Vom Willen

»Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen«, lautete das Diktum Theodor Herzls, das zum populären Motto des politischen Zionismus avancieren sollte. Der von ihm als Prämisse des gesamten zionistischen Projekts gesetzte Wille bezog sich dabei auf eine als Möglichkeit anvisierte geschichtliche Zukunft, vom Flair des Utopischen beseelt, aber bereits unter den Voraussetzungen des historisch Möglichen formuliert. Ein Graffito mit dem Abbild Herzls, welches in den letzten Jahren auf Tel-Avivs Häuserwänden zu sehen ist, enthält den Spruch »Wollt ihr nicht – dann eben nicht«. Die hier satirisch verwendete Willenskategorie nimmt dabei Bezug auf Herzls historisches Diktum, jedoch im Ton des sarkastischen Rückblicks aufs bereits Abgelaufene. Die in der Emphase Theodor Herzls angelegte politische Hoffnung ist ein Jahrhundert später einer (wie immer witzig eingefassten) desillusionierten Einsicht gewichen. Man sollte die in beiden Sprüchen indizierte historische Dimension nicht unterschätzen. Was sich auf Tel-Avivs Straßen kundtut, ist bei aller intertextueller Komik auch bittere Erkenntnis.

Willen ist eine philosophiegeschichtlich beladene Kategorie. Schopenhauer verwendet sie bekanntlich als »Lösung« für das Rätsel des Kant’schen Ding-an-sich. Der Wille gilt ihm dabei als eine außerhalb alles Vernünftigen wirkende Kraft, die nicht nur den Einzelmenschen, nicht nur das menschliche Kollektiv, sondern auch die organische und anorganische Natur, ja die Gestirne und das Universum insgesamt antreibt. Es ist ein sich seiner selbst nicht bewusster Wille, der zu nichts anderem fähig ist, als seinem Willensantrieb zu folgen – ein wollender Wille. Als solcher kollidiert er zwangsläufig mit der menschlichen Weltwirklichkeit, die sich historisch-zivilisatorisch formiert, mithin als Kultur leidenschaftlichem Verlangen Grenzen setzt, um menschliches Zusammenleben erst eigentlich zu ermöglichen. Diese Einsicht in die conditio humana findet ihren (freilich aufs rein Menschliche reduzierten) Nachhall noch in der Freud‘schen eines strukturell unüberwindbaren Unbehagens in der Kultur. Nietzsche, der die Willenskategorie Schopenhauers übernimmt, widersetzt sich gleichwohl der »praktischen« Schlussfolgerung, die Schopenhauer aus diesem fundamentalen zivilisatorischen Konflikt zieht, die Verneinung des Willens als Ursprung und Ursache alles menschlichen Leids. Statt der von Schopenhauer postulierten Negation des Willens fordert er dessen existenzielle Bejahung und leitet daraus eine Philosophie ab, die sich im Wesen gegen alles Kulturelle, das der Authentizität des Menschen als Willenssubjekt zuwider wirkt, wendet. Die dabei entstehenden Aporien mögen hier unerörtert bleiben. Es reicht hin, auf den Doppelcharakters von Freuds Diktum »Wo Es war, soll Ich werden« zu verweisen, um zu begreifen, dass das Aufgeklärte dieses Postulats zwangsläufig auch eine repressive Dimension in sich birgt und perpetuiert. Was sich indes für den hier erörterten Zusammenhang als von großer Relevanz erweist, ist die Mehrschichtigkeit dieser Willenskategorie: Zwar ist hier nicht die Rede von einem kosmischen Weltwillen im Sinne Schopenhauers, sehr wohl aber davon, dass der Wille zum einen eine kognitive Dimension aufweist, in der sich das äußerlich-dezidiert Gewollte artikuliert, zum anderen aber eine unbewusst waltende Dimension, die mit dem bewusst Bekundeten, dem emphatisch Proklamierten in einem Gegensatz, ja im Widerspruch stehen mag.

Anvisiert wird hier allerdings nicht ein Unbewusstes, welches das Walten einer einzelmenschlichen Triebdynamik und -ökonomie im Freud’schen Sinne zum Inhalt hat, sondern ein kollektives Unbewusstes, das sich als ein Uneingestandenes erweist, wobei dies Uneingestandene sich aus der Logik des Widerspruchs zwischen ideologischer Deklaration und realer Handlung, zwischen bekundeter Wertsetzung und praktizierter Unterwanderung von offiziell Angestrebtem ableitet. So besehen, handelt es sich hier um eine Vermutung, die die Strukturlogik einer historischen Aporie zu ergründen sucht, dabei aber auf eine positivistische Evidenz verzichten muss; denn das ist ja der Charakter des Ideologischen – es verdeckt in konsensuell akzeptierter Manier das, was nicht akzeptiert werden kann, weil es dem Selbstbild und der Selbstdarstellung objektiv zuwiderläuft. Dabei geht es nicht primär um eine narzisstische Kränkung (wiewohl auch sie mit eine Rolle spielt), sondern vor allem um eine historische Praxis, die sich ihrer selbst (unbewusst) nie wirklich sicher war bzw. sich von Anbeginn selbst (unbewusst) in Zweifel zog.

