Ernst Wolff

FINANZ-TSUNAMI

Wie das globale Finanzsystem
uns alle bedroht

ISBN (Print) 978-3-00-057533-4

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Für Mohamed Bouazizi – stellvertretend für alle, denen das gegenwärtige Finanzsystem die Chance auf ein menschenwürdiges Leben verwehrt.

Mohamed Bouazizi, 1984 geboren, ernährte nach dem Tod seines Vaters als Straßenhändler im tunesischen Sidi Bouzid seine Mutter und seine fünf Geschwister und machte selbst das Abitur. Im Januar 2011 untersagten ihm die Behörden mehrmals das Betreiben seines Gemüsestandes und entzogen ihm seine Waage. Mohamed übergoss sich in der Folge aus Verzweiflung mit Benzin. Sein Tod löste die Massenproteste des »Arabischen Frühlings« aus.

INHALT

Vorwort

1.Die neue Supermacht: Die Finanzmärkte

2.Eine erste Kurz-Diagnose

3.Der Ursprung des Systems: Bretton Woods

4.Die Macht hinter dem System: Die Federal Reserve

5.Ziemlich beste Freunde: US-Finanzwirtschaft und US-Politik

6.Der Erste Weltkrieg und seine heimlichen Finanziers

7.Nach dem Krieg: Die Wall Street hilft Deutschland wieder auf die Beine

8.Das Wall-Street-Prinzip: Profitieren und destabilisieren

9.Die Russische Revolution – erkauft und aus dem Ruder gelaufen

10. Deutschlands Finanzelite entscheidet sich für den Krieg

11. Ausländisches Geld hilft, Hitlers Kriegsmaschinerie zu ölen

12. Der Zweite Weltkrieg schafft die erste globale Supermacht

13. Neue Feindbilder müssen her: Sowjetunion und Kommunismus

14. Die Rüstungsindustrie will Krieg – und bekommt den »Kalten Krieg«

15. Die neue Finanzordnung: Der US-Dollar erobert die Welt

16. Der US-Dollar verliert seine Grundlage – und wird trotzdem stärker

17. Der Boom geht, der Neoliberalismus kommt

18. »Finanzielle Massenvernichtungswaffen« zeigen ihre Wirkung

19. Ein neuer Aufrüstungsgrund: Der »Krieg gegen den Terror«

20. Die Welt am Rande des Finanz-Abgrundes

21. Der verzweifelte Kampf gegen den Untergang

22. Was passiert, wenn der Tsunami einsetzt?

23. Sind wir machtlos?

Endnoten

Literaturauswahl

Register

Es ist gut, dass die Menschen der Nation unser Banken- und Geldsystem nicht verstehen, denn sonst hätten wir vermutlich noch vor morgen früh eine Revolution.1

– Henry Ford, Gründer der Ford Motor Company

VORWORT

Ob in den Bereichen Gesellschaft und Politik, Wissenschaft und Technik oder Wirtschaft und Finanzen – die Welt um uns herum verändert sich gründlicher und schneller als jemals zuvor. Gleichzeitig drohen wir unter einer Lawine von Informationen zu ersticken, die kein Einzelner mehr verarbeiten kann.

Als Folge dieser Entwicklung blüht das Spezialistentum. Wir haben es uns zur Gewohnheit gemacht, dem Urteil von Experten zu vertrauen. Sie sind unsere Blindenhunde in einer Welt, die so unübersichtlich geworden ist, dass wir uns nur noch mit fremder Hilfe darin zurechtfinden. Was aber, wenn ihre Informationen nicht stimmen? Was, wenn uns die Experten – aus welchen Gründen auch immer – ein falsches Bild der Wirklichkeit vermitteln? Wenn sie die Entstehung von Gefahren verschweigen, die uns Kopf und Kragen kosten können?

Dieses Buch soll dazu beitragen, ein Thema zu erhellen, auf das genau diese Befürchtungen zutreffen. Das Finanzwesen ist uns jahrzehntelang als ein Teilbereich der Wirtschaft präsentiert worden, der sich nur Fachleuten erschließt und normale Bürger nicht zu interessieren braucht, weil er ihr Alltagsleben nur am Rande berührt.

