Jon Ronson
In Shitgewittern
Wie wir uns das Leben zur Hölle machen
Aus dem Englischen von Johann Christoph Maass
Tropen
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Tropen
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»So You’ve Been Publicly Shamed« im Verlag Picador, London
© 2015 by Jon Ronson
Für die deutsche Ausgabe
© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Datenkonvertierung: r&p digitale medien, Echterdingen
Printausgabe:ISBN 978-3-608-50235-0
E-Book: ISBN 978-3-608-10058-7
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
1 Braveheart
2 Gut, dass ich das nicht bin
3 In der Wildnis
4 Gott, das war der Hammer
5 … steigt der Mensch also mehrere Stufen von der Leiter der Kultur herab.
6 Gutes tun
7 Scham? Was ist das? – Auf dem Weg ins Paradies
8 Beim Schämen?-Nein-Danke!-Workshop
9 Zuhälterei und eine ominöse Kundenliste: Eine Stadt in heller Aufregung
10 Das Beinahe-Ertrinken des Mike Daisey
11 Der Mann, der die Suchergebnisse bei Google manipulieren kann
12 Psychoterror
13 Raquel in einer zukünftigen Welt ohne Bloßstellung
14 Katzen, Eiscreme und Musik
15 Sie fahren jetzt …
Nachwort
Bibliographie und Danksagungen
Zitierte Quellen
Bildnachweis
Für Elaine
1
Diese Geschichte beginnt damit, wie mir Anfang Januar 2012 plötzlich auffiel, dass auf Twitter noch ein weiterer Jon Ronson zu posten begonnen hatte. Sein Profilbild war ein Bild meines Gesichts. Sein Twitter-Name war @jon_ronson. Der Tweet, der erschien, als ich gerade die Zeitleiste überprüfte, lautete: »Ab nach Hause. Muss mir das Rezept für einen Riesenteller Guarana mit Muscheln in Pappbrötchen mit Mayonnaise besorgen. :D #superlecker.«
»Wer bist du?«, tweetete ich ihm.
»Schau gerade #Seinfeld. Jetzt einen großen Teller Kebab mit Sellerie, Zackenbarsch, Sour Cream und Zitronengras #foodie«, tweetete er zurück.
Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte.
Am nächsten Morgen checkte ich zuerst die Zeitleiste von @jon_ronson, bevor ich meine eigene überprüfte. In der Nacht hatte er getweetet: »Ich träume irgendwas mit #Zeit und #Schwänzen.«
Er hatte zwanzig Follower. Einige davon waren Leute, die ich aus dem richtigen Leben kannte und die sich womöglich wunderten, warum ich plötzlich so auf Fusionsküche abfuhr und so freimütig berichtete, ich hätte von Schwänzen geträumt.
Ich stellte ein paar Nachforschungen an. Auf der Website des Guardian entdeckte ich den Kommentar eines jungen Akademikers namens Luke Robert Mason, ehemals an der Warwick University beschäftigt, den er dort vor ein paar Wochen hinterlassen hatte. Es war eine Reaktion auf ein kurzes Video gewesen, das ich zu Spambot-Programmen gemacht hatte. »Wir haben Jon seinen ganz persönlichen Infomorph gebastelt«, schrieb er. »Hier könnt ihr ihm bei Twitter folgen: @jon_ronson.«
»Aha, eine Art Spambot also«, dachte ich. »Okay. Dann ist ja gut. Luke Robert Mason muss wohl gedacht haben, mir würde der Spambot gefallen. Wenn er hört, dass dem nicht so ist, wird er ihn sicher wieder abstellen.«
Also tweetete ich ihm. »Hi! Würdet ihr bitte euren Spambot abstellen?«
Zehn Minuten vergingen. Dann schrieb er: »Wir bevorzugen den Begriff Infomorph.«
Ich runzelte die Stirn. »Aber er hat meine Identität geklaut«, schrieb ich.
»Der Infomorph klaut nicht deine Identität«, schrieb er zurück. »Er recycelt Daten aus den sozialen Netzwerken und verwandelt sie in infomorphische Ästhetik.«
Ich spürte eine Enge in meiner Brust.
»#woohoo, verdammt hab ich jetzt Bock auf einen kleinen Teller Grillzwiebeln mit knusprigem Brot. #foodie«, tweetete @jon_ronson.
Ich führte Krieg mit einer Roboterversion meiner selbst.
Ein Monat verging. @jon_ronson tweetete zwanzig Mal pro Tag etwas zu seinem turbulenten Sozialleben, sogenannten Soireen und seinem riesigen Freundeskreis. Er hatte fünfzig Follower. Sie alle bekamen ein fürchterlich irreführendes Bild meiner persönlichen Sicht auf Soireen und Freunde.
Der Spambot sorgte dafür, dass ich mich machtlos und beschmutzt fühlte. Meine Identität war von Fremden vollständig falsch neu definiert worden und ich konnte nichts dagegen unternehmen.
Ich tweetete Luke Robert Mason an. Sollte er darauf beharren, den Spambot nicht abzuschalten, könnten wir uns dann zumindest vielleicht treffen? Ich könnte die Begegnung filmen und sie bei YouTube einstellen. Er willigte ein, schrieb, es wäre ihm eine Freude, die Philosophie hinter dem Infomorph erklären zu können. Ich antwortete, mir sei sehr daran gelegen, die Philosophie hinter dem Spambot zu verstehen.
Ich mietete einen Raum in der Londoner Innenstadt. Er kam in Begleitung zweier Männer – dem Team hinter dem Spambot. Alle drei waren Akademiker. Sie hatten sich an der University of Warwick kennengelernt. Luke war der jüngste, gut aussehend, Mitte zwanzig und laut seinem Online-Lebenslauf »in der Technologie- und Cyberkulturforschung tätig, zudem Direktor der ›Virtual Futures‹-Konferenz«. David Bausola sah wie ein flotter Lehrer aus, der auf einer Konferenz vielleicht zur Literatur Aleister Crowleys referieren würde. Er war als »gestaltender Technologe« tätig, außerdem Geschäftsführer der Digitalagentur Philter Phactory. Dan O’Hara trug den Kopf kahlgeschoren und hatte einen stechenden, etwas genervten Blick. Er biss die Zähne zusammen. Er war Ende dreißig und als Dozent für Englische und Amerikanische Literatur an der Universität Köln tätig. Davor hatte er in Oxford gelehrt. Er hatte ein Buch über J. G. Ballard geschrieben, Extreme Metaphors, und eines über Thomas Pynchon – Thomas Pynchon: Schizophrenia & Social Control. Soweit ich es verstand, hatte David Bausola den Spambot gebaut, während die beiden anderen ihn mit »Recherche und Beratung« unterstützt hatten.
