Josh Malerman
BIRD BOX
Schließe deine Augen
Roman
Deutsch von Fred Kinzel
Josh Malerman
BIRD BOX
Schließe deine Augen
Roman
Deutsch von Fred Kinzel
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Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Bird Box« bei Ecco Press, New York.
Dieser Roman ist unter dem Titel »Der Fluss« bereits 2016 als Blanvalet Taschenbuch erschienen.
Copyright der Originalausgabe © 2014 by Josh Malerman
© der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Penhaligon Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de
Netflix is a registered trademark of Netflix, Inc. and its affiliates.
Artwork used with permission of Netflix, Inc.
Redaktion: Gerhard Seidl
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH
ISBN 978-3-641-23774-5
V002
www.blanvalet.de
1
Malorie steht in der Küche und überlegt.
Ihre Hände sind feucht. Sie zittert und tippt mit dem großen Zeh nervös auf den rissigen Fliesenboden. Es ist noch früh, die Sonne lugt wahrscheinlich gerade eben über den Horizont. Sie beobachtet, wie ihr dürftiges Licht die schweren Vorhänge vor dem Fenster in eine weichere Schattierung von Schwarz verwandelt, und denkt: Das war Nebel.
Die Kinder schlafen am Ende des Flurs unter Maschendraht, der mit schwarzem Tuch bedeckt ist. Vielleicht haben sie sie vor wenigen Augenblicken auf den Knien im Garten herumkriechen hören. Was für Geräusche sie auch gemacht haben mag, sie müssen über die Mikrofone zu den Verstärkern neben ihren Betten gelangt sein.
Sie blickt auf ihre Hände und entdeckt einen feinen Film im Kerzenlicht. Ja, sie sind feucht. Der Morgentau ist noch frisch auf ihnen.
Jetzt in der Küche atmet Malorie tief durch, bevor sie die Kerze ausbläst. Sie sieht sich in dem kleinen Raum um, nimmt die verrosteten Geräte und das gesprungene Geschirr zur Kenntnis. Den Pappkarton, der als Mülleimer dient. Die Stühle, manche von ihnen mit Schnur zusammengehalten. Die Wände sind schmutzig. Schmutz von den Händen und Füßen der Kinder. Aber auch ältere Flecken. Der Sockel der Wände im Flur ist verfärbt, tiefe Purpurtöne, die mit der Zeit zu Braun verblasst sind. Sie stammen von Blut. Der Teppichboden im Wohnzimmer ist ebenfalls verfärbt, egal wie viel Malorie schrubbt. Es gibt keine Chemikalien im Haus, die ihr helfen würden, ihn sauber zu bekommen. Vor langer Zeit hat Malorie die Eimer mit Wasser vom Brunnen gefüllt und sich mithilfe einer Anzugjacke darangemacht, die Flecken überall im Haus zu beseitigen. Doch sie wollten nicht weggehen. Selbst die weniger hartnäckigen blieben, ein Schatten ihres ursprünglichen Ausmaßes vielleicht, aber immer noch erschreckend sichtbar. Eine Schachtel Kerzen verbirgt einen Fleck in der Eingangsdiele. Die Couch im Wohnzimmer steht seltsam schief, sie wurde so hingeschoben, um zwei Verunreinigungen zu überdecken, die für Malorie wie Wolfsköpfe aussehen. Im Obergeschoss, bei der Treppe zum Dachboden, verhüllt ein Berg muffig riechender Mäntel purpurne Kratzer, die tief in den Sockel der Wand eingegraben sind. Gut drei Meter entfernt befindet sich der schwärzeste Fleck im Haus. Sie benutzt den hinteren Teil des ersten Stockwerks nicht, weil sie sich nicht überwinden kann darüberzusteigen.
Früher war das einmal ein hübsches Haus in einem hübschen Vorort von Detroit. Es war familienfreundlich und sicher. Vor nur einem halben Jahrzehnt hätte es ein Immobilienmakler stolz hergezeigt. Doch an diesem Morgen sind die Fenster mit Pappkarton und Holz abgedeckt. Es gibt kein fließendes Wasser. Ein großer hölzerner Eimer steht auf der Küchentheke. Er riecht schal. Es gibt keine herkömmlichen Spielzeuge für Kinder. Teile eines Stuhls wurden zurechtgeschnitzt, um die Rolle kleiner Menschen zu spielen. Gesichter wurden ihnen aufgemalt. Die Küchenschränke sind leer. Es gibt keine Gemälde an den Wänden. Kabel laufen unter der hinteren Tür hindurch und nach oben zu den Schlafzimmern, wo Verstärker Malorie und die Kinder auf jedes Geräusch aufmerksam machen, das von außerhalb des Hauses kommt. So leben die drei. Sie gehen für lange Zeiträume nicht nach draußen. Wenn sie es tun, dann mit verbundenen Augen.
Die Kinder haben die Welt außerhalb ihres Zuhauses nie gesehen. Nicht einmal durch die Fenster. Und Malorie hat seit mehr als vier Jahren nicht hinausgeschaut.
Vier Jahre.
Sie muss diese Entscheidung nicht heute treffen. Es ist Oktober in Michigan. Es ist kalt. Eine Reise von zwanzig Meilen auf dem Fluss wird hart werden für die Kinder. Vielleicht sind sie noch zu jung. Was, wenn eins von ihnen ins Wasser fällt? Was würde Malorie, mit verbundenen Augen, dann tun?
Ein Unfall, denkt Malorie. Wie schrecklich. Nach all dem Kampf, nachdem wir so lange überlebt haben. Wegen eines Unfalls umkommen.
Malorie schaut auf die Vorhänge. Sie beginnt zu weinen. Sie würde gern jemanden anschreien. Sie würde gern jemanden anflehen. Das ist unfair, würde sie sagen. Das ist grausam.
Sie blickt über die Schulter zum Eingang der Küche und dem Flur, der zum Schlafzimmer der Kinder führt. Sie könnte die Kinder informieren, sich anhören, was sie zu sagen haben. Ihre Vorschläge würden gut sein. Erst vier Jahre alt, aber darauf trainiert zu lauschen. In der Lage, beim Steuern eines Boots zu helfen, das blind gerudert wird. Malorie würde die Reise ohne sie nicht machen können. Sie braucht ihre Ohren. Kann sie auch ihren Rat gebrauchen? Würden sie mit ihren vier Jahren etwas dazu zu sagen haben, wann der beste Zeitpunkt ist, um das Haus für immer zu verlassen?
