Thomas Mayer

Helden der
Deutschen Einheit

20 Porträts von Wegbereitern aus Sachsen

Herausgegeben vom Archiv Bürgerbewegung Leipzig e. V. und dem Sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen

Thomas Mayer, Jahrgang 1949, war als Diplom-Journalist zunächst beim Sächsischen Tageblatt im damaligen Karl-Marx-Stadt und später in Dresden tätig. Ab 1980 arbeitete er in Leipzig und ist seit 1991 Chefreporter der Leipziger Volkszeitung.

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© 2010 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

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Umschlagfoto: Archiv LStU, Foto: Ulrich Böhme

Gesamtgestaltung: behnelux gestaltung, Halle (Saale)

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-374-04735-2

www.eva-leipzig.de

www.lstu-sachsen.de

www.archiv-buergerbewegung.de

Geleitwort

Auf einmal war alles ganz anders.

Die ungeheure Geschwindigkeit des gesellschaftlichen Umbruchs im Jahr 1990 in der zu Ende gehenden DDR und die neu entstehenden demokratischen Strukturen und Verantwortungen stellten die Menschen vor immense Herausforderungen. Frauen und Männer, für die die Friedliche Revolution im Herbst 1989 den Weg in die neuen Freiheiten geebnet hatte, waren bereit oder hatten oft auch keine andere Chance, sich auf ein neues Leben einzulassen.

Jörg Naumann beispielsweise. Der Umweltaktivist wird zum Wegbereiter von Greenpeace im Osten Deutschlands und schon bald zu einem Frontmann der weltumspannenden Organisation. Schauspieler Tom Pauls wird künstlerisch frei, in ihm reift die Idee des sächsischen Originals der Ilse Bähnert. Regina Schild will wissen, wie die Stasi funktioniert hat, löst den Geheimdienst mit auf und ist bis heute die Chefin der Leipziger Behörde für die Hinterlassenschaft des einstigen Ministeriums für Staatssicherheit. Für Gerd Harry Lybke beginnt 1990 die steile Karriere zum mittlerweile weltweit anerkannten Galeristen. Der DDR-Oppositionelle Werner Schulz kann im Bundestag seine erste große Rede halten. Oberförster Ludwig Hahn aus Sosa im Erzgebirge muss sich nun nicht mehr geheim mit seinem West-Kollegen treffen, um gemeinsam Strategien gegen das Waldsterben festzulegen. Elke Urban wird aktiv für ihr Lebensziel einer freien Schulbildung.

Die in diesem Buch beschriebenen Lebenswege stehen beispielhaft für unzählige ähnliche Geschichten. Diejenigen, deren Geschichten hier erzählt werden, sagen von sich: »Ein Held bin ich nicht.« Warum eigentlich nicht? Die 20 Porträts zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit, angereichert mit Fakten und Dokumenten aus jener Zeit, widersprechen der durchaus verständlichen Bescheidenheit.

Thomas Mayer

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Geleitwort

Vorwort

Der Gegner von Wolf und Heym

Johannes Wenzel kritisiert den Schriftsteller-Aufruf zur weiteren DDR-Eigenständigkeit

Eine Frau für den Frieden

Annemarie Müller war Mitbegründerin des Ökumenischen Informationszentrums in Dresden

Ein Mann redet sich bekannt

Gunter Weißgerber spricht fast auf jeder Leipziger Montagsdemonstration

Ein Mann ärgert den Staat

Der Physiker und Oppositionelle Martin Böttger wird Politiker

Tag für Tag eine Zitterpartie

Arnold Vaatz ist ein Geburtshelfer des neuen Bundeslandes Sachsen

Koordinatorin im Hintergrund

Gudrun Neumann organisiert in Leipzig die Friedliche Revolution

Der Bauer von Podemus

Manfred Probst kehrt heim aufs eigene Land und führt die Familientradition fort

Freiheit eines Lebenskünstlers

Dietrich Kelterer macht in Plauen für das Neue Forum Kommunalpolitik

Grenzenlos im Widerstand

Jörg Naumann gründet 1990 »Greenpeace DDR« und besetzt später die Ölplattform Brent Spar

Torgauer Kämpferin

Dank Gabriele Beyler lebt die Erinnerung an den Geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau

Das unbeschriebene Blatt

Jörg Schneider rief einst zur Friedlichen Revolution auf und engagiert sich nun für die Bürgerplattform