Das Gegenteil ist der Fall: Die Finanzwirtschaft prägt unser Leben wie kein anderer Lebensbereich jemals zuvor. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, hat sich die Finanzindustrie zur mächtigsten und alles entscheidenden Größe auf unserem Planeten entwickelt. Dabei lenkt und leitet ihr Führungspersonal die Geschicke der Welt großenteils aus dem Verborgenen und auf eine Art und Weise, die selbst bei genauer Betrachtung nur schwer zu durchschauen ist. Aus diesem Grund ist es einer Unzahl von Experten gelungen, uns jahrzehntelang über ihr wahres Wirken hinwegzutäuschen.

Die dramatischen Veränderungen der vergangenen Jahre, insbesondere der Beinahe-Crash von 2008, haben viele Menschen jedoch aufgeschreckt. Zu Recht, denn bei näherer Betrachtung des Finanzsystems stellt man fest, dass es bereits zweimal nur durch Notmaßnahmen am Leben erhalten werden konnte und dass es sich zurzeit auf einem Weg befindet, an dessen Ende Gewalt, Zerstörung und die vollständige Unterwerfung der Welt unter das Diktat einer winzigen Gruppe ultra-vermögender Personen stehen. Es ist also allerhöchste Zeit, den Experten zu misstrauen und sich selbst ein Bild von der Wirklichkeit zu machen.

Genau diesem Zweck soll das vorliegende Buch dienen. Es ist kein Fachbuch, das sich an ein Publikum mit einschlägigen Vorkenntnissen wendet. Im Gegenteil: Es ist vor allem für Menschen geschrieben, denen das Finanzsystem bisher ein Buch mit sieben Siegeln gewesen ist. Es versucht ganz bewusst, die vernebelnde Fachsprache der Finanzwelt zu vermeiden und die Entstehung, die Geschichte und die Funktionsweise unseres gegenwärtigen Finanzsystems in möglichst verständlicher und anschaulicher Form darzustellen und zu erklären.

Ziel des Autors ist es, einen Beitrag zur Lösung der in seinen Augen wichtigsten Aufgabe unserer Zeit zu leisten: Die von ihrer Arbeit lebenden Menschen in die Lage zu versetzen, der Finanzindustrie die Kontrolle über den Lauf der Welt zu entreißen und die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, um kommenden Generationen ein von sozialer Gerechtigkeit geprägtes, gewaltfreies und menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen.

1. DIE NEUE SUPERMACHT: DIE FINANZMÄRKTE

Dass »Geld die Welt regiert« wird von niemandem mehr ernsthaft bestritten. Die Art und Weise, wie es seine Macht ausübt, hat sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten allerdings erheblich verändert. Hielt sich vor allem das große Geld früher eher diskret im Hintergrund, so hat es diese Zurückhaltung weitgehend aufgegeben und sonnt sich heutzutage geradezu im Rampenlicht – vor allem in Gestalt der »Finanzmärkte«.2

Kaum eine Nachrichtensendung, in der nicht danach gefragt wird, was denn die Finanzmärkte zu dieser oder jener Entscheidung sagen. Werden wichtige politische Weichen gestellt, so wird zuerst einmal überlegt, wie denn die Finanzmärkte darauf reagieren könnten. Wollen Politiker oder Wirtschaftler Vorschläge der Konkurrenz in ein schlechtes Licht rücken, verweisen sie einfach auf deren negative Auswirkungen auf die Finanzmärkte.

Die Finanzmärkte scheinen zum Maß aller Dinge geworden zu sein. Wieso? Was hat ihnen so viel Macht verliehen? Wer ist für diese Entwicklung verantwortlich? Werfen wir einen kurzen Blick auf ihre Geschichte: Der Aufstieg des Finanzkapitals3, aus dem die heutigen Finanzmärkte hervorgegangen sind, begann im 19. Jahrhundert. Damals sorgten die Banken durch das Verleihen von Geld – die Kreditvergabe – dafür, dass die Industrie durch Investitionen wachsen konnte. Nach und nach gewannen sie durch die Einnahme von Zinsen immer mehr Macht und Einfluss, bis sie mit Beginn des 20. Jahrhunderts – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – das wirtschaftliche und politische Geschehen aus dem Hintergrund zu lenken und zu leiten begannen.