Ich schlug ihnen vor, sich in einer Reihe aufs Sofa zu setzen, damit ich sie alle ins Bild bekam. Dan O’Hara warf den anderen einen Blick zu.
»Spielen wir einfach mit«, sagte er. Alle setzten sich, Dan in die Mitte.
»Was meinst du mit ›mitspielen‹?«, fragte ich.
»Es geht ja wohl um psychologische Kontrolle«, sagte er.
»Meinst du, euch nebeneinander auf dem Sofa zu plazieren sei meine Art, euch psychologisch zu kontrollieren?«, fragte ich.
»Absolut«, sagte Dan.
»Und wie das?«, fragte ich.
»Ich mache das mit meinen Studenten auch«, sagte Dan. »Ich setze mich auf einen separaten Stuhl und plaziere die Studenten in einer Reihe auf dem Sofa.«
»Warum wolltest du irgendwelche Studenten psychologisch kontrollieren?«, fragte ich.
Dan schien kurzzeitig besorgt, dabei ertappt worden zu sein, etwas Unheimliches gesagt zu haben. »Um die Lernumgebung zu kontrollieren«, sagte er.
»Fühlst du dich hierbei unwohl?«, fragte ich ihn.
»Nein, nicht wirklich«, sagte er. »Fühlst du dich unwohl?«
»Ja«, sagte ich.
»Wieso?«, fragte Dan.
Ich machte meinem Unmut Luft. »Akademiker«, setzte ich an, »platzen nicht einfach unaufgefordert in das Leben eines Menschen, um ihn als akademisches Versuchskaninchen zu benutzen, und als ich euch darum bat, es abzuschalten, meintet ihr nur: Nein, das ist doch kein Spambot, das ist ein Infomorph.«
Dan nickte. Er lehnte sich nach vorn. »Es gibt doch sicher eine Menge Jon Ronsons da draußen, oder?«, begann er. »Leute, die so heißen wie du? Oder nicht?«
Ich schaute ihn misstrauisch an. »Ich bin sicher, es gibt da Leute mit demselben Namen«, entgegnete ich vorsichtig.
»Ich habe dasselbe Problem«, sagte Dan lächelnd. »Es gibt da einen Akademiker, der genauso heißt wie ich.«
»Exakt dasselbe Problem wie ich hast du allerdings nicht«, sagte ich, »denn mein exaktes Problem ist, dass drei Fremde meine Identität gestohlen und eine Roboterversion von mir entworfen haben und sich weigern, sie stillzulegen, obwohl sie von respektablen Universitäten kommen und bei TEDx-Konferenzen Vorträge halten.«
Dan seufzte lange und gequält. »Du sagst also: ›Es gibt nur einen Jon Ronson‹«, sagte er. »Stellst dich also gewissermaßen als den einzig Wahren dar, und willst dessen Integrität und Authentizität bewahren. Richtig?«
Ich starrte ihn an.
»Ich glaube, wir sind eher genervt von dir,« fuhr Dan fort, »denn das überzeugt uns alles nicht so recht. Wir sind der Meinung, dass das eher eine Art Trick ist und du nur versuchst, deine Online-Identität – die Marke Jon Ronson – zu schützen. Stimmt das?«
»NEIN, DAS IST BLOSS DER NAME, UNTER DEM ICH TWITTERTE!«, brüllte ich.
»Das Internet ist nicht reale Welt«, sagte Dan.
»Ich schreibe meine Tweets«, antwortete ich. »Und ich drücke auf Senden. Also bin ich das auf Twitter.«
Wir starrten uns wütend an.
»Das ist vollkommen unwissenschaftlich«, sagte ich. »Und auch nicht postmodern. Das steht mal fest.«
»Ich finde das bizarr«, sagte Dan. »Es ist eigenartig – die Art und Weise, wie du an die Sache rangehst. Du gehörst offensichtlich zu den ganz wenigen, die bei Twitter mitmachen und dort ihren eigenen Namen benutzen. Wer macht sowas? Und deshalb bin ich auch etwas argwöhnisch, deine Motive betreffend, Jon. Darum sage ich auch, du benutzt ihn bloß als Brand Management.«
Ich sagte nichts darauf, aber bis zum heutigen Tag nervt es mich zu Tode, ihn nicht darauf hingewiesen zu haben, dass Luke Robert Masons Twitter-Name @LukeRobertMason ist.
Unsere Unterhaltung ging noch eine Stunde lang so weiter. Ich erklärte Dan, das Wort »Brand Management« noch nie im Leben benutzt zu haben. Solcherlei Sprache sei mir fremd. »Und das gilt auch für euren Spambot. Dessen Sprache ist völlig anders als meine.«
»Das stimmt«, pflichteten die drei mir einstimmig bei.
»Und das ist es, was mich daran so nervt. Es ist eine Fehldarstellung meiner selbst.«
»Möchtest du, dass er dir ähnlicher ist?«, fragte Dan.
»Ich möchte, dass er nicht existiert«, sagte ich.
»Das ist bizarr«, sagte Dan. Er ließ ein ungläubiges Pfeifen hören. »Das finde ich psychologisch interessant.«
»Wieso das denn?«, sagte ich.
»Ich finde das ziemlich aggressiv«, sagte er. »Du willst diese Algorithmen töten? Du musst dich irgendwie bedroht fühlen.« Er sah mich besorgt an. »Man läuft nicht einfach in der Gegend herum und versucht die Dinge zu töten, die einem auf die Nerven gehen.«
»Du TROLL!«, schrie ich ihn an.
Nach dem Interview stolperte ich hinaus in den Londoner Nachmittag. Ich hatte Angst das Bildmaterial auf YouTube hochzuladen, weil ich so hysterisch gewesen war. Ich wappnete mich innerlich gegen mögliche Kommentare und stellte es ein. Ich ließ die Sache zehn Minuten ruhen. Dann wagte ich einen besorgten Blick.
»Das ist Identitätsdiebstahl«, lautete der erste Kommentar, den ich sah. »Sie sollten Jons persönliche Freiheit respektieren.«
»Wow«, dachte ich, noch vorsichtig.