Das zionistische Projekt, von dem hier die Rede ist, stand, so besehen, immer schon auf unstetem Boden. Von Anfang an zeichnete es sich durch den Doppelcharakter seiner Raison d’être: Er bildete sich einerseits reaktiv, indem er sich – ex negativo – als Antwort auf den modernen Antisemitismus im europäischen Westen verstand, mithin fremdbestimmt angetrieben war. Andererseits formierte er sich aktivistisch – auch in dieser Hinsicht freilich negativ bestimmt, denn der »Neue Jude«, denn er zu erschaffen gedachte, stellte sich vor allem als das Negativum des ideologisch, aber eben auch lebensweltlich real zu überwindenden diasporischen Juden dar. Dieser Doppelzug des Zionismus wirkte sich strukturell verschiedentlich aus.

Zunächst und vor allem: Der negative Entstehungsantrieb ließ äußere Bedrohungen als Kriterium der Selbstvergewisserung zum Grundbedürfnis der zionistischen Ideologie gerinnen. Ob als real bedrohliche Sicherheitslage im Konflikt mit der arabischen Welt, als staatlich gefördertes Shoah-Gedenken oder als staatsoffizielle Wahrnehmung des Antisemitismus in der heutigen Welt, stets befleißigte sich die Ideologie des zionistischen Staates der Fetischisierung des Sicherheitsproblems, der Instrumentalisierung der Holocaust-Erinnerung und der Heraufbeschwörung des Antisemitismus weltweit. Das will wohlverstanden sein: Das Sicherheitsproblem hatte (und hat) einen realen Kern, die Shoah war (und ist) die traumatische Katastrophe des jüdischen Volkes im modernen Zeitalter, und der Antisemitismus zeigt seine Fratze nach wie vor an verschiedenen Orten auf dem Globus. Worum es hier aber geht, ist die Ideologisierung all dieser Bedrohlichkeiten, um den politischen Nutzen, den man ihnen abgewinnt, das fundamentale Bestreben, sie ja nicht verschwinden bzw. vergehen zu lassen. Überspitzt (gleichwohl relevant) formuliert: Gäbe es den Antisemitismus oder das Sicherheitsproblem nicht, müsste sie sich das zionistische Israel nachgerade erfinden. Denn die Ideologisierung ist das Fundament, bildet die Grundmatrix des Selbstverständnisses des zionistischen Israels. Davon sind die Polenfahrten israelischer Schulklassen und Soldaten, die Reden israelischer Staatshäupter auf internationalen Foren, die gesamte israelische Diplomatie und Israels Sicherheitspolitik, die Diskurse um »die iranische Atombombe«, um den »Hamas-Terror«, um den »Antisemitismus« der europäischen Israelkritik und dergleichen mehr Praktiken, welche sich allesamt der »Bedrohung Israels« verschwistert wissen, beseelt. Israels politische Kultur speist sich primär aus dem zur nicht hinterfragbaren Ideologie verhärteten Gefühl permanenter Bedrohung. Die historische Katastrophe geriet ihr zum heteronomen Argument, Leiderfahrung und Angst zum propagandistischen Kapital. Die oben abgehandelte Opfer- bzw. Selbstviktimierungsideologie gehört in diesen Zusammenhang. Von Bedeutung ist dabei nicht nur, wie die Träger dieser Ideologie es fertig bringen, sich für die realen Herrschafts- und Gewaltverhältnisse blind zu machen, sondern auch, wie sie die eigene verbrecherische Gewalt zu rationalisieren vermögen, mithin historische Opfer-Täter-Rollen, auf die sie sich berufen, durch entstellende Vereinnahmung vertauschen und gerade darin das Andenken an die historischen Opfer im Stande ihres Opferseins verraten.

Der andere – aktivistische – Grundzug des Zionismus manifestierte sich geschichtlich primär in einem unüberwindbar scheinenden expansionistischen Drang. Die ideologischen Voraussetzung dafür leiteten sich von der realen Lage der Juden in den Anfängen des Zionismus ab: Man hatte die Gründung eines Judenstaates beschlossen, das anvisierte Territorium für diesen Staat befand sich jedoch nicht in jüdischem Besitz; also musste man dieses Territorium in Besitz nehmen. Das Ideologem dafür war schnell formuliert: Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land. Hinzu kam der »historische« Anspruch: handelte es sich doch um das den Urvätern von Gott eigens verheißene Land. Nicht nur schuf man dadurch eine noch in Bibelzeiten wurzelnde Kontinuität jüdischen Anspruchs aufs Heilige Land, sondern man verschaffte auch der Religion als Legitimationsmittel einen Eingang durch die Hintertür in den sich im Wesen säkular wähnenden Zionismus. Dies sollte spätestens mit dem in den 1970er-Jahren ansetzenden Siedlungswerk im Westjordanland eine strukturelle Auswirkung von historischem Ausmaß zeitigen. Denn während sich der ursprüngliche Expansionismus politisch, ökonomisch und militärisch zu legitimieren trachtete, drang mit der vor allem von Nationalreligiösen vollführten, messianisch beseelten Siedlungspraxis ein religiöser Faktor in Israels Realpolitik ein, der sich ab einem bestimmten Zeitpunkt kaum noch der offiziellen Staatsräson, dafür umso mehr dem religiösen Schiedsspruch nationalreligiöser Rabbiner verpflichtet sah. Es sei dies hier hervorgehoben, denn zwar sollten sich bald alle israelischen Regierungen mit den Siedlern ins ideologische Einvernehmen setzen, und doch hatte die religiöse Einfärbung der Legitimationsgrundlage der real betriebenen Siedlungspraxis ein irrationales Moment mit weitreichenden Folgen für Israels Politik generiert.

