Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Der Autor
Widmung
WAS BISHER GESCHAH …
DRAMATIS PERSONAE
PRÄLUDIUM: NOBLESSE OBLIGE
INTERLUDIUM: HIC HABITANT MONSTRA
ERSTER TEIL: – EWIGES LEBEN
WES’ BROT ICH ESS’ …
DÉJÀ-VU
DIE WANZE IM EIGENEN BETT
ODEM DES LEBENS
INTERLUDIUM: WUT UND TRAUER
ZWEITER TEIL: – DIE SCHLACHT AM WEISSEN BERG
SO REIHT EUCH EIN
SANTA MARIA!
WO GEHOBELT WIRD …
INTERLUDIUM: FREMDE ZUNGEN
DRITTER TEIL: – SIECHENBLÜTEN
ABSCHIED
PESTHAUCH
OPFERGABEN
INTERLUDIUM: DÜSTERE ERINNERUNGEN
VIERTER TEIL: – SILBERSTREIF
VERWANDTSCHAFT
BLUTIGE GEBURT
INTERLUDIUM: GIRLPOWER
FÜNFTER TEIL: – FLEISCH UND BLUT
INSANABILIS
IN SOLD UND BROT
AN KINDES STATT
(UN)HEILIGE BÜNDNISSE
HEXENBLUT
HÖLLENGLUT
EIGENTUM
INTERLUDIUM: LUXURIA
SECHSTER TEIL: – NEUER HERR, NIEMANDES KNECHT
UNMUT
JUGENDSÜNDEN
HUNGER
INTERLUDIUM: UNDANK IST DER WELTEN LOHN
SIEBTER TEIL: – WENN DIE TOTEN SICH ERHEBEN
FEUEREISEN
FAMILIENZUWACHS
INTERLUDIUM: UNGEBORENER TOD
ACHTER TEIL: – AUFSTAND!
TRAUTES HEIM …
WOLFSBLUT
INTERLUDIUM: AHNENKUNDE
NEUNTER TEIL: – SCHLACHT DER WÖLFE
MORGENGRAUEN
DIE SCHLACHT VON BREITENFELD
WOLFSDUELL
INTERLUDIUM: IN VINO VERITAS
ZEHNTER TEIL: – DER HEXE FLUCH
DIE LAST DER SÜNDEN
VERGANGENES GLÜCK
ABENDSTUND
HANDWERKSZEUG
O SEGENSREICHE NACHT
ANELMA
EPILOGIUM: EIN ENDE MIT SCHRECKEN
GLOSSAR
Danksagung
Copyright
Das Buch
Deutschland zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges: Das Land versinkt in grausamen Schlachten. Hunger und Seuchen fordern ihre Opfer – und auch die Adeligen und Wohlhabenden bleiben nicht verschont. Der Schwarze Tod macht keine Unterschiede. Diese bewegte Zeit nutzen uralte Geheimbünde aus Werwölfen, Hexen und Bletzern, um epochale Veränderungen vorzubereiten. Und es ist vor allem Hagen von Stein, der seine finsteren Pläne umsetzen will. Denn der ehemalige Gotteskrieger wurde zu einem unsterblichen Leben als Diener der Wariwulf verdammt, und er hat nicht vor, die Ewigkeit unter dem Joch zu verbringen.
Deutschland im Jahr 2007: Der moderne Inquisitor Georg von Vitzhum, der in den Besitz der Chroniken des Hagen von Stein gelangt ist, begibt sich auf die Jagd nach den finsteren Kreaturen. Die Menschheit ahnt nichts von den verborgenen Zusammenhängen. Doch Georg macht sich auf, die größte Verschwörung aller Zeiten aufzudecken …
DIE CHRONIKEN DES HAGEN VON STEIN
1. Roman: Hexenmacher
2. Roman: Teufelshatz
3. Roman: Wolfsfluch
Der Autor
André Wiesler, geboren 1974, machte sich nach seinem Studium der Literaturwissenschaften einen Namen als Autor von Shadowrun – und DSA-Romanen. Nach einer Karriere als Comedy-Autor für TV-Produktionen wie »RTL-Samstag Nacht« arbeitet er inzwischen als Übersetzer und leitet als Chefredakteur das Rollenspiel »LodlanD« sowie das Magazin Envoyer. André Wiesler lebt mit seiner Familie in Wuppertal.
Mehr zu Autor und Werk unter: www.andrewiesler.de
Für Johannes.
Gold ist zu leicht, um deine Freundschaft aufzuwiegen.
WAS BISHER GESCHAH …
Anfang des 15. Jahrhunderts
Hagen von Stein wächst auf der Burg Aichelberg zum jugendlichen Ritter heran. Dabei hat er nicht nur Probleme mit seinem Ziehbruder Albrecht, sondern auch wegen seines geheimen Erbes: Er ist ein sogenannter Wariwulf, ein Werwolf, einer der heiligen Krieger Gottes. Doch davon dürfen nur auserwählte Personen etwas erfahren, die Mitewist.
Albrecht tritt in die Dienste König Wenzels von Böhmen. Unterdessen lernt Hagen die Werwolfgestalt nach Belieben anzunehmen und wird in die heilige Gemeinschaft der Wariwulf aufgenommen. Durch den Ritter Heinrich von Augsburg kommt er in die Dienste König Sigmunds. Nach einem gescheiterten Auftrag des Königs flieht Hagen nach Prag.
Dort treffen die Brüder einmal mehr aufeinander, denn Albrecht ist auf der Suche nach einer heilenden Reliquie, um den siechenden König Wenzel zu retten. Dabei vergreift er sich an einem Freund Hagens und tötet den Wariwulf beinahe.
Hagen will Albrecht bei der Reliquie zuvorkommen, diese ist jedoch bereits von einem unbekannten Dritten gefunden worden. Während Hagen sich in Prag ein neues Leben als Oberst der Stadtwache aufbaut, hetzt Albrecht dem wundertätigen Gegenstand hinterher. Als er ihn Jahre später endlich in den Händen hält, stirbt Wenzel jedoch, bevor er ihn erreichen kann. Er schwört Hagen Rache, den er für alles verantwortlich macht.
Die Gelegenheit kommt, als Hagen die schöne Kristyn heiraten möchte. Der Aufstand der Hussiten verhindert die Hochzeit, und Albrecht tötet die junge Frau. Hagen gerät darüber so in Wut, dass er zahlreiche Aufständische tötet, die er für schuldig am Tode Kristyns hält.
Um dafür zu büßen, zieht er sich in ein Kloster zurück, wo er Ulda trifft, eine von Visionen geplagte Frau. Sie schickt ihn zu einer Pilgerreise auf den Jakobsweg, wo er nach langen Wochen der Wanderschaft auf den Johanniterritter Marius trifft, der ihn wieder zu den Waffen ruft.
Hagen kehrt zum Kloster zurück. Schreckliche Missverständnisse sorgen dafür, dass Ulda sich von Hagen benutzt und verlassen fühlt und so in die Fänge von Wenke gerät, der früheren Amme und Geliebten Albrechts.
Albrecht zieht aus, um König Sigmund zu töten, die Tat auf die Wariwulf zu schieben und damit seine Rache zu vollenden. Hagen erfährt über eine frühere Vision Uldas davon und tötet Albrecht in einem dramatischen Kampf.
