Cover

Inhaltsverzeichnis

Das Buch
Die BLACK DAGGER-Serie
Die Autorin
Widmung
DANKSAGUNG
GLOSSAR DER BEGRIFFE UND EIGENNAMEN
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
J. R. Wards BLACK DAGGER - wird fortgesetzt in: BRUDERKRIEG
Copyright

DANKSAGUNG

Unendliche Dankbarkeit gilt den Leserinnen und Lesern der Black Dagger. Ohne Euch wären die Brüder nicht auf Buchseiten verewigt.

 

Karen Solem, Kara Cesare, Claire Zion, Kara Welsh, Rose Hilliard – euch danke ich so sehr.

 

In Liebe zu meiner Familie und meinen Freunden, und mit fortwährender Hochachtung für meinen Exekutivausschuss : Sue Grafton, Dr. Jessica Andersen, Betsey Vaughan.

Die BLACK DAGGER-Serie

Erster Roman: Nachtjagd
Zweiter Roman: Blutopfer
Dritter Roman: Ewige Liebe
Vierter Roman: Bruderkrieg
Fünfter Roman: Mondspur

Die Autorin

J. R. Ward begann bereits während ihres Studiums mit dem Schreiben. Nach ihrem Hochschulabschluss veröffentlichte sie die BLACK DAGGER-Serie, die in kürzester Zeit die amerikanischen Bestseller-Listen eroberte. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihrem Golden Retriever in Kentucky und gilt seit dem überragenden Erfolg der Serie als neuer Star der romantischen Mystery.

 

Besuchen Sie J. R. Ward unter: www.jrward.com

J. R. Wards BLACK DAGGER

wird fortgesetzt in: BRUDERKRIEG

Leseprobe

»Mary? Mary, wach auf. Sie ist da.«

Mary spürte ein Rütteln an der Schulter, und als sie die Augen öffnete, sah sie Rhage, der sich über sie beugte. Er hatte sich umgezogen und trug jetzt ein langärmeliges Oberteil und eine weite Hose, beides in Weiß.

Sie setzt sich auf, noch immer etwas benommen. »Hab ich noch eine Minute Zeit?«

»Aber sicher.«

Sie ging ins Badezimmer und wusch sich das Gesicht. Das kalte Wasser tropfte ihr von den Wangen, und sie sah in den Spiegel. Ihr Liebhaber würde jetzt gleich Blut trinken. Vor ihren Augen. Und das war noch nicht einmal das Merkwürdigste an der Sache. Sie fühlte sich unzulänglich, weil es nicht ihr Blut war, das ihn nährte.

Doch in dieses gefährliche Fahrwasser wollte sie sich nicht begeben. Also nahm sie ein Handtuch und rubbelte sich kräftig ab. Zeit, sich umzuziehen, blieb nicht mehr, also behielt sie Jeans und Pullover an. Eigentlich wollte sie auch gar nichts anderes tragen.

Als sie wieder herauskam, nahm Rhage seine Armbanduhr ab.

»Soll ich die für dich aufbewahren?« Sie dachte an das erste Mal, als sie auf seine Rolex aufgepasst hatte.

Er kam zu ihr und legte die schwere Uhr in ihre Handfläche. »Küss mich.«

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, und er beugte sich zu ihr herunter. Ihre Lippen trafen sich für einen kurzen Moment.

»Komm.« An der Hand führte er sie in den Flur. Als sie ihn verwirrt ansah, meinte er: »Ich möchte das nicht in unserem Schlafzimmer tun. Das ist unser Reich.«

Dann brachte er sie zu einem weiteren Gästezimmer, öffnete die Tür und ließ sie eintreten.

Als Erstes roch Mary Rosen, dann bemerkte sie die Frau in der Ecke. Ihr sinnlicher Körper steckte in einem weißen Wickelkleid, das rötlichblond Haar war hochgesteckt. Durch den tiefen Ausschnitt und ihre Frisur war ihr Hals so entblößt wie nur möglich. Sie lächelte und verneigte sich, dann sagte sie etwas in der fremden Sprache.

»Nein«, sagte Rhage. »Auf Englisch. Wir werden Englisch reden.«

»Selbstverständlich, Krieger.« Die Stimme der Frau war hoch und rein, schön wie die eines Singvogels. Ihre blassgrünen, wunderschönen Augen ruhten auf Rhages Gesicht. »Ich bin entzückt, Euch dienen zu dürfen.«

Mary trat von einem Fuß auf den anderen und versuchte krampfhaft, sich davon abzuhalten, ihr Revier zu verteidigen. Sie ist erfreut, ihm zu dienen?

»Wie ist dein Name, Auserwählte?«, fragte Rhage.

»Ich bin Layla.« Wieder verneigte sie sich. In der Aufwärtsbewegung wanderte ihr Blick an Rhages Körper empor.

»Und das hier ist Mary.« Er legte den Arm um ihre Schultern. »Sie ist meine …«

»Freundin«, fiel Mary ihm scharf ins Wort.

Rhages Mund zuckte. »Sie ist meine Partnerin.«

»Selbstverständlich, Krieger.« Noch einmal verneigte sich die Frau, dieses Mal vor Mary. Als sie den Kopf wieder hob, lächelte sie warm. »Herrin, ich bin entzückt, auch Euch dienen zu dürfen.«

Von mir aus, dachte Mary. Wie wär’s dann, wenn du deinen dürren Hintern hier herausbewegst und stattdessen einen hässlichen Drachen in einem Kartoffelsack vorbeischickst.

»Wie möchtet Ihr mich?«, fragte Layla.

Rhage blickte sich im Zimmer um, dann zeigte er auf das luxuriöse Himmelbett. »Dort.«

Mary ließ sich ihren Schrecken nicht anmerken. Das fand sie jetzt überhaupt nicht verlockend.