Aber schon vorher – wie gesagt, seit Anbeginn des politischen Zionismus – kam der Expansionismus geschichtlich zum Tragen. Der objektive Zwang, das Land erst eigentlich, sei es durch Kauf, sei es durch Kampf, gewinnen zu müssen; die in der vorstaatlichen Ära entwickelte Strategie von homa u‘migdal (Mauer und Turm), die die »spontan« besiedelten Gebiete mit Blick auf das späterhin zu vereinheitlichende Territorium markierte; der 1948er-Krieg (der Israel freilich aufoktroyiert war); die »Judaisierung« des Galils, der systematischen demographischen Anreicherung der Galil-Bevölkerung durch Juden, im Norden Israels nach der Staatsgründung – all diese (und viele weiteren) Stationen des Zionismus, die einer Entwicklungslogik im Hinblick auf die territoriale Konsolidierung des Judenstaates folgten, wurden dann ab 1967 von einer neuen, der Okkupationslogik gehorchenden Politpraxis beerbt. Man kann diese von der vorhergehenden Geschichte des Zionismus abtrennen wollen; so verfahren jene, die das Besatzungsregime für ein Israels Zukunft bedrohendes Unglück erachten, mithin der Zwei-Staaten-Lösung das Wort reden. Man kann aber die Besatzungsphase durchaus auch als Fortsetzung dessen betrachten, was vor 1967 im zionistischen Streben angelegt war; so denken diejenigen, die das gesamte zionistische Projekt für ein kolonialistisches Unterfangen halten, mithin den Beginn des im Nahostkonflikt manifestierten Problems, schon 1948, wenn nicht gar 1897 datieren. Für den hier erörterten Zusammenhang ist indes von Bedeutung, dass der zionistische Aktivismus sich von Anbeginn auf territoriale Expansion ausgerichtet sah, ob nun aus historischem Zwang, aus demografischen Erwägungen und den von ihnen abgeleiteten spezifischen Siedlungssituationen oder eben als ein perpetuiertes Muster, bei dem die existenzlogische, demographische oder religiöse Rationalisierung des Drangs nach territorialer Ausbreitung lediglich verschiedene Erscheinungen einer im Wesen des Zionismus angelegten Expansionsideologie darstellen.

Beide ideologischen Grundzüge des Zionismus – der der Selbstviktimierung und der des Expansionismus – stehen in einem (wiederum ideologisch verfestigten) komplementären Verhältnis zueinander. Denn was als expansive Landnahme sich als objektive Notwendigkeit ausnahm, musste subjektiv legitimiert werden: Dies mochte als irrationale Gottverheißung erfolgen (was allerdings mit der säkularen Grundausrichtung des Zionismus ursprünglich kaum vereinbar war) oder aber als eine angesichts langer historischer Leiderfahrung gerechtfertigte Selbstbestimmungspraxis, namentlich als das aus Notwendigkeit geborene Postulat der Aufhebung allen diasporischen Daseins. Dieses stufenweise sich einstellende komplementäre Verhältnis entwickelte eine eigentümliche Eigendynamik: Je mehr sich Israel in der Gewaltausübung der Okkupation verfing, desto intensiver steigerte sich die Emphase der Selbstviktimierung, mithin die Apostrophierung aller Kritik an Israels Politik als Antisemitismus. Es geht dabei großteils um bewusste ideologische Manipulation, was nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass in der Manipulation auch eine Schuldabwehr angelegt ist, und zwar die einer zweifachen Schuld: So wie der klassische Zionismus sich des »Vatermords« an der halachisch-diaporischen Judenheit schuldig gemacht hat, hat er mit der Staatsgründung (infolge ebendieses »Vatermords«) auf Kosten der Palästinenser eine weitere historische Schuld auf sich geladen. Der gängige Hass auf die orthodoxen Juden in Israel wie denn die hasserfüllte Feindschaft gegen die Palästinenser sind beredter Ausdruck der konsensuellen Reaktion auf das, was man in Abrede stellen muss, wenn man mit sich im Reinen weiterleben möchte. Bei Nietzsche formuliert sich dies wie folgt: »‹Das habe ich getan‹, sagt mein Gedächtnis. ›Das kann ich nicht getan haben‹, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.« Wenn das Selbstbild des Zionismus intakt bleiben soll, darf er sich nicht durch historische Täterschaft besudelt haben. Daher das schmähende Verhältnis zum orthodoxen Judentum, in dessen Absage an das zionistische Projekt, mithin an den (das messianische Endzeit beschleunigt voranziehenden) Expansionismus, man unverzeihlich primitive Verblendung gewahrt. Daher auch der perpetuierte Hass auf die Palästinenser, als deren Opfer man sich selbstviktimierend sieht, indem man sie pauschal als Terroristen abstempelt, ohne sich je darüber ehrliche Rechenschaft darüber abzulegen, wie es zur palästinensischen Gewaltbereitschaft kommt und auf welche viel schlimmere Gewalt sie reagiert.