Hagen erkennt, dass er nur mit Ulda glücklich werden kann, doch als er bei ihr eintrifft, ist sie vom Schmerz und von Wenkes Einflüsterungen so verrückt, dass sie Hagen ohne dessen Wissen seinen eigenen Sohn als Mahl vorsetzt. Wegen des Verzehrs von Menschenfleisch wird er in einen Bletzer verwandelt, einen untoten Diener der Wariwulf. Allein sein treuer Freund Eberwin, selbst Bletzer und früher sein Diener, steht ihm in diesem schweren Schicksal bei.
Deutschland im Jahre 2007
Georg von Vitzthum ist als Mitglied der Correctores Haereticorum, einer von der Inquisition gegründeten Organisation, auf der Jagd nach übernatürlichen Wesen. So sieht er es als großes Glück an, als er in den Besitz der »Chroniken des Hagen von Stein« gelangt. Hagen von Stein ist ihm als mächtiger Vampir bekannt, und Georg erhofft sich von dem Folianten wichtige Hinweise darauf, wie er zu besiegen ist.
Wenig später muss Georg erfahren, dass die Hagr umgebracht wurde. Im Verdacht steht eine Hexe im Dienste des Vampirs Carteaumois, der rechten Hand Hagen von Steins.
Als Georg und sein treuer Kollege Rigel ein von Kultisten betriebenes alchimistisches Labor ausheben, treffen sie dort auf Dräger, einen sadistischen Werwolf, der sich ebenfalls in Carteaumois’ Diensten befindet. Dräger kann entkommen.
Wenig später stellen Rigel und Georg die Hexe Carteaumois’, die nach einem Kampf jedoch ebenfalls fliehen kann.
Dräger überrascht Georg in dessen Wohnung und fordert ihn auf, sich mit seinem Herrn Carteaumois zu treffen. Dabei erniedrigt er Georg und bedroht seine Eltern. Die Korrektoren statten Georg mit der heilenden Reliquie aus, um die bereits Hagen und Albrecht stritten, sowie mit dem Schwert Balmung, das auch Werwölfen bleibende Wunden schlägt. Derlei ausgerüstet, begibt sich Georg mit Rigel zu seinem Treffen mit dem zweitmächtigsten Vampir des Landes …
DRAMATIS PERSONAE
17. Jahrhundert
Anelma - Eine sadistische Hecetisse
Carteaumois, Edgard Perceval Modeste - Französischer Soldat, später untoter Diener Hagen von Steins
Eberwin – Bletzer, treuer Freund und Gehilfe Hagens
Hagr (Die Alte vom Wald) - Uralte Hagr, die Hagen von Steins Leben begleitet und ihn schließlich zum Bletzer gemacht hat
Roser - Vogt, aufbrausender Besitzer von Hagen und Eberwin
Roser, Emma - Tochter Rosers
Upuaut - Orientalischer Ingredienzienhändler
Volpert, Melchior, Gerd von Grabhausen, Peter Staller, Jürgen Linsheimer, Jeronimus – Bletzer in den Diensten Hagen von Steins
Von Stein, Hagen - Ehemals Wariwulf und Ritter, nun Bletzer
Von Stettler, Egon Ludwig - Wariwulf, Intrigant und Ränkeschmied
Von Stettler, Gesche - Tochter Egon Ludwigs, weibliche Wariwulf
Von Stettler, Richard Maria - Sohn Egon Ludwigs
2007
Acheloos – Ein exzentrischer Seher, lebt in der Kanalisation
Carteaumois – Vampir, rechte Hand Hagen von Steins
Dräger – Werwolf im Dienste Carteaumois’
Germann - Vorgesetzter Georg von Vitzthums
Jasper - Computerexperte der Correctores Haereticorum
Karl – Ermordeter Kollege Georg von Vitzthums.
Leandra Siegen - Eine Hagr
Pater Liegnitz – Exorzist, Kollege Georg von Vitzthums
Rigel - Soldat der Inquisition, Kollege Georg von Vitzthums
Von Stein, Hagen – Bletzer, Anführer der Vampire
Von Vitzthum, Georg - Inquisitor, Mitglied der Correctores Haereticorum
Wernicke - Zwielichtiger Reliquienhändler mit magischen Fähigkeiten
PRÄLUDIUM: NOBLESSE OBLIGE
Hostiwitz, nahe Prag, anno Domini 1618, 11. April, zur Abenddämmerung
Anne Grete von Haugwitz blickte mit Abscheu auf die Quelle des Schweißgestanks herab, der ihr durch das Fenster der Kutschentür in die Nase gestiegen war. Kurz war sie versucht, die hochgereckte Hand des Wirts abzuweisen, die er ihr wie zum Tanz aus einer halben Verbeugung darreichte, und die ausgeklappte Leiter ohne Hilfe hinabzusteigen. Aber da verfing sich ihr ausladendes Hüftpolster in der engen Tür, und als sie den Ruck mit dem Oberkörper ausgleichen wollte, kam ihr das Gestänge ihres Mieders in die Quere. Schnell griff sie nach der Hand, um nicht vornüber auf den mit Schweinedreck übersäten Hof zu fallen, und verwandelte den Sturz in einen hurtigen Ausstieg.
Der raue Ärmelrock des Mannes, ohne Weste getragen, und die schmale Hose über nackten Waden und Füßen unterstrichen seinen niederen Stand. »Bonjour, Madame«, versuchte er sein heruntergekommenes Etablissement mit etwas Französisch zu vergolden, doch da er es »Bock-Schur, Matt-Hamm« aussprach und die Worte auf einem Schwall sauren Zwiebelgestanks reisten, stellte er in Annes Augen nur die geringe Qualität seines Gasthofs heraus. »Wollen Matt-Hamm noch etwas speisen?«, setzte er hinzu, und Anne musste ihm die Hand förmlich entreißen, was jedoch wegen der sämigen Schicht aus altem Schweiß und Dreck nicht schwerfiel. Sie zog ein Tuch hervor, um sich die feinen, mit zahlreichen Ringen geschmückte Hand abzuwischen, und richtete dann mit geübter Geste Mieder und Hüftpolster unter dem weit ausladenden Rock. Da ihr »Gastgeber« noch immer halb gebückt stand, was wohl seinem krummen Rücken zuzuschreiben war, musste sie sich vorbeugen, um ihn an der weißen Wölbung ihrer wie zu Eisen gestärkten Kröse vorbei überhaupt sehen zu können, als sie ihm antwortete: »Non, merci. Ich gedenke mich sofort zur Ruhe zu legen.«
Sie fragte sich einmal mehr, was ihren zukünftigen Gemahl Jost Hermann von Hrobschitz geritten hatte, sie auf ihrer Reise von Leipzig nach Prag nur in den übelsten Kaschemmen logieren zu lassen. Und erneut war die Antwort ebenso offensichtlich wie unangenehm: der Geiz.
»Wie Matt-Hamm wünschen!«, sagte der Mann und bedeutete dem Kutscher, ihre Truhen abzuladen. Das entnervte Stöhnen, das sie an diesem wortkargen Kerl, ihrem einzigen Begleiter in den vergangenen Tagen, zu hassen gelernt hatte, lief ihr wie ein Schauder über den Rücken und fachte die Wut an, die sie, ganz Dame, stetig mit kühler Disziplin zu verlöschen pflegte.
Auch ihre Einsamkeit, wegen der zahlreichen Räuber auf den Straßen des Reiches überaus riskant, war der engen Öffnung der Geldkatze ihres Gemahls geschuldet. Ihre treue Freundin und Zofe Johanna, wie sie selbst kaum zwanzig Jahre alt, hatte sie entlassen müssen, da ihr Zukünftiger darauf bestand, bereits »genug Bedienstete für jede Gelegenheit« zu besitzen.
