Michael Klessmann

Ambivalenz und Glaube

Warum sich in der Gegenwart Glaubensgewissheit zu Glaubensambivalenz wandeln muss

Verlag W. Kohlhammer

Meinen Kindern

Jens, Maria und Mirjam

 

1. Auflage 2018

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

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ISBN 978-3-17-034455-6

 

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epub: ISBN 978-3-17-034457-0

mobi: ISBN 978-3-17-034458-7

 

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Inhalt

Vorwort

Einleitung: Glaube – Zweifel – Ambivalenz

1.  »Es wackelt alles« (Ernst Troeltsch)

2.  Glaube als Vertrauen und fraglose Gewissheit?

3.  Zweifel/Anfechtung im Glauben

4.  Glaubensambivalenz: »Zum Amen gehört das Aber«

5.  Zielsetzung des Buches

Teil I: Psycho-soziale Perspektiven

1.  Das Ende der Eindeutigkeit

1.1  Ambivalenz als Signatur der Postmoderne

1.2  Fundamentalismus als Gegenbewegung

1.3  Das Ende der Eindeutigkeit auch im Glauben?!

2.  Ambivalenz und Ambivalenztoleranz: psychologische Aspekte

2.1  Zur Vorgeschichte in Mythologie und Literatur

2.2  Eugen Bleuler (1857–1939)

2.3  Carl Gustav Jung (1875–1961)

2.4  Sigmund Freud (1856–1939)

2.5  Psychoanalytische Entwicklungspsychologie

2.6  Else Frenkel-Brunswik und die Ambivalenztoleranz

2.7  Kommunikation und Ambivalenz

2.8  Schluss: Ambivalenztoleranz als Autonomiegewinn und Quelle von Resilienz

3.  Soziologische Aspekte der Ambivalenz

3.1  Individualisierung als Voraussetzung von Ambivalenzwahrnehmung

3.2  Soziale Strukturen generieren Ambivalenz

3.3  Ambivalenz als Oszillieren

3.4  Gesellschaftliche Abwehr von Ambivalenz

3.5  Thesen: Ambivalenz gestalten

3.6  Exkurs: Zum Umgang mit strukturell bedingter Ambivalenz am Beispiel der Krankenhausseelsorge

4.  Der Mensch im Widerspruch: Anthropologische Grundlagen von Ambiguität und Ambivalenz

4.1  Der Mensch als Leib und Seele

4.2  männlich – weiblich – transgender

4.3  Der Mensch als Individuum in der Gesellschaft

4.4  Der Mensch zwischen Abhängigkeit und Streben nach Autonomie

4.5  Der Mensch als dialogisches Wesen

4.6  Der Mensch als Konfliktwesen

4.7  Der Mensch zwischen Sein und Sollen

4.8  Die vieldeutige Sprache des Menschen

4.9  Schluss

Teil II: Theologische Perspektiven

5.  Die Dynamik des Glaubens – aus entwicklungspsychologischer Sicht

5.1  Glaube und »die Modernisierung der Seele«

5.2  Glaube und die Einsichten der Entwicklungspsychologie

5.3  Zusammenfassung

6.  Theologische Hermeneutik: Ambiguitäten und Ambivalenzen in Auslegungsvollzügen

6.1  Glaube als deutende Antwort auf Erfahrung

6.2  Überlieferung und Auslegung

6.3  Die Ambivalenz des Hörens auf die Worte der Schrift

6.4  Die Notwendigkeit der Auslegung

6.5  Die Wertschätzung der Vieldeutigkeit: Rabbinische Schriftauslegung

6.6  Die Tendenz zur Eindeutigkeit: Christliche Textauslegung

6.7  Verlust und Wiedergewinn der Glaubensambivalenz

7.  »Ich glaube, dass ich glaube« – Ambiguitäten und Ambivalenzen im Vollzug des Glaubens (fides qua creditur)