»Jemand sollte den Schwachmaten Alternativ-Accounts bei Twitter einrichten und dort pausenlos über ihre Vorliebe für Kinderpornographie posten«, lautete der nächste Kommentar.
Ich grinste.
»Die Typen sind manipulative Arschlöcher«, hieß es im Dritten. »Auf sie geschissen. Verklagt sie, macht sie fertig, zerstört sie. Würden mir diese Typen begegnen, würde ich ihnen sagen, was sie für beschissene Wichser sind.«
Mir war schwindelig vor Freude. Ich war Braveheart, streifte durch ein Feld, zunächst allein, dann erst sah man, dass Hunderte hinter mir her marschierten.
»Niederträchtige, beunruhigende Idioten, die mit jemandes Leben spielen und dann die Scham und die Wut des Opfers verlachen«, lautete der nächste Kommentar.
Ich nickte nüchtern.
»Komplett unausstehliche Arschlöcher«, lautete der Nächste. »Diese abgefuckten Akademiker verdienen einen qualvollen Tod. Der Wichser in der Mitte ist ein beschissener Psychopath.«
Ich runzelte die Stirn. »Hoffentlich tut ihnen niemand tatsächlich irgendwas«, dachte ich.
»Vergast die Wichser. Besonders den Wichser in der Mitte. Und den kahlen Wichser links. Und den schweigenden Wichser. Und dann pisst auf die Leichen«, lautete der nächste Kommentar.
Ich hatte gewonnen. Wenige Tage später schalteten die Akademiker @jon_ronson ab. Ihre Bloßstellung hatte sie zum Einlenken gezwungen. Ihre öffentliche Demütigung hatte wie ein Knopf funktioniert, der die Werkseinstellung wiederherstellte. Etwas war aus dem Gleichgewicht geraten. Die Community hatte aufbegehrt. Das Gleichgewicht war wieder hergestellt worden.
Um die Deaktivierung des Spambot machten sie ein Riesengewese. Sie verfassten eine Kolumne für den Guardian, in der sie erklärten, das übergeordnete Ziel sei eigentlich gewesen, auf die Tyrannei von Wall-Street-Algorithmen aufmerksam zu machen. »Es ist nicht bloß Ronson, dessen Leben von Bots manipuliert wird. Es sind wir alle«, schrieben sie. Weshalb so zu tun, als äße ich gern Wasabi-Dumplings, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Geißel von Wall-Street-Algorithmen lenken sollte, erschloss sich mir nicht so recht.
»Man hat mich gebeten, dich in den Ruhestand zu schicken – verstehst du, was das bedeutet?«, tweetete David Bausola an den Spambot. Und: »Dir bleiben nur noch ein paar Stunden. Hoffentlich genießt du sie.«
»Drück einfach den Off-Button«, schrieb ich ihm. »Himmelherrgott noch mal!«
Ich war glücklich, gewonnen zu haben. Es fühlte sich wunderbar an. Das wunderbare Gefühl überflutete mich wie ein Sedativum. Fremde aus der ganzen Welt hatten sich verbündet, um mir zu sagen, dass ich recht hatte. Es war das perfekte Ende.
Ich musste an andere Bloßstellungen der jüngeren Vergangenheit in den sozialen Netzwerken denken, die mir Freude bereitet und mich mit Stolz erfüllt hatten. Die erste großartige Aktion hatte im Oktober 2009 stattgefunden. Stephen Gately, Sänger der Band Boyzone, war während eines Urlaubs mit seinem Lebensgefährten Andrew Cowles tot aufgefunden worden. Der Coroner hatte eine natürliche Todesursache bestätigt, der Daily-Mail-Kolumnist Jan Moir allerdings hatte geschrieben: »Was auch immer die Todesursache sein mag, eine natürliche ist es nach gängigen Maßstäben sicher nicht … was dem Glücklich-bis-ans-Ende-ihrer-Tage-Mythos gleichgeschlechtlicher Partnerschaften einen weiteren Schlag versetzt.«
Wir waren nicht bereit, eine Wiederauferstehung der Homophobie vergangener Tage zu tolerieren, und in Reaktion auf unseren Kollektiv-Furor ließen Marks & Spencer und Nestlé ihre Werbeanzeigen von der Website der Daily Mail entfernen. Tolle Zeiten waren das gewesen. Wir hatten die Mail mit einer Waffe geschlagen, von der sie nichts verstand – einer Demütigungskampagne der sozialen Netzwerke.
Von da an galt: Übertraten die Mächtigen die Linie, waren wir zur Stelle. Als die Daily Mail sich über eine Tafel lustig machte, die ihrem Undercover-Reporter ohne Überprüfung seiner Personalien ein Essenspaket ausgegeben hatte, kamen dank Twitter noch am selben Tag Spenden in Höhe von 39 000 Pfund zugunsten der gemeinnützigen Organisation zusammen.
»Das ist das Tolle an den sozialen Netzwerken«, kommentierte einer der Tweeter die Kampagne. »Die Mail, die kaum anderes tut, als den Leuten Lügen über ihre Nachbarn zu erzählen, kommt damit nicht klar, dass die Menschen untereinander kommunizieren und sich ihre eigene Meinung bilden.«
Als LA Fitness sich weigerte, die Kündigung eines Pärchens zu akzeptieren, das arbeitslos geworden war und sich die Gebühren nicht mehr leisten konnte, gingen wir auf die Barrikaden. LA Fitness ruderte zurück. Diese Giganten wurden nun von Leuten in die Schranken verwiesen, die zuvor machtlos gewesen waren – Bloggern, ja praktisch jedem, der über einen Account für eines der sozialen Netzwerke verfügte. Und auch die Waffe, die sie zum Einlenken zwang, war eine gänzlich neue: der Online-Pranger.
Und dann verstand ich eines Tages. Es war da etwas von erheblicher Tragweite im Gange. Wir befanden uns am Anfang einer großen Renaissance öffentlicher Demütigungen. Nach einer Pause von 180 Jahren (öffentliche Demütigungen waren 1837 im Vereinten Königreich und 1839 in den Vereinigten Staaten abgeschafft worden) kamen sie in großem Stil zurück. Und wir bedienten uns dabei eines immens mächtigen Werkzeugs. Das jeden in die Knie zwang, über alle Grenzen hinweg wirksam war, immer schneller wurde und an Einfluss gewann. Dafür sorgte, dass Hierarchien nivelliert wurden. Die Stummen eine Stimme bekamen. Fast war es, als würde es das ganze Rechtssystem demokratisieren. Und da fällte ich eine Entscheidung: Bei der nächsten Bloßstellung eines bedeutenden Missetäters – beim nächsten Mal, wenn die Rechtsprechung der Bürger in dramatischer und rechtschaffener Weise eingriff – würde ich mich mitten hineinbegeben. Würde die Sache aus unmittelbarer Nähe untersuchen und aufzeigen, wie hocheffizient hier Missstände wieder ins Lot gebracht wurden.
