Originalausgabe
Als Ravensburger E-Book erschienen 2017
Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg
© 2017 Ravensburger Verlag GmbH
Vermittelt durch die Literaturagentur connACT, Köln
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München unter Verwendung von Bildern von © Aleshyn_Andrei/Shutterstock; © Vanzyst/Shutterstock.
Zitate aus »The Lady’s Not for Burning« von Christopher Fry mit freundlicher Genehmigung von Tam Fry. Verwendung der deutschen Übersetzung »Die Dame ist nicht fürs Feuer« von Hans Feist und Robert Schnorr mit freundlicher Genehmigung von Vivian Maria Calman und Christopher Schnorr.
Vielen Dank an die Köchin und Stiftungsgründerin Sarah Wiener für die freundliche Erlaubnis, sie als Figur in diesen Roman aufzunehmen.
Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH
ISBN 978-3-473-47851-4
www.ravensburger.de
Wir sind die einzigen beiden Menschen. Es ist Nacht. Paul und ich haben die nackten Füße im kühlen Sand vergraben und sehen zu, wie helle Sternschnuppen auf das dunkle Meer zustürzen. Als gäbe es hier unten etwas unendlich Kostbares, wofür es sich lohnt zu verbrennen. Gibt es auch. Aber ich trau mich nicht, es mir zu wünschen.
Ich nehm den letzten Schluck Bier und werf die Dose in Richtung Wasser. Ich schlinge die Arme um mich.
»Kalt«, sage ich. »Lass uns gehen.«
Paul zieht die Kapuzenjacke mit dem Totenkopf aus, die ich für ihn geklaut habe, und legt sie mir um die Schultern. An seiner Stelle hätte ich sie verbrannt, aber er trägt sie immer noch. Dann nimmt er auch noch meine Hand, hält sie einfach fest.
Ich werde ganz steif und still und würde am liebsten wieder weglaufen. Aber ich bleibe sitzen und irgendwann schaffe ich es.
»Es tut mir leid«, sage ich. »Wirklich.«
»Schon gut«, sagt er.
Und dann küsst er mich. Helle, salzige Küsse.
1
Der Straubmann hatte mich beim Dealen erwischt. Der Straubmann ist unser Klassenlehrer, und er hat einen Theatertick, aber sonst ist er eigentlich ganz okay – für einen Lehrer. Wenn er ins Klassenzimmer kommt, sagt er nicht Guten Morgen, sondern erst immer so Sprüche wie: »Bereit sein ist alles!«
Und wir: »Hä?«
Und er: »Hamlet von Schakesbier.«
Manchmal müssen wir dann zu Hause aufschreiben, was der Satz für uns bedeutet.
Jedenfalls war ich bereit, ihm zu erklären, was wirklich passiert ist. »Stellen Sie sich mal vor, Herr Straubmann, Sie haben drei große Packungen, sagen wir mal Gummibärchen, und dann kommt jemand, den Sie nicht mal kennen, nur so vom Sehen, und fragt, ob er eine Packung haben kann. Da sagen Sie doch auch: Meinetwegen, aber das kostet. Ich meine, warum sollte ich jemandem einfach ’ne Packung Gummibärchen schenken?«
»Sarah, willst du mich für dumm verkaufen?«
Ich schüttelte natürlich den Kopf.
»Wenn es nur Gummibärchen gewesen wären … Aber, Sarah, was du verkauft hast, waren Drogen.«
»Das waren keine Drogen, das war doch bloß ein bisschen Gras«, sagte ich. »Und in Colorado ist das legal, damit machen die riesen Geschäfte.«
Keine Ahnung, wo Colorado ist, aber Gropi hatte Gromi das morgens aus der Zeitung vorgelesen. Bis dahin hatte ich echt gedacht, Colorado, das ist diese Lakritz-Gummitierchen-Mischung bei Aldi. Steht ja nicht drauf:
Colorado, eigentlich eine Stadt in Afrika.