Das Bestechende an dieser ideologischen Verblendung liegt in der einheitlichen Zusammenführung der realpolitischen Argumentation, des historischen Anspruchs und der Rechtfertigung kraft religiöser Determination, welche ihrerseits den rationalen politischen Diskurs an prekären Schnittstellen außer Kraft setzt. Dies ist spätestens seit 1967 daraus zu erklären, dass die säkulare Großisrael-Ideologie der revisionistischen Herut- und späteren Likud-Partei sich mit dem von den nationalreligiösen Siedlern proklamierten Postulat der Gottverheißung und der Rückkehr in das Land der Urväter letztlich deckt. Darin manifestiert sich ein entscheidender Faktor dessen, was hier als die historische Sackgasse des Zionismus anvisiert wird. Denn es war nicht nur eine politische Wahlverwandtschaft, die sich da konstruierte und verhärtete, sondern man sah sich in der Tat dahingehend genuin verwandt, als man eine alternativlose Bestimmung verfolgt(e): Mit Gott diskutiert man nicht, so wie man aufhört ein Likud-Mensch zu sein, wenn man das ideologische Erbteil des zionistischen Revisionismus, den Anspruch auf ganz Eretz Israel, aufgibt. Begin mochte die okkupierte Sinai-Halbinsel für den Frieden mit den Ägyptern abgeben; Sharon den Gazastreifen räumen; vielleicht wird man sich auch für einen Frieden mit den Syrern von den Golanhöhen zurückziehen – aber keinen Likud-Politiker, der sich ideologisch tatsächlich als solcher versteht, käme es in den Sinn, das Westjordanland zu räumen. Netanyahus Bekenntnis zur Zwei-Staaten-Lösung war von Anbeginn nichts als ein Lippenbekenntnis. Er weiß besser als jeder andere, dass er seine Macht unweigerlich verlöre, wenn er sich auch nur einfallen ließe, diese Lösung auch verwirklichen zu wollen.

Zu fragen bleibt gleichwohl, ob es sich dabei primär um eine »von oben« kommende Partei-Ideologie handelt, die es in einem legitimen politischen Kampf immer wieder schafft, Mehrheiten konsolidierend in sich zu versammeln. Oder hat man es hier mit einem genuinen »Volkswillen« zu tun, dem besagte Partei-Ideologie lediglich willfahrt. Beides wird man wohl annehmen dürfen, mithin dass jede Möglichkeit die je andere verfestigt, zumal sich ja beide Möglichkeiten nicht gegenseitig ausschließen. Und doch ist damit noch nicht geklärt, warum dem so ist bzw. warum die meisten Israelis seit Jahrzehnten immer wieder Parteienkonstellationen wählen, von denen sie wissen, dass die sich aus ihnen bildenden Regierungen jeden sich real anbahnenden Friedensweg blockieren werden. Die so gestellte Frage möchte keinesfalls ignorieren, dass in Israel auch immer friedensbewegte Oppositionskräfte aktiv waren; sie möchte auch mitnichten den von Yitzhak Rabin angetriebenen Oslo-Prozess, den man für die vielleicht chancenreichste Initiative zur Beilegung des israelisch-palästinensischen Konflikts erachten darf, unterschätzen. Aber gerade deshalb kann sie sich auch nicht der komplementären Frage entziehen, warum besagte Friedenskräfte im Endresultat stets scheiterten (und scheitern) bzw. sich inzwischen in Melancholie und Depression zurückgezogen haben; und wie es dazu kam, dass der israelische Initiator des Oslo-Prozesses umgebracht wurde, dass man sich unmittelbar nach diesem Mord einer ideologischen Kampagne der »nationalen Versöhnung« verschrieb, ohne sich auch nur einfallen zu lassen, das politische Lager, das den Mord letztlich verschuldet hatte, zur politischen Rechenschaft zu ziehen, und dass der Oslo-Prozess selbst heutzutage den meisten Israelis als Irrweg und sehr vielen unter ihnen gar als »Verbrechen« gilt. Man wird sich in diesem Zusammenhang auch fragen dürfen, ob es Zufall war, dass Shimon Peres nach Rabins Ermordung unter den besten für ihn als Machtpolitiker bestehenden Bedingungen es geschafft hat, die Knesset-Wahl (an Netanyahu) zu verlieren.