Malorie sinkt auf einen Küchenstuhl und unterdrückt ihre Tränen. Ihr nackter großer Zeh tippt noch immer auf den Boden. Langsam hebt sie den Blick zur Kellertreppe. Dort hat sie einst mit einem Mann namens Tom über einen Mann namens Don gesprochen. Sie sieht zur Spüle, wohin Don einst Eimer voll Brunnenwasser getragen hat, zitternd, weil er im Freien gewesen war. Wenn sie sich vorbeugt, kann sie die Diele sehen, wo Cheryl das Futter für die Vögel zubereitet hat. Und zwischen ihr und der Haustür liegt schweigend und dunkel das Wohnzimmer, wo mehr Erinnerungen an zu viele Leute ruhen, als sie verdauen kann.
Vier Jahre, denkt sie und möchte die Faust durch die Wand stoßen.
Malorie weiß, dass aus vier Jahren leicht acht werden können. Und aus acht werden schnell zwölf. Und dann werden die Kinder erwachsen sein. Erwachsene, die nie den Himmel gesehen haben. Die nie aus einem Fenster geschaut haben. Was würden zwölf Jahre, in denen sie leben wie Kälber, mit ihnen machen? Gibt es einen Punkt, fragt sich Malorie, an dem die Wolken am Himmel unwirklich werden und der einzige Ort, an dem sie sich je zu Hause fühlen werden, hinter dem schwarzen Tuch ihrer Augenbinden ist?
Malorie schluckt schwer und stellt sich vor, sie allein aufzuziehen, bis sie Teenager sind.
Könnte sie es überhaupt schaffen? Könnte sie sie noch einmal zehn Jahre beschützen? Könnte sie lange genug über sie wachen, bis die Kinder über sie wachen können? Und wozu? Was ist das für ein Leben, für das sie sie beschützt?
Du bist eine schlechte Mutter, denkt sie.
Weil sie keinen Weg findet, sie die Weite des Himmels kennenlernen zu lassen. Weil sie keinen Weg findet, sie ungezügelt im Garten, auf der Straße, im Wohnviertel mit seinen leeren Häusern und verrosteten Autos herumlaufen zu lassen. Oder ihnen auch nur ein einziges Mal einen kurzen Blick in den Weltraum zu gewähren, wenn der Himmel schwarz wird und die Sterne plötzlich wunderschön an ihm stehen.
Du bewahrst sie für ein Leben, das nicht lebenswert ist.
Durch ihre Tränen sieht Malorie verschwommen die Vorhänge noch eine Idee heller werden. Wenn da draußen Nebel ist, wird er nicht lange anhalten. Und wenn er ihr helfen kann, wenn er sie und die Kinder auf ihrem Weg zum Fluss, zum Ruderboot verbirgt, dann muss sie die Kinder jetzt wecken.
Sie schlägt mit der flachen Hand auf den Küchentisch, dann wischt sie sich die Augen aus.
Sie steht auf, verlässt die Küche und geht zum Schlafzimmer der Kinder.
»Junge!«, brüllt sie. »Mädchen! Aufstehen.«
Im Schlafzimmer ist es dunkel. Das eine Fenster ist mit so vielen Decken verkleidet, dass auch dann kein Licht hineingelangt, wenn die Sonne im Zenit steht. Es gibt zwei Matratzen, auf jeder Seite des Raums eine. Über ihnen erheben sich schwarze Kuppeln. Früher war mit dem Maschendraht, der den Stoff trägt, ein kleiner Garten beim Brunnen auf der Rückseite des Hauses eingezäunt. Aber in den letzten vier Jahren hat er als Schutz für die Kinder gedient; nicht damit sie nicht gesehen werden, sondern damit sie selbst nichts sehen. Unter dem Tuch und dem Draht hört Malorie jetzt Bewegung, und sie kniet nieder, um den Draht von den Nägeln im Holzboden des Zimmers zu lösen. Sie zieht bereits die Augenbinden aus der Tasche, als die Kinder sie mit verschlafenen, überraschten Mienen ansehen.
»Mommy?«
»Steht auf. Sofort. Ich möchte, dass ihr euch beeilt.«
Die Kinder reagieren schnell. Sie jammern nicht und sie beschweren sich nicht.
»Wohin gehen wir?«, fragt das Mädchen.
Malorie gibt ihm eine Augenbinde und sagt: »Leg die an. Wir fahren auf dem Fluss.«
Die beiden nehmen ihre Binden und ziehen sich den schwarzen Stoff straff über die Augen. Sie sind äußerst versiert darin. Experten, falls sie mit ihren vier Jahren Experten in irgendetwas sein können. Es bricht Malorie das Herz. Sie sind noch Kinder und sollten neugierig sein. Sie sollten fragen, warum sie heute auf dem Fluss fahren werden – auf dem sie in ihrem Leben noch nie waren.
Aber stattdessen tun sie einfach, was man ihnen sagt.
Malorie legt ihre eigene Augenbinde noch nicht an. Sie will erst die Kinder fertig machen.
»Nehmt euer Puzzle mit«, sagt sie zu dem Mädchen. »Und nehmt beide eure Decken mit.«
Sie ist unsagbar aufgeregt. Es ist viel mehr als Hysterie. Malorie geht von einem Zimmer zum anderen und prüft alles Mögliche, kleine Dinge, die sie vielleicht gebrauchen könnten. Plötzlich fühlt sie sich fürchterlich unvorbereitet. Sie fühlt sich ungeschützt, als würde das Haus mitsamt dem Erdboden darunter einfach verschwinden und sie gänzlich der Außenwelt aussetzen. Doch auch im Irrsinn dieses Moments hält sie am Konzept der Augenbinden fest. Was für Werkzeuge sie auch einpacken mag, welcher Haushaltsgegenstand ihr auch als Waffe dienen könnte, sie weiß, dass die Augenbinden ihr stärkster Schutz sind.
»Bringt eure Decken mit!«, erinnert sie die Kinder und hört die beiden kleinen Körper bei ihren Vorbereitungen. Dann geht sie in ihr Zimmer, um ihnen zu helfen. Der Junge, der klein für sein Alter ist, aber von einer drahtigen Kraft, auf die Malorie stolz ist, überlegt, welches von zwei T-Shirts er nehmen soll. Beide sind ihm zu groß. Sie gehörten früher einem Erwachsenen, der längst nicht mehr da ist. Malorie entscheidet für ihn und sieht, wie sein dunkler Haarschopf unter dem Stoff verschwindet, um anschließend wieder aus der Kopföffnung zu sprießen. In ihrem nervösen Zustand nimmt Malorie noch wahr, dass der Junge in letzter Zeit ein wenig gewachsen ist.
Das Mädchen, das durchschnittlich groß ist für sein Alter, versucht, ein Kleid über den Kopf zu ziehen, ein Kleid, das es zusammen mit Malorie aus einem alten Bettlaken genäht hat.