Während Anne sich mit gerafftem Rock dem Fachwerkhaus näherte, in dem die Räumlichkeiten untergebracht waren, und dabei den schwarzen Schweine- und, mon Dieu, Menschenklecksen auswich, polterten hinter ihr die Truhen aufs Pflaster. Zum Glück hatte ihr zukünftiger Gatte bereits alles Empfindliche ihrer Mitgift überstellen lassen, es dabei jedoch deutlich besser schützen lassen als sie selbst. Hätte ihr Herr Vater ihr nicht einige Kreuzer mitgegeben, sie hätte womöglich noch bei trockenem Reiseproviant darben müssen, was ihrer ohnehin zu schlanken Gestalt sicher nicht gutgetan hätte.
Das stickige Innere des Gasthofs war trotz der frühen Abendstunde gut gefüllt. Offenbar waren derzeit einige Reisende auf den Straßen Böhmens unterwegs. Es mochte mit dem Aufruhr der protestantischen Stände zusammenhängen, der in aller Munde war, doch Anne interessierte sich nicht genug für Politik, um zu wissen, warum das Volk sich erhob. Ihr Leben war von feinen Versammlungen und gesellschaftlichen Veranstaltungen bestimmt gewesen, bei denen es wichtiger war, den höfischen Knicks richtig zu verüben, als die Frage zu erörtern, vor welchem Herrscher man da knickste.
Die Gäste aber passten zu ihrer Vermutung, waren es doch zur Gänze einfache Männer und wenige Frauen in schlichter Kleidung. Anne ließ den Blick durch die Schankstube wandern. Das Mobiliar wirkte, als habe der Besitzer jeden Tisch und Stuhl hereingeschleppt, den er günstig erstehen konnte. Einfache Hocker fand man ebenso wie Bänke unterschiedlicher Länge und sogar den einen oder anderen Lehnstuhl. Runde und eckige Tische standen nebeneinander und in einem erkannte sie sogar ein kostbares Stück aus kunstvoll geschnitztem Nussholz. Inzwischen war es jedoch mit Bier- und Soßenflecken überdeckt, ebenso wie die verschiedenfarbigen Dielen am Boden. Alles hier wirkte ärmlich und dreckig.
Mit einem Mal wurde ihr Blick von dem Schmutz abgelenkt, in die Ecke zu einem Tisch nahe der Stiege. Dort saß ein Edelmann von vornehmer Blässe, der hier ebenso fehl wirkte, wie sie sich fühlte. Im von der Dämmerung rot gefärbten Licht der Sonne, das durch die schmalen, glaslosen Fenster auf ihn fiel, sah er aus wie in Blut getaucht.
Sein Anblick schien jedoch aus dem Zwielicht zu drängen, als nähere sie sich ihm an. So erkannte sie deutlich das schulterlange schwarze Haar, das ein kantiges Gesicht mit gepflegtem Spitzund Schnurrbart umrahmte. Die starken Muskeln an Brust und Arm bewegten sich unter einem blauen Ärmelwams, als er nun nach einem Becher griff und ihn mit einem sanften Lächeln zum Gruße hob. Er nahm einen Schluck, und als er den Becher wieder senkte, blieb Annes Blick an einem einzelnen Tropfen Wein auf seinen Lippen haften. Ein wohliges Schaudern durchfuhr sie, als der Fremde die rubinrote Perle noch immer schmunzelnd mit der Zungenspitze einfing.
Erst als der Gastwirt sich in einer Zwiebelwolke an ihr vorbeidrängte, bemerkte sie, dass sie dümmlich lächelnd und einer Dame gänzlich unwürdig im Raume stand, und fuhr den Wirt an: »Mein Zimmer, aber vite, vite!«
Der krumme Rücken des Wirtes bog sich noch weiter auf die schmutzigen Bohlen zu, dann eilte er wie ein taumelnder Säufer zur Treppe und hinauf. Anne folgte gemessenen Schrittes und zwang sich, nicht noch einmal zu dem Fremden zu sehen. Ihr war heiß und kalt zugleich, und das Mieder schien ihr stärker als sonst das Atmen zu erschweren.
Als sie die erste Stufe erreichte, entwanden sich ihre Augen jedoch den Zügeln, zuckten zum Tisch in der Ecke, und Annes Herz setzte einen Schlag aus, als ihr Blick auf die dunklen Augen des Edelmannes traf und für einen Moment darin versank. Was war nur mit ihr los? Im Gegensatz zu ihren Schwestern und Cousinen hatte sie nicht die Angewohnheit, den Männern hübsche Augen zu machen und womöglich das Lager mit ihnen zu teilen. Sicher, auch sie hatte schon, ganz im Verborgenen, die Freuden körperlicher Liebe gekostet und genossen, doch sie lief den Männern nicht nach wie eine läufige Hündin den Rüden. Schnell riss sie sich los und eilte, ganz undamenhaft auf der Flucht vor diesem ungewohnten Gefühl, mit gerafftem Rock die Stufen hinauf.
Oben angelangt, führte sie der Gastwirt in ein kleines Zimmer unter dem Dach, dessen zwei schmale Bettgestelle sich an die Wände drückten, als wollten sie nichts miteinander zu tun haben.
»Für Sie ganz allein, Matt-Hamm! Sie sollten den Riegel vorlegen!«, verkündete er und streckte unbescheiden die Hand vor.
Anne nickte, drückte ihm gedankenverloren einen Kreuzer in die Hand, schob unmittelbar hinter ihm die Tür zu und legte in derselben Bewegung den Riegel vor. Dann sank sie auf eines der harten Betten, das wenig mehr als Stroh auf einer Pritsche war, und musterte es skeptisch. Wegen ihrer ungewöhnlich hochgewachsenen Gestalt würde sie so eben hineinpassen.
Sie würde den Kutscher anweisen lassen müssen, ihr die Sachen für die Nacht zu bringen. Von allein würde er sich nicht daran entsinnen, dachte sie und betrachtete die roten Streifen auf dem Holz, die von der abendlichen Sonne durch die Rillen der Schlagladen dorthin gemalt wurden.
Ihre Augen hielten sich daran fest, und ihre Hände glitten ordnend über das Obergewand, prüften schließlich die aufgesteckten Haare. Doch ihre Gedanken taumelten bei diesen gewohnten Handlungen weiter. Welch ein schöner, edler Mann, beinahe wie ein junger Kaiser Matthias, nein, noch stärker, noch … mannhafter. Sie schüttelte den Kopf und verlachte sich einmal kurz und hell, aber nicht sehr überzeugend. Sie hatte den Kaiser bisher nur ein Mal auf einem Gemälde gesehen, und auf die gleiche Weise hatte sie auch ihren Zukünftigen erst einmal gesehen. Selbst wenn sie sich der irrigen Hoffnung hingab, der Künstler habe ihren Jost nicht nach gängiger Praxis geschönt, sondern sei der Natur aufs Genauste gefolgt, war er kaum ansehnlich zu nennen. Zu schmal die Brust, zu klobig das Kinn, zu erkerhaft die spitze Nase zwischen tief liegenden Augen.