Oder was weiß ich wo.
»Und nicht nur das, Sarah, es war ein sehr junger Schüler.«
»Der ist vierzehn! Der raucht, seitdem er laufen kann.«
»Und es war in der Schule, Sarah.«
»Aber in der Pause. Und es war nur ein Joint.«
»Sarah, eine Zigarette mit Rauschgift. Sarah, auf dem Schulgelände …«
Der sollte endlich aufhören mit diesem Sarah-Sarah-Sarah … Ich weiß doch, wie ich heiße.
»Also, wenn ich das jetzt richtig verstehe, wär’s vor der Schule kein Problem gewesen.«
»Rauschgift zu konsumieren und zu verkaufen, ist natürlich überall verboten, aber jetzt muss die Schule Konsequenzen ziehen.« Er strich sich über seine Glatze und schwieg, damit es richtig ungemütlich wurde.
Wir saßen in unserem Klassenzimmer. Der Straubmann hockte kumpelhaft neben mir am Tisch. Macht er immer so. Und ich ärgerte mich, dass ich dem kleinen Penner den Joint verkauft hatte. Der hatte nichts Besseres zu tun, als den gleich auf der Toilette zu rauchen und sich vom Stenzel erwischen zu lassen. Der Stenzel ist unser Hausmeister und sein zweiter Name ist Spaßbremse.
»Willst du mir wenigstens sagen, von wem du das Zeug hast? Das würde die Sache für dich besser machen.«
Blöde Frage. Natürlich wollte ich ihm das nicht sagen. Das war doch wieder so eine typische Erwachsenenfalle. Obwohl’s eigentlich nichts gemacht hätte. Mütze war ja sowieso nicht mehr da. Keine Ahnung, wo der hin ist. Ich war deswegen ziemlich sauer auf ihn. Aber es ging ums Prinzip.
Ich sagte dem Straubmann natürlich, dass ich es selbst angepflanzt hab und dass nichts mehr da ist. »Sie müssen sich keine Sorgen machen.«
»Sarah, hör doch bitte auf, mich anzulügen.«
Also, in so einer Situation war Lügen ja wohl das Normalste von der Welt. Aber eigentlich lüge ich sowieso meistens. Ich tu’s einfach. Ist eine Art Reflex.
Ich sah aus dem Fenster.
Grauer Himmel, bisschen Schnee.
Und an der nackten Kastanie ein paar vertrocknete Blätter.
Wenn man ein Geheimnis hat, also ein richtiges Geheimnis, das wirklich nur man selbst kennt und das man nie, aber auch niemals jemandem verraten kann, weil man sonst einfach verbrennen und sich in kleinste Ascheteilchen auflösen würde … Wenn man so ein Geheimnis hat, weil etwas Schlimmes passiert ist zum Beispiel, vielleicht ist man ab dann wirklich und für immer allein, und vielleicht kommt da das Lügen her, weil es dann auch schon nichts mehr ausmacht, weil ab da alles eine Lüge ist.
»Sarah-Sarah-Sarah?« Herr Straubmann schnippte mit den Fingern vor meinem Gesicht herum. »Bist du bitte anwesend? Der Fall geht vor die Lehrerkonferenz. Du wirst einen Schulverweis bekommen.«
Wumm! – mein Blick ging von der Kastanie zum Straubmann.
»Eine Woche ist üblich. Außerdem wirst du ein paar Sozialstunden leisten müssen. Ich werde natürlich deine Großeltern informieren.«
»Das können Sie nicht machen, Herr Straubmann! Das bringt die doch ins Grab.«
»Das hättest du dir vorher überlegen sollen, Sarah.«
»Nee, jetzt mal im Ernst, Herr Straubmann!« Langsam bekam ich echt Panik. »Ich mach’s nicht wieder, wirklich nicht.«
Was stimmte – kein Mütze, kein Gras. Ich bin da total ungeschickt. Im Kindergarten zu Ostern hab ich’s ja noch nicht mal geschafft, Kresse in Eierschalen zu züchten. Und das schafft eigentlich jeder Idiot.