»Es ist kühl draußen, Mädchen«, sagt Malorie. »Ein Kleid taugt nicht.«
Das Mädchen runzelt die Stirn. Sein blondes Haar ist verstrubbelt, weil es eben erst aufgewacht ist.
»Ich trage außerdem eine Hose, Mommy. Und wir haben unsere Decken.«
Zorn lodert in Malorie auf. Sie kann keinen Widerstand gebrauchen. Nicht heute. Nicht einmal, wenn das Mädchen recht hat.
»Kein Kleid heute.«
Die Welt draußen, die leeren Einkaufszentren und Restaurants, die Tausende von unbenutzten Fahrzeugen, die vergessenen Produkte in zwecklosen Ladenregalen, all das drängt auf das Haus ein. Alles raunt von dem, was sie erwartet.
Sie holt eine Jacke aus dem Schrank in dem kleinen Schlafzimmer am anderen Ende des Flurs. Dann verlässt sie den Raum, und sie weiß, es wird zum letzten Mal sein.
»Mommy«, sagt das Mädchen, das ihr im Flur begegnet. »Brauchen wir unsere Fahrradhupen?«
Malorie atmet tief durch.
»Nein«, antwortet sie. »Wir werden alle zusammen sein. Während der ganzen Fahrt.«
Als das Mädchen ins Schlafzimmer zurückgeht, überlegt Malorie, wie erbärmlich es ist, dass Fahrradhupen die größte Unterhaltung ihrer Kinder sind. Sie spielen seit Jahren mit ihnen. Ihr ganzes Leben lang tröten sie sich von einer Seite des Wohnzimmers zur anderen zu. Das laute Geräusch ist Malorie immer auf die Nerven gegangen. Aber sie hat sie ihnen nie weggenommen. Sie hat sie nie versteckt. Selbst in den Wirren ihrer frühen Mutterschaft hat Malorie begriffen, dass in dieser Welt alles gut war, was die Kinder zum Lachen brachte.
Sogar als sie Victor noch Angst damit gemacht haben.
Ach, wie sich Malorie nach diesem Hund sehnt! Als die Kinder noch klein waren und sie sie allein erzog, saß in ihren Fantasien, wie sie den Fluss hinunterfahren würde, immer Victor, der Border Collie, neben ihr im Ruderboot. Victor hätte sie gewarnt, wenn ein Tier in der Nähe war. Möglicherweise hätte er auch etwas verscheuchen können.
»Okay«, sagt sie nun, da sie mit ihrem geschmeidigen Körper im Eingang zum Kinderschlafzimmer steht. »Das war’s. Jetzt fahren wir los.«
Es gab Zeiten, ruhige Nachmittage, Abende, an denen Gewitter tobten, da Malorie ihnen erzählt hat, dass dieser Tag kommen könnte. Ja, sie hat schon früher vom Fluss gesprochen. Von einer Reise. Sie hat darauf geachtet, es nie ihre »Flucht« zu nennen, weil sie den Gedanken nicht ertrug, dass die Kinder ihr tägliches Leben für etwas hielten, dem man entfliehen muss. Stattdessen hat sie vor einem künftigen Morgen gewarnt, an dem sie sie hastig wecken und von ihnen verlangen würde, sich darauf vorzubereiten, ihr Zuhause für immer zu verlassen. Sie wusste, sie konnten ihre Unsicherheit entdecken, so wie sie eine Spinne an einer verhüllten Fensterscheibe hinaufkrabbeln hören konnten. Seit Jahren stand ein kleiner Beutel mit Lebensmitteln im Schrank, die immer ersetzt wurden, wenn sie ungenießbar waren. Malories Beweis dafür, dass sie die Kinder irgendwann wecken könnte, wie sie es gesagt hatte. Versteht ihr, dachte sie immer, das Essen im Schrank gehört zu dem Plan.
Und jetzt ist dieser Tag gekommen. An diesem Morgen. In dieser Stunde. Der Nebel.
Der Junge und das Mädchen treten vor, und Malorie kniet sich vor sie. Sie überprüft ihre Augenbinden. Sie sind sicher. In diesem Moment, da sie von einem kleinen Gesicht zum anderen schaut, begreift Malorie voll und ganz, dass die Reise fort von hier nun endlich begonnen hat.
»Hört mir zu«, sagt sie und fasst die Kinder am Kinn. »Wir werden heute in einem Ruderboot den Fluss hinunterfahren. Es könnte eine lange Fahrt werden. Aber es ist absolut wichtig, dass ihr beide alles genau so macht, wie ich es euch sage. Habt ihr verstanden?«
»Ja.«
»Ja.«
»Es ist kalt da draußen. Ihr habt eure Decken. Ihr habt eure Binden. Mehr braucht ihr im Augenblick nicht. Versteht ihr mich?«
»Ja.«
»Ja.«
»Unter keinen Umständen wird einer von euch seine Augenbinde abnehmen. Wenn ihr es tut, tue ich euch weh. Verstanden?«
»Ja.«
»Ja.«
»Ich brauche eure Ohren. Ihr beide müsst so aufmerksam horchen, wie ihr könnt. Auf dem Fluss müsst ihr über das Wasser hinaus horchen, über den Wald hinaus. Wenn ihr ein Tier im Wald hört, sagt ihr es mir. Wenn ihr etwas im Wasser hört, sagt ihr es mir. Verstanden?«
»Ja.«
»Ja.«
»Stellt keine Fragen, die nichts mit dem Fluss zu tun haben. Du wirst vorn sitzen«, sagt sie und tippt den Jungen an. Dann berührt sie das Mädchen. »Und du wirst hinten sitzen. Wenn wir zum Boot kommen, lenke ich euch an eure Plätze. Ich werde in der Mitte sitzen und rudern. Ich will nicht, dass ihr beide miteinander von einem Bootsende zum anderen redet, es sei denn, es geht um etwas, was ihr im Wald hört. Oder im Fluss. Verstanden?«
»Ja.«
»Ja.«
»Wir halten nicht an, egal aus welchem Grund. Erst wenn wir dort ankommen, wo wir hinfahren. Ich sage euch Bescheid, wenn es so weit ist. Wenn ihr Hunger bekommt, esst aus diesem Beutel.«
Malorie führt den Beutel an ihre kleinen Handrücken.
»Schlaft nicht ein. Ihr dürft auf keinen Fall einschlafen. Ich brauche eure Ohren heute mehr, als ich sie je zuvor gebraucht habe.«
»Nehmen wir die Mikrofone mit?«, fragt das Mädchen.
»Nein.«
Während Malorie spricht, schaut sie von einem verbundenen Gesicht zum anderen.