Lange gedulden musste ich mich nicht. @jon_ronson wurde am 2. April 2012 exekutiert. Nur zwölf Wochen später, am 4. Juli, machte ein Mann, der in Fort Greene, Brooklyn, auf dem Sofa lag und nach Ideen für seinen Blog suchte, eine völlig unerwartete Entdeckung.
2
Am Abend des 4. Juli 2012 lag Michael Moynihan auf dem Sofa. Seine Frau Joanna und das Baby schliefen bereits. Die Familie plagten Geldsorgen, wie immer. Jeder verdiente offenbar mit Journalismus mehr als Michael. »Damit Geld zu machen, gelingt mir einfach nicht«, würde er später zu mir sagen. »Ich habe keine Ahnung, wie das geht.«
Er machte sich Sorgen. Er war siebenunddreißig und kam als Blogger und Freelancer mit Etagenwohnung in einem nicht ganz so tollen Teil von Fort Greene, Brooklyn, mit Ach und Krach über die Runden.
Jetzt gerade allerdings hatte man ihm einen Job angeboten. Die Washington Post hatte ihn gebeten, zehn Tage lang für sie zu bloggen. Ideal war der Zeitpunkt nicht: »Es war der 4. Juli. Alle hatten frei. Es gab keine Leser und passieren tat gerade auch nicht viel.« Aber immerhin. Es war eine Chance. Und das setzte Michael unter Druck. Das hatte ihnen gerade einen Irlandurlaub verdorben, wo sie die Familie seiner Frau besucht hatten, und quälte ihn auch jetzt auf dem Sofa.
Er fing an, nach Ideen für Geschichten zu suchen. Aus einer Laune heraus lud er sich den aktuellen Platz 1 der New York Times-Bestsellerliste im Bereich Non-Fiction herunter, geschrieben von dem jungen, gut aussehenden und international bekannten Populär-Psychologie-Autor Jonah Lehrer. In dem Buch ging es um Neurologie und Kreativität und der Titel lautete: Imagine! Wie das kreative Gehirn funktioniert.
Das erste Kapitel, »Bob Dylans Gehirn«, weckte Michaels Interesse als begeisterter Dylanologe. Darin rekonstruierte Jonah Lehrer einen entscheidenden Moment in Dylans künstlerischer Laufbahn – den Gedankengang nämlich, der ihn dazu führen sollte, »Like a Rolling Stone« zu schreiben.
Man schrieb das Jahr 1965 und Dylan war langweilig, erschöpft von einer strapaziösen Tour, »Schlafmangel und Aufputschmittel hatten den Songwriter regelrecht ausgezehrt«, er war von der eigenen Musik angeödet und der Meinung, nichts mehr zu sagen zu haben. Bei Jonah Lehrer las sich das so:
So konnte es jedenfalls nicht weitergehen. Wenn er in der Zeitung etwas über sich las, reagierte er immer mit demselben Kommentar: »Gott, bin ich froh, dass das nicht ich bin«, sagte er.
Dylan erklärte seinem Manager also, er steige aus dem Musikgeschäft aus. Er zog sich in eine winzige Hütte in Woodstock, New York, zurück. Sein Plan war, vielleicht einen Roman zu schreiben.
Aber gerade jetzt, da er eisern entschlossen war, keine Musik mehr zu schreiben, überkam Dylan eine seltsame Regung. »Man kann das schwer beschreiben«, erinnerte sich Dylan später an den Moment. »Es ist einfach das Gefühl, dass man etwas Bestimmtes sagen muss.«
Es war kein Wunder gewesen, das Imagine ein solcher Bestseller geworden war. Wer von all denen, die selbst kreativ blockiert waren und keine Hoffnung sahen, hätte nicht lesen wollen, dass es Bob Dylan exakt so gegangen war, kurz bevor er »Like a Rolling Stone« geschrieben hatte?
Michael Moynihan, das sollte ich vielleicht hinzufügen, hatte sich Jonah Lehrers Buch nicht etwa heruntergeladen, weil er selbst blockiert war und auf der Suche nach inspirierenden Hinweisen, wie man einen Blog für die Washington Post schrieb. Nein. Lehrer war zuletzt in einen kleineren Skandal verstrickt gewesen und Michael spielte mit dem Gedanken, darüber zu bloggen. Einige der Kolumnen, die er, Lehrer, für den New Yorker geschrieben hatte, waren, wie sich herausstellte, aus Kolumnen recycelt worden, die er bereits Monate zuvor im Wall Street Journal publiziert hatte. Michael erwog, im Blog zu thematisieren, dass Selbstplagiate in England als weit weniger kriminell erachtet wurden als in den Vereinigten Staaten und was das über die jeweilige Kultur aussagte.
Michael hielt im Lesen inne. Er ging einen Satz zurück.
»Man kann das schwer beschreiben«, erinnerte sich Dylan später an den Moment. »Es ist einfach das Gefühl, dass man etwas Bestimmtes sagen muss.«
Michael runzelte die Stirn. »Wann zum Henker hat Bob Dylan das denn gesagt?«, dachte er.
»Was hat dich misstrauisch gemacht?«, fragte ich Michael. Wir saßen beim Mittagessen im Cookshop Restaurant in Chelsea, New York. Michael war attraktiv, aber nervös. Seine blassen Augen flogen hin und her wie die eines Huskys.
»Das klang einfach nicht nach Dylan«, sagte er. »In dieser Phase verhielt sich Dylan jedem Interviewer gegenüber wie ein totales Arschloch. Und das hier klang wie aus einem Dylan-Ratgeber.«
Und so ging Michael, auf seinem Sofa, noch ein paar Absätze zurück.
Wenn er in der Zeitung etwas über sich las, reagierte er immer mit demselben Kommentar: »Gott, bin ich froh, dass das nicht ich bin«, sagte er.