Gehorsam schritt Layla zum Bett. Das seidene Kleid wirbelte um ihre Beine. Sie setzte sich auf die Satindecke, doch als sie die Beine darauflegen wollte, schüttelte Rhage den Kopf.

»Nein, bleib sitzen.«

Layla runzelte die Stirn, widersprach aber nicht. Sie lächelte wieder, als er einen Schritt auf sie zumachte.

»Komm mit.« Er zog an Marys Hand.

»Das ist nah genug.«

Er küsste sie, ging zu der Frau und sank vor ihr auf die Knie. Als ihre Hände an das Kleid wanderten, als wollte sie es aufschnüren, unterbrach Rhage sie. »Ich trinke aus dem Handgelenk. Und du sollst mich nicht berühren.«

Ihre Miene drückte Bestürzung aus, die Augen weiteten sich. Dieses Mal schien sie den Kopf aus Scham zu senken, nicht aus Ehrerbietung. »Ich wurde für Euch gebührend gereinigt, Herr. Solltet Ihr das wünschen, dürft Ihr mich selbstverständlich untersuchen, bevor Ihr mich benutzt.«

Mary schlug sich die Hand auf den Mund. Dass diese Frau sich selbst lediglich als Objekt sah, war vollkommen abscheulich.

Rhage schüttelte den Kopf, auch er fühlte sich sichtlich unbehaglich bei dieser Antwort.

»Möchtet Ihr eine andere von uns?«, fragte Layla leise.

»Ich möchte das überhaupt nicht.«

»Aber warum habt Ihr dann die Auserwählten angerufen, wenn Ihr nicht die Absicht hattet, von uns Gebrauch zu machen?«

»Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so schwer sein würde.«

»Schwer?« Laylas Stimme wurde lauter. »Ich bitte um Vergebung, aber wie bereitete ich Euch Ungemach?«

»Das meine ich nicht, und ich möchte dich nicht kränken. Meine Mary … sie ist ein Mensch, und ich kann nicht von ihr trinken.«

»Dann wird sie also nur die Verzückungen des Bettes mit uns teilen. Es wird mir eine Ehre sein, mich ihrer ebenfalls anzunehmen.«

»Äh, also, das ist nicht so … Sie ist nicht hier, um … äh, ich meine, wir drei werden nicht –« Du meine Güte, Rhage wurde ja rot. »Mary ist hier, weil ich bei keiner anderen Frau liegen will; aber ich muss mich nähren, verstehst du?« Rhage fluchte und stand auf. »Das hier funktioniert einfach nicht. Ich kann das nicht.“

Laylas Augen blitzten auf. »Ihr sagt, Ihr müsst Euch nähren, aber Ihr könnt ihre Vene nicht nutzen. Ich bin hier. Ich bin bereit. Es wäre mir eine Freude, Euch zu geben, was Ihr braucht. Warum solltet Ihr Euch dabei unbehaglich fühlen?

Rhage schob sich die Hand ins Haar. Packte eine Strähne und zog kräftig daran.

Layla schlug die Beine übereinander, ihr Kleid fiel dabei bis zum Oberschenkel auseinander. Sie sah wunderschön aus, wie sie da auf dem prächtigen Bett saß, so züchtig und gleichzeitig so unglaublich sexy.

»Ist denn Eure Erinnerung an unsere Traditionen bereits so verblasst, Krieger? Ich weiß, es ist lange her, doch wie könnt Ihr unzufrieden damit sein, dass ich Euch diene? Es ist eine meiner Pflichten, und ich empfinde es als große Ehre.« Layla schüttelte den Kopf. »Oder sollte ich sagen: Früher empfand ich so. Wir empfanden so. Die Auserwählten haben in den vergangenen Jahrhunderten gelitten. Niemand aus der Bruderschaft wendet sich mehr an uns, wir sind nicht mehr gewünscht, werden nicht mehr gebraucht. Als Ihr schließlich auf uns zugekommen seid, waren wir glücklich.«

»Es tut mir leid.« Rhage warf einen Blick auf Mary. »Aber ich kann nicht –«

»Ihretwegen sorgt Ihr Euch, ist es so?«, murmelte Layla. »Ihr sorgt Euch, was sie empfinden wird, wenn sie Euch an meinem Handgelenk sieht.«

»Sie ist an unsere Sitten nicht gewöhnt.«

Die Frau streckte ihre Hand aus. »Herrin, setzt Euch zu mir. So kann er Euch anblicken, während er trinkt. So kann er Euch spüren, so werdet Ihr ein Teil davon sein. Sonst wird er mich zurückweisen, und wo wird Euch beide das hinführen?« Als niemand ein Wort sagte, und Mary sich nicht vom Fleck rührte, machte die Frau eine ungeduldige Geste. »Euch ist doch bewusst, dass er sonst nicht trinken wird? Ihr müsst das für ihn tun.«

 

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J. R. Ward: BRUDERKRIEG

1

»Verdammt, V, du machst mich echt fertig.« Butch O’Neal wühlte in seiner Sockenschublade nach schwarzer Seide und fand nur weiße Baumwolle.

Da, endlich … Er zog eine einzelne Socke heraus. Nicht gerade der Jackpot.

»Wenn ich dich fertigmachen wollte, Bulle, dann wären modische Strümpfe deine geringste Sorge.«

Butch blickte aus dem Augenwinkel zu seinem Mitbewohner. Seinem Gleichgesinnten in Sachen Baseball.

Einem seiner besten Freunde – die beide zufälligerweise Vampire waren.

Vishous kam gerade aus der Dusche und hatte sich ein Handtuch um die Hüfte gewickelt, was seine muskulöse Brust und die kraftstrotzenden Arme gut zur Geltung brachte. Er zog sich gerade einen schwarzen Lederhandschuh über die tätowierte linke Hand.