Getrieben vom Hunger nach immer höheren Profiten entstand ein zunehmend schärferer internationaler Wettbewerb. Er gipfelte in kriegerischen Konflikten, die von den Banken wiederum zur Kreditvergabe genutzt wurden. Nach zwei Weltkriegen übernahmen die vor allem durch diese Kreditvergabe zur Weltmacht aufgestiegenen Finanzinstitute der New Yorker Wall Street die globale Führung. Auf der Konferenz von Bretton Woods wurde 1944 von der Politik ein Währungssystem ins Leben gerufen, das ganz und gar auf die Bedürfnisse der Wall Street zugeschnitten war und die gesamte Welt der Herrschaft des US-Dollars unterwarf.

Der anschließende Nachkriegsboom4 schürte bei vielen Menschen die Illusion, dass nun auf der Grundlage ungebrochenen Wachstums ein Zeitalter des Friedens und des Wohlstands angebrochen sei. Mit dem Ende dieses Booms zu Beginn der siebziger Jahre stieß das Finanzkapital jedoch an die ihm gesetzten Grenzen. Die Politik reagierte und verhalf ihm im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts durch die »Deregulierung« – die Abschaffung zahlreicher rechtlicher Einschränkungen – zum größten Schub seiner Geschichte. Diese Deregulierung ließ den Finanzsektor förmlich explodieren und ermöglichte es dem internationalen Finanzkapital, sich zu einem erheblichen Teil von der Realwirtschaft5 zu lösen, ihre Größe innerhalb weniger Jahre um ein Vielfaches zu übertreffen und unter dem Namen »die Finanzmärkte« ein nie dagewesenes Eigenleben zu beginnen.

Dabei ist der Begriff »Finanzmärkte« selbst irreführend: Die klassischen Märkte waren Handelsplätze, auf denen sich Käufer und Verkäufer gleichberechtigt gegenüberstanden und der Preis der Waren durch das Wechselspiel von Angebot und Nachfrage bestimmt wurde. Die Finanzmärkte von heute haben weder mit Gleichberechtigung, noch mit Angebot und Nachfrage zu tun. Sie werden gelenkt, gesteuert und manipuliert, und zwar von den großen Investoren dieser Welt, d. h. internationalen Großbanken, Hedgefonds6, multinationalen Konzernen und – seit einiger Zeit in immer größerem Ausmaß – von den Zentralbanken.7

Auch wenn wir uns der Ursache häufig nicht bewusst sind, spüren wir alle tagtäglich die Auswirkungen: Das Geschehen an den Finanzmärkten beeinflusst die Höhe unseres Lebensstandards und entscheidet darüber, welche Ausbildungs- und Beschäftigungschancen wir haben, ob wir im Krankheitsfall abgesichert oder im Alter versorgt sind. Es legt fest, wer uns regieren darf und wann und unter welchen Umständen unsere demokratischen Freiheiten eingeschränkt werden können; wie weit Klima und Umwelt zerstört und bis zu welcher Höhe zukünftige Generationen mit Schulden belastet werden dürfen, die sie selbst nicht zu verantworten haben. Sogar die Frage, ob wir in Frieden leben oder von sozialen Unruhen oder gar von Krieg und im schlimmsten Fall von einer nuklearen Katastrophe bedroht werden, hängt letztlich vom Geschehen an den Finanzmärkten ab.

Trotz dieser enormen Bedeutung scheuen die meisten Menschen davor zurück, sich näher mit der Wirkungsweise und den Gesetzmäßigkeiten unseres Finanzsystems zu beschäftigen. Viele fürchten, die Zusammenhänge auch bei genauem Hinsehen nicht zu verstehen. Gleichzeitig aber verspüren sie auf Grund der von den Finanzmärkten ausgehenden Veränderungen ein zunehmend mulmiges Gefühl.