Natürlich wird man bei der Beantwortung dieser gravierenden Fragen nicht die Seite der Palästinenser unbeachtet lassen dürfen. Israels ehemaliger Außenminister Abba Eban hat in diesem Kontext das berüchtigte Diktum geprägt »Die Palästinenser haben noch nie eine Gelegenheit ausgelassen, um eine Chance [für den Frieden] zu verpassen«. In der Tat darf behauptet werden, dass die Bereitschaft der Palästinenser zum Frieden mit Israel nie eindeutig war, oft von merklicher Ambivalenz getragen wurde, nicht selten aber auch von einem Ressentiment geladenen Widerwillen beseelt war. Insbesondere das politische Handeln des charismatischen Palästinenserführers Jassir Arafats war in dieser Hinsicht zumeist durch eine bestimmte Unbestimmtheit gekennzeichnet. Und doch birgt Abba Ebans Spruch objektiv eine ideologisch prästabilisierte Arroganz in sich, ein Über-den-realen-Verhältnissen-Stehen, das sich blind macht für die wechselhafte Bedeutung von »Gelegenheiten« und »Chancen« in unterschiedlichen historischen Macht- und Herrschaftskonstellationen. Denn sein Spruch suggeriert eine israelische Benevolenz, wo keine besteht. Der als friedensbewegt und moderat in die Politannalen des Zionismus eingegangene Staatsmann vermochte sich offenbar keine Rechenschaft darüber abzulegen, mit welcher Überheblichkeit von angebotenen Friedenschancen geredet wurde (und wird), so als handle es sich um vom Herrn dem Knecht gewährte Gefälligkeiten. Insofern enthalten seine Worte einen wichtigen Wahrheitskern: Sie widerspiegeln die realen Machtverhältnisse, die zwischen Israelis und Palästinenser von Anbeginn bestanden haben, repressive Herrschaftsverhältnisse, bei denen nie von einer symmetrischen Kongruenz die Rede sein konnte. Der Kampf der Palästinenser gegen Israel hat Israel nie bedrohen können; er war selbst in Zeiten schlimmsten palästinensischen Terrors stets nur von symbolischem Stellenwert; er konnte Israel belästigen, Israels Existenz hingegen nie real infrage stellen. Was die Palästinenser als politische Waffe in der Hand hatten, war – spätestens nachdem sie Israel im Jahre 1988 anerkannt und ihren Anspruch auf ganz Palästina somit auch auf politisch-rhetorischer Ebene aufgegeben hatten – einzig ihre Weigerung, auf die von Israel angebotenen politischen Krümel, die sich als generöse »Friedenschancen« ausgaben, einzugehen. Was immer sich dabei als »unangemessenes« Zögern auf palästinensischer Seite ausnahm, war letztlich nichts als ein Epiphänomen des von Israel real beherrschten Verhandlungsdiskurses, denn – und das ist ein entscheidendes Denn – Israel, einzig Israel hatte etwas materiell in der Hand, das es hätte um des Friedens willen »geben« können; Israel, einzig Israel hätte den real gangbaren Friedensweg bestimmen und begehen können. Die Palästinenser als die Schwachen in diesem Konflikt konnten da nur reaktiv handeln. Die Reaktion auf ein reales Friedensangebot hätte entsprechend ganz anders ausfallen können, als was die nimmermüde israelische Propaganda – den Mangel an Friedensbereitschaft auf palästinensischer Seite unentwegt proklamierend – zu suggerieren trachtete. Das von Ehud Barak erstmals geprägte und seitdem kolportierte Ideologem, es gebe »keinen Partner« (für Frieden) unter den Palästinensern, ist nie wirklich auf die Probe gestellt worden. Ein für die Palästinenser akzeptables Angebot hätte von Seiten Israels kommen müssen; nur Israel hat es in der Hand, ein solch reales Friedensangebot, das die letzten palästinensischen Bedenken zu demontieren vermag, zu machen.