2
Dixi wartete auf dem Schulhof auf mich.
»Alles scheiße!«, rief ich.
Sie hakte sich bei mir unter und wir gingen zu unserer Bank, erst mal eine rauchen.
Ich kenne Dixi noch gar nicht so lange. Erst seit ich in der Achten hängen geblieben und in ihre Klasse gekommen bin, und da hab ich auch den Straubmann gekriegt.
Wir setzten uns auf die Rückenlehne. Dixi zündete zwei Kippen an und gab mir eine. »Okay, schieß los.«
»Wenn ich nicht in so einem dämlichen Theaterstück mitspiele, krieg ich ’nen Schulverweis.«
»War das wieder eine von Straubmanns bekloppten Ideen? Der hat sie doch nicht alle.«
»’n Schulverweis bringt meine Oma um.«
Wir rauchten schweigend vor uns hin.
Nach einer Weile sagte Dixi: »Der hat doch nur diesen Theatertick, weil er sonst nichts Richtiges zu lesen hat.«
Ich legte den Kopf in den Nacken und blies den Rauch nach oben in die kalte Luft. »Was denn Richtiges?«
»Na, so Pornos halt. Hat mein Vater haufenweise. Das braucht der Straubmann. Dann vergisst der den Theaterquatsch.«
Sie nahm meine Hand und küsste sie – auf den Handrücken. Das machten wir oft. Das war unser Zeichen: ewige Liebe und Freundschaft.
Sie grinste. »Verlass dich auf mich. Heute Nacht, wenn meine Eltern schlafen, hol ich dich ab und dann steigen wir ein.«
»In die Schule?«
»Ja, was sonst? Willst du ihm die Hefte als Geschenk einpacken und auf den Schreibtisch legen?«
»Nee …«
»Na also. Wir steigen ein durchs Fenster auf dem Jungsklo …«
»Das immer auf ist, weil’s da drin so abartig stinkt?«
»Bingo.«
Es war schon halb zwölf, als ich das Klicken von Steinchen an meinem Fenster hörte. Ich war fast eingeschlafen und brauchte echt, bis ich schnallte, dass Dixi da war.
Ich machte das Fenster auf. »Bin gleich so weit.«
Ich hatte mich angezogen aufs Bett gelegt und musste nur noch in meine schwarzen Chucks schlüpfen. Ich sprang aus dem Fenster.
Dixi trug eigentlich immer nur weiß, aber wie ich hatte sie für die Aktion schwarze Sachen rausgesucht. Jeans und Pullover. Sie hielt eine Stofftasche hoch.
»Pornos, Taschenlampe und Werkzeug. Bin ich gut oder bin ich gut?«
»Du bist die Beste!«
Der einzige Farbfleck an mir war mein blauer Schal mit den Sternen, ohne den ich grad nicht rausging. Dixi hatte ihre langen blonden Haare unter eine schwarze Strickmütze gestopft. Ich setzte die alte schwarze Pudelmütze von meinem Bruder auf.
Wir sahen aus wie die Typen in Matrix, fehlten nur noch die Sonnenbrillen. Wir froren ziemlich, aber das war egal.
Schon auf dem Weg zur Schule mussten wir wie blöd kichern. Ich glaub, einfach vor Aufregung.
Das offene Fenster vom Jungsklo war viel höher, als ich gedacht hatte, und Dixi war so klein, dass sie da unmöglich hochkam. Sie sprang vorm Fenster auf und ab. Ich machte eine Räuberleiter. Aber wir mussten so lachen, dass sie es nicht mal schaffte, einen Fuß reinzusetzen.
»Aufgeben geht gar nicht«, meinte sie.