Kein Wunder, denn neben den am eigenen Leib gemachten Erfahrungen ist die arbeitende Bevölkerung der gesamten Welt heute mit einigen zutiefst beunruhigenden Entwicklungen konfrontiert. Eine der wichtigsten dürfte die Explosion der sozialen Ungleichheit sein. Die Hilfsorganisation Oxfam hat festgestellt, dass im Jahr 2014 fünfundachtzig Personen, im Jahr 2015 nur noch zweiundsechzig Personen und 2016 noch ganze acht Personen über das gleiche Vermögen verfügten wie die ärmere Hälfte der Menschheit.8 Das US-Magazin Forbes hat im März 2017 berichtet, dass die Zahl der Milliardäre 2016 weltweit um insgesamt 233 auf 2.043 und ihr Reichtum im selben Zeitraum auf 7,67 Billionen9 US-Dollar angestiegen ist.10

Auch wenn diese Zahlen nur grobe Schätzwerte sein können, so enthüllen sie doch mehr als nur ein krasses Missverhältnis. Sie verdeutlichen, dass der Einkommensabstand zwischen den Menschen, die ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, und denen, die von ihrem Vermögen leben können, nicht nur größer ist als jemals zuvor, sondern in einem nie dagewesenen Tempo zunimmt.

Hinzu kommt, dass dieser Trend durch die bestehenden Gesetze nicht abgemildert, sondern sogar noch gefördert und beschleunigt wird: Das Erbrecht begünstigt wohlhabende Erben gegenüber Bürgern aus einfachen Einkommensverhältnissen und das Steuerrecht bittet Arbeitseinkommen grundsätzlich stärker zur Kasse als angehäufte oder ererbte Vermögen – und zwar weltweit. Ganz zu schweigen von den zahllosen legalen Steueroasen11, die den Wohlhabenden und ihren Unternehmungen rund um den Globus zur Verfügung stehen, während Sparer, die ihr hart erarbeitetes Geld im eigenen Land anlegen, immer weniger Zinsen erhalten und sogar damit rechnen müssen, dass ihnen durch Negativzinsen ein Teil ihres Geldes genommen wird.

Auch die Zunahme militärischer Konflikte, die daraus resultierenden Flüchtlingsströme, die weltweite Aufrüstung und die immer häufigeren Terrorakte bereiten den Menschen Angst. Am tiefsten aber verunsichert sie das Verhalten von Politik und Medien: Während die Medien verkaufsfördernd zwischen Euphorie und Panikmache hin- und herschwanken, flüchten sich Politiker fast einhellig in Besänftigung, Beschwichtigung und Verharmlosung. Dabei wirken sie in Wirtschafts- und Finanzfragen oft überfordert, unzureichend informiert oder vollkommen ahnungslos und weisen vor allem für die jüngere Vergangenheit eine verheerende Bilanz auf.

Selbst nach dem Beinahe-Crash des globalen Finanzsystems von 2008 und während der immer wieder aufflackernden Eurokrise haben Politiker trotz zahlreicher Ankündigungen und Versprechungen nicht eine einzige wirksame Maßnahme getroffen, um die Auswüchse an den Finanzmärkten einzudämmen und gefährliche Fehlentwicklungen zu stoppen. Im Gegenteil: Zunächst haben sie die Verursacher der Krise über alle nationalen Grenzen hinweg für »too big to fail« (»zu groß, um sie zusammenbrechen zu lassen«) erklärt und sie vor dem Bankrott gerettet, indem sie private Verluste durch öffentliche Gelder (Steuern) ausglichen. Seit 2008 lassen sie ihnen unter dem Vorwand, die lahmende Wirtschaft wieder ankurbeln zu wollen, von den Zentralbanken Unmengen an Geld zur Verfügung stellen – obwohl offensichtlich ist, dass diese Summen nicht als Kredite in die Realwirtschaft, sondern zum überwiegenden Teil zur Spekulation in den Finanzsektor fließen und das System so noch instabiler, krisenanfälliger und unsozialer machen.

Zu ihrer Rechtfertigung beruft sich die Politik auf die immer gleichen Argumente: Die Maßnahmen seien notwendig und unumgänglich, da die Finanzmärkte sonst Schaden nehmen oder gar zusammenbrechen könnten. Der Logik der offiziellen Politik zufolge handelt es sich bei den Finanzmärkten um eine dem Willen der Menschen entzogene Macht, der wir uns alle – so wie dem Wetter oder anderen Naturphänomenen – fügen müssen.