Nun fanden ihre Finger die Falten des Rockes und das ausladende Polster. Wie gern hätte sie selbst mit einem formschön ausladenden Gesäß zu dieser Pracht beigetragen, aber die Natur hatte sie mit schlankem Becken und flacher Brust gestraft. Ihr Gesicht wurde häufig für seine zarten Formen und die warmen Augen gelobt, doch das reichte den meisten Männern nicht. Ihre Gedanken fanden, wie von einer Spur aus Brotkrumen geleitet, wieder den Weg zu jener stattlichen Gestalt dort unten. Ob er sich wohl mit ihren mangelnden Rundungen begnügen würde?
Sie stellte sich vor, wie es wäre, dieses feine, dunkle Haar zu berühren, die Muskeln zu spüren; ahnte, auch wenn sie nicht wusste, warum, dass er weder nach Schweiß noch nach Bier stinken würde wie all die anderen Männer. Wieder schüttelte sie den Kopf, um diesen unverschämten Wunsch aus ihrem Kopf zu vertreiben, und blickte erstaunt auf den nun streifenlosen, dunklen Boden. Die Sonne war längst untergegangen. Sie konnte doch unmöglich so lang hier gesessen und törichtem Wunschdenken nachgehangen haben? Das Tagträumen war doch sonst nicht ihre Art. Ihr lief ein Schauer über den Rücken, denn es war ihr, als habe man ihr wertvolle Stunden der Freiheit gestohlen, bevor ihr die Fesseln der Ehe angelegt wurden. Sie wollte eine gute und damit auch treue Ehefrau sein – im Gegensatz zu zahlreichen ihrer Verwandten -, und so erschien ihr die Verlockung wie eine Verheißung, vor dem Ehegelöbnis noch einmal …
Es klopfte, und sie zuckte so stark zusammen, dass sie beinahe von der Kante des Bettes gerutscht wäre. Ihr Herz klopfte schnell wie der Flügelschlag einer Libelle, und Hitze stieg ihr in die Wangen.
»Wer ist da?«, fragte sie mit zitternder Stimme, kam sich ertappt vor und war zugleich ängstlich.
»Verzeihen Sie die Störung, edle Dame«, sagte eine dunkle, volle Stimme durch die Tür. »Bernhard von Grat mein Name.«
Von, dachte Anne, und ihr wurde schwindelig vor Aufregung. Sie hatte bisher nur eine Person im Haus gesehen, die sich wie ein Adeliger kleidete.
»Ich dachte mir«, fuhr der Mann fort, »dass Sie sicher von der Reise hungrig und durstig sind, aber es ist Ihnen selbstredend nicht zuzumuten, mit dem gemeinen Pack in einer schmutzigen Schankstube zu speisen. Darum …«
Die Tür schwang auf und offenbarte den Fremden davor, ein hölzernes Tablett mit Braten, Kuchen und Wein in der Hand. Hatte sie nicht den Riegel vorgelegt? Sie musste es wohl in ihrer Erregung vergessen haben.
Er war noch größer und stattlicher, als er im Sitzen gewirkt hatte. Die Kleidung war gepflegt und teuer, aber er trug entgegen der allgemeinen Sitte keinen Schmuck. Ihr Blick wanderte zu den Beinen, doch von ihrer zu vermutenden Wohlgestalt war wegen der kniehohen Stiefel und der weiten Hose kaum etwas zu erahnen.
Er trat ungebeten, aber auch ungehindert ein und vollendete seinen Satz: »… möchte ich Ihnen in aller Bescheidenheit meine Anwesenheit nebst Mahl, wenn auch frugalem, anbieten.«
Sein Schatten, vom heraufscheinenden matten Licht der Schankstube geworfen, bewegte sich über den Boden, schien den ihren zu liebkosen, ihre Füße zu umschleichen wie eine sanfte Sommerbrise – oder doch wie ein gieriger Wolf?
Dann war er bei ihr, und sie roch nicht den üblichen ranzigen Gestank, sondern nur eine kaum wahrnehmbare Note von Männlichkeit. Mit starker Hand, deren raue Haut bewies, dass er auch zupacken konnte – o ja, wie gern dürfte er zupacken! -, ergriff er ihre Finger und führte sie an seinen Mund. Der Bart war weich und gepflegt, seine Lippen heiß auf ihrer kalten Haut; sie ließen einen glühenden Strom ihren Arm entlanggleiten, der in ihrer Brust ein lohnendes Ziel fand.
Das Tablett, das er während einer vollendeten Verbeugung auf der Hand balancierte, schob er auf das Bett und lächelte sie dann fragend an.
Sie sollte ihn des Zimmers verweisen, hinter ihm verriegeln und sich schlafen legen. Morgen schon, allerspätestens übermorgen würde sie unter dem Dach ihres künftigen Ehegatten schlafen, wäre wenig später bereits mit ihm vermählt.
Ihr Blick verlor sich in seinen tiefen Augen, als er nun den Kopf schräg legte. Morgen schon … dies mochte ihre letzte Chance sein, in den Armen eines echten Mannes zu liegen. Und wenn sie sich schon einem Fremden hingeben wollte, dann doch am besten einem, der am nächsten Tag schon nicht mehr da wäre; ihren Namen vermutlich nicht einmal kannte; in ihr eine lohnende Eroberung sah, nur leise ahnend, dass in Wirklichkeit er die Eroberung war.
Was denkst du da?, fragte sie sich, verweigerte sich aber selbst die Antwort, als auf einen weiteren Blick seinerseits hin ein warmes Gefühl ihren Kopf erfüllte. Sie nahm neben dem Tablett auf dem Bett Platz. »Ich danke Ihnen, Herr von Grat«, sagte sie mit belegter Stimme.
Aus dem Krug schenkte sie Wein in die einfachen Tonbecher ein, um irgendetwas zu tun, außer ihn anzustarren, nahm einen Schluck und hätte ihren Becher beinahe fallen lassen, als der Mann sich mit unverhohlener Dreistigkeit nah neben sie setzte und ihr mit wohlriechendem Atem zuhauchte: »Bitte, für Sie Bernhard.«
»Was …«, stammelte Anne, und ihr Körper konnte sich mit einem Mal in dem engen Mieder nicht weit genug ausdehnen, um die benötigte Luft zu atmen. »Was glauben Sie, was Sie da tun?«
Statt einer Antwort lächelte der Mann, griff nach ihrer Hand und legte dazu den Arm um sie. Die Muskeln unter dem Stoff spannten sich, als er den Becher gegen ihren sanften Widerstand an ihrem Gesicht vorbei zu seinen Lippen führte. Sein Kinn ruhte fast auf ihrer Schulter – wo war ihr steifer Kragen geblieben? -, und als er nun mit feuchten Lippen ihren Hals entlangglitt, gab sie schaudernd jeden Widerstand auf. Schwer atmend ließ sie sich gegen ihn sinken, lag an seiner Brust und spürte die wohlige Leidenschaft über ihre Haut zu den Brüsten und Lenden wandern.
In einem letzten Aufwallen von Scham blickte sie zur Tür, doch die war verschlossen und der Riegel vorgelegt. Sie konnte sich nicht entsinnen, wann er dies getan hatte.
»Unwichtig …«, summte Bernhard an ihrem Ohr. Seine Stimme schien in ihrem Kopf nachzuhallen, jeden anderen Gedanken auszulöschen und durch wohlige Schauder zu ersetzen.
Er hatte recht, es war unwichtig. Wichtig war nur, dass er hier war, dass sie hier war. Sie konnte nicht anders, musste dem inneren Zwang folgen und den Kopf seinen Lippen nähern, aber er schob sie ein Stück von sich.
»Braten!«, sagte er, und sie schüttelte verwirrt den Kopf, sah auf das Tablett.