Hort des gedruckten Wortes

Andreas Schönfelder ist Gründer und noch immer Chef der Großhennersdorfer Umweltbibliothek

Freiheit für Ilse Bähnert

Der Schauspieler Tom Pauls startet vor 20 Jahren seine Karriere als sächsisches Original

Die Auflöserin

Regina Schild befasst sich seit 20 Jahren mit dem, was von der Stasi blieb

Leben unter Dampf

Werner Schulz wird nicht müde, für die Einlösung der wichtigsten Forderung der Friedlichen Revolution zu kämpfen

Hahns Revier

Ein erzgebirgischer Oberförster rettet in Ost und in West den Wald

Vorwärts, aber nicht vergessen

Für den Galeristen Gerd Harry Lybke beginnt 1990 von Leipzig aus der Weg nach sehr weit oben

Ein Mann für den Aufbruch

Bernd Heinze ist 1990 der erste Geschäftsführer im Leipziger Haus der Demokratie

Für ihr Land

Elke Urban gründet ab 1990 freie Schulen und hält nichts von denkmalhaften Rückblicken

Die Straße als Bühne

Falk Elstermann trat vor 20 Jahren für kurze Zeit aus seiner Rolle als Künstler heraus

Weitere Bücher

Vorwort

Bei dem Titel »Helden der Deutschen Einheit« mögen viele erst einmal an Staatsmänner und Diplomaten denken, die mit Geschick und Beharrlichkeit den Weg der Wiedervereinigung auf dem internationalen Parkett geebnet haben. Doch die Geschichte der deutschen Einheit verdankt sich auch einer Bewegung von unten. Es gab Menschen, die sich 1989 und 1990 in besonderer Weise dafür eingesetzt haben, dass Wege geebnet wurden, die in die deutsche Einheit mündeten. Im zwanzigsten Jahr der deutschen Einheit werden hier exemplarisch zwanzig Menschen vorgestellt, die in Sachsen als Wegbereiter der deutschen Einheit Beachtliches bewirkt haben.

Manche haben 1989 den Impuls der Friedlichen Revolution in die Breite getragen, andere haben die Aktenöffnung für die geretteten Stasi-Akten organisiert und wieder andere haben die Wiederbelebung privatbäuerlicher Landwirtschaft ermöglicht. Allen gemeinsam ist, dass sie aus der neu errungenen Freiheit etwas gemacht haben. Sie brachten ihre Ideen, die sie oft schon Jahre vorher in privaten Nischen, in oppositionellen Gruppen oder in der westlichen Freiheit entwickelt hatten, in die neu entstehende Öffentlichkeit ein. Jeder konnte auf eine andere Vorgeschichte zurückgreifen und daraus etwas Neues gestalten. Und hier zeigt sich, dass gerade die Verschiedenartigkeit der Biographien ein Vorteil war. Die »Deutsche Einheit« des Jahres 1990 hat nicht nur den Osten und den Westen zusammengebracht, sondern auch innerhalb Ostdeutschlands viele bisher getrennte Wege zusammengeführt. So wichtig in dieser Situation die Ideen und Kontakte der bisherigen Oppositionellen waren – ohne die Erfahrungen und Kenntnisse vieler, die bisher ein »ganz normales« Leben in der DDR geführt hatten, wären die »Bürgerrechtler« isoliert geblieben.

Der hier vorgelegte Band »Helden der Deutschen Einheit« folgt auf den 2009 in der Schriftenreihe des Sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen erschienenen Band »Helden der Friedlichen Revolution«. Beide beinhalten von Thomas Mayer erstellte Porträts von Menschen, die 1989/90 Herausragendes geleistet haben, deren Geschichten aber oft in der Öffentlichkeit wenig bekannt waren. In beiden Fällen sind die Einzelporträts vorab in der Leipziger Volkszeitung veröffentlicht worden – und fanden eine beachtliche Resonanz.

