Jan Flieger
Polterabend
Kurzgeschichten
ISBN 978-3-86394-494-0 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1981 im Mitteldeutschen Verlag Halle - Leipzig.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2014 EDITION digital®
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Godern
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Großmutter wohnte in einer Straße, deren Häuser auf Gärten und Lauben sahen. Früher, vor dem Krieg, so sagte sie, standen dort auch Häuser. Die Gärten fand ich besser, auch die Ruinen in der Nachbarstraße und das herrliche Gelände, das entstanden war, nachdem man die Ruinen abgetragen hatte. »Die ewigen Jagdgründe« nannten wir es: wild wucherndes Gestrüpp, kleine Bäume, vergessene Steinhaufen, richtig geschaffen für Cowboys und Indianer.
Aber diese Jagdgründe erschloss ich später als andere Jungen meines Alters, eigentlich erst, nachdem mir Großmutter das Boxen beibrachte.
Gewöhnlich spielte ich nur mit Mädchen, weil sie nicht so laut waren. Natürlich ging ich auch in die »ewigen Jagdgründe«, aber so richtig ernst nahm mich dort keiner, ich blieb nur Gast.
Mein Leben änderte sich, als Falko einzog, in die Wohnung des alten Färber, der mir Kautabak gegeben hat. Falko war so alt wie ich, nur größer und kräftiger. Er verprügelte der Reihe nach alle Jungen, die ihm vor die Fäuste liefen. Nur mich verschonte er. Aber nicht aus Menschenliebe oder aus Respekt vor mir. Nein, aus Angst vor meiner Großmutter. Sehr schnell hatte er begriffen, dass im ersten Stockwerk unseres Hauses auf meinen Hilferuf »Oma« die Großmutter am Fenster erschien. Und sie erschien prompt, denn dort war die Küche, ihr Lieblingsort. Größere Jungen machten sich einen Spaß daraus, sie ans Fenster zu locken.
Falko rannte durch die Straßen und fing Kinder mit einer Wäscheleine. Mich tyrannisierte er oft, nur außer Sicht- und Hörweite meiner Großmutter. Aber sie merkte es doch. Eines Tages war ihre Geduld zu Ende.
»Wenn es nötig ist«, sagte sie, »muss man auch mal boxen.«
Ich starrte sie fassungslos an. Vom Boxen verstand ich absolut nichts. Meine Großmutter auch nicht, sie hatte noch nie einen Kampf gesehen, aber sie zeigte mir, wie sie es sich vorstellte. Ihre Arme wirbelten durch die Luft. Vor solch einem Angriff musste man sich schon in acht nehmen. Ich übte vor dem Spiegel: Es wirkte Furcht einflößend.
Ich betrat die Straße mit dem Vorsatz, das Gelernte anzuwenden. Ich fühlte mich unbesiegbar. Der, den ich zuerst sah, war ... Falko. Er sprach mit Volker, einem kleineren Jungen, der mit seiner Schwester im ersten Haus der Straße wohnte, dort, wo der große, grüne Papagei der alten Frau Schneider in seinem Käfig im Fenster stand.
Wir spielten Fußball, Falko kommandierte, alles verlief wie immer. Er schoss den Ball in den Schrebergarten vom Rentner Lehmann.
»Den holst du«, befahl er.
»Hol ihn selber«, sagte ich.
Falko blickte wie ein Boxerhund. Langsam kam er auf mich zu. Ich vergaß alle guten Vorsätze, wirbelte herum und verließ mich auf meine Beine. Das Küchenfenster der Oma stand offen: Hier war die Rettung!
Doch sie stand schon da und wirbelte mit den Armen. Mehr hatte ich nicht zu erwarten. Und Falko schnaufte heran. Wie ein Spatz fühlte ich mich vor einem Kampf mit einem Adler.
Falko stand vor mir, völlig überrascht. Ich trat ihm gegen sein rechtes Schienbein: Das war ein für Falko neuartiger Angriff, dafür um so schmerzhafter. Dann begannen meine Arme zu wirbeln. Ich traf etwas Weiches, etwas Hartes, wieder etwas Weiches, plötzlich schlug ich ins Leere. Falko lief, lief, so schnell er konnte.
»Er heult«, sagte Volker, »seine Nase blutet.«
Falko verschwand im Nebenhaus. Ich sah in die ehrfürchtigen Augen der anderen. So viel Ruhm hatte ich nicht erwartet. Es sprach sich herum, aus dem kurzen Kampf wurde eine Ringschlacht. Dabei blieb es nicht. Mein Ruhm wurde größer und größer, erreichte die umliegenden Straßen, die Schule.