»Musst du immer meine guten schwarzen Socken nehmen? «

V grinste, mitten in seinem Ziegenbärtchen blitzten die Fänge auf. »Die sind so schön weich.«

»Warum bittest du Fritz dann nicht einfach, dir auch welche zu besorgen?«

»Der hat genug damit zu tun, deine Sucht nach Edelklamotten zu befriedigen, Mann.«

Okay, Butch hatte in letzter Zeit seinen inneren Versace entdeckt, von dessen Existenz bisher niemand etwas geahnt hatte. Und wenn schon. Wie schwierig konnte es denn schon sein, ein extra Dutzend Anzugsocken zu beschaffen?

»Ich frage ihn für dich.«

»Was für ein Gentleman.« V strich sich das dunkle Haar zurück. Die Tattoos an der linken Schläfe waren kurz zu sehen und verschwanden dann wieder unter den Strähnen. »Brauchst du heute Abend den Escalade?«

»Ja, bitte.« Butch quetschte seine Füße in Gucci-Treter und ließ die Strümpfe einfach weg.

»Heißt das, du triffst Marissa?«

Butch nickte. »Ich muss endlich Klarheit haben. Entweder oder.

Und er hatte das ungute Gefühl, es würde oder sein.

»Sie ist eine gute Frau.«

Das war sie mit Sicherheit, weswegen sie vermutlich derzeit seine Anrufe nicht beantwortete. Ex-Polizisten mit einer Vorliebe für Scotch waren nicht unbedingt perfektes Beziehungsmaterial für Frauen, seien sie nun Menschen oder Vampirinnen. Und die Tatsache, dass er eigentlich nicht zu den Letzteren gehörte, war auch nicht gerade hilfreich.

»Wie auch immer, Bulle, Rhage und ich genehmigen uns noch ein paar Drinks im One Eye. Du kannst ja hinterher vorbeikommen-«

Es donnerte so laut an der Tür, als ob jemand sie mit einem Rammbock bearbeiten würde. Zwei Köpfe wirbelten herum.

V zog sich das Handtuch hoch. »Verdammte Scheiße, unser Herzensbrecher muss endlich mal lernen, wie man eine Türklingel benutzt.«

»Dann rede du mit ihm. Auf mich hört er ja nicht.«

»Rhage hört auf niemanden.« V joggte zur Tür.

Während das Hämmern langsam nachließ, widmete Butch sich seiner stetig wachsenden Krawattensammlung. Er wählte eine blassblaue von Brioni, schlug den Kragen seines weißen Hemds hoch und knotete sich geschickt die Seide um den Hals. Als er fertig war und ins Wohnzimmer hinüberschlenderte, hörte er Rhage und V, die sich vor der Geräuschkulisse von »R U still down« von 2Pac unterhielten.

Butch musste lachen. O Mann, sein Leben hatte ihn ja schon an die merkwürdigsten Orte geführt, und die meisten davon waren ziemlich schlimm gewesen. Aber niemals hätte er sich träumen lassen, dass er einmal mit sechs Vampirkriegern zusammenwohnen würde, oder gar, sich an ihrem Kampf um die Erhaltung ihrer schwindenden, verborgenen Spezies zu beteiligen. Doch irgendwie gehörte er zur Bruderschaft der Black Dagger. Und er und Vishous und Rhage gaben wirklich ein irres Trio ab.

Rhage lebte zusammen mit dem Rest der Bruderschaft im großen Haus auf der gegenüberliegenden Seite des Gartens. Doch das Dreiergespann hing meistens im Pförtnerhäuschen ab, wo V und Butch wohnten. Die Höhle, wie ihre Behausung inzwischen nur noch hieß, war ein Palast im Vergleich zu den Bruchbuden, in denen Butch bisher gewohnt hatte. Er und V hatten jeder ein eigenes Schlaf- und Badezimmer, eine kleine Küche und ein Wohnzimmer, das im sympathischen, postmodernen Studentenwohnheim-Gemeinschaftsraum-Stil eingerichtet war – allerdings ein bisschen teurer, als man das gemeinhin auf dem Campus tat: zwei Ledersofas, ein HDTV-Plasmafernseher, ein Tischkicker und diverse Punchingbälle.

Als Butch um die Ecke kam, stand Rhage in all seiner Pracht vor ihm: schwarzer Ledertrenchcoat, der bis auf die Knöchel reichte. Schwarzes Muscleshirt. Mit den Stahlkappenstiefeln war er gut zwei Meter groß. In diesem Aufzug sah der Vampir schlicht und ergreifend umwerfend aus. Selbst in den Augen eines staatlich geprüften Heteros wie Butch.

Dieser Kerl setzte selbst die Gesetze der Physik außer Kraft, so gut sah er aus. Das blonde Haar war hinten kurz geschnitten und vorne etwas länger gelassen. Türkisblaue Augen wie das Meer der Karibik. Und sein Gesicht ließ Brad Pitt aussehen wie einen Kandidaten von Endlich schön.

Aber obwohl Rhage ein Charmeur sein konnte, war er beileibe kein verzärteltes Jüngelchen. Unter der strahlenden Oberfläche brodelte etwas Dunkles, Tödliches, und das sah man auf den allerersten Blick. Er verströmte die Aura eines Mannes, der die Dinge mit seinen Fäusten regelt, auch wenn er unterwegs ein paar Zähne ausspucken muss.

»Was läuft, Hollywood?«, fragte Butch.

Rhage lächelte und entblößte seine perlweißen Beißerchen inklusive der langen Fangzähne. »Zeit für die Jagd, Bulle.«

»Verflucht, du alter Blutsauger, hat es dir gestern Nacht noch nicht gereicht? Diese Rothaarige sah ganz schön heftig aus. Genau wie ihre Schwester.«

»Du kennst mich doch. Ich bin immer hungrig.«

Zu Rhages Glück gab es endlosen Nachschub an Frauen, die mehr als bereit waren, seinen Bedürfnissen nachzukommen. Und der Kerl hatte Bedürfnisse. Trank nicht. Rauchte nicht. Aber er hatte einen Frauenverschleiß, wie Butch es noch nicht erlebt hatte.