»Wenn wir dieses Haus verlassen, halten wir uns an den Händen und gehen auf dem Fußpfad, der zum Brunnen führt. Wir gehen durch die kleine Lichtung im Wald hinter unserem Haus. Der Weg zum Fluss ist zugewachsen. Wir werden unsere Hände vielleicht kurz loslassen müssen, und wenn wir das tun, möchte ich, dass ihr euch beide an meiner Jacke oder aneinander festhaltet. Verstanden?«
»Ja.«
»Ja.«
Klingen sie, als hätten sie Angst?
»Hört mir zu. Wir fahren an einen Ort, wo keiner von euch jemals war. Wir entfernen uns so weit vom Haus, wie ihr euch bisher noch nie von ihm entfernt habt. Es gibt Dinge da draußen, die euch wehtun werden, die Mommy wehtun werden, wenn ihr nicht hört, was ich euch jetzt, heute Morgen sage.«
Die Kinder schweigen.
»Versteht ihr?«
»Ja.«
»Ja.«
Malorie hat sie gut trainiert.
»Also gut«, sagt sie, und ihre Stimme lässt eine Spur Hysterie erkennen. »Wir gehen. Wir gehen jetzt, auf der Stelle. Wir gehen.«
Sie drückt die Köpfe der beiden an ihre Stirn.
Dann nimmt sie je ein Kind an der Hand. Sie durchqueren rasch das Haus. In der Küche wischt sich Malorie mit zitternden Händen über die Augen und zieht ihre eigene Augenbinde aus der Tasche. Sie bindet sie straff um den Kopf und das lange schwarze Haar. Mit der Hand am Türgriff zögert sie, es ist die Tür, die zu dem Fußpfad hinausgeht, auf dem sie zahllose Eimer Wasser geholt hat.
Sie ist im Begriff, das Haus aufzugeben. Die Realität des Augenblicks überwältigt sie.
Als sie die Tür öffnet, strömt die kalte Luft herein, und Malorie macht einen Schritt vorwärts, vor ihrem geistigen Auge verschwimmt alles vor nackter Angst und Szenarien, die so grausig sind, dass sie vor den Kindern nicht darüber sprechen kann. Sie stammelt beim Reden und schreit beinahe.
»Haltet meine Hand. Beide.«
Der Junge nimmt Malories linke Hand. Das Mädchen lässt seine winzigen Finger in ihre rechte gleiten.
Mit verbundenen Augen bewegen sie sich vom Haus fort.
Der Brunnen ist zwanzig Meter entfernt. Kleine Holzpflöcke, die früher zu Bilderrahmen gehörten, stecken den Weg ab und bieten Orientierung. Beide Kinder haben die Hölzer mit ihren Schuhspitzen unzählige Male berührt. Malorie hat einmal zu ihnen gesagt, das Wasser im Brunnen sei die einzige Medizin, die sie bräuchten. Aus diesem Grund, das weiß sie, haben die Kinder den Brunnen immer respektiert. Sie haben sich nie beschwert, wenn sie Wasser mit ihr holen mussten.
Der Erdboden um den Brunnen herum ist jetzt uneben unter ihren Füßen. Er fühlt sich unnatürlich, weich an.
»Hier ist die Lichtung«, ruft Malorie.
Sie führt die Kinder vorsichtig. Ein zweiter Fußpfad beginnt zehn Meter vom Brunnen entfernt. Der Eingang zu ihm ist schmal, und er teilt den Wald. Von hier sind es weniger als hundert Meter bis zum Fluss. Am Wald angekommen, lässt Malorie vorübergehend die Hände der Kinder los, damit sie nach dem halb zugewachsenen Eingang tasten kann.
»Haltet euch an meiner Jacke fest!«
Sie fühlt an den Ästen entlang, bis sie ein Unterhemd ertastet, das an einem Baum am Eingang des Fußpfads festgebunden ist. Sie hat es selbst vor mehr als drei Jahren hier befestigt.
Der Junge bekommt ihre Tasche zu fassen, und sie spürt, wie das Mädchen sich an seiner Tasche einhakt. Malorie ruft ihnen zu, während sie gehen, sie fragt ständig, ob sie sich aneinander festhalten. Zweige von Bäumen stochern ihr ins Gesicht. Sie schreit nicht auf.
Bald haben sie die Markierung erreicht, die Malorie in den Boden gesteckt hat. Das zersplitterte Bein eines Küchenstuhls. Es steckt in der Mitte des Pfads, sodass sie darüber- stolpern und es bemerken muss.
Sie hat das Ruderboot vor vier Jahren entdeckt, es lag nur fünf Häuser von ihrem eigenen entfernt vertäut. Es ist mehr als vier Monate her, seit sie zuletzt danach gesehen hat, aber sie ist überzeugt, dass es noch da ist. Dennoch fällt es schwer, sich nicht den schlimmsten Fall vorzustellen. Was, wenn jemand anderer es vor ihr genommen hat? Eine andere Frau, nicht unähnlich ihr selbst, die fünf Häuser in die andere Richtung wohnt und seit vier Jahren jeden Tag Mut für ihre Flucht sammelt. Eine Frau, die einmal genau dieses rutschige Ufer hier hinuntergestolpert ist und dieselbe Erlösung empfand, als sie den stahlverstärkten Bug des Ruderboots ertastet hat.
Die kalte Luft greift nach den Kratzern in Malories Gesicht. Die Kinder beklagen sich nicht.
Das ist keine Kindheit, denkt Malorie und führt sie zum Fluss.
Dann hört sie es. Noch bevor sie die Anlegestelle erreicht, hört sie das Ruderboot im Wasser schaukeln. Sie bleibt stehen, überprüft die Augenbinden der Kinder und zieht beide nach. Sie führt sie auf die hölzernen Planken.
Ja, denkt sie, es ist noch da. Genauso wie die Autos immer noch in der Straße vor ihrem Haus geparkt sind. Genauso wie die Häuser immer noch leer sind.
Es ist kälter außerhalb des Walds, abseits des Hauses. Das Geräusch des Wassers ist ebenso beängstigend wie aufmunternd. Sie geht in die Knie, wo sie das Boot vermutet, lässt die Hände der Kinder los und tastet nach der stählernen Bugspitze. Ihre Finger finden zuerst das Seil, mit dem das Boot festgebunden ist.
»Junge«, sagt sie und zieht die eiskalte Bugspitze zur Anlegestelle. »Vorn rein. Steig vorn ein.« Sie hilft ihm. Sobald er stabil sitzt, nimmt sie sein Gesicht in beide Hände und schärft ihm noch einmal ein: »Horche! Über das Wasser hinaus. Horche!«
Sie weist das Mädchen an, auf der Anlegestelle zu bleiben, während sie blind das Seil losmacht und vorsichtig auf die Mittelbank steigt. Noch halb im Stehen hilft sie dem Mädchen an Bord. Das Boot schaukelt einmal heftig, und Malorie umschließt die Hand des Mädchens zu kräftig. Das Mädchen schreit nicht auf.