Ist das wirklich so? Sind die Finanzmärkte tatsächlich etwas, auf das wir keinen Einfluss haben und deren Kapriolen und zum Teil verheerende Konsequenzen wir widerspruchslos hinnehmen müssen? Sind wir gezwungen, tatenlos mit anzusehen, wie die Welt um uns herum immer instabiler, unsicherer und unsozialer wird? Oder wird uns das nur gesagt, um uns ruhig zu stellen und zu verhindern, dass wir uns dagegen auflehnen? Verbirgt sich hinter dem Bild, das uns seit Jahren von den Finanzmärkten vermittelt wird, vielleicht etwas, das wir nicht wissen oder nicht wissen sollen?

2. EINE ERSTE KURZ-DIAGNOSE

Um uns dem Thema schrittweise anzunähern, verschaffen wir uns zuerst einmal einen Überblick über die gegenwärtige Situation. Dazu bedienen wir uns eines kleinen, aber hilfreichen Tricks: Wir stellen uns das offensichtlich kranke Finanzsystem einmal als Patienten vor und werfen einen Blick in seine Krankenakte.

Was sehen wir dort?

Der »Patient« ist ca. 75 Jahre alt. Seine Probleme haben mit Mitte zwanzig eingesetzt. Durch stützende Maßnahmen gelang es fast dreißig Jahre lang, ihn stabil zu halten. Mit Mitte fünfzig erlitt er einen Zusammenbruch, den er nur aufgrund schnell eingeleiteter Notmaßnahmen überstand. Zehn Jahre später erfolgte ein zweiter Zusammenbruch, der erheblich weitergehende Eingriffe notwendig machte. Wegen deren Nebenwirkungen befindet sich der Patient seitdem im Koma und wird durch immer stärkere Infusionen künstlich am Leben gehalten.

So unerfreulich die Botschaft auch ist, der Krankenbericht gibt den Zustand des globalen Finanzsystems recht genau wieder. Gehen wir die Angaben im Einzelnen durch:

Der »Patient« ist ca. 75 Jahre alt.

Unser derzeitiges globales Finanzsystem wurde 1944 durch die Konferenz von Bretton Woods ins Leben gerufen. Damals zeichnete sich bereits ab, dass die USA als wirtschaftlich, finanziell und militärisch stärkste Nation aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgehen würden. Unter diesen Vorzeichen wurde in Bretton Woods beschlossen, den US-Dollar zum Preis von 35 Dollar pro Feinunze an Gold zu binden und alle anderen Währungen der Welt (mit Ausnahme der Währungen der Sowjetunion und der Ostblockstaaten) zu festen Wechselkursen an den Dollar zu binden.

Das war ein bedeutender geschichtlicher Einschnitt, denn damit wurde zum ersten Mal eine für den größten Teil der Welt geltende Regelung zur Ordnung des Geldsystems geschaffen. Außerdem wurde erstmalig die Währung eines einzelnen Landes (der neuen Supermacht USA) zur globalen Leitwährung (und damit zur mächtigsten Währung der Welt) erklärt – ein Sonderstatus, den sich der US-Dollar bis in unsere Zeit bewahrt hat.

Seine Probleme haben mit Mitte zwanzig eingesetzt.

Der vor allem durch den Warenexport der USA wachsende Welthandel erzeugte in den importierenden Ländern einen steigenden Bedarf an Dollars. Die weltweit zirkulierende Dollarmenge nahm deshalb unablässig zu, bis sie Ende der sechziger Jahre so groß wurde, dass die USA den Umtausch von Dollar in Gold zu dem in Bretton Woods festgelegten Kurs nicht mehr garantieren konnten. Als die Situation wegen anhaltend steigender Goldnachfrage für die USA kritisch wurde, verkündete der damalige US-Präsident Richard Nixon am 15. August 1971 die Aufhebung der Gold-Dollar-Bindung.