»Ein Stück Braten!«, wiederholte er und flüsterte dann: »Sie sollten sich stärken … vorher.«
Die Benommenheit in Annes Kopf nahm zu, und tatsächlich spürte sie nun einen nagenden Hunger. Sie richtete sich lächelnd auf, nun von aller Scham befreit und entschlossen, den Abend bis zur Neige auszukosten. Neckend sagte sie: »Du bist ein sehr bedachter Mann, Bernhard.«
Er lächelte ebenfalls, vorfreudig, gierig fast, und seine Augen schienen dunkler als zuvor. »Ich bin darauf bedacht, dass Sie bei guter Gesundheit sind, wenn es beginnt.«
Sie kicherte wie ein albernes Mädchen, schnitt sich mit dem scharfen, kurzen Messer ein Stück Braten ab, verfehlte aber im ersten Versuch ihren Mund, als sei sie volltrunken. Überrascht bemerkte sie, dass ihre Hand zitterte. Dann biss sie zu, und das feste, salzige Fleisch schmeckte köstlich.
»Noch ein Stück!«, schlug der Mann vor, der noch immer erregend nah bei ihr saß, dessen Berührung sie jedoch durch die Röcke und das Polster kaum spüren konnte. Sie musste aus diesem vermaledeiten Kleid heraus!
»Schneiden Sie sich nicht«, mahnte Bernhard, als sie erneut ansetzte, und ihr schwindelte kurz. Sie schloss die Augen, da durchfuhr sie ein stechender Schmerz. »Au!«, sagte sie, aber die eigene Stimme klang ihr fern und sanft wie in Samt gehüllt.
Blinzelnd sah sie auf ihren Unterarm, an dem sich der Stoff des Kleides rot färbte, und mit einem Mal war das Mieder endgültig zu eng. Sie schnappte nach Luft, aber Schmerz und Atemnot waren zu viel. Sie sank vornüber, spürte, wie starke Arme sie auffingen, hörte noch Bernhards summende Stimme: »Schlaf jetzt.« Dann wurde es schwarz um sie.
Ein lautes Poltern weckte sie. Matt schlug Anne die Augen auf und sah sich um. Sie lag, nur mit einem Unterrock bekleidet, im unbequemen Bett des Gasthauses. Neben ihr am Boden stand ein Tablett mit kaltem Braten, trockenem Kuchen und einem leeren Weinkrug in der grellen Morgensonne. Woher kam dieses Tablett? Richtig, jemand hatte es ihr gebracht. Aber wer? Und hatte sie gar den ganzen Wein allein getrunken?
Es klopfte erneut so laut an die Tür, dass sie die Augen zusammenkniff, weil jeder Schlag in ihrem dumpfen Schädel nachhallte. Als sie die Hand an die Stirn legte, durchzuckte ein Schmerz ihren Unterarm. Sie blickte darauf und sah einen durchgebluteten Fetzen darumgebunden. Er stammte von einem ihrer Unterröcke. Dann erinnerte sie sich: Sie hatte sich geschnitten. Wie ungeschickt von ihr!
Sie richtete sich auf und sah den Übeltäter, das blutige Messer, neben dem Tablett auf dem Boden liegen. Wieder klopfte es, und wütend schnappte sie: »Ja, doch!«
»Wir müssen los«, plärrte ihr Kutscher und setzte mit langer Verzögerung nach, als wolle er ihr die höfliche Anrede eigentlich vorenthalten: »Meine Dame. Sonst erreichen wir unser Ziel nicht vor Sonnenuntergang.«
»Ich komme«, sagte Anne, die das vage Gefühl hatte, als sei ihr in der vergangenen Nacht etwas entgangen, auf das sie sehr erpicht gewesen war. Zögerlich setzte sie sich auf und merkte, dass sie kaltschweißig und zittrig war. Nie wieder solche Mengen Wein auf nüchternen Magen, versprach sie sich, und verlor damit die letzte Erinnerung daran, dass sie am gestrigen Abend nicht allein gewesen war.
INTERLUDIUM: HIC HABITANT MONSTRA
Georg von Vitzthum löste den Blick von der vorbeiziehenden nächtlichen Straße vor dem Fenster des Mercedes. In fast allen Häusern brannte noch Licht, und nur das erinnerte ihn daran, dass neben Rigel und ihm auch andere Menschen da draußen lebten – normale Menschen. Früher einmal hatte er sich selbst zu dieser Gruppe gezählt. Sogar nachdem er den Correctores Haereticorum beigetreten war, damit der Inquisition diente und seinen ersten Werwolf in Aktion erlebt hatte, war er der Meinung gewesen, die Welt habe sich zwar verändert, aber er sei noch immer derselbe. Heute wusste er es besser: Die Berührung mit dem Übernatürlichen zog jeden in die dunkle Welt hinter dem Spiegel.
Wie sehr wünschte er sich, nun dort oben in einem der Häuser zu sein und auf einer durchgesessenen Couch ein stumpfsinniges Fernsehprogramm über sich ergehen zu lassen. Dazu vielleicht ein kaltes Bier … Stattdessen musste er sich mit kaltem Schweiß begnügen, der ihm auf die Stirn trat, als er sich vor Augen rief, was ihr Ziel war. Sein Spiegelbild in der Windschutzscheibe, das auftauchte, wann immer draußen die Dunkelheit die Überhand gewann, sah entsprechend nervös aus. Die fingerlangen blonden Haare nahmen das matte Blau des Armaturenlichts auf, und die eigentlich braunen Augen blickten unter den gefurchten Brauen wie Onyx in die Nacht. Georg fuhr nachdenklich die beiden vom Schattenspiel tiefer erscheinenden Falten nach, die sich wie Schnitte von seiner Nase bis zum Mundwinkel zogen. Sie schienen sich mit jeder übernatürlichen Begebenheit weiter in sein Gesicht zu graben und verschärften seine Züge.
Carteaumois, der Vampir-Gehilfe des einflussreichsten Blutsaugers im Lande, hatte ihn zu einem Treffen »geladen«, und lediglich die vom Vatikan geschickten mächtigen heiligen Gegenstände sorgten dafür, dass er nicht vor Panik aus dem fahrenden Wagen sprang. Doch auch sie konnten die Chancen, dass er diese Nacht überlebte, nur verbessern.
Die dumpfen R’n’B-Bässe aus dem Radio verklangen und wurden durch die Stimme einer jungen Frau ersetzt, die Queens berühmte Rockballade zu seichtem Popgeträllere verwässerte: »Who wants to live forever …«
Georgs Blick ruckte zum Bedienteil des Autoradios, um sich zu vergewissern, dass dieses höhnisch klingende Lied wirklich über den Äther geschickt wurde und nicht von der CD stammte. »Eins Live«, verkündete die Anzeige den Namen des Radiosenders. Hatte Rigel also doch nicht plötzlich einen Sinn für Humor entwickelt.
Das hätte Georg bei dem großen, durchtrainierten Soldaten auf dem Fahrersitz auch gewundert, dessen kantige Gesichtszüge wie in Stein gemeißelt wirkten. Er arbeitete nun schon eine Weile mit dem wenig älteren Mann zusammen und konnte die Gelegenheiten, zu denen der kampferprobte Kerlinger einen Scherz gemacht hatte, an einer Hand abzählen. Ebenso viele Finger würde er brauchen, um anzuzeigen, wie oft der Mann ihm schon das Leben gerettet hatte …
Das Schicksal hingegen bewies Sinn für Humor, denn die Künstlerin sang nun: »There’s no chance for us – it’s all decided for us.«
Alles vorherbestimmt? Wirklich? Keine Chance? Er zog die Lederhandschuhe aus und strich mit den nackten Fingerspitzen über die verbogene, schartenübersäte Klinge, die auf seinen Oberschenkeln ruhte. Sie drückte sich tief in den dunkelblauen Anzugstoff, und kurz befürchtete Georg, sie könne hineinschneiden.