Auf dem Boden des Boots haben sich Laub, Zweige und Wasser gesammelt. Malorie fährt mit der Hand hindurch und findet die Ruder, die sie auf der rechten Seite des Boots verstaut hat. Die Ruder sind kalt. Feucht. Sie riechen nach Mehltau. Sie setzt sie in die Metallhalterungen ein. Sie fühlen sich kräftig an, robust, als sie sich mit einem davon von der Anlegestelle abstößt. Und dann …
Sind sie auf dem Fluss.
Das Wasser ist ruhig. Aber es gibt Geräusche hier draußen. Bewegung im Wald.
Malorie denkt an den Nebel. Sie hofft, dass er ihre Flucht getarnt hat.
Aber der Nebel wird vergehen.
»Kinder«, sagt Malorie und atmet schwer. »Lauscht!«
Endlich, nach vier Jahren des Wartens und Trainierens, nach vier Jahren, in denen sie den Mut zum Aufbruch gesammelt hat, rudert sie fort von der Anlegestelle, vom Ufer und von dem Haus, das sie und die Kinder beschützt hat – ein ganzes Leben lang, wie es ihr scheint.
2
Es sind neun Monate, bis die Kinder zur Welt kommen. Malorie wohnt mit ihrer Schwester Shannon in einem bescheidenen Haus zur Miete, das keine der beiden bisher verschönert hat. Sie sind vor drei Wochen eingezogen, trotz der Bedenken ihrer Freunde. Malorie und Shannon sind gesellige, intelligente Frauen, aber in der Gegenwart der jeweils anderen neigen sie zu einem zänkischen Verhalten, wie sich noch an dem Tag herausstellt, an dem sie ihre Kisten ins Haus tragen.
»Ich habe mir überlegt, dass es sinnvoller ist, wenn ich das größere Schlafzimmer nehme«, sagte Shannon auf dem Treppenabsatz im Obergeschoss. »Nachdem ich die größere Kleiderkommode von uns beiden habe.«
»Komm, hör auf«, erwiderte Malorie, die einen Milchkasten mit nicht gelesenen Büchern in den Händen hielt. »Dieses Zimmer hat die bessere Aussicht.«
Die Schwestern debattierten lange darüber, obwohl beiden bewusst war, dass sie ihre Freunde und Eltern bestätigten, indem sie schon an ihrem allerersten Tag in Streit gerieten. Schließlich erklärte sich Malorie einverstanden, eine Münze zu werfen, was zugunsten von Shannon ausging. Malorie glaubt immer noch, dass dabei irgendwie gemogelt wurde.
Jetzt, heute, denkt Malorie jedoch nicht an die kleinen Dinge, mit denen ihre Schwester sie in den Wahnsinn treibt. Sie räumt nicht stillschweigend hinter Shannon auf, schließt keine Schranktüren, folgt nicht einer Spur von Pullovern und Socken durch die Flure. Sie bläst nicht die Backen auf und schüttelt nicht den Kopf, während sie Spülwasser einlässt oder einen von Shannons nicht ausgepackten Kartons aus der Mitte des Wohnzimmers schleift, wo er ihnen beiden im Weg steht. Stattdessen steht sie nackt vor dem Spiegel im Badezimmer des Obergeschosses und betrachtet ihren Bauch.
Deine Periode ist auch früher schon manchmal ausgeblieben, sagt sie sich. Aber das tröstet sie kaum, weil sie schon seit Wochen nervös ist – sie weiß, sie hätte vorsichtiger sein sollen mit Henry Martin.
Das schwarze Haar fällt ihr auf die Schultern. Sie zieht die Lippen seltsam kraus, legt die Hände auf ihren flachen Bauch und nickt langsam. Egal wie sie es sich erklärt, sie fühlt sich schwanger.
»Malorie!«, ruft Shannon aus dem Wohnzimmer. »Was treibst du da drin?«
Malorie antwortet nicht. Sie dreht sich zur Seite und neigt den Kopf. Ihre blauen Augen sehen grau aus im blassen Badezimmerlicht. Sie legt eine Hand auf die Ablage neben dem Waschbecken und drückt den Rücken durch. Sie versucht, ihren Bauch magerer aussehen zu lassen, als würde das beweisen, dass kein kleines Leben in ihm sein kann.
»Malorie!«, ruft Shannon noch einmal. »Da ist schon wieder so ein Bericht im Fernsehen! Etwas ist in Alaska vorgefallen.«
Malorie hört ihre Schwester, aber was draußen in der Welt vor sich geht, interessiert sie im Augenblick nicht sehr.
In den letzten Tagen hat sich eine Geschichte im Internet verbreitet, die den Namen »Russlandbericht« bekommen hat. Sie handelt davon, dass der Beifahrer eines Lkws, der auf einer verschneiten Straße in der Nähe von Sankt Petersburg unterwegs war, seinen Freund, der am Steuer saß, anzuhalten bat und ihn dann angriff. Er kratzte ihm mit den Fingernägeln die Lippen aus dem Gesicht. Dann nahm er sich mithilfe einer Kreissäge von der Ladefläche des Lastwagens das Leben. Eine grausige Geschichte, aber ihre Bekanntheit schreibt Malorie der scheinbar sinnlosen Art und Weise zu, wie zufällige Ereignisse durch das Internet zu Berühmtheit gelangen. Dann tauchte jedoch eine zweite Geschichte auf. Ähnliche Umstände. Diesmal in Jakutsk, fast fünftausend Kilometer östlich von Sankt Petersburg. Dort begrub eine dem Vernehmen nach psychisch »stabile« Mutter ihre Kinder lebendig im Garten der Familie, ehe sie sich selbst mit den scharfen Rändern von zerbrochenem Geschirr das Leben nahm. Und eine dritte Geschichte aus dem russischen Omsk, dreitausend Kilometer südöstlich von Sankt Petersburg, verbreitete sich im Netz und wurde rasch zu einer der meistdiskutierten Seiten in allen sozialen Medien. Diesmal gab es Videobilder. Solange sie es schaffte, hatte Malorie einem Mann zugesehen, der eine Axt schwang und dessen Bart rot vor Blut war. Er versuchte, den nicht im Bild sichtbaren Mann anzugreifen, der ihn filmte, was ihm schließlich auch gelang. Aber diesen Teil hatte Malorie nicht gesehen. Sie bemühte sich, das Thema überhaupt nicht weiter zu verfolgen. Aber Shannon, die schon immer dramatischer veranlagt war, bestand darauf, ihr die erschreckenden Nachrichten zu übermitteln.