In D. A. Pennebakers Dokumentarfilm Dont Look Back (der fehlende Apostroph war die Idee des Regisseurs) liest Dylan einen Artikel über sich: »Gierig zieht er an einer Zigarette, von denen er acht am Tag raucht …« Dylan lacht. »Gott, ich bin froh, dass ich nicht ich selbst bin.«
Woher wusste Jonah Lehrer, dass Dylan das immer sagte, wenn er etwas über sich in der Zeitung las, fragte sich Michael. Woher kam dieses »immer«? Außerdem: das »Gott, ich bin froh, dass ich nicht ich selbst bin« war nachweisbar. Aber wann hatte er »dass das nicht ich bin« gesagt? Woher hatte Jonah Lehrer dieses »dass das nicht ich bin« her?
Und so schrieb Michael Moynihan Jonah Lehrer eine E-Mail.
»Ich habe mir Ihr Buch besorgt und als obsessiver Dylan-Fan das erste Kapitel gierig verschlungen … Ich kenne mich mit dem Dylan-Kanon ziemlich gut aus und es gab da ein paar Zitate, die mich etwas verwirrt haben und die ich nicht ausfindig machen konnte …«
Das war Michaels erste Mail an Jonah Lehrer gewesen. Er las sie mir in seinem Wohnzimmer in Fort Greene vor. Seine Frau Joanna saß bei uns. Überall verstreut lag Babyspielzeug herum.
Als Michael Jonah am 7. Juli schrieb, hatte er sechs verdächtige Dylan-Zitate gefunden, darunter »Es ist einfach das Gefühl, dass man etwas Bestimmtes sagen muss«, »Ich bin froh, dass das nicht ich bin« und die scharfe Replik gegenüber den neugierigen Journalisten: »Ich habe zu dem, was ich schreibe, nichts zu sagen. Ich schreibe es einfach nieder. Es gibt keine wichtige Botschaft. Hören Sie auf, mich um Erklärungen zu bitten.«
Nachweislich sagt Dylan in Dont Look Back tatsächlich einmal: »Ich habe zu dem, was ich schreibe, nichts zu sagen. Ich schreibe es einfach nieder. Es gibt keine wichtige Botschaft.
Aber »Hören Sie auf, mich um Erklärungen zu bitten«, sagt er nicht.
Michael hatte Jonah noch über seine Deadline informiert – er blogge zehn Tage lang für die Washington Post – und dann auf Senden gedrückt.
Jonah schrieb Michael am nächsten Tag zweimal zurück. Seine Mails klangen freundlich, professionell, geschäftsmäßig, vielleicht etwas arrogant. Sein Auftreten war das eines intelligenten jungen Wissenschaftlers, der Verständnis für Michaels Fragen hatte und versprach, sie zu beantworten, wenn sein Terminplan dies zulasse. Was in elf Tagen der Fall sein würde. Er sei für zehn Tage in Nordkalifornien im Urlaub. Seine Unterlagen lägen zu Hause, eine siebenstündige Fahrt entfernt. Und er wolle den Urlaub nicht durch eine vierzehnstündige Fahrt unterbrechen, nur um in die Unterlagen zu schauen. Wenn Michael zehn Tage warten könne, würde er, Jonah, ihm detaillierte Anmerkungen zukommen lassen.
Michael lächelte, als er diesen Teil der Mail vorlas. Elf Tage waren vor dem Hintergrund von Michaels Vertragslaufzeit mit der Washington Post eine ziemlich bequeme Urlaubslänge.
Aber Jonah willigte außerdem ein, versuchen zu wollen, Michaels Fragen aus dem Kopf zu beantworten.
»Und das war der Moment«, sagte Michael, »in dem er begann, sich alles kaputtzumachen. Der Moment, wo er zum ersten Mal lügt, es aber herunterspielt. Erst zögert er noch. ›Soll ich jetzt lügen‹?«
Jonah log.
»Ich hatte etwas Hilfe«, schrieb er, »von einem der Manager von Dylan.«
Dieser Manager habe ihm Zugang zu bisher unveröffentlichten Originaltranskripten von Dylan-Interviews verschafft. Sollte es irgendwelche Diskrepanzen zu den gängigen Referenzen im Internet geben, der Grund dafür läge also hier.
Jonahs Mails gingen noch einige Absätze in diesem Tonfall weiter: Dylan habe einem Radio-Interviewer 1995 gesagt: »Hören Sie auf, mich um Erklärungen zu bitten.« Das Transkript des Gesprächs finde sich in einer seltenen mehrbändigen Anthologie des Titels The Fiddler Now Upspoke: A Collection of Bob Dylan’s Interviews, Press Conferences and the Like from Troughout the Master’s Career. Und so weiter. Dann dankte Jonah Michael für sein Interesse, verabschiedete sich und am unteren Rand der Mail standen die Worte: »Gesendet von meinem iPhone«.
»Von seinem iPhone gesendet«, sagte Michael. »Ziemlich lange Mail, um sie vom iPhone zu senden. Bisschen panisch. So mit schwitzigen Fingern, verstehst du?«
Wer konnte schon wissen, ob Jonah Lehrer tatsächlich im Urlaub war? Michael aber musste ihn beim Wort nehmen. Erst einmal entstand eine Pause. Angesichts der Nachforschungen, die Michael würde anstellen müssen, machte die Pause es natürlich unmöglich, etwas von all dem im Blog der Washington Post zu publizieren. The Fiddler Now Upspoke erwies sich zudem als Alptraum-Quelle: »Elf Bände, zwölf Bände, fünfzehn Bände. Der Einzelpreis liegt zwischen 150 und 200 Dollar.«
Jonah Lehrer hatte womöglich gedacht, Michael fehle das nötige Kleingeld, um eine derart umfängliche und obskure Anthologie wie The Fiddler Now Upspoke aufzustöbern, zu erwerben und durchzuarbeiten. Da aber hatte er Michaels Beharrlichkeit unterschätzt. Irgendetwas an Michael erinnerte mich an den Cyborg in Terminator 2, der noch verbissener war als Arnold Schwarzenegger und schneller laufen konnte als jedes Auto. Michaels Frau, Joanna, erklärte es mir so: »Michael ist ein Kontrollfreak gesellschaftlicher Regeln«. Sie wandte sich ihm zu: »Du bist ein netter Kerl, solange auch alle andere …« Sie verstummte.