Und es war beileibe nicht so, dass Butch sonst nur Chorknaben kannte.

Rhage sah V an. »Zieh dich an, Mann. Oder wolltest du im Handtuch ins One Eye?«

»Geh mir nicht auf den Sack, Bruder.«

»Dann beweg endlich deinen Hintern.«

Auf dem Tisch türmte sich eine Computerlandschaft, bei deren Anblick Bill Gates angefangen hätte zu sabbern. Von seiner Kommandozentrale aus steuerte Vishous das gesamte Sicherheits- und Überwachungssystem des Geländes, einschließlich des Haupthauses, der Trainingsräume im Keller, der Grotte und ihrer Höhle, so wie auch die unterirdischen Tunnel, die die Gebäude miteinander verbanden. Er kontrollierte alles: die automatischen Stahlrollläden vor jedem Fenster; die Schlösser der Stahltüren; die Temperatur in allen Räumen; das Licht; die Überwachungskameras; die Eingangstore.

V hatte den ganzen technischen Zirkus selbst installiert, bevor die Bruderschaft vor drei Wochen hier eingezogen war. Die Gebäude und Tunnel gab es schon seit dem frühen 20. Jahrhundert, aber den Großteil der Zeit waren sie unbenutzt geblieben. Nach den Ereignissen im vergangenen Juli aber war gemeinschaftlich beschlossen worden, die Operationen der Bruderschaft besser zu koordinieren, und sie alle waren hierher gezogen.

Als V in sein Zimmer ging, wickelte Rhage einen Lolli aus und steckte ihn sich in den Mund. Butch konnte spüren, wie der Bursche ihn anstarrte. Und er war kein bisschen überrascht, als der Bruder loslegte.

»Also, Bulle, ich kann nicht fassen, dass du dich für einen Trip ins One Eye dermaßen aufdonnerst. Ich meine, selbst für deine Verhältnisse ist das ganz schön saftig. Die Krawatte, die Manschettenknöpfe – das ist alles neu, oder?«

Butch strich sich die Krawatte auf der Brust glatt und griff nach seiner schwarzen Anzugjacke. Er wollte jetzt nicht über Marissa sprechen. Vorhin mit V war es schon schwer genug gewesen, das Thema zu umgehen. Außerdem, was sollte er schon sagen?

Sie hat mich total aus den Socken gehauen, als ich sie zum ersten Mal sah. Aber seit drei Wochen geht sie mir aus dem Weg, und anstatt den Wink mit dem Zaunpfahl zu verstehen, werde ich sie jetzt anbetteln wie der letzte Loser.

Genau damit wollte er Mr Perfect nicht kommen, selbst wenn er ein guter Kumpel war.

Rhage rollte den Lolli im Mund herum. »Sag mal, warum machst du dir eigentlich solche Mühe mit deinen Klamotten, Mann? Du setzt deinen Charme ja doch nicht ein. Ich meine, ständig lässt du in der Bar Mädels abblitzen. Sparst du dich für die Ehe auf?«

»Exakt, so ist es. Bis ich vor den Altar trete, bleibt er in der Hose.«

»Komm schon, das interessiert mich echt. Ist da eine bestimmte Frau im Spiel?« Als keine Antwort kam, lachte der Vampir leise. »Kenne ich sie?«

Butch verengte die Augen und überlegte, ob der Kelch vielleicht an ihm vorübergehen würde, wenn er einfach seine Klappe hielt. Wahrscheinlich nicht. Wenn Rhage einmal anfing, hörte er nicht mehr auf, bis er seiner Meinung nach fertig war. Bei Gesprächen ebenso wie im Kampf.

Versonnen schüttelte Rhage den Kopf. »Will sie dich nicht?«

»Das werde ich heute Abend herausfinden.«

Butch prüfte seine Finanzen. In sechzehn Jahren bei der Mordkommission hatte er kaum etwas auf die Seite legen können. Aber seit er sich mit der Bruderschaft herumtrieb, hatte er so viel Asche, dass er gar nicht alles ausgeben konnte.

»Du hast Glück, Bulle.«

Butch warf ihm einen Seitenblick zu. »Wie kommst du darauf?«

»Ich habe mich schon immer gefragt, wie es wohl wäre, sich für eine gute Frau zu entscheiden.«

Butch lachte. Der Typ war ein Sexgott, eine erotische Legende seiner Rasse. V hatte erzählt, die Geschichten über Rhage wurden vom Vater zum Sohn weitergereicht, wenn die Zeit reif war. Die Vorstellung, dass er seriös werden und ein guter Ehemann sein könnte, war einfach absurd.

»Na gut, Hollywood, was ist die Pointe? Komm schon, lass hören.«

Rhage zuckte zusammen und wandte den Blick ab.

Zur Hölle, der Mann hatte das ernst gemeint. »Wow. Hör mal, ich wollte nicht-«

»Ist schon okay.« Das Lächeln kehrte zurück, aber die Augen blieben ausdruckslos. Gemächlich ging er zum Mülleimer und warf seinen Lollistiel hinein. »Können wir jetzt endlich mal los? Ich hab’s satt, auf euch zu warten, Jungs.«

 

Mary Luce fuhr den Civic in die Garage und starrte die Schneeschaufeln an, die an der Wand hingen.

Sie war müde, obwohl ihr Tag gar nicht so anstrengend gewesen war. In einer Anwaltskanzlei Anrufe entgegenzunehmen und Unterlagen abzuheften, war weder körperlich noch geistig sonderlich fordernd. Eigentlich dürfte sie also gar nicht erschöpft sein.

Doch vielleicht raubte ihr gerade der Mangel an Herausforderung die Energie?