»Alaska«, wiederholte sie durch die Badezimmertür. »Das ist in Amerika, Malorie!«
Shannons blondes Haar verrät die finnischen Wurzeln ihrer beider Mutter. Malorie ähnelt mehr ihrem Vater: kräftig, tief liegende Augen und die glatte, helle Haut einer Bewohnerin des Nordens. In Michigans Upper Peninsula aufgewachsen, träumten beide davon, im südlichen Teil des Staats, bei Detroit, zu leben, wo es ihrer Vorstellung nach Partys, Konzerte, Jobs und Männer in Hülle und Fülle gab.
Dieser letzte Punkt hatte sich als wenig ergiebig für Malorie erwiesen, bis sie Henry Martin traf.
»Ach du lieber Himmel«, brüllt Shannon. »In Kanada ist eventuell auch etwas vorgefallen. Das ist eine ernste Sache, Malorie. Was machst du denn eigentlich da drin?«
Malorie dreht den Hahn auf und lässt das kalte Wasser über ihre Finger laufen. Sie spritzt sich etwas davon ins Gesicht, blickt in den Spiegel und denkt an ihre Eltern, die nach wie vor auf der Oberen Halbinsel wohnen. Sie wissen nichts von Henry Martin. Sie selbst hat ja seit dieser einen gemeinsamen Nacht nicht mehr mit ihm gesprochen. Und doch ist sie jetzt wahrscheinlich für alle Zeiten mit ihm verbunden.
Plötzlich geht die Badezimmertür auf. Malorie greift nach einem Handtuch.
»Herrgott noch mal, Shannon.«
»Hast du mich verstanden, Malorie? Die Geschichte ist überall. Es heißt inzwischen, es habe damit zu tun, dass man etwas sieht. Ist das nicht merkwürdig? Auf CNN sagten sie gerade, das sei die eine Konstante bei allen Zwischenfällen. Dass die Opfer etwas gesehen haben, bevor sie Leute angriffen und sich selbst umbrachten. Ist das zu glauben? Sag?«
Malorie dreht sich langsam zu ihrer Schwester um. Ihre Miene ist ausdruckslos.
»Hey, ist alles in Ordnung mit dir, Malorie? Du siehst nicht so toll aus.«
Malorie fängt an zu weinen. Sie beißt sich auf die Unterlippe. Sie hat das Handtuch genommen, aber sich bisher noch nicht damit bedeckt. Sie steht immer noch vor dem Spiegel, als würde sie ihren nackten Bauch mustern. Shannon bemerkt es.
»Oh, Scheiße«, sagt Shannon. »Machst du dir etwa Sorgen, dass du …?
Malorie nickt bereits. Die Schwestern treten in dem rosafarbenen Badezimmer aufeinander zu, und Shannon nimmt Malorie in die Arme, tätschelt ihr den Hinterkopf, beruhigt sie.
»Okay«, sagt sie. »Lass uns nicht ausflippen. Wir fahren erst mal einen Test holen, wie man das so macht … Oder? Keine Sorge. Ich wette, bei mehr als der Hälfte der Leute, die den Test machen, stellt sich heraus, dass sie nicht schwanger sind.«
Malorie antwortet nicht. Sie seufzt nur tief.
»Okay«, sagt Shannon. »Fahren wir.«
3
Wie weit kann ein Mensch hören?
Mit verbundenen Augen zu rudern ist sogar noch schwerer, als sich Malorie vorgestellt hat. Schon viele Male hat das Ruderboot die Ufer gerammt und ist für mehrere Minuten festgesteckt. In dieser Zeit wurde sie von Visionen bestürmt, in denen unsichtbare Hände nach den Augenbinden der Kinder griffen. Finger, die aus dem Wasser auftauchen, aus dem Schlamm, wo sich Fluss und Erde treffen. Die Kinder haben nicht geschrien, sie haben nicht gejammert. Dafür sind sie zu geduldig.
Aber wie weit kann ein Mensch hören?
Der Junge hat geholfen, das Boot wieder flottzumachen, er ist aufgestanden und hat gegen einen bemoosten Baumstamm gedrückt, und jetzt rudert Malorie wieder. Trotz dieser frühen Rückschläge spürt Malorie, dass sie vorankommen. Es wirkt belebend. Vögel singen in den Bäumen, jetzt, da die Sonne herausgekommen ist. Tiere streifen durch das dichte Laub des Waldes ringsum. Fische springen aus dem Wasser, das Geräusch des Aufspritzens setzt Malories Nerven unter Strom. All das hören die drei nur. Nichts davon sehen sie.
Von Geburt an wurden die Kinder dazu trainiert, die Geräusche des Waldes zu verstehen. Als sie Babys waren, band ihnen Malorie T-Shirts über die Augen und trug sie zum Waldrand. Dort beschrieb sie ihnen die Geräusche des Waldes, auch wenn sie wusste, dass sie zu klein waren, um etwas von dem zu verstehen, was sie ihnen erzählte.
Blätter rascheln, sagte sie etwa. Ein kleines Tier, wie ein Kaninchen. Immer in dem Bewusstsein, dass es etwas sehr viel Schlimmeres sein konnte. Schlimmer sogar als ein Bär. In jenen Tagen und den Tagen, die folgten, als die Kinder alt genug waren, um zu lernen, trainierte Malorie sich selbst ebenso sehr, wie sie die beiden trainierte. Doch sie würde nie so gut hören, wie die Kinder es eines Tages tun würden. Sie war vierundzwanzig Jahre alt, als sie endlich in der Lage war, den Unterschied zwischen einem Regentropfen und einem Klopfen an ein Fenster allein mithilfe des Gehörs zu erkennen. Sie wuchs auf der Grundlage ihres Sehvermögens auf. Ist sie damit die falsche Lehrerin? Als sie Blätter ins Haus brachte und die Kinder mit verbundenen Augen unterscheiden ließ, ob sie auf ein Blatt trat oder es in der Hand zerdrückte – waren das die richtigen Lektionen für sie?
Wie weit kann ein Mensch hören?
Der Junge mag Fische, das weiß sie. Mithilfe einer rostigen Angelrute, die sie aus einem im Keller gefundenen Regenschirm zusammengebastelt hatte, fing Malorie oft welche im Fluss. Der Junge liebte es, sie im Eimer in der Küche herumplanschen zu sehen. Er fing auch an, sie zu zeichnen. Malorie weiß noch, dass sie dachte, sie würde jedes Tier auf dem Planeten fangen und nach Hause bringen müssen, damit die Kinder wussten, wie es aussah. Was könnte ihnen sonst noch gefallen, wenn sie die Chance hätten, es zu sehen? Was würde das Mädchen von einem Fuchs halten? Von einem Waschbären. Selbst Autos waren mythische Gegenstände, die sie nur von Malories amateurhaften Zeichnungen kannten. Büsche, Gärten, Schaufensterfronten, Gebäude, Straßen und Sterne – sie würde die ganze Welt neu für sie erschaffen müssen. Aber das Beste, was sie hatten, waren Fische. Und der Junge liebte sie.