Dieses Datum ist von allergrößter Bedeutung, denn seit diesem Tag basiert das weltweite Währungsgefüge nicht mehr auf seiner Koppelung an einen festen Wert (Gold), sondern nur noch auf dem Vertrauen aller Marktteilnehmer in die Stärke des US-Dollars und damit in die globale Vormachtstellung der USA. Eine solche ungedeckte Währung nennt man Fiat-Geld (lateinisch »fiat« = es werde)

Die zunehmende Menge an Dollars und seine daraus folgende Wertminderung brachten das internationale Geldsystem in der Folgezeit immer stärker ins Wanken. Einzelne Länder lösten ihre Währungen vom Dollar und lockten damit Spekulanten an, die an Auf- und Abwertungen zu verdienen versuchten.12 Das erzeugte immer größere Schwankungen der Wechselkurse und führte 1973 dazu, dass die meisten Länder der Welt ihre Währungen freigaben. Zwei Jahre nach der Lösung der Gold-Dollar-Bindung war das Bretton-Woods-System somit beendet.

Durch stützende Maßnahmen gelang es fast dreißig Jahre lang, den Patienten stabil zu halten.

Trotz fehlender Golddeckung gelang es dem Dollar, die folgenden Jahre und Jahrzehnte nicht nur zu überstehen, sondern sogar an Macht und Einfluss zu gewinnen. Ursache war ein in den siebziger Jahren zwischen den USA und Saudi-Arabien geschlossenes, jahrelang weitgehend geheim gehaltenes Abkommen.13 Darin garantierte Saudi-Arabien den USA, innerhalb der OPEC (Organization of the Petroleum Exporting Countries = Organisation erdölexportierender Länder) dafür zu sorgen, dass Öl weltweit nur noch in Dollar gehandelt wurde – die Geburtsstunde des Petro(Erdöl)dollars. Im Gegenzug sagten die USA dem saudischen Königshaus Schutz gegen seine Feinde in der Region (insbesondere Iran, Israel und die libanesische Hisbollah) und Waffenlieferungen in unbegrenzter Höhe zu.

Da Öl überall auf dem Globus zur Energiegewinnung benötigt wird und es sich deshalb bei ihm um die international meistgehandelte Ware handelt, sind sämtliche Zentralbanken der Welt seit der Einführung des Petrodollars gezwungen, einen großen Teil ihrer Devisen-(Fremdwährungs-)Reserven in US-Dollar zu halten. Auf diese Weise hat das saudisch-amerikanische Abkommen dem Dollar nach seinem Status als globaler Leitwährung auch noch den der globalen Reservewährung verschafft und den Rest der Welt so in eine noch stärkere Abhängigkeit vom Dollar und von der US-amerikanischen Geldpolitik gebracht.

Anfang der siebziger Jahre endete auch der wirtschaftliche »Nachkriegs-Boom«, der in Deutschland vor allem durch den Wiederaufbau und die Beseitigung der Kriegsschäden bedingt war und in den fünfziger Jahren als »Wirtschaftswunder« gefeiert wurde. Die Weltwirtschaft geriet ins Stocken, Investoren sahen ihre Verdienstmöglichkeiten schwinden.

Abhilfe schaffte die in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre einsetzende und bis heute anhaltende Deregulierung des Finanzsektors: Der Finanzwirtschaft wurden weltweit durch den Abbau gesetzlicher Einschränkungen14 zunehmend größere Spielräume verschafft, die es ihr erlaubten, immer höhere Risiken einzugehen. Dadurch kam es zu einer Ausweitung des Finanzsektors, in deren Verlauf Investoren immer mehr Geld in die Finanzspekulation und im Verhältnis dazu immer weniger Geld in die Realwirtschaft steckten – eine Entwicklung, die in den achtziger und neunziger Jahren gewaltig an Fahrt aufnahm, bis heute anhält und die man als Finanzialisierung bezeichnet.

Finanzialisierung und Deregulierung führten u. a. dazu, dass Finanzprofis immer mehr Hedgefonds15 gründeten. Sie arbeiten wie Banken, unterliegen aber nicht deren rechtlichen Einschränkungen und können daher bei der Geldanlage erheblich höhere Risiken eingehen. Die Einführung dieser Hedgefonds hatte für die Banken einen überaus wichtigen Nebeneffekt: Sie konnten von nun an selbst Hedgefonds gründen und so durch vollkommen legale Umgehung aller Vorschriften genau die Geschäfte betreiben, die ihnen eigentlich verboten waren.