Als »Helden« sehen sich die meisten der hier vorgestellten Menschen selber nicht. Bei näherer Betrachtung zeigt sich aber, dass es hier durchaus um Menschen geht, die sich – oft unter Eingehen eines hohen persönlichen Risikos – bei einer Zurücknahme ihrer persönlichen Interessen mit einem außergewöhnlichen Engagement für das Wohl der Allgemeinheit eingesetzt und Verantwortung übernommen haben. So ganz abwegig ist der Begriff »Helden« also nicht. Auch wenn die hier vorgestellten »Helden« keine Krieger waren, wie es das traditionelle Verständnis von Heldentum nahelegt: Gegner hatten sie durchaus. Sie hatten anzukämpfen gegen die offenen und verdeckten Parteigänger des alten Systems. Und sie hatten sich durchzusetzen mit Ideen, die der Mehrheit zunächst fremd waren.

Eigentlich ist die Zeit nach 1989 nur bedingt das Thema eines Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und eines Bürgerarchivs, das sich überwiegend der Geschichte der Opposition in der DDR verschrieben hat. Doch uns ist es wichtig, auch zu zeigen, was aus den oppositionellen Impulsen geworden ist, als die Freiräume zu ihrer Entfaltung endlich da waren. Manche bezeichnen das Jahr 1990 als »das wunderbare 41. Jahr« der DDR. In der Tat, es lohnt sich, an die Phase zwischen dem faktischen und dem juristischen Ende der DDR zu erinnern. In dieser Zeit ging es nicht mehr nur darum, was man tun könnte oder müsste. Jetzt war eine Zeit großer Chancen – und durchaus auch großer Risiken. Es war eine Zeit für mutige Menschen des Handelns. In dieser Zeit wurden ungeheure Kräfte freigesetzt und phantastische Ideen entwickelt. Man hatte das Gefühl, ein ganzes Volk ist in Bewegung geraten. Wenn viele auch enttäuscht waren über zu geringe Gestaltungsspielräume im Zusammenhang mit der Übernahme bundesdeutscher Strukturen; es hat durchaus ungeahnte Freiräume gegeben, und wer klare Vorstellungen im Kopf hatte, konnte viel daraus machen. Von solchen Menschen, die Ideen hatten, ihre Chancen erkannt und zum Wohle der Allgemeinheit beherzt gehandelt haben, erzählt dieses Buch.

Vielleicht kann eine »gesamtdeutsche Identität« erst entstehen, wenn unter den Bedingungen der Freiheit eine ostdeutsche Identität gewachsen ist? Eine Identität, die das nötige Selbstwertgefühl schafft für die Begegnung mit den Menschen im Westen, die den entwürdigenden Anpassungsdruck einer Diktatur nie kennenlernen mussten und daher auch nicht durch solche Umstände geprägt wurden. Die hier porträtierten Menschen haben in entscheidender Stunde Wesentliches zur Herausbildung einer solchen positiven, weil freiheitlichen, ostdeutschen Identität beigetragen. In diesem Sinne ist es kein Widerspruch, dass hier ganz überwiegend rein ostdeutsche Geschichten vorgestellt werden, und diese – zu Recht – als Wege in die deutsche Einheit angesehen werden.

Dem erfahrenen Reporter Thomas Mayer ist es zu verdanken, Menschen mit exemplarischen und ermutigenden Biographien aufgespürt und ihre Geschichten publik gemacht zu haben. Thomas Mayer hat dabei Licht auf fast vergessene Wende- und Nachwendegeschichten aus Sachsen geworfen – er hat diesem Teil der ostdeutschen Revolutionsgeschichte Namen und Gesichter gegeben. Dem Leipziger Historiker Achim Beier ist es zu verdanken, dass die LVZ-Beiträge von Thomas Mayer mit zusätzlichen Dokumenten und Fotos angereichert wurden und so in Buchform erscheinen können. Für redaktionelle Arbeiten ist Dr. Nancy Aris sehr zu danken. Ein besonderer Dank gilt Edward Meyer aus Burg, der mit einer großzügigen Spende an das Archiv Bürgerbewegung die Herausgabe dieses Buches unterstützt hat. Nicht zuletzt ist der Leipziger Volkszeitung zu danken, dass sie der Buchveröffentlichung dieser zuerst in ihrer Zeitung erschienenen Beiträge zugestimmt hat und diese unterstützt. Vor allem ist hier aber all jenen zu danken, die sich den Gesprächen mit Thomas Mayer zur Verfügung gestellt und so die Hintergründe ihrer Geschichten für eine größere Öffentlichkeit sichtbar gemacht haben. Wir wünschen diesem bemerkenswerten Buch eine breite Leserschaft!