Jetzt, da sie auf dem Fluss wieder ein leises Plätschern hört, befürchtet sie, seine Neugier könnte ihn veranlassen, die Augenbinde abzunehmen.
Wie weit kann ein Mensch hören?
Die Kinder müssen für Malorie in den Wald hineinhören, in den Wind, in die schlammigen Ufer, die zu einer ganzen Welt lebender Geschöpfe führen. Der Fluss ist ein Amphitheater, überlegt Malorie, während sie rudert.
Aber er ist auch ein Grab.
Die Kinder müssen lauschen.
Malorie kann die Vorstellung von Händen nicht abstreifen, die aus der Dunkelheit kommen, die Kinder am Kopf packen und ihnen vorsätzlich die schützenden Augenbinden abnehmen.
Schwer atmend und schwitzend hofft Malorie, dass ein Mensch weit genug hören kann, um in Sicherheit zu sein.
4
Malorie fährt. Die Schwestern benutzen ihr Auto, einen 1999er Ford Fiesta, weil es mehr Benzin im Tank hat. Sie sind erst fünf Kilometer von zu Hause entfernt, aber schon gibt es Anzeichen dafür, dass sich etwas verändert hat.
»Schau«, sagt Shannon und zeigt auf mehrere Häuser. »Decken vor den Fenstern.«
Malorie bemüht sich, darauf zu achten, was Shannon sagt, aber ihre Gedanken kehren immer wieder zu ihrem Bauch zurück. Der Medienwirbel wegen des Russlandberichts beunruhigt sie, aber sie nimmt das Ganze nicht so ernst wie ihre Schwester. Auch andere Leute im Netz sind, wie Malorie, skeptisch. Sie hat Blogs gelesen, vor allem Silly People, wo Fotos von Leuten gepostet werden, die Vorsichtsmaßnahmen treffen, und darunter stehen witzige Bildunterschriften. Während Shannon abwechselnd aus dem Fenster schaut und ihre Augen abdeckt, muss Malorie an einen dieser Einträge denken. Er zeigte eine Frau, die eine Decke vor das Fenster hängt, und darunter stand: Schatz, was hältst du davon, wenn wir das Bett genau hierher stellen?
»Ist das nicht unglaublich?«, sagt Shannon.
Malorie nickt schweigend. Sie biegt links ab.
»Komm«, sagt Shannon. »Du musst wirklich zugeben, dass die Sache langsam interessant wird.«
Ein Teil von Malorie gibt ihr recht. Es ist tatsächlich interessant. Auf dem Gehsteig kommt ein Paar vorbei, das sich Zeitungen an die Schläfen hält. Manche Fahrer haben ihre Rückspiegel hochgedreht. Malorie fragt sich vage, ob das die Anzeichen einer Gesellschaft sind, die langsam zu der Überzeugung gelangt, dass etwas nicht stimmt. Und wenn ja, was?
»Ich verstehe nicht«, sagt Malorie, teils weil sie sich abzulenken versucht, teils weil ihr Interesse wächst.
»Du verstehst was nicht?«
»Halten sie es für gefährlich hinauszusehen? Irgendwohin zu sehen?«
»Ja«, sagt Shannon. »Genau das glauben sie. Wie ich dir schon gesagt habe.«
Shannon, denkt Malorie, hatte immer schon einen Hang zum Dramatischen.
»Das klingt doch verrückt«, sagt sie. »Und schau dir diesen Typen an!«
Shannon sieht in die Richtung, in die Malorie zeigt. Dann wendet sie den Blick ab. Ein Mann im Businessanzug geht mithilfe eines Blindenstocks. Seine Augen sind geschlossen.
»Niemand schämt sich, wenn er sich so benimmt«, sagt Shannon, die Augen auf ihre Schuhe gerichtet. »So weit ist es schon gekommen.«
Als sie zu Stokely’s Drugs einbiegen, deckt Shannon ihre Augen mit der Hand ab. Malorie bemerkt es, dann schaut sie quer über den Parkplatz. Andere tun dasselbe.
»Was befürchtet ihr zu sehen?«, fragt sie.
»Darauf hat noch niemand eine Antwort.«
Malorie hat das große gelbe Schild des Drugstores schon unzählige Male gesehen. Aber es hat noch nie so wenig einladend gewirkt.
Dann wollen wir jetzt mal deinen ersten Schwangerschaftstest kaufen, denkt sie beim Aussteigen. Die Schwestern überqueren den Parkplatz.
»Ich glaube, sie sind bei den Arzneimitteln«, flüstert Shannon und öffnet die Tür des Ladens; die andere Hand behält sie halb über den Augen.
»Shannon, hör auf damit.«
Malorie geht voran zum Gang mit den Artikeln für Familienplanung. Es gibt Schwangerschaftstests von zehn verschiedenen Herstellern.
»Es gibt so viele davon«, sagt Shannon und nimmt einen aus dem Regal. »Benutzt denn niemand mehr Kondome?«
»Welchen soll ich nehmen?«
Shannon zuckt mit den Achseln. »Der hier sieht so gut aus wie jeder andere.«
Ein Mann weiter hinten im Gang öffnet einen Karton mit Bandagen. Er hält sich eine davon an die Augen.
Die Schwestern bringen den Test zur Kasse. Andrew, der in Shannons Alter und einmal mit ihr ausgegangen ist, arbeitet heute. Malorie will den Moment schnell hinter sich bringen.
»Wow«, sagt Andrew und scannt die kleine Schachtel ein.
»Halt den Mund, Andrew«, sagt Shannon. »Der ist für unseren Hund.«
»Ihr beide habt jetzt einen Hund?«
»Ja«, sagt Shannon und nimmt die Tüte, in die er den Test gesteckt hat. »Eine Sie. Und sie ist sehr beliebt in der Nachbarschaft.«
Die Heimfahrt ist eine Tortur für Malorie. Die Plastiktüte zwischen ihren Sitzen lässt den Gedanken aufkommen, dass sich ihr Leben bereits verändert hat.
»Schau«, sagt Shannon und zeigt mit derselben Hand aus dem Fenster, mit der sie ihre Augen bedeckt hat.
Sie kommen langsam an ein Stoppschild. Vor dem Haus an der Ecke sehen sie eine Frau, die auf einer Leiter steht und eine Wolldecke über das Erkerfenster nagelt.
»Wenn wir nach Hause kommen, mache ich das auch«, sagt Shannon.