War es Zeit, zurück zu den Kids zu gehen? Immerhin war das der Beruf, den sie gelernt hatte und den sie liebte. Mit ihren autistischen Patienten zu arbeiten und ihnen zu helfen, neue Wege der Kommunikation zu finden, war für sie persönlich und professionell immer sehr bereichernd gewesen. Die zweijährige Unterbrechung war nicht Marys Idee gewesen.

Vielleicht sollte sie in der Einrichtung anrufen und fragen, ob eine Stelle frei war. Und selbst wenn nicht, könnte sie auf freiwilliger Basis aushelfen, bis etwas frei wurde.

Genau, gleich morgen würde sie anrufen. Es gab keinen Grund, noch länger zu warten.

Mary nahm ihre Tasche und stieg aus dem Auto. Während die Garagentür langsam zuklappte, ging sie zur Haustür und holte die Post. Während sie durch die Rechnungen blätterte, saugte sie genüsslich die kühle Oktoberluft durch die Nase ein. Der Herbst hatte vor etwa einem Monat die letzten Überreste des Sommers auf dem Rücken einer Kaltfront aus Kanada weggefegt.

Sie liebte den Herbst. Und im Norden New Yorks war er besonders schön, wie sie fand.

Caldwell, New York, die Stadt, in der sie geboren war und in der sie sehr wahrscheinlich auch sterben würde, lag eine gute Stunde nördlich von Manhattan. Sie wurde vom Hudson River in zwei Hälften geteilt und war in jeder Hinsicht eine typisch amerikanische Stadt. Es gab reiche Viertel und arme Viertel, scheußliche Viertel und normale Viertel. Es gab Supermärkte und Schnellrestaurants; Museen, Büchereien und Einkaufszentren, die der heruntergekommenen Innenstadt die Luft abschnürten. Drei Krankenhäuser, zwei Colleges und eine Bronzestatue von George Washington im Stadtpark.

Sie legte den Kopf in den Nacken und sah hoch zu den Sternen. Sie würde niemals hier weggehen. Ob nun aus Treue oder aus mangelnder Fantasie, wusste sie selbst nicht so genau.

Vielleicht liegt es an meinem Haus, dachte sie auf dem Weg zur Eingangstür. Die umgebaute kleine Scheune gehörte zum Gelände eines ehemaligen Bauernhofs, und sie hatte sich auf den ersten Blick in sie verliebt. Sie war kuschelig, gemütlich eingerichtet und … einfach zauberhaft.

Deshalb hatte sie das Haus vor vier Jahren gekauft, unmittelbar nach dem Tod ihrer Mutter. Damals hatte sie, neben einem dringend nötigen Tapetenwechsel, etwas Zauberhaftes gut gebrauchen können. Ihr Häuschen war alles, was das Zuhause ihrer Kindheit nicht gewesen war. Hier hatten die Holzdielen die Farbe von Honig und waren mit Klarlack versiegelt statt voller undefinierbarer Flecken. Ihre Möbel waren neu und hell, nicht alt, dunkel und brüchig. Auf dem Boden lagen Sisalteppiche mit Ledersaum. Und alles, von den Kissenbezügen über die Vorhänge bis hin zu den Decken, war cremeweiß.

Ihre Abneigung gegen Dunkelheit war ihr Berater in Sachen Innenausstattung gewesen. Und wenn man sich komplett in unterschiedlichen Schattierungen von Beige einrichtet, passt wenigstens auch alles zusammen, richtig?

Sie legte die Schlüssel und die Handtasche in der Küche ab und ging zum Anrufbeantworter. Sie haben … zwei … neue Nachrichten.

»Hallo Mary, hier ist Bill. Ich würde gern auf dein Angebot zurückkommen. Wenn du heute Abend eine Stunde an der Hotline für mich übernehmen könntest, wäre das super. Wenn ich nichts mehr von dir höre, gehe ich davon aus, dass es klappt. Danke noch mal.«

Sie löschte die Nachricht.

»Mary, hier ist die Praxis von Dr. Della Croce. Wir möchten Sie bitten, für eine Nachuntersuchung zu Ihrem vierteljährlichen Check-up in die Praxis zu kommen. Würden Sie uns bitte anrufen, um einen Termin zu vereinbaren? Wir richten uns ganz nach Ihnen. Danke.«

Mary ließ die Arme sinken.

Das Zittern begann in den Knien und wanderte über die Muskeln in den Oberschenkeln bis in den Magen hinauf. Sie überlegte, ob sie schnell ins Bad rennen sollte.

Nachuntersuchung. Wir richten uns ganz nach Ihnen.

Sie ist wieder da, dachte sie. Die Leukämie ist zurückgekommen.

2

»Was zum Teufel sollen wir ihm bloß sagen? Er kommt in zwanzig Minuten hierher!«

Mr O musterte seinen hysterischen Kollegen gelangweilt. Wenn der Typ noch mehr auf und ab hüpfen würde, könnte der Idiot glatt als Gummiball durchgehen, dachte er. Dieser E war eine totale Niete. Warum sein Gewährsmann ihn jemals in die Gesellschaft der Lesser eingeführt hatte, blieb Mr O ein Rätsel. Der Mann hatte wenig Elan. Keine Zielstrebigkeit. Und für die neue Marschrichtung, die im Krieg gegen die Vampirrasse nötig geworden war, fehlte ihm der Mumm.

»Was sollen wir nur –«

»Wir werden ihm überhaupt nichts sagen«, erklärte Mr O, während er sich im Keller umsah. Messer, Rasierklingen und Hämmer aller Art lagen wild verstreut auf dem billigen Sideboard in der Ecke. Hier und da sah man Blutlachen, nur nicht unter dem Tisch, wo sie hingehörten. Und in das Rot mischte sich ein glänzendes Schwarz, dank der Fleischwunde, die E davongetragen hatte.