Aber Israel will den Frieden nicht. Es kann ihn nicht wollen, weil ein realer Frieden Israel den Abschied von einem tief eingefrästen Muster seines Selbstverständnisses, die Auflösung der Matrix seines ideologischen Selbstbildes abfordern würde. Die israelische politische Kultur kennt nur »Sicherheit« als begreifbare Substanz ihrer Raison d’être. Daher huldigt sie »mythologischen« Kriegshelden, die sich teilweise mit Kriegsverbrechen besudelt und durch brachialen Gewaltgestus ausgezeichnet haben. Sie huldigt auch der zum säkularen Heiligtum hochideologisierten Armee (IDF), der sie bescheinigt, »die moralischste Armee der Welt zu sein«. Sie beruft sich dabei historisch auf die jüdische Verfolgungsgeschichte unter inflationärer Hervorhebung der Shoah (deren Andenken sie stets für heteronome politische Belange schändlich zu instrumentalisieren verstand); kollektivpsychologisch stützt sie sich auf einen zu Höchstleistungen demagogischer politischer Manipulation gesteigerten Diskurs der Selbstviktimierung. Israel kann aber den Frieden auch deshalb nicht wollen, weil die Rückgabe besetzter Territorien, die für einen solchen Frieden unabdingbar wäre, nicht nur macht- und herrschafts-, also parteipolitisch mächtige Schwierigkeiten zeitigen würde – was ist für einen Machtpolitiker vom Schlage Netanyahus katastrophaler als Machtverlust? –, sondern weil es auch dem expansiven Drang als Grundantrieb des Zionismus religiöser wie säkularer Couleur zuwider wirken würde. Nicht nur der nationalreligiöse Siedler kämpft dafür, das »Land der Urväter«, das »uns« gehört, nie wieder verlassen zu sollen, sondern auch der säkulare Zionist hat sich stets schnell daran gewöhnt, besetztes Land als das eigene zu sehen. Die gängige Frage »Was kriegen wir dafür, wenn wir die Gebiete räumen?« kann seinem Selbstverständnis zufolge nicht mit »Frieden« beantwortet werden. Frieden? Was soll er mit Frieden, wo er doch auf Materielles verzichtet hat? Er redet dabei von »Verzicht«, was völlig mit der ideologischen Grundmatrix des Zionismus übereinstimmt: Der politische Zionismus war von Anbeginn der festen Überzeugung, dass Eretz Israel das Land des jüdischen Volkes sei (alternative Territorialvorstellungen, die es zu Beginn des Zionismus hier und da gab, hatten nie eine wirkliche Chance, sich durchsetzen); dass nach jahrhundertelanger Exilgeschichte ein »Volk ohne Land« in ein »Land ohne Volk« einzuziehen berufen sei; dass das Land durch seine Besiedlung »erlöst« werde (ge‘ulat ha‘aretz); dass es entsprechend nie (kolonisierenden oder sonst wie gearteten) Landraub, nie territorialen Expansionsdrang, nie eine Nakba (Katastrophe der Palästinenser im 1948er-Krieg), nie eine Naksa (Katastrophe der Palästinenser im 1967er-Krieg) gegeben habe. Wie soll man da auf Territorien, die einem gehören, weil sie de facto unter eigener Herrschaft stehen, »verzichten«? Nicht von ungefähr wurde Rabin von der rechten Propaganda im Jahre 1995 bezichtigt, den Zionismus zu »verraten«, weil er sich auf einen Frieden unter Rückzug aus den besetzten Gebieten einzulassen bereit war. Bezeichnend ist aber auch, wie seiner Ermordung von sehr vielen, nicht nur rechtsextrem gesinnten Israelis – moderater, aber sich durchaus aus demselben Gefühlsideologem speisend – mit »Verständnis« begegnet wurde: Er habe »übereilt« gehandelt, habe zu schnell »verzichten« wollen; das Attentat auf ihn sei zwar ein »Trauma«, aber man müsse sich schnellstmöglich wieder der »nationalen Versöhnung«, der inneren »Einheit« verschreiben. Man schwadroniert heute in Israel zwar noch zuweilen von »Rabins Vermächtnis«, aber den allermeisten Israelis gilt er längst, wenn schon nicht als »Oslo-Verbrecher«, dessen »Vermächtnis« ausgemerzt gehöre, so doch als Manifestation politischer Weltfremdheit und politischer Naivität. Er wollte (vielleicht), man höre und staune, den Frieden.

Ein weiteres Mal also: Warum verweigert sich der Zionismus dem realen Frieden mit den Palästinensern, mithin der unabdingbaren Voraussetzung seiner Selbsterhaltung? Warum betreibt er seine historische Selbstauflösung? Die Frage mag sich merkwürdig ausnehmen gemessen an der Fülle unabweisbarer Erfolge des Zionismus im 20. Jahrhundert. Israel ist ein Staat, der unter widrigsten geschichtlichen Bedingungen zustande gekommen ist. Es ist ein Land, das Völkerrechtswidrigkeiten begeht, und ist doch ein blühendes Land mit merklichen Errungenschaften in Bereichen der Kultur, der Wissenschaft, der Technologie, der Infrastruktur – und ja, auch der Sicherheit. Es ist ein heterogenes Land mit großer Zerrissenheit und doch auch mit (wie immer strukturell unterwandertem) demokratischem Selbstanspruch. Man darf sich aber durch das historisch Erreichte und die beachtlichen Vergangenheitsleistungen nicht blenden und täuschen lassen. Es geht hier um den zum Beginn dieses Bandes skizzierten historischen Weg, den der Zionismus beschritten hat, bzw. um die historische Weggabelung, vor der er sich gestellt sieht, und um die strukturelle Sackgasse, in die er sich geschichtlich hineinmanövriert hat. Die Frage, warum der Zionismus seiner eigenen Auflösung zuarbeitet, kann nicht mit selbstgewissem Leistungs- und Erfolgspathos, auch nicht mit »realistischer« Macht- und Gewaltlogik im Nahostkonflikt konterkariert werden. Dafür ist das strukturelle Dilemma, dem sich der Zionismus ausgesetzt sieht, zu real, zu objektiv, zu unabweisbar.