7.1  Glaube: Überzeugungen/Deutungen/Annahmen über die Wirklichkeit

7.2  Glaube und Religion

7.3  Glaube und (Symbol-)Sprache

7.4  Glaube und Erfahrung

7.5  Glaube und Denken/Wissen/Lernen

7.6  Glaube und Meinen/Annehmen/Vermuten/Für-wahr-halten

7.7  Glaube und Vertrauen

7.8  Glaube und Gefühl

7.9  Glaube und Angst

7.10  Glaube – Liebe – Hoffnung

7.11  Glaube und Gewissheit/Sicherheit

7.12  Glaube und Gehorsam/Sich Ergeben

7.13  Glaube und Entscheidung

7.14  Glaube und Bekenntnis

7.15  Glaube und Gebet

7.16  Glaube und Zweifel/Anfechtung

7.17  Glaube und Handeln

7.18  Fazit: »Ich glaube, dass ich glaube« (Gianni Vattimo) oder die Poesie des Glaubens

8.  Woran/was glaube ich eigentlich? Ambiguitäten und Ambivalenzen der Glaubensinhalte (fides quae creditur)

8.1  Menschen glauben an Gott – und können »IHN« prinzipiell nicht erkennen

8.2  Die Vielzahl der Gottesbilder und das Bilderverbot

8.3  Der verborgene und der offenbare Gott

8.4  Der zornige und der liebende Gott

8.5  Der dreieine Gott

8.6  Der historische Jesus und der geglaubte Christus

8.7  Der Geist weht, wo er will

8.8  Sichtbare und unsichtbare Kirche

8.9  Eschatologie: Hoffnung auf Erlösung von allen Ambivalenzen?

8.10  Der Mensch als Sünder und Gerechtfertigter zugleich

8.11  Fazit: Die Notwendigkeit offener, ambiguitärer Konstrukte von Gott und vom Menschen

Teil III: Ambivalenz im Glaubensleben

9.  Ein Lob der Ambivalenz: für einen lebendigen, widersprüchlichen und konfliktfreudigen Glauben in Theologie und Kirche. Oder: Vom »entweder – oder« zum »sowohl – als auch«

9.1  Produktive Glaubens-Ambivalenz

9.2  Religiöse Identität im Zeitalter des Chamäleons

9.3  Ambivalenzen des Glaubens – noch einmal anders

9.4  Ambivalenz in Gotteserfahrungen – Zuspitzungen aus der Theologiegeschichte

9.5  Glaubensambivalenz in der Praxis der Kirche

9.6  Glaubensambivalenz individuell wahrnehmen und gestalten

9.7  Schluss: Die »Mystik« der Ambivalenz

Vorwort

Über den eigenen Glauben zu reden, ist schwierig; selbst theologisch-kirchliche Profis geraten ins Stocken, wenn man von ihnen erwartet, dass sie aus dem gelernten akademisch-dogmatischen Sprachspiel aussteigen und persönlich reden sollen. Glaube, die Inhalte, auf die er sich bezieht, und seine Ausdrucksformen, sind etwas geradezu Intimes – Manche haben behauptet, dass es den Zeitgenossen gegenwärtig leichter fällt, über Sexualität zu reden als über Religiosität. Der Herausgeber der Beilage der Neuen Zürcher Zeitung zum Thema Atheismus vom Dezember 2014 schreibt einleitend: »Im Vorfeld dieses Heftes haben wir viele Leute gefragt, ob sie an Gott glaubten. Die Antwort lautete manchmal Ja und manchmal Nein, meistens aber, ›es kommt ganz darauf an, was mit Gott gemeint ist und was mit Glauben‹. Es folgten meist Beschreibungen, die mit der Länge nicht an Klarheit gewannen.«1

Die Schwierigkeit, über Glauben/Religiosität/Spiritualität zu reden, hat neben allen Veränderungen im gesellschaftlichen Stellenwert von Religion und Kirche auch mit dem Phänomen Ambivalenz zu tun. Ähnlich wie die Liebe ist Glaube fast immer hoch ambivalent besetzt. Da möchte einer an Gottes Güte glauben – die grausamen Lebensverhältnisse in vielen Teilen der Welt oder im persönlichen Umfeld lassen keine Güte erkennen. Da ist eine im christlichen Glauben seit Jahrzehnten heimisch – auf einer Weltreise lernt sie andere Religionen kennen, ist beeindruckt, neugierig auf das Fremde, und verwirrt. Da betet einer inbrünstig um Heilung seines kranken Kindes und muss erschüttert zusehen, wie das Kind stirbt. Die Welt erscheint überwiegend gnadenlos: Kirchliche Verkündigung übertüncht oftmals die Abgründe, die sich hier auftun, viel zu schnell mit floskelhaft klingendem Reden von der Liebe und Barmherzigkeit Gottes. Diejenigen dagegen, die von solchen Zwiespältigkeiten direkt betroffen und beunruhigt sind, wissen oft nicht, was das für ihren Glauben bedeutet, wie sie darauf antworten können.

Die Konflikte zwischen Welterfahrung und Gotteserfahrung sind natürlich nicht neu, sie werden jedoch zunehmend als unversöhnlich wahrgenommen, weil es keine alles tragende und verbindende religiöse Basis mehr gibt. Religion ist schon lange nicht mehr, wie es der Soziologe Thomas Luckmann formuliert hat, der alles überwölbende und zusammenhaltende Baldachin, schon lange nicht mehr gesellschaftlicher Kitt und selbstverständliche Sinn-Ausstattung von Menschen in der postmodernen Gesellschaft; Religiosität/Glaube ist zu etwas geworden, das ständig neu und in Auseinandersetzung mit allen möglichen weltanschaulichen Orientierungen und gegen den Augenschein der Brutalität unserer Lebensverhältnisse angeeignet und vorläufig und tastend zum Ausdruck gebracht werden muss. Glaube(n) (als Substantiv und als Verb) ist in der Gegenwart anspruchsvoller und schwieriger geworden.