Michael Beleites

Uwe Schwabe

Sächsischer Landesbeauftragter

Archiv Bürgerbewegung

für die Stasi-Unterlagen

Leipzig e. V.

Foto: Thomas Mayer

Johannes Wenzel

Johannes Wenzel wurde 1930 in Leipzig geboren. 1948 machte er das Abitur. Im selben Jahr trat er der LDP (Liberal-Demokratische Partei Deutschlands) bei und bekleidete in den folgenden Jahren kleinere Parteiämter. Nach ihrer Gleichschaltung als Blockpartei legte er alle Ämter nieder und blieb ruhendes Mitglied bis 1989. Johannes Wenzel studierte ab 1949 an der Universität Leipzig Deutsch und Geschichte auf Lehramt. Nach seinem Staatsexamen war er seit 1954 als leitender Lektor für deutsche Sprache und Literatur an der Abteilung Sprachunterricht, dem Institut für Fremdsprachen und dem Herder-Institut der Universität Leipzig tätig. Im Anschluss an seine Promotion 1961 arbeitete er bis 1966 an der Universität Helsinki und von 1968 bis 1971 an der Universität Tampere als Lektor für deutsche Sprache. Als er 1971 in Tampere mit der Wahrnehmung einer Professur beauftragt wurde, verweigerte die DDR ihm und seiner Familie die erneute Ausreise. Alle Interventionen von finnischer Seite änderten daran nichts. Bis 1990 leitete Johannes Wenzel eine Arbeitsgruppe am Herder-Institut, zu dessen Direktor er im Juni des gleichen Jahres gewählt wurde, ein Amt, das er bis zu seinem Ruhestand im Jahr 1995 innehatte.

Im Februar 1990 wählte ihn die LDPD zu einem ihrer stellvertretenden Vorsitzenden. Nach der Vereinigung der LDPD mit der FDP am 11. August 1990 verließ er die Partei, weil er die Art und Weise des Zusammenschlusses nicht zu billigen vermochte.

Johannes Wenzel und seine Frau Eva haben zwei Söhne und fünf Enkelkinder. Sie leben in Leipzig.

Der Gegner von Wolf und Heym

Johannes Wenzel kritisiert den Schriftsteller-Aufruf zur weiteren DDR-Eigenständigkeit

Zu seinem 80. Geburtstag wurde der Außerordentliche Professor der Sprachwissenschaften und Geschichte von der Leipziger Universität mit einem Festkolloquium geehrt. Es stand unter dem Motto »Mit Weitblick und Augenmaß«. Besser könnte das Leben des 1930 in Leipzig Geborenen wahrlich nicht umschrieben werden. Schon als junger Mann war Wenzel politisch interessiert und auch motiviert. Im Jahr 1948 trat er der Liberal-Demokratischen Partei in der sowjetischen Besatzungszone bei. Wenzel blieb in dieser Partei, auch in all den späteren DDR-Jahren, er engagierte sich aber schon bald nicht mehr, weil er den allzu nahen Kurs zur SED nicht akzeptieren konnte. Zu Wenzels späteren politischen Meriten gehört, dass er im Jahr 1990 zum stellvertretenden LDPD-Vorsitzenden gewählt wurde. Den Weg zur gemeinsamen FDP ging er allerdings nicht mit; er war gegen den nun allzu dominanten Kurs, die Ost-Liberalen zu willfährigen Blockflöten zu stempeln. Heute ist Wenzel Mitglied der CDU.

Der 80-Jährige arbeitete zu DDR-Zeiten als Außerordentlicher Dozent für Deutsch als Fremdsprache am Herder-Institut in Leipzig, das er nach der Friedlichen Revolution bis 1995 leitete – und überführen half in das neue Herder-Institut, ins Studienkolleg Sachsen und den Verein interDaF, der seither junge angehende Studenten aus dem Ausland mit der deutschen Sprache vertraut macht.

Johannes Wenzel im März 1991 beim Amtsantritt des frei gewählten Rektoratskollegiums mit der späteren Geschäftsführerin von »interDaF e. V.« Dr. Annette Kühn

Privatarchiv Johannes Wenzel

Wenzel selbst hat als Wissenschaftler fraglos international Spuren hinterlassen. Bekannt geworden ist er hingegen mit einem Leserbrief, der am 1. DDR-Medien