»Wenn ich in die Welt hinausgehe«, sagte Michael, »und sehe, wie jemand Müll auf die Straße wirft, ist das in meinen Augen einfach bescheuert. Ich drehe durch. Wieso tust du das?«
»Und das geht dann Stunden so«, sagte Joanna. »Wir machen einen schönen Spaziergang, dann kommt eine halbstündige Tirade …«
»Ich sehe, wie die Dinge kollabieren«, sagte Michael.
Also stöberte Michael eine elektronische Version von The Fiddler Now Upspoke auf. Es war nicht eins zu eins die digitale Version, »sondern ein vollständiges Archiv aller bekannten Dylan-Interviews mit dem Titel ›Every Mind-Polluting Word‹, das ein Fan zusammengetragen und online gestellt hatte.« Es stellte sich heraus, dass Bob Dylan 1995 nur ein einziges Radiointerview gegeben hatte und dabei zu keinem Zeitpunkt zu dem Interviewer »Hören Sie auf, mich um Erklärungen zu bitten« gesagt hatte.
Am 11. Juli waren Michael und seine Frau mit ihrer Tochter im Park. Es war heiß. Ein ums andere Mal rannte die Kleine in den Springbrunnen hinein und wieder heraus. Michaels Telefon klingelte. Am Ende der Leitung sagte jemand: »Hier spricht Jonah Lehrer.«
Mittlerweile kenne ich Jonah Lehrers Stimme. Müsste man sie mit einem Wort beschreiben, das Wort hieße »bedächtig«.
»Wir hatten ein nettes Gespräch«, sagte Michael, »über Dylan, über Journalismus. Ich erklärte ihm, es sei nicht meine Absicht, mir mit der Sache einen Namen zu machen. Ich sagte, ich würde mich seit Jahren abschuften und würde – du weißt schon – halt das machen, was ich mache, und meine Familie ernähren, und das liefe schon alles irgendwie ganz ok.«
So wie Michael ganz ok sagte, klang es allerdings eher, als meine er so mit Hängen und Würgen. Es war das stimmliche Äquivalent eines Kopfes voller Sorgen, der zu Boden starrte.
»Ich erklärte ihm, ich sei keiner dieser jungen Typen vom Gawker, die nach dem Motto vorgingen »Gebt mir ein Opfer, das ich auf den Scheiterhaufen stellen kann, dann werden die Leute schon wissen, wer ich bin«. Sie verabschiedeten sich. Ein paar Minuten später mailte Jonah Michael, um ihm zu danken, dass er so anständig und nicht einer dieser Gawker-Typen sei, denen es Spaß mache, andere zu demütigen. Solche wie Michael seien mittlerweile selten.
Danach brach Michael vorerst den Kontakt ab, um weitere Nachforschungen zu Jonah anstellen zu können.
Zu diesem Zeitpunkt war noch alles entspannt. Michael kam sich vor wie Hercule Poirot. Jonahs Behauptung, es habe ihm einer von Dylans Managern geholfen, hatte für ihn verdächtig vage geklungen. Und wie sich dann herausstellte, hatte Bob Dylan auch bloß einen einzigen Manager gehabt. Sein Name war Jeff Rosen. Und obwohl es schwierig war, dessen E-Mail-Adresse herauszubekommen, bekam Michael sie heraus.
Er schrieb ihn an. Habe er, Jeff Rosen, je mit Jonah Lehrer gesprochen? Jeff Rosen antwortete, das habe er nie.
Also schrieb Michael Jonah, um ihm mitzuteilen, es gäbe da noch ein paar weitere Fragen.
Jonahs Antwort klang überrascht. Ob Michael noch immer vorhabe, etwas zu schreiben? Er sei davon ausgegangen, er würde nichts schreiben wollen.
Michael schüttelte staunend den Kopf, als er mir diese Episode erzählte. Jonah hatte sich offenkundig selbst eingeredet, es Michael ausgeredet zu haben, Nachforschungen zu ihm anzustellen. Aber nein. »Schlechte Lügner denken immer, sie wären gut«, sagte Michael. »Sie sind immer der Meinung, sie würden gewinnen.«
»Ich habe mit Jeff Rosen gesprochen«, erklärte Michael Jonah.
Und das war der Moment, so Michael, als Jonah durchdrehte. »Er drehte einfach durch. Ich habe das noch nie bei jemandem so erlebt.«
✶
Jonah begann Michael wieder und wieder anzurufen, flehte ihn an, das nicht zu veröffentlichen. Manchmal stellte Michael sein iPhone eine Weile lang lautlos. Danach hatte er derart viele Anrufe in Abwesenheit von Jonah, dass er einen Screenshot davon machte, weil ihm sonst niemand geglaubt hätte. Ich fragte Michael, ab welchem Zeitpunkt es aufhört habe Spaß zu machen, und er antwortete: »Wenn deine Quelle panisch wird.« Er hielt inne. »Es ist, als wäre man draußen im Wald bei der Jagd und würde denken: ›Das läuft ja super!‹ Und tötet man das Tier und es liegt zuckend vor einem und will, dass man ihm den Schädel zertrümmert und man denkt: ›Ich will aber nicht derjenige sein, der das macht. Das ist ja furchtbar.‹«
Michael bekam einen Anruf von Jonahs Agenten, Andrew Wylie. Er vertritt nicht nur Jonah, sondern auch Bob Dylan und Salman Rushdie und David Bowie und David Bryne und David Rockefeller und V. S. Naipaul und Vanity Fair und Martin Amis und Bill Gates und König Abdullah II. von Jordanien und Al Gore. Genau genommen war es aber nicht Andrew Wylie, der Michael anrief. »Er rief jemanden an, der mich anrief und mich bat, ihn anzurufen«, sagte Michael. »Das erinnerte mich doch stark an Dame, König, As, Spion. Er gilt als der mächtigste Literaturagent der Vereinigten Staaten und ich bin irgendein Penner, ein Niemand. Also rief ich ihn an. Erklärte ihm, worum es ging. Er meinte: ›Wenn Sie das veröffentlichen, werden Sie damit das Leben eines Menschen ruinieren. Glauben Sie, dass das wichtig genug ist, um deshalb das Leben eines Menschen zu ruinieren?‹«
»Und was haben Sie geantwortet?«
»Ich sagte: ›Ich werde darüber nachdenken‹«, sagte Michael. »Ich glaube, Andrew Wylie ist Trillionär, weil er gut vorausschauend denken kann. Dann rief mich nämlich Jonah an und sagte: ›Andrew Wylie meint, Sie würden das durchziehen und veröffentlichen.‹«
Am Nachmittag des letzten Tages – Sonntag, der 29. Juli – lief Michael die Flatbush Avenue entlang und brüllte Jonah am Telefon an: »›Ich will, dass du dich dazu äußerst. Das musst du tun, Jonah. Du musst dich dazu äußern.‹ Meine Arme zitterten wie verrückt. Ich war dermaßen wütend und frustriert. All die Zeit, die er vergeudete. All seine Lügen. Und er lachte affektiert.« Irgendetwas in Jonahs Stimme sorgte schließlich dafür, dass Michael wusste, es würde passieren. »Also rannte ich bei Duane Reade rein und kaufte ein beschissenes Notizbuch von Hello Kitty und einen Stift. Und in den nächsten fünfundzwanzig Sekunden sagte er dann: ›Ich habe Panik bekommen. Und es tut mir aufrichtig leid, gelogen zu haben‹. Das war’s«, sagte Michael. »Es war vorbei.« Sechsundzwanzig Tage waren vergangen, aber Michael brauchte nur vierzig Minuten, um die Geschichte aufzuschreiben. Aber er hatte noch immer keine Strategie entwickelt, wie man mit Journalismus Geld verdienen könnte. Und so willigte er ein, dem kleinen jüdischen Magazin Tablet den Scoop zu liefern. Dort war man sich bewusst, was für ein Glücksgriff das war und zahlte Michael daher das Vierfache von dem, was sonst üblich war, aber auch das war nicht viel: 2200 Dollar – und das war alles, war er je für die Geschichte bekommen würde.