»Aber der Vampir konnte doch fliehen, bevor wir irgendwelche Informationen aus ihm herausbekommen haben!«

»Vielen Dank für die Zusammenfassung.«

Die beiden hatten gerade erst mit der Arbeit an ihrer Geisel angefangen, als O kurz herausgerufen wurde. Als er wieder zurückkam, hatte E die Kontrolle über den Gefangenen verloren, einige heftige Kratzer eingesteckt und saß mutterseelenallein blutend in der Ecke.

Ihr Arschloch von einem Boss würde durchdrehen, wenn er das erfuhr, und obwohl O den Mann verachtete, hatten er und Mr X eines gemeinsam: Schlampigkeit konnten sie nicht tolerieren.

O betrachtete noch eine Weile E, der hilflos durch den Raum zappelte, und hatte beim Anblick der ruckartigen Bewegungen plötzlich eine Eingebung; die Lösung sowohl für das unmittelbare als auch für ein langfristigeres Problem. Als Os Mund sich zu einem Lächeln verzog, wirkte E, dieser Dummkopf, sofort erleichtert.

»Mach dir mal keine Sorgen«, murmelte O. »Ich sage ihm einfach, wir hätten die Leiche draußen im Wald abgelegt und von der Sonne beseitigen lassen. Keine große Sache. «

»Heißt das, du sprichst mit ihm?«

»Klar, Mann. Aber verzieh dich lieber. Er wird trotzdem stinksauer sein.«

E nickte und stürmte zur Tür. »Bis dann.«

Ja, gute Nacht, du Vollidiot, dachte O und begann, den Keller sauber zu machen.

Das armselige kleine Häuschen, in dem sie arbeiteten, wirkte von der Straße her unscheinbar. Es lag zwischen einem ausgebrannten ehemaligen Grillrestaurant und einem zum Abriss vorgesehenen Mietshaus. In diesem Teil der Stadt gab es nur verwahrloste Wohnblocks und Billigläden; ideal für ihre Zwecke. Niemand ging hier nach Einbruch der Dunkelheit auf die Straße, Pistolenschüsse waren so normal wie Autoalarmanlagen, und niemand sagte etwas, wenn jemand mal einen Schrei ausstieß.

Auch war das Gelände unauffällig betretbar. Dank der übel beleumdeten Nachbarschaft waren sämtliche Straßenlaternen zerschossen, und das Licht aus den umliegenden Gebäuden schimmerte nur schwach. Ein zusätzlicher Vorteil war, dass das Haus über einen überdachten Außeneingang zum Keller verfügte. Mit einem gefüllten Leichensack über der Schulter ein- und auszugehen, war kein Problem.

Und selbst wenn jemand etwas beobachten sollte, brauchte es nur eine Minute, um die Entdeckung ungeschehen zu machen. In dieser Gegend war man über so etwas nicht überrascht. Das Gesindel hier tendierte dazu, ein frühes Grab zu finden. Neben dem Prügeln der Ehefrau und dem Suff war das Sterben vermutlich die einzige weitere Kernkompetenz dieser Leute.

O hob ein Messer auf und wischte schwarzes Blut von der Klinge.

Der Keller war nicht besonders groß, und die Decke niedrig, aber trotzdem blieb ausreichend Platz für den alten Tisch, den sie zum Arbeiten benutzten, und das ramponierte Sideboard, in dem sie ihre Instrumente verwahrten. Dennoch war O nicht zufrieden mit diesem Standort. Es war einfach unmöglich, hier einen Vampir sicher für längere Zeit aufzubewahren, und das bedeutete, dass sie ein wertvolles Mittel der Überzeugung aufgaben. Die Zeit wirkte zermürbend auf mentale und körperliche Fähigkeiten. Das Verstreichen mehrerer Tage war ebenso wirkungsmächtig wie zersplitternde Knochen.

Was O sich vorstellte, war ein Unterschlupf im Wald, etwas Größeres, um seine Gefangenen dort über längere Zeiträume verstecken zu können. Da Vampire bei Tageslicht in Rauch aufgingen, mussten sie vor der Sonne geschützt werden. Wenn man sie aber einfach in einem Raum einschloss, konnte es passieren, dass sie sich einfach dematerialisierten. Er brauchte also einen Raum aus Stahl, um sie einzusperren …

Über ihm hörte er die Hintertür zuklappen, und dann kamen Schritte die Treppe hinunter.

Mr X trat unter die nackte Glühbirne.

Der Haupt-Lesser war 1,95 Meter groß und hatte die Statur eines Footballspielers. Wie alle Vampirjäger, die schon länger in der Gesellschaft waren, wirkte er ziemlich ausgebleicht. Haar und Haut hatten die Farbe von Mehl, die Iris seiner Augen war so durchsichtig und farblos wie Fensterglas. Er trug dieselbe standardmäßige Lessermontur wie O selbst: schwarze Cargohose und schwarzer Rolli, die Waffen unter einer Lederjacke verborgen.

»Also, Mr O, wie geht die Arbeit voran?«

Als wäre das Chaos im Keller nicht Erklärung genug.

»Habe ich das Kommando über dieses Haus?«, fragte Mr O herrisch.

Beiläufig schlenderte Mr X zu dem Sideboard und nahm einen Meißel in die Hand. »Gewissermaßen, ja.«

»Dann ist mir gestattet, dafür zu sorgen, dass so etwas« –er machte eine Handbewegung über das Durcheinander hinweg – »nicht noch einmal passiert?«

»Was ist geschehen?«

»Die Einzelheiten sind langweilig. Ein Zivilist ist entkommen. «

»Wird er überleben?«

»Das weiß ich nicht.«

»Waren Sie hier, als das passiert ist?«

»Nein.«

»Ich will alles hören.« Mr X lächelte, als O nichts weiter sagte. »Wissen Sie, Mr O, Ihre Loyalität könnte Sie in Schwierigkeiten bringen. Wollen Sie nicht, dass ich die richtige Person bestrafe?«

»Ich möchte das selbst regeln.«

»Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Nur, wenn Sie mir nicht alles erzählen, muss ich unter Umständen trotzdem Sie für dieses Versagen bluten lassen. Ist es das wert?«

»Wenn mir erlaubt wird, mit der verantwortlichen Partei zu tun, was ich will: ja.«

Mr X lachte. »Ich kann mir ungefähr vorstellen, was das wäre.«

Mr O wartete; die scharfe Spitze des Meißels blitzte im Licht auf, als Mr X damit spielte.