Balmung – das Schwert Siegfrieds, des Drachentöters. Eine der wertvollen, äußerst seltenen Waffen, mit der man Werwölfen bleibende Wunden schlagen konnte.
Ein stechender Schmerz fuhr durch seinen Finger, als er sich an einer der Scharten schnitt. Sofort drang eine wohlige Wärme von der Brust aus in seinen Körper, schien kurz zu zögern und erfüllte dann seinen Finger. Der Schnitt verschwand, noch bevor sich der erste Blutstropfen hatte lösen können.
Wer will schon ewig leben, wenn die Liebe sterben muss? Eine gute Frage von Queen – echte Alltagsphilosophie. Vielleicht eine Frage, die er Carteaumois stellen sollte, dem verdammten Vampir!
Andächtig legte Georg die Hand auf die Brust, dorthin, wo die mächtige Reliquie ruhte. Ein goldenes Kreuz, in das ein Dorn der Krone Jesu eingearbeitet worden war. Solange er diesen Beweis für Gottes Macht am Körper trug, würde jede Wunde, gleich welcher Art, auf wundersame Weise heilen.
Er würde vielleicht nicht ewig leben, aber mit dieser geheiligten Ausrüstung standen zumindest die Aussichten nicht schlecht, dass er die Nacht überstehen würde.
»Who waits forever anyway?«, beendete die unbekannte Sängerin ihr Lied, und Georg wurde bewusst, wie alt er geworden war – sogar diese Cover-Version war bald schon wieder ein Oldie. Eigentlich ein lächerlicher Gedanke mit Anfang dreißig …
Carteaumois würde jedoch keinesfalls ewig warten, und so beugte sich Georg vor, zog Mantel-, Anzug- und Hemdsärmel beiseite, um eine Minute vor Mitternacht von seiner Breitling abzulesen, und fragte Rigel: »Wie weit noch?«
Der deutlich größere Mann saß wie eine Statue auf dem Fahrersitz; nur seine unnatürlich blauen Augen regten sich bei der Fahrt über die gerade Talstraße. Jetzt zuckte der Zeigefinger, um die Lautstärke des losplappernden Radiosprechers mittels der Knöpfe am Lenkrad zu verringern.
Wie eine dieser Plastikfiguren, die Frauen neben sich auf dem Beifahrersitz platzieren können, wenn sie allein unterwegs sind, schoss es Georg durch den Kopf, und die Anspannung formte daraus einen kurzen Trailer für sein Kopfkino: Kaufen Sie jetzt einen Rigel, dann erhalten sie einen zweiten für die Couch kostenlos dazu. Georg unterdrückte ein Kichern.
»Zwei, vielleicht drei Minuten«, antwortete Rigel mit heiserer Stimme, die ihn eher wie einen Triebtäter als einen Frauenbeschützer klingen ließ. »Er wird auf Sie warten.«
Natürlich würde er das. Der Bletzer würde kaum seinen widerwärtigen Schoßhund Dräger zu einem Besuch bei Georg schicken, um ihn und seine Familie zu bedrohen, ein Treffen vereinbaren und dann wegen einer Verspätung von zwei Minuten beleidigt davonstürmen.
Es war wahnwitzig viel geschehen in den letzten Tagen. Vom Beobachter war Georg durch einen Kopfsprung in die dunklen Fluten des Übernatürlichen zu einem aktiven Mitspieler in den Ränken der Unsterblichen und Gestaltwandler geworden. Seit die uralte Hagr ihm vor dem Kölner Dom – kurz bevor eine andere Hexe ihr den Tod gebracht hatte – die »Chroniken des Hagen von Stein« in die Hand gedrückt hatte, hatte sein ohnehin seltsames Leben noch eine Schippe Wahnsinn nachgelegt. Ein Buch, das sich jeder Digitalisierung widersetzte, grausame Morde, Kämpfe auf Leben und Tod mit Carteaumois’ Schergen … all das verbesserte seinen Nachtschlaf nicht wirklich.
Georg ließ sich wieder in den Sitz sinken, und mit einem Mal wurde der Drang beinahe unerträglich, Rigel anzuschreien, er möge sofort umdrehen, Gas geben, und so viel Abstand wie möglich zwischen sie und den grausamen Vampir bringen. Die Bilder seiner Opfer, blutleer und verdreht, viele vor dem Tode noch missbraucht und gefoltert, stiegen vor seinem inneren Auge auf; plötzlich sah er auch sich dort liegen, als blasses Polaroid-Foto auf Rigels Schreibtisch.
Georg schloss die Augen, faltete die zitternden Hände zum Gebet und suchte, wie so oft, Kraft in der Nähe zu Gott. Die vertrauten Worte des achten Psalms glitten durch seinen Geist, und die Silben verwandelten sich in Pfosten, an denen er sich in den Gezeiten einer grausamen Welt festklammern konnte. Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen …
Sicher, es fiel leichter, voll und ganz an den Allmächtigen zu glauben, wenn eine heilende Reliquie seine Existenz bewies – aber warum sollte ihm nicht auch einmal etwas leichtfallen?
»Vitzthum«, grollte Rigel, und als Georg die Augen öffnete, warf der Ex-Soldat ihm ein Mikrofunkgerät zu. »Der Chef will, dass Sie eines tragen.«
»Aber …«, wollte Georg einwenden, doch Rigel schüttelte nur kurz den Kopf und klopfte sich aufs Ohr, in dem ebenfalls ein kleiner Knopf ruhte. Zum ersten Mal fiel Georg auf, wie unförmig die Ohrmuschel unter dem millimeterkurzen Haar wirkte, verquollen, auf dem besten Weg zum charakteristischen Blumenkohlohr eines erfahrenen Nahkämpfers, der mit harten Bandagen trainierte. Darunter schimmerten weiß die Klebepflaster über den Kratzern, die er von Carteaumois’ Hecetisse verpasst bekommen hatte, als sie die für den französischen Vampir arbeitende Russin in ihrem unscheinbaren Einfamilienhaus gestellt hatten. Der Mann war glimpflich davongekommen – Georg erinnerte sich schaudernd an den verunstalteten Leichnam der alten Hagr, die Carteaumois’ Helferin in die Finger gefallen war.
»Nutzen wir jeden Vorteil, so lange es geht!«, sagte Rigel, und Georg war einmal mehr froh darüber, dass er diesen unerschütterlichen Mann an seiner Seite wusste – zumindest so lange, bis er den Wagen verlassen musste, denn Carteaumois war eindeutig gewesen: Er wollte Georg allein treffen.
Seufzend ließ Georg das Schwert zwischen seine Füße gleiten, öffnete Mantel und Jackett, schob den Pullover hoch und zog das Kabel durch den Kragen, um dann das Gerät an seinen Gürtel zu stecken und den Knopf in sein Ohr. Ein durchsichtiger Klebestreifen hielt das Mikrofon an seiner Kehle und ziepte an den Stoppeln des Dreitagebarts. Wenn er das überstehen sollte, würde er sich erst einmal mit Junk-Food vollstopfen, ausschlafen und sich dann wieder in ein ansehnliches Exemplar Mann verwandeln. In dieser Reihenfolge. Gleich nachdem er sichergestellt hatte, dass es seiner bedrohten Familie gut ging.