Ich hatte ein völlig neues Lebensgefühl. Falko mied mich, musterte mich nur noch misstrauisch aus einem gewissen Sicherheitsabstand. In den »Jagdgründen« war ich ein »Häuptling« geworden.
Eigenartig nur, zu boxen brauchte ich nicht mehr.
Im Dorf hieß es das Teufelsloch, es lag tief im Wald, weit noch hinter dem Kiefernforst. In einem Krieg, der dreißig Jahre gedauert haben soll, hätte der Teufel hier plündernde Landsknechte verschlungen, so jedenfalls erzählte es Tante Wilhelmine. Bei ihr verbrachte ich die großen Ferien. Diese Tante sollte eigentlich mal ein Wilhelm werden, daher dieser Name. Mir gefiel er nicht. Die Tante ging noch sonntags in die Kirche, mich überredete sie nicht dazu. Ich war ein zutiefst ungläubiger Mensch. Auch meine Lehrer behaupteten das. Überhaupt war sie sehr abergläubisch, die Tante. Eine Bäuerin »habe den Teufel«, sagte sie, »behexe die Kinder«. Und allerhand Frauen hörten auf die Tante. Bei der »Hexe« bin ich oft gewesen, weil sie so schöne Kirschen hatte, aber das durfte die Tante nicht wissen. Auch in die LPG wollte sie nicht gehen wegen dieser Person, so ernst ist es der Tante gewesen.
Das Teufelsloch nun war ein kleiner, von Felsen umschlossener Tümpel mit schwarzem, drohendem Wasser. Keinen Grund konnte man sehen, keinen Fisch. Niemand wusste, wie tief es war. Der Teufel wohnt in ihm, meinte die Tante drohend, der Kiebeck-Bauer sei darin ertrunken, der doch schwimmen konnte. Ich glaube aber, dass er vom Nachbardorf kam und schon in viele Gläser gesehen hatte, ehe er hineinfiel. Aber das hat die Tante natürlich nicht geglaubt, weil sie es besser wusste.
Ich war nun oft hinter dem Kiefernforst. Aber in dieses Loch springen? Sprang man hinunter, musste man ja auch wieder hinauf, und Felswände umschlossen es ziemlich steil. Nur ein Tau konnte helfen. Der alte Jansen, der mal Flussschiffer war, besaß einen alten rumpligen Schuppen. Dort, meinte Schielegon, dem ich alles gesagt hatte, liegt ein Tau, lang, sehr lang. Also — beschaffen wir uns das Tau.
Leicht gesagt, Jansen war ein sehr misstrauischer Mensch. Überall gab es bei ihm Schlösser, sogar die Kaninchenboxen waren alle mehrfach gesichert. Die Schlüssel trug er immer bei sich. So kam es, dass es klapperte und klirrte, wenn Jansen herumlief. Drei Tage belauerten wir ihn, saßen in den Kastanien, die neben seinem Garten standen.
Aber Jansen schloss den Schuppen immer ab. Nur, wenn er den Schlauch holte, um die Beete zu spritzen, dann stand er offen, einen kleinen Spalt weit. Drei Tage noch mussten wir in den Bäumen sitzen, ehe er wieder spritzte. Als sich der klirrende Jansen mit dem Schlauch entfernte, sprangen wir von den Bäumen, stiegen über den Zaun und schlüpften in den Schuppen. Das Tau war etwas ölig, aber ein gutes Tau. Wir rieben es mit Sand ab, dann zogen wir zum Teufelsloch. Das Tau wurde um die Eiche geschlungen, die direkt neben dem Tümpel stand, und heruntergelassen. Es war lang genug, dass man daran wieder hochklettern konnte.
Unter mir drohte das schwarze Wasser. Wenn es doch etwas gab, was dort lauerte? Der Kiebeck-Bauer fiel mir ein, über den hatte ich gelacht. Über die Tante hatte ich auch gelacht. Schielegon schien nicht mehr zu wollen, dass ich sprang. Ich war sein bester Freund und sein einziger.
Ich sprang aber doch mit geschlossenen Augen. Das Wasser schloss sich über meinem Kopf, und etwas Weiches, unangenehm Weiches, griff nach mir, hielt mich fest.
Ich trat mit den Füßen in etwas Haariges, zog und zog, tauchte endlich auf mit großen dunkelgrünen Schlingpflanzen in den Händen.
Wir haben beide geschwiegen danach, und Schielegon hat schwören müssen wegen der Tante. Nie hätte sie mir verziehen, dass ich ins Teufelsloch gesprungen war.