Meine These in diesem Zusammenhang lautet: Der Begriff des Glaubens muss in postmodernen Zeiten erweitert und differenzierter gedacht werden. Die bisherigen Konnotationen des Glaubens im religiösen Verstehenszusammenhang – Vertrauen, Gewissheit, Festigkeit, Sicherheit, im Bild gesprochen: Der Fels in der Brandung – passen zum einen nicht mehr zu einer Welt, die in zunehmendem Maß durch Flexibilität, Vieldeutigkeit, Widersprüchlichkeit und Brüchigkeit gekennzeichnet ist; und sie passen zum anderen nicht mehr zu einer Welt, in der uns durch die Medien die Abgründe und Gewaltzusammenhänge des Lebens täglich so drastisch vor Augen geführt werden, dass man die krassen Widersprüche zwischen einem christlichen Wirklichkeitsverständnis und unserer Lebensrealität immer weniger übersehen und ausblenden kann. Was in der Vergangenheit im Verständnis des Glaubens als zu überwindende Ausnahmeerscheinung galt – Zweifel, Unsicherheit, Anfechtung angesichts der Weltverhältnisse – muss inzwischen als »normaler«, dauerhafter, ja als notwendiger Bestandteil des Glaubens gelten. Ambivalenz, die Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Gedanken und Gefühle, bezeichnet ein universales Grundmuster unseres gesamten seelischen und sozialen Lebens, sie gehört, wenn denn Glaube ein Akt der ganzen Person ist, natürlich auch mitten in den Glauben hinein. Nicht Glaubensgewissheit ist das erstrebenswerte Ziel, sondern ein flexibler und kreativer Umgang mit den unvermeidlichen Glaubensambivalenzen. Glaubensambivalenz bezeichnet dann auch nicht länger einen Makel, ein Defizit, sondern eine Fähigkeit und eine Bereicherung, ja eine Notwendigkeit: Wer in der Lage ist, die unterschiedlichen Seiten seiner Glaubensambivalenz angesichts der höchst widersprüchlichen Weltverhältnisse wahrzunehmen und in ihren verschiedenen Bedeutungen genauer zu erkunden, kann sich bereichert und angeregt fühlen, was nicht ausschließt, dass man sich natürlich zeitweise auch verwirrt und belastet erlebt. In dieser Mischung entspricht Glaube der Vielfalt des Lebens: Es öffnen sich neue, kreative, unerwartete Perspektiven und erweiterte Handlungsspielräume. In der Ambivalenz kommt Glaube in Kontakt mit dem ganzen Leben, mit seinen Schönheiten und mit seinen Grausamkeiten.

Die These soll plausibilisiert werden (nach einer Darstellung der psychologischen und soziologischen Begriffsentwicklung) mit exemplarischen Durchgängen durch Anthropologie, Entwicklungspsychologie, Hermeneutik und Theologie – Redundanzen bleiben da nicht aus. Es soll gezeigt werden, wie sowohl im Vollzug des Glaubens (fides qua creditur) als auch in seinen Inhalten (fides quae creditur) Ambiguität und Ambivalenz angelegt sind und, nachdem sie in der Kirchen- und Dogmenschichte weitgehend ausgeschlossen und verdrängt wurden, in der Gegenwart als solche neu entdeckt und gewürdigt werden sollten. Ein lebendiger, »zeitgemäßer« Glaube ist kaum denkbar ohne angemessene Berücksichtigung der Zwiespältigkeiten, mit denen er ständig zu tun hat und in denen er Ausdruck findet. Das Ambivalenzkonzept bietet ein Prisma an, durch das viele theologische Themen in einem neuen Licht erscheinen. Im letzten Kapitel versuche ich vorzustellen, wie dann ein bewusster Umgang mit Ambivalenzen die kirchliche Praxis bereichern kann.

Pastoralpsychologie ist mir bei diesem Unternehmen als Grundperspektive sehr hilfreich gewesen: Der kritisch-empirische Blick auf die Phänomene, psychologisch und soziologisch inspiriert, unterwandert theologisch-dogmatische Aussagen, die mit unserer Lebenswirklichkeit (Stichwort »Das Ende der Eindeutigkeit«, Zygmunt Bauman) anscheinend nicht mehr viel zu tun haben.

Einer Reihe von Kollegen und Kolleginnen, die Teile meiner Texte gelesen, mich mit meinen eigenen Ambivalenzen ermutigt und sich auf anregende Diskussionen eingelassen haben, danke ich herzlich: Dr. Thomas Beelitz, Dr. Anna Christ-Friedrich, Dipl. psych. et theol. Elisabeth Hölscher, Dipl. päd. Sabine Hufendiek, Dr. Frieder Stängle.

Ich danke Dr. Sebastian Weigert vom Kohlhammer-Verlag, der mir wichtige Anregungen zur Fertigstellung des Manuskripts vermittelt hat und Daniel Wünsch für sorgfältiges Korrekturlesen.

Der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie (DGfP) danke ich für einen Druckkostenzuschuss.

 

Ansbach/Berlin im November 2017