»…zeit von einer, vielleicht zwei Minuten«, hörte er Kohlmann noch sagen, als er das Gerät einschaltete. Der erfahrene Kerlinger hatte die Leitung des Einsatzteams inne. »Näher können wir nicht heran, ohne dass er uns bemerkt.«
»Sie werden sich schön fernhalten, Kohlmann. Egal, was passiert«, sagte Georg mit einer Entschlossenheit, die er nicht empfand. »Sind die Einsatztruppen am Haus meiner Eltern?«
»Gesichert«, gab Kohlmann zurück. Er war Profi genug, um solche John-McLane-Sprüche zu ignorieren, vor allem, wenn sie von Georg stammten, einem Mann ohne die militärische Ausbildung, auf welche die kämpfende Truppe der Inquisition so stolz war. Zudem vermutete er, dass Kohlmann vorrangig den Auftrag hatte, die Reliquien sicherzustellen, wenn das Gespräch für Georg unglücklich verlief.
»ETA eine Minute«, gab Rigel durch.
Also noch eine Minute bis zur Ankunft. Georg nahm das Schwert und klammerte sich an dem mit Leder umwickelten Griff fest. Weniger als sechzig Sekunden …
Da passierten sie auf der höher gelegenen Straße ihren Zielort, und Georg konnte durch das Fenster auf den neben den Bahnschienen liegenden Schrottplatz hinabschauen. Autoleichen waren wie verkrümmte tote Insekten aufeinandergestapelt und bildeten labyrinthartige Gänge mit genug Schatten, um ein ganzes Rudel Werwölfe darin zu verstecken. Das einzige Licht stammte von den wenigen noch erhellten Fenstern, die einige Meter über dem Schrottplatz wie die Grenze zu einer anderen, besseren Welt die Nacht erleuchteten.
Rigel bog ab, folgte der Straße in einer engen Kurve, die sie endgültig hinab zur Talsohle brachte, und ließ den Wagen schließlich vor der kurzen Zufahrt des Schrottplatzes ausrollen.
Das eiserne Tor stand offen. »Ich bin in der Nähe«, sagte Rigel, und Georg nahm es mit einem Nicken zur Kenntnis. Wenn Carteaumois ihn tot sehen wollte, war selbst Händchenhalten nicht nah genug.
Georg wagte nicht zu antworten, denn seine Stimme schien sich wie ein Einsiedlerkrebs in seiner Kehle verkrochen zu haben. Stattdessen drehte er das Schwert um, stieg aus und warf die Tür schnell wieder hinter sich zu, bevor er es sich anders überlegen konnte. Sofort fuhr der Wagen an, beschleunigte zügig, und während Georg noch mit dem Schwert rang, um es in die Scheide an seiner Hüfte zu bekommen, verschwand er um die Ecke.
»In der Nähe, hm?«, murmelte Georg und atmete einmal tief durch.
»Wir haben eine Sichtung«, gab Kohlmann durch. »Drei Personen – sie sind von einem Schleier umgeben, der Satellit kann sie nicht klar erfassen.«
Drei?, fragte sich Georg. Carteaumois, dazu natürlich Dräger, sein Hof-Werwolf und Lieblingsmeuchler … aber wer war der Dritte?
»Ich gehe jetzt rein«, funkte er und schaffte es, sich selbst so weit davon zu überzeugen, dass seine Beine sich in Bewegung setzten. Schon kurz hinter dem Eingang ragten die ersten Autoberge auf. Das Licht reichte gerade aus, dass er nicht über eines der zahlreichen Hindernisse stolperte, die in den Gassen lagen. Alte Reifen, gehäutete Sitze, ein klobiger Motorblock, eine fast dadaistisch anmutende Ansammlung von verchromten Stoßstangen, die man für einen späteren Abtransport mit Draht zusammengebunden hatte.
Als er einen kleinen Platz betrat, in dessen Mitte ein Gabelstapler mit Stahlrahmen um den Sitz stand, erklang Kohlmanns Stimme erneut: »Achten Sie darauf, sich …«
Plötzlich herrschte völlige Stille in seinem Ohr, und das war schlimmer als statisches Rauschen oder wimmerndes Klopfen unsauberer Frequenzen. Er war von der Außenwelt abgeschnitten. Für einen Augenblick war alles, was er hörte, das leise Klicken seiner unerschütterlichen Breitling. Da wusste er, wer die dritte Person war: Carteaumois’ Hecetisse!
»Monsieur von Vitzthum«, klang Carteaumois’ Stimme gut gelaunt durch die Gänge, hallte von den stählernen Kadavern wider und wurde von ihnen zerstreut, sodass Georg nicht genau wusste, wo sie herkam.
Hinter ihm knarrte es. Sofort wirbelte er herum, doch da war nichts. Plötzlich sauste etwas Großes, Schweres durch die Luft und landete mit metallischem Krachen auf dem Korb des Gabelstaplers. Eine riesige, viehische Gestalt stand dort witternd, blutrotes Fell bedeckte struppig einen nur entfernt wolfsartigen Leib, dessen Muskeln wulstig und dicht gepackt waren.
Die rudimentären, krallenbewehrten Finger des Wesens, dessen Schulterhöhe bald zwei Meter betragen musste, schlossen sich um den Stahlrahmen. Mit schrillem Kreischen glitten die rot angemalten Krallen über das Metall. Der riesige Kopf mit dem breiten Maul bewegte sich in der Nachtluft lauernd hin und her, und gelblicher Geifer troff durch das Gitter auf das Armaturenbrett des Gefährts.
»Monsieur Dräger kennen Sie ja schon«, sagte da Carteaumois’ trügerisch warme Stimme unmittelbar hinter ihm. Wieder wirbelte Georg herum, und der Bletzer stand kaum einen Meter entfernt. Er trug wie immer ausschließlich weiße Kleidung, heute einen langen Mantel über Stoffhosen und in akuter Geschmacksverirrung weiße Slipper. Sogar das kurze Haar und die Augenbrauen waren weiß gefärbt, doch die Farbe der Unschuld versickerte im Halbdunkel zu einem matten Grau.
Georg unterdrückte den Impuls, das Schwert herauszureißen und Carteaumois in den Leib zu rammen. Dräger hätte ihn zerfetzt, bevor er die Waffe ganz gezogen hätte, und auch wenn der Vargr ihn im ersten Ansturm dank der Reliquie hoffentlich nicht töten würde, wollte Georg doch erfahren, warum der Bletzer diesen ganzen Aufwand betrieb.
»Danke, dass Sie es so kurzfristig einrichten konnten. Mir ist bewusst, dass Sie gerade in diesen Tagen viel zu tun haben bei den Korrektoren«, sagte sein Gegenüber nonchalant, als ginge es um ein Geschäftsessen.
Eine bösartige kleine Stimme meldete sich in Georgs Kopf zu Wort: Vielleicht bist du ja beides – das Geschäft und das …
»Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir uns einmal unterhalten.« Der Mann sprach ohne den geringsten französischen Akzent. Er hatte ja auch vierhundert Jahre Zeit, ihn sich abzugewöhnen, erinnerte sich Georg und ging langsam zur Seite, um beide Gegner im Blick zu haben. Genauso wie seine Menschlichkeit.