»Ich habe Ihnen wohl den falschen Partner zugewiesen, oder?«, murmelte Mr X. Er hob Handschellen vom Boden auf und ließ sie auf das Sideboard fallen. »Ich dachte, Mr E würde sich vielleicht auf Ihr Niveau steigern. Das hat er offensichtlich nicht getan. Und ich bin froh, dass Sie zuerst zu mir gekommen sind, bevor Sie ihn disziplinieren. Wir beide wissen, wie sehr Sie Ihre Unabhängigkeit schätzen. Und wie wütend es mich macht, wenn Sie auf eigene Faust arbeiten.«

Mr X blickte O über die Schulter hinweg mit toten Augen unverwandt an. »In Anbetracht all dessen, und besonders, weil Sie mich zuerst konsultiert haben, können Sie Mr E haben.«

»Ich möchte es vor Publikum tun.«

»Ihre Leute?«

»Und noch weitere.«

»Wollen Sie sich wieder mal beweisen?«

»Ich will höhere Standards setzen.«

Mr X lächelte kalt. »Sie sind doch wirklich ein arroganter kleiner Bastard.«

»Ich bin genauso groß wie Sie.«

Urplötzlich konnte O seine Arme und Beine nicht mehr bewegen. Mr X hatte diesen Lähmungsscheiß schon mal mit ihm durchgezogen, insofern kam es nicht völlig unerwartet. Doch der Kerl hatte immer noch den Meißel in der Hand und kam näher.

O kämpfte mit aller Kraft gegen den unsichtbaren Griff an. Der Schweiß brach ihm aus, doch er war X hilflos ausgeliefert.

Mr X kam so nahe, dass er sein gegenüber beinahe berührte. O spürte etwas an seinem Hintern.

»Viel Spaß, mein Sohn«, flüsterte der Mann O ins Ohr. »Aber tu dir selbst einen Gefallen. Egal, für wie gut du dich hältst: Du bist nicht ich. Ciao.«

Der Mann verließ mit großen Schritten den Keller. Die Haustür oben öffnete und schloss sich.

Sobald O sich wieder bewegen konnte, griff er in seine Gesäßtasche.

Mr X hatte den Meißel hineingesteckt.

 

Rhage stieg aus dem Escalade und starrte prüfend in die Dunkelheit, die um das One Eye herum herrschte, in der Hoffnung, ein paar Lesser würden herausgesprungen kommen. Obwohl er nicht damit rechnete, solches Glück zu haben. Er und Vishous waren schon stundenlang unterwegs und hatten absolut nichts von ihren Gegnern gesehen. Nicht mal von Weitem. Es war verdammt unheimlich.

Und für jemanden wie Rhage, der aus persönlichen Gründen den Kampf brauchte, war es noch dazu höllisch frustrierend.

Wie alles auf der Welt war auch der Krieg zwischen der Gesellschaft der Lesser und den Vampiren ein stetes Auf und Ab, und momentan befanden sie sich auf dem Weg in ein Wellental. Was nicht überraschend war. Im Juli hatte die Bruderschaft der Black Dagger das örtliche Rekrutierungszentrum der Gesellschaft inklusive ungefähr zehn der besten Männer der Lesser vernichtet. Ganz offensichtlich mussten sich ihre Gegner neu formieren.

Und Gott sei Dank gab es noch andere Wege, Dampf abzulassen.

Er sah sich in dem niederen Hort der Verkommenheit um, in dem sich die Bruderschaft derzeit am liebsten die Zeit vertrieb. Das One Eye lag am Rande der Stadt, deshalb bestand die Kundschaft hauptsächlich aus Bikern und Bauarbeitern, harten Burschen, die ihre Angelegenheiten lieber mit den Fäusten als über einen Anwalt regelten. Die Bar war einfach nur ein typisches Wasserloch für diese Sorte Mensch; ein flacher, schmuckloser Bau, umgeben von einem Parkplatz. Trucks, rostige Limousinen und Motorräder standen hier. Aus winzigen Fenstern schimmerten rote, blaue und gelbe Leuchtreklamen und die Logos von Bud Light oder Coors.

Für die Jungs hier brauchte es kein schnöseliges ausländisches Flaschenbier zu sein.

Während er die Autotür zuschlug, stand sein ganzer Körper unter Strom, die Haut prickelte, die Muskeln waren angespannt. Er dehnte die Arme, um die Anspannung etwas zu lösen, war aber nicht weiter erstaunt, als es nichts half. Sein Fluch meldete sich unmissverständlich zu Wort und brachte ihn in gefährliches Fahrwasser. Wenn er sich nicht bald etwas abreagierte, würde er ein ernsthaftes Problem bekommen. Verflucht, dann wäre er ein ernsthaftes Problem.

Vielen Dank auch, Jungfrau der Schrift.

Schlimm genug, dass er mit einem Übermaß an Energie und physischer Kraft auf die Welt gekommen war – ein Nichtsnutz mit einer körperlichen Gabe, die er weder zu schätzen noch sich gefügig zu machen wusste. Nein, er musste auch noch der mystischen Schöpferin ans Bein pissen, die über ihre Rasse herrschte. O Mann, sie hatte nur zu bereitwillig noch eine Schicht Mist auf den Komposthaufen seines Lebens gekippt. Sodass er jetzt, wenn er nicht regelmäßig Dampf abließ, zur tödlichen Gefahr wurde.