Shmaryahu Levin, ein bedeutender Zionist, hat etwas Grundlegendes zum hier erörterten Thema formuliert, als er postulierte: »Es ist leichter, [das Volk] Israel aus der Diaspora herauszuführen, als die Diaspora aus [dem Volk] Israel«. Mit anderen Worten: Selbst die manifest verwirklichte Negation der Diaspora ist keine Garantie dafür, dass das Diasporische aus dem Gemüt der Juden entweichen werde. Diese merkwürdig anmutende Einsicht ist von vielen klassischen zionistischen Denkern und Führern in variierter Abwandlung geteilt worden. Kein anderer als Zeev Jabotinsky meinte: »Um den Staub der Diaspora von unserem Körper und unserer Seele abzuwaschen, […] werden wir noch viel Zeit und Wasser brauchen«. Aharon David Gordon sprach davon, dass es »keine sicherere Zuflucht für uns auf der Welt gibt, als die Diaspora in uns«. Und Ben-Gurion warnte wiederholt vor der Möglichkeit, das jüdische Volk sei noch zu keinem staatlichen Leben fähig. Es ließen sich noch viele Beispiele für diesen Grundtenor des Selbstzweifels anführen, von dem der Zionismus immer schon begleitet hat. Während aber die Ideologen und Führer des klassischen Zionismus noch vom Pathos der Zuversicht beseelt waren, vom optimistischen Glauben daran, dass wenn man wollen wird, es kein Märchen bleiben werde; von der auf die Zukunft projizierten Hoffnung also, dass der Weg zwar beschwerlich sein, letztendlich aber zur erfolgreichen Verwirklichung des gesamten historischen Projekts führen werde – stellt sich heute die Frage wohl anders. Die Zukunft von damals ist schon längst zur ereignisreichen Vergangenheit geronnen, die damalige Hoffnung ist mittlerweile empirischen Prüfkriterien unterstellt worden. Und diese lassen keinen eindeutigen Schluss zu, jedenfalls keinen eindeutig positiven.

Denn unabhängig von der hier anvisierten strukturellen Sackgasse des Zionismus (wenn auch vielleicht als Symptom ihrer Genese), muss sich der Zionismus heute eingestehen, dass er zweierlei nicht zu erwirken vermochte. Zum einen lebt noch immer ein Großteil der Juden auf der Welt nicht in dem vom Zionismus für sie als eigene nationale Heimstätte eingerichteten Staat. D. h., es gibt zwar den Staat der Juden, und er darf sogar, wie gesagt, in Anspruch nehmen, eine »Erfolgsgeschichte« zu sein, aber sehr viele Juden sehen in ihm nicht das Land, in dem sie ihr reales Leben einrichten, ihre Familie gründen, ihre Kinder erziehen, ihren Beruf praktizieren wollen. Selbst nicht nach dem Holocaust, der nach zionistischem Verständnis allen Juden der Welt hätte klar machen müssen, dass Juden einzig in Israel in Sicherheit leben bzw. überhaupt als Juden wirklich leben könnten. Zum anderen hat aber der Zionismus ebendies nicht erreicht: Nach mehr als hundertjährigem Bestehen hat er das sichere Leben von Juden in ihrem (zionistischen) Land nicht zu garantieren vermocht. Die bittere Wahrheit ist, dass das Leben des jüdischen Einzelmenschen nirgends auf der Welt so gefährdet ist wie gerade in Israel; man kann auch einen Schritt weitergehen und behaupten, dass wenn die (von der israelischen Propaganda stets heraufbeschworene) Tendenz der Sicherheits- bzw. Bedrohungskonstellation anhält, nicht ausgemacht ist, dass sich die nächste jüdische Kollektivkatastrophe nicht gerade im nahöstlichen Israel ereignen werde. Wenn stimmt, was Netanyahu immer wieder mit Bezug auf Iran anmahnt, gibt es gute Gründe für Juden auf der Welt, ihr Leben nicht in Israel als »ihrem« Land planen zu wollen. (Wenn es übrigens nicht stimmt, gibt es für diese Juden gute Gründe, sich zu fragen, was das für ein Land sei, das mit derlei propagandistischen Lügen als seiner Raison d’être operiert, und warum sie in einem solchen Land leben wollen sollten).

Zweifel am Gelingen des zionistischen Projekts gab es schon immer. Viele Juden sind nach Israel eingewandert, viele aber auch ausgewandert. Die allermeisten haben sich, wenn auch aus der Ferne, mit Israel solidarisiert, haben es aber vorgezogen, die Ferne als solche beizubehalten. Nicht nur aus materiellen Gründen; denn immerhin haben materielle Beschwernisse Millionen von Juden nicht davon abgehalten, ihre Existenz in Israel aufzubauen. Auch nicht nur aus existenziellen Gründen; denn zwar sah man in der Wartezeit vor dem 1967er-Krieg einer »zweiten Shoah« entgegen, aber was dann kam, war ja ein phänomenaler israelischer Militärsieg. Der Grund war (und ist) ein anderer: Man muss sich heute fragen, ob der Zionismus selbst sich bzw. seine eigenen historischen Zielsetzungen je wirklich ernstgenommen hat. Er beabsichtigte, das gesamte jüdische Volk in Israel zu versammeln, hierarchisierte aber die in Israel angekommenen Juden und exkludierte sie aus hegemonialen Elitenstrukturen (Shoah-Überlebende und Juden orientalischer Provenienz als solche waren nicht seine »Lieblinge«). Er sah sich als Träger eines modernen, säkularen Gebildes, ließ aber die Religion durch die Hintertür wieder hinein, bis sie heute zu einem gravierenden Faktor der israelischen politischen Kultur angewachsen ist. Er gebärdete sich eine Zeitlang sozialistisch, generierte dann aber einen besonders harschen Kapitalismus, der Israel den zweifelhaften Ruhm einbrachte, eines der Staaten unter den entwickelten Ländern mit einer besonders großen sozio-ökonomischen Kluft zu sein. Er gab sich aufgeklärt und emanzipativ (im Vergleich zu seiner geopolitischen Umwelt), erwies sich dann aber als expansiv, repressiv, Völker- und Menschenrecht missachtend. Er proklamierte souveräne Selbstbestimmung und »aufrechte nationale Haltung«, entwickelte aber dann die spezifisch israelische Mentalitätsmischung aus arroganter Missachtung des »Fremden«, provinziellem Kniefall vor dem »Westen« und selbstviktimierender Larmoyanz, basierend auf der Grundüberzeugung, dass alle Welt »gegen uns« sei. Von der objektiven Abhängigkeit von den USA und der sich daraus ergebenden Haltung des souveränen Schnorrers und stolzen Bittstellers, die freilich im Geflecht großer geopolitischer Interessen eingebettet ist, soll hier geschwiegen werden.