Es war schwer zu glauben, dass dieser sportliche junge Mann mit der modischen Kurzhaarfrisur und der makellos weißen Kleidung für einige der grausamsten Verbrechen wider die Nächstenliebe verantwortlich war, die das junge Jahrtausend schon hatte mit ansehen müssen. Und das waren nur die, von denen Georg erfahren hatte, weil sie seine Arbeit unmittelbar betrafen. Das Aktenregal für den Buchstaben »C« im Keller des Büros der Correctores Haereticorum war beinahe so gut gefüllt wie das für den Buchstaben »S«.
Carteaumois wartete einen Augenblick, das auch nach modernen Maßstäben gut aussehende Gesicht in einem höflichen Lächeln gefangen und die Hand aufmunternd vorgestreckt, aber Georg ergriff sie nicht.
»Nun gut«, sagte Carteaumois und warf einen Blick über seine Schulter auf die Kante der Wrackmauern. Dort stand, erfasst von einem Wind, der nur für sie wehte, Carteaumois’ russische Hexe. Die vollen roten Lippen lächelten nicht, und so wirkte das hübsche Gesicht kalt wie eine Maske.
Georg suchte ihre schlanke Gestalt, die nun in ein wogendes rotes Sommerkleid gehüllt war, nach Spuren des Schusses ab, mit dem Rigel sie durch die Panoramascheibe ihres Unterschlupfes geschleudert hatte – es gab natürlich keine. Sie war immerhin eine Hecetisse …
Sie nickte Carteaumois zu und wischte sich das wehende blonde Haar aus dem Gesicht. Georg sah eine Plane unmittelbar neben ihr aus einem der Wagen hängen – das milchigweiße Plastik regte sich nicht.
»Dann werde ich dieses Gespräch wohl einseitig bestreiten«, sagte Carteaumois und verschränkte die Hände hinter dem Rücken, wie ein Lehrer, der zu einem längeren Vortrag ansetzte, und dabei – liebe Kinder – nicht gestört werden wollte. »Das ist mir ohnehin am liebsten.« Der Untote schmunzelte.
Aus dem Augenwinkel sah Georg, wie sich Dräger zum Sprung duckte. Seine gedrungene, hündische Vargr-Gestalt mit den verdreht wirkenden, wulstigen Gelenken und Muskeln hatte kaum etwas mit der tödlichen, aber eleganten Tiergestalt eines reinen Wariwulf gemein.
Das Monstrum stieß sich vom Gabelstapler ab, wobei es das schwere Gefährt auf die Seite schleuderte. Dräger segelte über sie beide hinweg, landete krachend auf dem Kies des Platzes und schlitterte aus.
Während Carteaumois sprach, umschlich Dräger sie, den massigen Leib nah am Boden, die im Halbdunkel glühenden Augen unverwandt auf Georg gerichtet. Doch zu seiner Verwunderung verspürte Georg eher Wut als Furcht vor der riesigen Kreatur – als menschliches Wesen konnte und wollte er Dräger nicht bezeichnen. Der Vargr witterte, und schnaubte wütend, als er keine Angst in der Luft fand. Knurrend schob er sich weiter um sie herum, bereit, sich beim geringsten Zeichen seines Herrn auf Georg zu stürzen.
»Hören Sie mir eigentlich zu?«, fragte Carteaumois scharf, und Georg bemerkte, dass er zu sehr von Drägers Imponiergehabe gefangen gewesen war, um den Worten des Vampirs zu lauschen.
»Nein«, gab er zu und brachte ein Achselzucken zustande.
Für einen winzigen Moment, in dem sich Carteaumois’ Augen verengten, spürte Georg, dass sich das unberechenbare Temperament des Mannes auf der Kante drehte wie eine angestoßene Münze, die auf beiden Seiten zur Ruhe kommen konnte. Dann lachte sein Gegenüber auf.
»Gratuliere, Monsieur von Vitzthum. Ich sehe nun, warum man so große Stücke auf Sie hält. Sie haben Schneid.« Carteaumois kam einen Schritt näher und streckte die Hand aus, um Georg auf die Schulter zu klopfen, aber der wich den perfekt manikürten Fingern aus.
»Kein Körperkontakt beim ersten Date«, stieß er hervor und behielt den Abstand bei, auch wenn er Dräger in seinem Rücken spürte.
Das Lachen verschwand, und Carteaumois nickte mit geringschätzigem Blick. »Sie wissen natürlich, dass ich Sie dazu bringen könnte? Und zu mehr?«
Georg schaffte es, das Erschaudern in sein Inneres zu saugen, es wie einen Aufschrei zu unterdrücken. Stattdessen nickte er, wie er hoffte, leichthin. »Sicher – aber Sie haben mich nicht hergerufen, um mich zu demütigen.« Oder dazu zu zwingen, geliebten Personen Schreckliches anzutun, zu dem ich mich nicht fähig wähne, hoffte er in Gedanken.
Der Bletzer ließ die Hände wieder nach hinten schwingen, legte sie in der Beuge seines Rückens zusammen und sagte, mit einem kurzen Seitenblick auf das Monstrum, das sie immer noch umkreiste: »Was ich soeben meinte: Sie, Monsieur von Vitzthum, und mit Ihnen die erlesenen Korrektoren, und meine Wenigkeit – wir verfolgen die gleichen Ziele: Ruhe, Frieden, Stabilität … und natürlich ein ungestörtes Zusammenleben.«
Georg spürte Wut in sich aufsteigen, und sie brach sich in einer trotzigen Antwort Bahn: »Da haben Sie etwas missverstanden. Unser Ziel ist es, Kreaturen wie Sie mit Stumpf und Stil auszurotten, den Boden mit Salz zu bestreuen und darauf zu hoffen, dass Mutter Natur niemals wieder etwas so Widernatürliches hervorbringt.«
Dräger blieb stehen und grollte lauter. Seine Lefzen bebten und offenbarten lange, scharfe Reißzähne, die in unnatürlich versetzten Winkeln und zwei Reihen das Maul zierten.
»Wirklich – Schneid!«, sagte Carteaumois und legte den Kopf lachend in den Nacken.
Plötzlich verstummte das Lachen, und bevor Georg auch nur mit der Wimper zucken konnte, hatte der Vampir die wenigen Schritte zwischen ihnen überbrückt, riss Georg zu Boden und landete schwer auf ihm.
Die Luft wurde Georg aus den Lungen gepresst, und seine Rippen knackten, aber die heilende Wärme des Amuletts blieb aus. Ein Schreck durchfuhr ihn, körperlich fühlbar, und schlimmer als der Aufprall: Konnte es sein, dass die Hecetisse die Macht der Reliquie unterband? Oder war nur die Verletzung zu gering, um die Wirkung zu spüren?
»Oder eher: Dummheit!«, schnarrte Carteaumois, presste Georgs Arme mit einer Stärke, die seine Gestalt Lügen strafte, auf den Boden und zog die Lippen hoch. Darunter befanden sich nicht mehr die blütenweißen runden Zähne, die ein so trügerisches Lächeln bilden konnten; zweiunddreißig Reißzähne hatten sie ersetzt, scharfkantig und schief wie das Gebiss eines Hais.
»Bedenken Sie, Monsieur von Vitzthum, wen Sie hier vor sich haben!« Blut lief an den Zähnen herab, da sie sich aus dem Zahnfleisch und über die nun dahinter verborgenen menschlichen Varianten geschoben hatten, und tropfte Georg ins Gesicht. Es war nur lauwarm.