Die Frau hatte die Idee gehabt mit dem Reihenhaus. Ihre Eltern gaben etwas zu, seine auch, und den Rest sollte das Auto bringen, ein Wartburg, ungefahren. Sie hatten ihn früh abgestellt auf dem »Automarkt«, wie ihn der Volksmund nannte, den Platz hinter der Straße, auf dem am Wochenende kaum geparkt wurde. Sie ließen die Scheibe am Fahrersitz einen Spalt offen, und man konnte die Zettel oder Briefe einwerfen wie in einen Briefkasten.
»Wer das meiste bietet«, sagte die Frau, »bekommt ihn.«
Auf dem Sitz hatten am Nachmittag vierzig Zettel und zehn Briefe gelegen.
»Mehr«, meinte die Frau, »als bei anderen.«
Später saß sie am Tisch, faltete eifrig die Zettel auseinander und riss die Briefe auf. Sie las nicht, sie sah nur auf die Summe.
»Fünfundzwanzig«, rief sie, »sechsundzwanzig, ein Garten dazu, dreiundzwanzig«, und so weiter.
Sie hielt ihn triumphierend hoch, einen bedruckten Briefbogen. Ihre Augen hatten einen ungewohnten Glanz.
»Achtundzwanzig«, rief sie, »das höchste, hier steht die Telefonnummer! Du rufst an und verlangst dreißig, so haben wir fast zwölf verdient!«
Das war das Reihenhaus.
Es regnete stark, aber an einen Schirm hatten sie nicht gedacht. Die Straße war nicht lang, an ihrem Ende stand die Telefonzelle. Noch nie war die Straße Schneider so lang erschienen, die Telefonzelle konnte er im Licht der Gaslaternen nicht sehen.
Die Frau war jung, zweiundzwanzig Jahre, und schon immer hatte sie gewusst, was sie wollte. Schon als Kind. Sie hatte Schneider geheiratet, als er das Diplom bekam.
»Ein Diplom«, hatte sie gesagt, »das ist etwas, damit kommt man weiter. Ein Mann muss ein Diplom haben.«
Schneider war ihr zu schwerfällig. Er dachte zu viel, machte aus allem ein Problem. Aber Schneider liebte sie.
»Was du nur hast«, sagte die Frau, »alle machen es so.«
»Naja«, sagte Schneider.
»Du bist eben kein Geschäftsmann. Heute machen alle Geschäfte.«
»Es ist nicht gut.«
»Was du redest. Weißt du, wie viele Anmeldungen Lattorfs haben? Sechs! Zwei über Tanten, zwei über die Eltern und ihre eigenen. Jedes Jahr bekommen sie ein Auto. Dreitausend ist das Mindeste, was sie an jedem verdienen.«
»Da verkauft man immer nur Autos, macht Geschäfte, nichts weiter.«
»Siehst du«, sagte die Frau, »endlich begreifst du es.«
»Das bleibt nicht immer«, sagte Schneider.
»Aber so eine Gelegenheit!«, sagte die Frau. »Wir wären ja dumm.«
»Ich glaube nicht, dass es gut ist«, sagte Schneider, als sie vor der Telefonzelle standen.
»Soll ich?«, fragte die Frau.
»Ich mach es schon«, sagte Schneider.
Gut, dachte er dabei, dass man den nicht sieht, den man anruft. Wenn alles gesagt ist, ist es wohl anders.
»Er muss allein kommen, ohne Zeugen, und es gibt keine Quittung.«
»Ja, ja«, sagte Schneider, »ich weiß.«
Er legte den Zettel mit der Nummer auf die Ablage der Telefonzelle, warf zwei Münzen ein und wählte. Der Ruf kam nicht an. Schneider atmete auf.
»Es ist niemand da«, sagte er, »es soll nicht sein. Gehen wir.«
»Werd nicht albern«, sagte die Frau, »probier weiter.«
Schneider warf wieder die Münzen ein. Er hörte die Männerstimme aus weiter Ferne, keinen Namen, nur eine Nummer.
»Ich rufe an wegen des Autos«, sagte Schneider.
»Ja?«
»Es ist ein guter Wagen«, sagte Schneider unsicher.
»Ich weiß.«
»Sie haben achtundzwanzig geboten.«
»Ja.«
»Es müssen aber dreißig sein.«
Schneider hörte ein Knacken in der Leitung, wollte auflegen, doch da war die Stimme wieder.