Eine weitere Folge der Deregulierung war die rasante Zunahme von Leerverkäufen und Derivaten. Beim Leerverkauf spekuliert der Investor auf fallende Kurse: Er leiht sich z. B. ein Aktienpaket, verkauft es umgehend und kauft es später zu einem niedrigeren Preis wieder auf. Am Schluss gibt er dem Aktienbesitzer sein Paket zurück und behält den erzielten Gewinn ein – ein ganz legales Mittel, um aus den Kursverlusten eines Dritten Kapital zu schlagen. Volkswirtschaftlich sinnlos, dient der Leerverkauf einzig und allein der Bereicherung von Spekulanten.

Bei den Derivaten (latein. »derivare«: ableiten) handelt es sich um Finanzprodukte, die früher einmal zur Absicherung von Risiken in der Realwirtschaft dienten, die aber im Zuge der Deregulierung fast vollständig von ihr entkoppelt wurden. Zu ihnen zählen auch die Hebelprodukte, mit denen man mittels »Leveraging« (deutsch: Hebelung)16 ein Vielfaches seines Eigenkapitals zur Spekulation einsetzen kann.

In ihrer heutigen Form sind Derivate nichts anderes als Wetten auf steigende oder fallende Preise, Kurse und Zinssätze. Sie schaffen keine Werte, sind volkswirtschaftlich ebenfalls sinnlos und dienen – wie Leerverkäufe – nur der Bereicherung von Spekulanten. Der Handel mit Derivaten ist allerdings seit den neunziger Jahren explodiert, macht gegenwärtig ein Vielfaches des globalen Bruttoinlandsproduktes (also der Summe aller weltweit produzierten Waren und erbrachten Dienstleistungen) aus und ist eine der Haupteinnahmequellen der internationalen Großbanken.

Mit Mitte fünfzig erlitt der Patient einen Zusammenbruch, den er nur aufgrund schnell eingeleiteter Notmaßnahmen überstand.

Es waren mehrere dieser Derivate, die den Hedgefonds Long Term Capital Management (LTCM) 1998 ins Taumeln brachten, insbesondere die Kreditausfallversicherung (englisch »credit default swap« = CDS). Hatte früher nur der Kreditgeber eine Versicherung auf seinen Kredit abschließen dürfen, um sich gegen den Zahlungsausfall des Kreditnehmers abzusichern, so durften auf Grund der Deregulierung auch solche Marktteilnehmer eine Ausfallversicherung auf einen Kredit abschließen, die an dessen Abschluss selbst nicht beteiligt waren – mit der Folge, dass Spekulanten nach unsicheren Krediten suchten, sie versicherten und auf einen Zahlungsausfall des Schuldners hofften – oder ihn sogar aktiv herbeizuführen versuchten. (Das Thema des sehr informativen, auf dem Buch von Michael Lewis basierenden Hollywood-Films »The Big Short«.)

LTCM war mit einem Eigenkapital von rund 4 Milliarden Dollar im Währungssektor Risiken von mehr als einer Billion Dollar eingegangen.17 Als sich abzeichnete, dass sein Management sich verspekuliert haben könnte, stürzten sich Spekulanten geradezu auf Kreditausfallversicherungen. Durch den Zusammenbruch von LTCM wäre auf diese Weise eine Summe von über einer Billion US-Dollar fällig geworden. Sie hätte viele Großbanken mit in den Abgrund gerissen und das amerikanische und damit auch das weltweite Finanzsystem existenziell bedroht.

Aus diesem Grunde taten sich fast alle18 gefährdeten Großbanken zusammen und retteten LTCM – aus reinem Selbstschutz, da der Kaufpreis von ca. 3,65 Milliarden Dollar19 nur einen Bruchteil der Verluste ausmachte, die ihnen im Falle eines Bankrotts von LTCM gedroht hätten.

Zehn Jahre später erfolgte ein zweiter Zusammenbruch, der erheblich weitergehende Eingriffe notwendig machte.

Obwohl die LTCM-Pleite die Probleme und Risiken im Finanzsektor unübersehbar offengelegt hatte, unternahmen Politik und Wirtschaft nichts gegen deren Ursachen. Im Gegenteil: Es wurde noch stärker dereguliert und zwar weltweit.

