeichen inklusive?

Inzwischen war es bereits kurz nach 18 Uhr. Verdammt, die Probe. Am liebsten hätte er die Schauspielerei jetzt hingeschmissen. Aber so einfach konnte er sich das auch nicht machen. Das hatten Ondrasek und seine nette Truppe auch nicht verdient.