»Gut, dreißig!«
»Sie müssen allein kommen«, sagte Schneider, »und es gibt keine Quittung.«
»Ich weiß. Wenn es passt, komme ich gleich.«
»Gut«, sagte Schneider. Mechanisch nannte er seine Adresse und legte auf. Die Frau fiel ihm um den Hals. Er wehrte sie ab, sah sie nicht an.
»Zieh nicht so ein Gesicht«, sagte die Frau, »der hat das Geld. Wir brauchen es. Es ist die einfachste Sache der Welt.«
Glücklich lief die Frau in den Regen. Schneider blieb in der Zelle stehen. Dann folgte er ihr langsam. Gut, hatte der andere gesagt und nicht gezögert.
Es ist eine seltsame Geschichte, die ich erzähle, und es ist nur ihr Anfang. Sie fliegt dir zu und lässt dich nicht los. So eine Geschichte beginnt auf einer Straße.
Da ist ein Mädchen, das ausrutscht auf einer Schale, fällt und von Bremer gehalten wird. Das Mädchen lächelt, sagt nichts, lächelt. Sie hat blaue Augen. Scheue Augen, denkt Bremer.
»Das hätte schiefgehen können«, sagte er.
Das Mädchen lächelt und nickt und schüttelt die Haare zurück.
»Ich geh ein Stück mit«, sagt Bremer, »es ist die gleiche Richtung.«
Wieder das Lächeln, wieder das Nicken.
Sie ist nicht gesprächig, denkt Bremer, und sieht einem so sonderbar auf den Mund, wenn man spricht. Er fährt sich mit dem Handrücken über die Lippen, aber er spürt nichts.
»Wir können ein Eis essen auf den Schreck«, sagt er, »an der Ecke.«
Wieder sehen die Augen auf seinen Mund. Das Mädchen schüttelt den Kopf, aber es ist ein Zögern dabei.
»Warum nicht?«, fragt Bremer.
Er ist hartnäckig, und sie gefällt ihm, und es ist lange her, dass er neben einem Mädchen ging. Sie zeigt auf ihre Ohren, auf ihren Mund. Bremer begreift erst nicht, dann versteht er. Erschrecken zeigt er nicht, Bremer ist hart im Nehmen. Aber sie sitzen dann doch in der Milchbar. Bremer schiebt ihr seinen Notizblock zu und einen Kuli.
»Wie heißen Sie?«
»Ria« steht auf dem Papier. Einen solch seltsamen Namen hat er nie gehört.
»Ich heiße Klaus«, sagt er. »Klaus Bremer.«
Sie nickt und lächelt. Dieses Lächeln, denkt Bremer, so warm und voller Traurigkeit. Er kann sich nicht sattsehen. Er fragt weiter, und das Papier füllt sich mit Antworten.
Sie ist zwanzig.
Sie ist Technische Zeichnerin.
Sie wohnt in der Straße, die vom Bahnhof zum Markt führt, in dem Haus mit der großen Apotheke, im Erdgeschoss.
Sie lebt dort mit ihrer Mutter.
Sie liest gern.
Sie mag Tiere und hat einen Hund, der Karo heißt.
Sie will kein Mitleid.
Bremer fährt über ihre Hand. Sie lächelt nicht mehr. Sie sehen sich nur an. Bremer bringt sie zum Haus mit der Apotheke, sie winkt ihm nach, als er geht.
Leicht gemacht wurde es ihm nie, diesem Bremer. Da war die Frau, die ihn verließ während des Meisterstudiums, in der Zeit, als er auch noch die Montage übernahm, wo sich jeder Fehler zeigt, aber auch wo sie am Ende fertig stehen, diese Großmaschinen in ihrer ganzen Pracht, bei denen es um 2 bis 3 Tausendstelmillimeter geht. Wo doch ein Menschenhaar einen Durchmesser von 7 Hundertstelmillimeter hat. Das war die Zeit, als er noch im Traum montierte und die Frau das Kind nahm und ging. Die Halle 3, die Montagehalle, wurde die Welt für Bremer und die großen Maschinen, von denen nur eine nicht rund lief in seiner Zeit. Das also ist das Leben, mehr wird nicht kommen, hatte er gedacht, mit dreiunddreißig ...
Wie ein Erdrutsch nun dieses Mädchen. Er trägt ein Lächeln mit sich herum, es brennt in ihm und brennt.
Dann sitzt er der Direktorin gegenüber in der Gehörlosenschule. Sie blättert in den Akten. Die Ria?
»Ria ist nur gehörlos«, sagt sie, »aber sie spricht! Sie liest die Worte ab von Ihren Lippen. Die Sprache lernte sie bei uns, nur hören kann sie sich nicht.«
»Warum ..., warum hat sie nicht gesprochen?«
Wenn sie doch lächelt, denkt Bremer, und auch beim Abschied?