Kämpfe und Sex waren die einzigen Ventile, die ihm etwas Erleichterung verschafften. Er verwendete sie wie ein Diabetiker sein Insulin. Eine stete Dosis von beidem hielt ihn einigermaßen im Gleichgewicht, aber immer half das auch nicht. Und wenn er die Balance verlor, dann wurde es für alle Beteiligten böse – inklusive seiner selbst.

Gott, er war es so leid, ein Gefangener seines Körpers zu sein, gehorsam seine Anforderungen zu erfüllen, um nicht in dem brutalen Vergessen zu versinken. Sicher, sein umwerfendes Gesicht und die körperliche Kraft waren schön und gut. Aber beides hätte er liebend gern mit einem dürren, hässlichen Nichtskönner getauscht, wenn er sich dafür etwas Frieden hätte erkaufen können. Er konnte sich nicht daran erinnern, wie sich Gelassenheit anfühlte. Er wusste nicht einmal mehr, wer er wirklich war.

Das Gefühlschaos hatte ziemlich bald eingesetzt. Nur wenige Jahre, nachdem er den Fluch kassierte, hatte er die Hoffnung auf wahre Erleichterung aufgegeben und einfach nur versucht durchzukommen, ohne jemandem wehzutun. Damals hatte sein inneres Sterben begonnen und jetzt, über einhundert Jahre später, war er fast völlig abgestumpft. Nichts als schimmerndes Blendwerk und die leere Hülle seines Charmes.

Er hatte längst aufgehört, sich selbst als etwas anderes als eine Bedrohung anzusehen, zumindest in den Bereichen, die wirklich zählten. Denn die Wahrheit war, dass niemand in seiner Nähe sicher war. Und das war es, was ihn wirklich kaputtmachte, mehr noch als der körperliche Stress, den er auszuhalten hatte, wenn der Fluch sich Bahn brach. Er lebte in der ständigen Angst, einen seiner Brüder zu verletzen. Und seit ungefähr einem Monat auch Butch.

Rhage ging um den Wagen herum und sah durch die Windschutzscheibe den Menschen dahinter an. Wahnsinn, wer hätte gedacht, dass er mal so gut mit einem Homo sapiens auskommen würde?

»Kommst du später noch vorbei, Bulle?«

Butch zuckte die Achseln. »Weiß noch nicht.«

»Viel Glück, Mann.«

»Warten wir es ab.«

Rhage fluchte leise, als der Escalade davonfuhr und er und Vishous über den Parkplatz liefen.

»Wer ist sie, V? Eine von uns?«

»Marissa.«

»Marissa? Die Marissa? Wraths ehemalige Shellan ?«

»Ich quäle ihn nicht damit. Und das solltest du auch nicht tun.«

»Bist du denn gar nicht neugierig?«

V gab keine Antwort, sondern blieb stattdessen vor dem Eingang zur Bar stehen.

»Ach, natürlich. Du weißt es schon, oder?«, sagte Rhage. »Du weißt schon, was passieren wird.«

V hob kaum merklich die Schultern und legte die Finger auf die Klinke.

Aber Rhage bremste ihn mit einer Hand. »Hey, V, träumst du auch manchmal von mir? Siehst du meine Zukunft?«

V wirbelte den Kopf herum. Im Neonschein einer Bierreklame wurde sein linkes Auge – das mit den Tätowierungen darum herum – pechschwarz. Die Pupille dehnte sich einfach so weit aus, bis von der Iris und dem Weißen nichts mehr zu erkennen war, bis nur mehr ein abgrundtiefes Loch blieb.

Es war, wie in die Unendlichkeit zu blicken. Oder vielleicht in den Schleier, wenn man starb.

»Willst du das wirklich wissen?«, fragte der Bruder.

Rhage ließ die Hand sinken. »Es geht mir nur um eine einzige Sache. Werde ich lange genug leben, um von meinem Fluch erlöst zu werden? Du weißt schon, finde ich jemals wieder auch nur ein bisschen Ruhe?«

Die Tür flog auf, und ein Betrunkener taumelte heraus wie ein LKW mit gebrochener Achse. Der Kerl steuerte auf die Büsche zu, übergab sich und legte sich dann bäuchlings auf den Asphalt.

Der Tod war wenigstens ein sicherer Weg, Frieden zu finden, dachte Rhage. Und jeder musste sterben. Selbst Vampire. Irgendwann.

Er wich dem Blick seines Bruders aus. »Streich das, V. Ich will es nicht wissen.«

Er war bereits einmal verflucht worden, und vor ihm lagen noch einundneunzig Jahre, bevor er wieder frei war. Einundneunzig Jahre, acht Monate und vier Tage, bis die Strafe vorbei war, und die Bestie nicht mehr länger ein Teil von ihm wäre. Warum sollte er sich gleich die komplette kosmische Packung abholen, und sich sagen lassen, dass er gar nicht so lange leben würde?

»Rhage.«

»Was?«

»Ich sage dir etwas anderes. Dein Schicksal naht. Und sie kommt bald.«

Rhage lachte. »Ach ja? Wie ist sie denn so? Ich habe sie am liebsten –«

»Sie ist eine Jungfrau.«

Ein Schauer fuhr Rhage über den Rücken und bohrte sich in seine Eingeweide. »Du machst Witze, oder?«

»Sieh mir ins Auge. Glaubst du, ich verarsche dich?«

V hielt einen Augenblick inne, dann öffnete er die Tür. Der Gestank von Bier und menschlichen Körpern schlug ihnen entgegen, untermalt von einem alten Guns-N’Roses-Song.

Beim Hineingehen murmelte Rhage: »Du bist echt ein irrer Typ, mein Bruder.«