Vierzig Minuten Schreibzeit und gefühlte neun Päckchen Zigaretten.
»Wenn überhaupt, dann hat Jonah Lehrer mich beinahe umgebracht, so viele Zigaretten habe ich draußen auf der Feuertreppe geraucht. Geraucht, geraucht, geraucht. Ist wohl so, wenn man bei so einer Sache buchstäblich am Drücker sitzt und wirklich Einfluss auf das restliche Leben eines Menschen nehmen kann. Und das Telefon klingelte und klingelte und klingelte und klingelte. Um die zwanzig Anrufe in Abwesenheit waren es an dem Sonntagabend. Vierundzwanzig Anrufe in Abwesenheit, fünfundzwanzig Anrufe in Abwesenheit. Ich habe so was auch noch nie erlebt.«
»Er rief einfach immer weiter an«, erzählte Joanna, Michaels Frau. »Es war so traurig. Ich habe keine Ahnung, warum er glaubte, es sei eine gute Idee, einfach weiterhin anzurufen.«
»Es war die schlimmste Nacht seines Lebens«, sagte ich.
»Ja, klar, sicher«, sagte Michael.
Schließlich war er drangegangen. »Ich sagte: ›Jonah, du musst aufhören mich anzurufen. Das grenzt an Belästigung‹. Es fühlte sich an, als würde ich ihn überreden, nicht vom Dach zu springen. Ich sagte: ›Jonah, versprich mir, nichts Bescheuertes zu machen‹. Derart panisch war er. So sehr, dass ich dachte, ich sollte die Sache vielleicht doch noch abbrechen. Mit seinem ›Bitte, bitte, bitte‹ klang er wie ein kaputtes, leierndes Kinderspielzeug, dem die Batterien ausgingen. ›Bitte, bitte, bitte …‹«
Michael wollte wissen, ob ich je in dieser Position gewesen war. Auf eine Information gestoßen war, die, hätte man sie veröffentlicht, jemanden zerstört hätte? Tatsächlich zerstört.
Ich dachte einen Moment lang nach. »Jemanden zerstört?«, fragte ich, hielt inne. »Nein, ich glaube nicht. Bin mir nicht sicher.«
Er habe in jener Nacht ernsthaft erwogen, nicht auf Senden zu drücken, erzählte Michael. Auch Jonah hatte eine Tochter im Kleinkindalter. Er habe sich da nichts vormachen können. Er wusste, was es für Jonahs Leben bedeuten würde, wenn er auf Senden drückte: »Es ist nicht unser Job, den wir verlieren, wenn wir Mist bauen. Wir verlieren unsere Berufung.«
Michael habe an ehemalige Journalisten wie Stephen Glass von New Republic denken müssen. Glass war Autor einer damals gefeierten Geschichte gewesen, »Hack Heaven« aus dem Jahre 1995, über einen fünfzehnjährigen Schüler und Hacker, dem die Software-Firma, bei der er sich eingehackt hatte, einen Job angeboten hatte. Glas hatte darüber geschrieben, wie er in den Firmenräumen – Jukt Micronics – während der Vertragsverhandlungen mit dem Jungen Mäuschen gespielt hatte:
»Ich will mehr Geld. Ich will einen Miata. Ich will eine Reise nach Disney World. Ich will das erste X-Men-Heft. Ich will ein lebenslanges Playboy-Abo – legen Sie Penthouse gleich noch drauf. Zeigen Sie mir das Geld! Zeigen Sie mir das Geld!« Auf der anderen Seite des Tisches hören ihm Mitglieder der Führungsetage zu und versuchen die Forderungen so taktvoll wie möglich aufzunehmen. »Verzeihen Sie, Sir«, wendet sich einer der Anzugträger zögernd an den pickligen Teenager. »Verzeihen Sie. Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche, Sir. Aber mehr Geld lässt sich sicherlich arrangieren.« (Stephen Glass: »Washington Scene: Hack Heaven«, New Republic, 18. Mai 1998)
Dabei hatte es gar keinen Konferenzraum gegeben, kein Jukt Micronics und keinen hackenden Schüler. Adam Penenberg, ein Journalist von Forbes Digital, der genervt war, weil New Republic einen Scoop in seinem Revier gelandet hatte, stellte ein paar Nachforschungen an und fand heraus, dass Glass sich das alles bloß ausgedacht hatte. Glass wurde gefeuert. Er begann ein Jurastudium, schloss mit magna cum laude ab, bewarb sich 2014 als Anwalt in Kalifornien und wurde überall abgelehnt. Wohin er auch ging, seine Schande folgte ihm wie Pig-Pens Staubwolke. In mancherlei Hinsicht hatten er und Jonah Lehrer eine fast unheimliche Ähnlichkeit – beide waren jung, Nerds, jüdisch und ungewöhnlich erfolgreiche Journalisten mit Glücksträhne, die sich Dinge einfach ausdachten. Glass aber hatte sich ganze Szenarios ausgedacht, ein Ensemble von Charakteren und sämtliche Dialoge. Jonahs »Gott, bin ich froh, dass das nicht ich bin« statt des nachweisbaren »Gott, ich bin froh, dass ich nicht ich selbst bin« war dumm und falsch gewesen, aber es war mir unverständlich, wie erbarmungslos die Welt darüber urteilte. Ich war der Meinung, Michael überdramatisiere, wenn er glaubte, auf Senden zu drücken hieße Jonah in einem Ausmaß zu zerstören, das dem von Stephen Glass gleichkam.