»Viele Gründe können es sein«, sagt die Direktorin.
Dieser Mann und die Ria, was weiß er von dem, was dann kommt?
»Vielleicht«, sagt sie, »hat sich Ria gescheut. Nicht jeder findet sich hinein in den Tonfall Gehörloser. Hörende geben oft auf, zucken die Schultern. Das trifft wie ein Schlag.«
Der Mann vor ihr nickt.
Das Sehen ersetzt das Hören, hört er, und nur ein Teil der Worte ist erkennbar, denn nicht alle Laute werden sichtbar gebildet, vom nachlässigen Sprechen, dem abgewandten Gesicht, dem Dialekt schon ganz abgesehen.
Die Direktorin ist alt und früh ergraut, sie kennt das Leben.
Der Mann sitzt da, breit wie ein Schrank, mit den Augen eines Jungen und trinkt jedes Wort.
Die Direktorin sieht auf ihre Hände, die übereinander liegen auf der Unterlage, und weicht diesen Augen aus. Vielleicht war es Rias Angst vor dem Mitleid, denkt sie, vielleicht.
»Es ist kein Mitleid«, sagt Bremer hart.
Die Direktorin steht auf und geht zum Fenster. Sturm treibt die Blätter auf die Straße.
»Ich werde Ihnen helfen«, sagt sie, »kommen Sie her, wann immer Sie wollen.«
Sie gibt Bremer die Hand.
»Sie müssen alles bedacht haben, wenn Sie wieder hingehen.«
Sie bereut die Worte, als sie gesagt sind.
Einer geht da, der die Liebe findet über ein Lächeln und sie nicht aufgeben wird.
Bieneck radelt schnell. Er hat noch ein Telegramm, dann kann er sich umziehen und zur Disco gehen.
Bieneck ist Jungfacharbeiter. Eigentlich wollte er studieren, sein Abitur machen, aber da war die EOS, die er nicht schaffte.
Bieneck trägt gern Telegramme aus, im Gegensatz zu anderen, da sieht er neue Leute. Seine Telegramme wird er immer los, in den Briefkasten steckt er sie nicht. Er hat seinen Stolz. Endlich die Lassallestraße. Bieneck muss weit, und die Straße ist glatt, nicht gestreut. Die 65: Ida Krause. Es ist schon dunkel, und die Hausklingeln sind nicht beleuchtet, auch im Flur ist kein Licht. Bieneck stört das nicht, er läuft los. Im Erdgeschoss wohnen Lehmann und Bechler, also höher. Riebeneck, Wiesner. Sicher wird es der letzte Stock sein. Wenigstens die Treppenbeleuchtung brennt. Im Erdgeschoss fehlt wohl nur die Birne. Bei Bieneck im Haus gäbe es das nicht. Krause, liest er im dritten Stock. Bieneck klingelt. Das Licht geht aus, und er drückt auf den Lichtknopf. Eine Frau kommt die Treppe hoch.
»Hier macht keiner auf«, sagt Bieneck.
Die Frau nimmt ihren Schlüssel und sieht Bieneck nicht an, als sie spricht. Ihre Stimme ist rau.
»Die Krausen habe ich ewig nicht gesehen.«
»Sie ist wohl verreist«, fragt Bieneck.
»Was weiß ich.« Die Frau dreht sich nicht um. »Die und verreisen! Kann doch kaum noch laufen. Ist siebzig oder so. Soll bloß in ein Heim gehen.«
Die Frau schließt die Tür hinter sich, und Bieneck steht wieder allein. Er könnte jetzt den Telegrammzettel ankleben, aber Bieneck weiß auch nicht, was mit ihm los ist. Er zögert, geht auf und ab und klingelt wieder gegenüber.
»Was denn noch«, sagt die Frau.
Bieneck hat sie beim Abschminken gestört.
»Wann haben Sie sie denn gesehen«, fragt er.
»Du kannst einen aufregen. Vor drei Monaten vielleicht, woher soll ich den Tag wissen. Ich schreib mir das nicht auf, ich bin nicht ihre Tochter.«
Bieneck will etwas sagen.
»Sie geht mich nichts an.« Die Frau schreit fast und schlägt die Tür zu. Bieneck steht wieder im Dunkeln. Er wird eben oben nachfragen. Er kann doch nicht ein Telegramm in den Briefkasten werfen, und die Frau ist verreist. Es liegt dann, und wer weiß, was darinsteht.