So wurde 1999 in den USA unter Präsident Bill Clinton das Trennbankengesetz (der »Glas-Steagall-Act«) abgeschafft. Es war in den dreißiger Jahren eingeführt worden, weil zahllose Anleger beim Börsencrash von 1929 ihre kompletten Einlagen verloren hatten – ohne zu ahnen, dass das Management hinter ihrem Rücken ganz legal damit spekuliert hatte. Das Gesetz schützte die Einleger, indem es US-Banken ab 1933 dazu verpflichtete, sich zu entscheiden, entweder das klassische Einlagen- und Kreditgeschäft zu betreiben oder sich als Investmentbank im riskanten Wertpapiergeschäft zu engagieren.

Eine weitere Folge der ungezügelten Deregulierung war eine Explosion der Kreditvergabe und damit ein ungehemmtes Wachstum der Schulden. So wurden in den USA nach der Jahrtausendwende immer mehr Immobilien-Kredite an Menschen vergeben, von denen man wusste, dass sie sie niemals würden zurückzahlen können. Das ging so lange gut wie die Häuserpreise stiegen, denn in dieser Zeit konnten die Häuser von Kreditnehmern, die in Schwierigkeiten gerieten, jederzeit zwangsenteignet und mit Gewinn weiterverkauft werden. Als die Nachfrage nach Häusern aber wegen des Anstiegs der Zinsen nachließ und die Preise ab 2006 zu fallen begannen, brach dieser Kreislauf in sich zusammen.

Das Problem zahlungsunfähiger Hausbesitzer verwandelte sich rasch in ein Problem der Banken. Im Rahmen der Deregulierung hatten diese die Schulden nämlich »gebündelt« (»verbrieft«) und, um sie loszuwerden, in Form von Derivaten »verpackt« an Banken in aller Welt weiterverkauft. Als klar wurde, dass diese Gelder wegen der Zahlungsunfähigkeit der meisten Schuldner verloren waren, mussten Geldinstitute in aller Welt zugeben, dass sie große Mengen an »toxischen« – zu deutsch: »giftigen«, tatsächlich aber wertlosen – Papieren in ihren Beständen hielten. Dies war einer der Gründe, weshalb einige von ihnen 2008 zusammenzubrechen und das globale Finanzsystem mit sich zu reißen drohten.

Im Unterschied zu 1998 waren die Summen, um die es diesmal ging, so hoch, dass eine Rettung durch eine Gruppe von Banken – wie im Fall LTCM – nicht möglich war. Deshalb sprangen die betroffenen Regierungen ein und retteten die bedrohten Finanzinstitute, indem sie deren Schulden übernahmen oder ihnen öffentliche Gelder in Milliardenhöhe zur Verfügung stellten. Das Ganze nannte man »Bail-out« (vom englischen »bail out« = jemanden durch eine Bürgschaft auslösen).

Die bei dieser Rettung eingesetzten Summen überstiegen jedoch die Finanzmittel der meisten Staaten, so dass sie seitdem auf hohen Schuldenbergen sitzen. Voraussetzung für deren Abbau wären ein kräftiges Wirtschaftswachstum und – daraus folgend – ein Anstieg der Steuereinnahmen. Dazu aber kommt es seit 2008 nicht mehr, weil die Regierungen in aller Welt die bankrotten Finanzinstitute in den Jahren 2007 und 2008 für »too big to fail« erklärt haben und Großinvestoren, die ihr Geld wegen der höheren Gewinnchancen viel lieber in den Finanzsektor als in die Realwirtschaft stecken, diese historisch einmalige Sonderstellung als Freibrief nutzen: In der Gewissheit, auch in Zukunft unter dem Vorwand der Stützung des gesamten Systems gerettet zu werden, spekulieren sie in größerem Umfang und gehen höhere Risiken ein als je zuvor – mit dem Ergebnis, dass die Realwirtschaft dahinsiecht, während der Grad der Verschuldung im Finanzsektor unaufhörlich zunimmt.

Wegen der Nebenwirkungen befindet sich der Patient seitdem im Koma und wird durch immer stärkere Infusionen künstlich am Leben erhalten.