Nachhaltiger aber stellt sich die Frage nach der realen Motivation des historischen zionistischen Vorhabens angesichts der aktuellen Situation der eklatanten politischen Ausweglosigkeit. Warum betreibt der Zionismus seinen eigenen Untergang? Warum lässt er es zu, dass der religiöse Messianismus seine Zukunft bestimmt? Warum unterwandert Israel systematisch den Frieden, indem seine jüdischen Bürger immer wieder Parteien wählen, aus denen Regierungen gebildet werden, die den Frieden als Realität, den Frieden als politische Verwirklichung nicht wollen? Warum widersetzt sich das zionistische Israel der einzigen Perspektive, die ihm seinen Fortbestand als zionistischer Staat zu garantieren vermöchte? Man drehe und wende es, wie man will – es gibt nur eine mögliche rationale Antwort darauf: Israel kann nicht verwirklichen, was der Zionismus nie gewollt hat. Der Zionismus hat wohl deklariert, dass er eine nationale Heimstätte für die Juden zu errichten gedenkt, hat sich dann aber von – aus welchen historischen Gründen auch immer generierten – Grundantrieben anleiten lassen, die der Sicherheit, vor allem aber der gesicherten Permanenz dieser Heimstätte durchgehend zuwider wirkten. Der Zionismus hat sich selbst bzw. seine proklamierten Ziele nie wirklich ernstgenommen. Er konnte nicht zeitigen, was er nicht wollte, und weil er nicht wollte, was er hätte nach eigenem Bekunden wollen müssen, ist seine Vision ein Märchen geblieben.

Der Zionismus treibt gegenwärtig seinem eigenen Untergang entgegen. Wird das auch das Ende Israels bedeuten? Wohl nicht das des materiell bestehenden Israels – Staaten und Gesellschaften lassen sich ja nicht eben-mal-so abschaffen. Aber das Ende des zionistischen Israels wird dieser Untergang zwangsläufig bedeuten. Ob dies einen nichtzionistischen Neubeginn mit emanzipativem Horizont zeitigen wird oder den langen Weg einer ruchlosen, faschistisch-repressiven Degeneration, kann zurzeit noch nicht vorausgesagt werden. Es wird – wieder einmal! – vom realen Willen der betroffenen historischen Kollektivsubjekte abhängen.

Über den Autor

Moshe Zuckermann, 1949 in Tel-Aviv geboren, ist Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel-Aviv. Als Sohn von Holocaust-Überlebenden entschloss er sich nach zehnjährigem Aufenthalt in Deutschland mit 20 Jahren zur Rückkehr nach Israel. Er gilt als profunder Kritiker israelischer Politik. Zuletzt erschien von ihm bei Promedia: »›Antisemit!‹ Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument« (2010, 3. Auflage 2014, als E-Book erhältlich).

Vorwort

Im Juli 2014 war es wieder einmal so weit. Ein »Anlass« hatte die Gewaltspirale zwischen Israelis und Palästinensern so hochgeschraubt, dass ein neuer Krieg anstand. Israels Süden, aber auch Tel-Aviv wurden von Hamas-Raketen beschossen; die israelische Luftwaffe bombardierte »strategische Ziele« im Gaza­streifen; die Hamas kurbelte die Propaganda des »Widerstands« gegen den »zionistischen Feind« an; das israelische Kabinett bestätigte die Rekrutierung von Zigtausenden Reservisten für eine mögliche Bodenoffensive, die dann auch kam, weil man sich mit einer »neuen strategischen Bedrohung« konfrontiert sah – dem weitverzweigten Tunnelsystem, das vom Gazastreifen bis an den Rand israelischer Siedlungen führt; die Palästinenser haben zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen bereits weit über 1000 Tote zu verzeichnen, unter ihnen viele Zivilisten, horrend viele Kinder; auf israelischer Seite sind es über 40 Tote, zum größten Teil Soldaten. In Israels Städten warnen Sirenen vor Luftangriffen; ganze Wohngebiete im Gazastreifen sind ein einziger Trümmerhaufen, dem Erdboden gleichgemacht. Das alte Szenario, das alte Spiel, neue Tote, neues Leid. Es war wieder, es ist immer wieder Kriegszeit.