»Shannon.«
Ihre Straße, in der sich sonst die Nachbarskinder tummeln, ist menschenleer. Keine blauen Dreiräder mit Aufklebern, keine Wiffleball-Schläger.
Sobald sie im Haus sind, eilt Malorie ins Bad, und Shannon schaltet sofort den Fernseher ein.
»Ich glaube, du musst einfach nur draufpinkeln, Malorie«, ruft sie.
Im Bad kann Malorie die Nachrichten hören.
Als Shannon in der Badezimmertür erscheint, starrt Malorie bereits auf den rosa verfärbten Streifen und schüttelt den Kopf.
»O Mann«, sagt Shannon.
»Ich muss Mom und Dad anrufen«, sagt Malorie. Ein Teil von ihr wappnet sich bereits, sie weiß, dass sie dieses Baby haben will, auch ohne Mann dazu.
»Du musst Henry Martin anrufen«, sagt Shannon.
Malorie wirft ihrer Schwester einen raschen Blick zu. Den ganzen Tag lang ist ihr schon klar, dass Henry Martin beim Aufziehen dieses Kindes keine große Rolle spielen wird. In gewisser Weise hat sie das bereits akzeptiert. Shannon kommt mit ihr ins Wohnzimmer, wo nicht ausgepackte Kisten auf dem Boden vor dem Fernseher stehen. Auf dem Schirm ist eine Beerdigungsprozession zu sehen. CNN-Moderatoren sprechen darüber. Shannon geht zu dem Gerät und stellt den Ton leiser. Malorie setzt sich auf die Couch und ruft Henry Martin von ihrem Handy aus an.
Er meldet sich nicht. Also schickt sie ihm eine SMS.
Wichtig. Ruf mich an, sobald du kannst.
Plötzlich springt Shannon von der Couch auf und fängt zu brüllen an. »Hast du das gesehen, Malorie? Ein Zwischenfall in Michigan! Ich glaube, sie haben gesagt, es war auf der Upper Peninsula!«
Malorie hat bereits ihre Eltern im Kopf. Als Shannon den Ton wieder lauter macht, erfahren sie, dass man ein älteres Ehepaar aus Iron Mountain erhängt im nahen Wald gefunden hat. Der Sprecher sagt, sie hätten ihre Gürtel benutzt.
Malorie ruft ihre Mutter an. Sie meldet sich nach dem zweiten Läuten.
»Malorie.«
»Mom.«
»Du rufst sicherlich wegen dieser Nachrichten an, oder?«
»Nein. Ich bin schwanger, Mom.«
»Ach, du meine Güte, Malorie.« Ihre Mutter ist einen Moment lang still. Malorie hört ihr Fernsehgerät im Hintergrund. »Bist du ernsthaft mit jemandem zusammen?«
»Nein. Es war ein Unfall.«
Shannon steht jetzt vor dem Fernseher und reißt die Augen auf. Sie deutet darauf, als wolle sie Malorie daran erinnern, wie wichtig das ist. Ihre Mutter ist still am Telefon.
»Alles in Ordnung, Mom?«
»Na ja, eigentlich mache ich mir im Augenblick mehr Sorgen um dich, Liebes.«
»Ja. Nicht gerade der beste Zeitpunkt, alles in allem.«
»Wie weit bist du schon?«
»Fünf Wochen, denke ich. Vielleicht sechs.«
»Und wirst du es behalten? Hast du diese Entscheidung bereits getroffen?«
»Ja. Ich meine, ich weiß es erst seit ein paar Minuten. Aber ich werde es behalten, ja.«
»Hast du dem Vater Bescheid gesagt?«
»Ich habe ihm geschrieben. Ich rufe ihn auch noch an.« Jetzt macht Malorie eine Pause. Dann fährt sie fort. »Fühlt ihr euch sicher da oben, Mom? Geht es euch gut?«
»Ich weiß nicht, ich weiß es einfach nicht. Niemand fühlt sich sicher, und wir haben große Angst. Aber im Augenblick mache ich mir mehr Sorgen um dich.«
Auf dem Bildschirm erklärt eine Frau mithilfe eines Diagramms, was möglicherweise passiert ist. Sie zieht eine Linie von einer kleinen Straße, wo man den Wagen des Paars verlassen aufgefunden hat. Malories Mutter sagt, dass sie jemanden kennt, der das ältere Paar kannte. Ihr Nachname sei Mikkonen. Die Frau auf dem Bildschirm steht jetzt vor einem Fleck blutigen Grases, wie es scheint.
»O Gott«, sagt Shannon.
»Ach, ich wünschte, dein Vater wäre zu Hause«, sagt ihre Mutter jetzt. »Und du bist schwanger. Ach, Malorie.«
Shannon nimmt ihrer Schwester das Telefon aus der Hand. Sie fragt, ob ihre Mutter weitere Einzelheiten weiß. Was sagen die Leute dort oben? Ist das der einzige Zwischenfall? Treffen die Leute Vorsichtsmaßnahmen?
Während Shannon weiter hektisch in das Telefon spricht, steht Malorie von der Couch auf. Sie geht zur Haustür und öffnet sie. Dann blickt sie die Straße entlang und denkt: Wie ernst ist diese Geschichte?
Man sieht keine Nachbarn in den Gärten. Keine Gesichter in den Fenstern der anderen Häuser. Ein Wagen fährt vorbei, und Malorie kann das Gesicht des Fahrers nicht sehen. Er deckt es mit der Hand ab.
Auf dem Rasen neben dem Gehweg liegt die Zeitung vom Morgen. Die Schlagzeile auf der Titelseite handelt von der wachsenden Zahl der Zwischenfälle. Sie lautet schlicht: NOCH EINER. Shannon hat ihr wahrscheinlich schon alles erzählt, was die Zeitung zu sagen hat. Malorie hebt sie auf und dreht sie um, und ihr Blick bleibt an etwas auf der Rückseite hängen.
Es ist eine Privatanzeige. Ein Haus in Riverbridge öffnet Fremden seine Türen. Ein »sicheres Haus« steht da. Eine Zuflucht. Ein Ort, der als »Asyl« dienen wird, wie seine Besitzer hoffen, während sich die bitteren Neuigkeiten häufen.
Malorie wird zum ersten Mal von einem Gefühl der Furcht ergriffen. Sie blickt erneut zur Straße. Die Tür eines Nachbarhauses geht auf und wird dann rasch wieder geschlossen. Mit der Zeitung in der Hand sieht Malorie über die Schulter zu ihrem eigenen Haus, in dem der Fernseher immer noch plärrt. Am anderen Ende des Wohnzimmers tackert Shannon eine Decke über eins der Fenster.
»Los, komm rein hier«, sagt Shannon. »Und mach die Tür zu.«