Für Michael war es letztendlich eine professionelle Frage. Er fühle sich in der Geschichte ebenso gefangen wie Jonah. Es sei, als säßen sie gemeinsam in einem Auto mit kaputten Bremsen und würden beide hilflos dem Ende entgegenrasen. Aber wie konnte Michael nicht auf Senden drücken? Was würden die Leute denken, wenn die Sache durchsickerte? Dass er sie aus Karrieregründen unter Verschluss gehalten hatte? »Ich wäre der rückratlose Möchtegern-Journalist gewesen, der vor Andrew Wylie eingeknickt war. Ich hätte nie wieder arbeiten können.«
Außerdem war ein paar Stunden zuvor etwas passiert, so Michael, das es ihm nahezu unmöglich machte, die Geschichte zu begraben. Nach Jonahs Geständnis hatte Michael am ganzen Leib gezittert und sich deshalb auf den Weg ins Cafè Regular Du Nord in Park Slope, Brooklyn, gemacht, um sich zu beruhigen. Er hatte draußen gesessen, als plötzlich ein befreundeter Journalist vorbeigekommen war, Dana Vachon von Vanity Fair.
»Ich arbeite da im Moment an dieser Geschichte und der Typ hat mir gerade verdammt noch mal gestanden, dass das alles gelogen war«, berichtete Michael ihm.
»Wer ist es?«, antwortete Dana Vachon.
»Kann ich dir nicht sagen«, sagte Michael.
In dem Moment hatte Michaels Telefon geklingelt. Auf dem Display blinkten die Worte JONAH LEHRER auf.
»Ah«, sagte Dana Vachon. »Jonah Lehrer.«
»Fuck you!«, sagte Michael. »Das darfst du niemandem erzählen!«
Jetzt wusste also Dana Vachon Bescheid. Michaels Herausgeber bei Tablet wussten Bescheid. Andrew Wylie wusste Bescheid. Es war nicht mehr unter Verschluss zu halten.
Also drückte Michael auf Senden.
Nachdem beiden klar war, dass die Sache gelaufen war, führte Michael ein letztes Telefonat mit Jonah. Es waren nur noch Stunden, bevor die Geschichte erscheinen würde. Michael hatte in der Nacht kaum geschlafen. Er war erschöpft. Er sagte zu Jonah: »Mir ist wichtig, dass du weißt, dass ich mich wie Dreck fühle, das zu tun.«
»Und Jonah schwieg«, erzählte Michael. »Und dann sagte er, kein Witz, er sagte: ›Weißt du, es ist mir im Grunde vollkommen egal, wie du dich fühlst‹.« Michael schüttelte den Kopf. »Es war eisig.«
Dann sagte Jonah: »Was ich wirklich, wirklich bedauere ist …«
»Was bedauerst du?«, dachte Michael. »Das Betrügen? Das Lügen?«
»Ich bedauere wirklich je auf deine E-Mail geantwortet zu haben«, sagte Jonah.
»Darauf antwortete ich, indem ich schwieg«, sagte Michael.
Am Abend war Michael »am Boden zerstört. Ich fühlte mich furchtbar. Ich bin kein verdammtes Monster. Ich war niedergeschlagen und deprimiert. Meine Frau kann das bestätigen.« Im Kopf spielte er die Telefonate noch einmal durch. Plötzlich hatte er einen Verdacht. Vielleicht war der eisige Jonah jenes letzten Gesprächs die ganze Zeit über der wahre Jonah gewesen. Vielleicht hatte Jonah die ganze Zeit über mit Michael gespielt, seine »Gefühle manipuliert«, um ihm ein schlechtes Gewissen zu machen. Ihn vielleicht als »formbar und leicht manipulierbar« betrachtet. Als Michael Jonah erzählt hatte, er habe mit Jeff Rosen gesprochen, hatte er geantwortet: »Dann bist du wohl ein besserer Journalist als ich.« Das klang für Michael nun auf einmal unglaublich herablassend, so als betrachte er Michael bloß als »irgendeinen Idioten, der irgendwie herummachte und versuchte, so an Arbeit als Freelancer heranzukommen.« Vielleicht also war auch alles, was Jonah in den vergangenen Wochen getan hatte, unaufrichtig und sehr gut durchdacht gewesen.
Auch ich stellte mir die Frage: war Jonah tatsächlich unaufrichtig gewesen oder hatte er bloß Angst gehabt? Holte Michael Worte wie unaufrichtig in dem Versuch hervor, sich selbst weniger schlecht zu fühlen? Unaufrichtig zu sein ist unheimlich. Angst zu haben menschlich.
»Mit jemandem zu telefonieren ist wie einen Roman zu lesen«, sagte Michael. »Dein Gehirn denkt sich ein Szenario aus. Ich wusste von den Autorenfotos auf den Buchumschlägen ungefähr, wie er aussah, aber ich hatte noch nie gesehen, wie er sich bewegte. Ich kannte seinen Gang nicht. Ich kannte seine Kleidung nicht. Na ja, ich wusste, dass er mit seiner Hipster-Brille posierte. Aber während dieser vier Wochen dachte ich mir diese Figur aus. Stellte mir sein Haus vor. Ein kleines Haus. Er ist Journalist. Ich bin Journalist. Ich bin ein verdammter Trottel. Aber ich bezahle meine Miete. Mir geht’s gut. Ich bin zufrieden, aber richtig super läuft es nicht …«
Das war ungefähr das dritte Mal, dass Michael sich mir gegenüber als »Trottel« oder Ähnliches beschrieben hatte. Ich nehme an, er war sich bewusst, dass, indem man diesen Aspekt betonte, sich das Zusammenprallen der beiden Männer auf maximal dramatische und einnehmende Weise erzählen ließ. Dem Blogger-Niemand und dem korrupten VIP. David und Goliath. Aber ich fragte mich, ob er es neben dem erzähltechnischen nicht noch aus anderen Gründen tat.