Ich weiß nicht, warum uns auf einmal das Lachen verging. Vielleicht, weil es so still war. Es war kein Mensch zu sehen und die Schule war dunkel. Also alles bestens. Nur drüben im Anbau brannte Licht. Da wohnt der Stenzel. Aber der hockte jetzt hoffentlich vorm Fernseher und dachte gar nicht dran, ’ne Kontrollrunde zu drehen.
Ich lief zum Fahrradständer mit drei einsamen Rädern. Eins war nicht angekettet. Das schob ich unters Fenster und hielt es fest. Dixi kletterte auf den Gepäckträger und dann auf den Sattel. Von da aus schaffte sie es leicht aufs Fensterbrett. Sie schmiss den Stoffbeutel in den Raum und sprang hinterher. Ich hörte, wie sie drinnen auf den Boden plumpste. In dem Moment ging beim Stenzel das Licht an der Haustür an. Ich kriegte vor Schreck fast ’nen Herzinfarkt und drückte mich an die Mauer.
Dixi rief von drinnen: »Wo bleibst du?«
Und ich zischte: »Pst!«
»Was denn?«
»Klappe!«
Beim Stenzel ging die Tür auf. Er kam raus, überlegte es sich dann aber anders und verschwand wieder im Haus. Das Licht ging aus.
Mein Herz wummerte wie bekloppt, als ich aufs Rad kletterte. War gar nicht so leicht, weil es ja niemand festhielt. Ich stieg auf den Sattel und musste mich abstoßen, um durchs Fenster zu kommen, da flog das Ding um und knallte auf den Schulhof. Die Klingel schepperte.
»Was machst du denn für ’n Scheiß?«, rief Dixi und kicherte los.
»Pst!«, machte ich wieder.
Wir standen im Dunkeln und lauschten. Alles ruhig.
Nur ein bisschen Mond schien durchs Fenster.
Ich gab Dixi ein Zeichen und wir schlichen den dunklen Flur entlang. Seltsames Gefühl. Unheimlich still und unheimlich dunkel. Wir waren die letzten Menschen auf diesem Planeten. Wir drückten uns an den Wänden entlang, was Quatsch war, aber es fühlte sich sicherer an, und ich dachte, der Stenzel kommt gleich um die Ecke, aber alles blieb ruhig. Da waren nur unsere leisen Schritte auf dem grauen Boden. Und unser Gekicher, als wir vor dem Lehrerzimmer standen. Erst da dämmerte mir, dass die Tür bestimmt abgeschlossen war. Ich rüttelte am Knauf.
»Tja, wer keinen Schlüssel hat, braucht so was!« Dixi zog einen Spachtel aus der Tasche, der komisch gebogen war. »Ist ganz einfach, hat Mirkan mir gezeigt.«
Sie versuchte, den Spachtel in den Spalt zwischen Tür und Rahmen zu schieben.
Ich war mir ganz sicher, dass da Geräusche im Haus waren, also machte ich wieder: »Pst!«
Wir standen da und lauschten. Alles ruhig.
»Du bist so ein Schisser!«, sagte Dixi.
»Ich hab keinen Bock, erwischt zu werden, das ist alles«, flüsterte ich.
»Werden wir nicht.« Und in dem Moment sprang die Tür auf. »War nur zugezogen.« Dixi ließ den Spachtel wieder in der Stofftasche verschwinden. Ich machte die Tür hinter uns zu und Dixi holte die Taschenlampe raus.
Als Erstes zog ich die dicken Vorhänge vor das riesige Fenster, damit man von draußen das Licht nicht sah. Bis jetzt war ich nur einmal hier drin gewesen. Wer geht schon ins Lehrerzimmer, wenn er nicht muss. In der Mitte stand ein großer Tisch und an den Wänden waren Regale mit Büchern und abgeschlossene Schränkchen mit Namensschildern.
Dixi tippte an Straubmanns Kasten. »Da sind bestimmt die Fragen für die bekloppte Deutscharbeit morgen drin. Soll ich aufmachen?«
»Wozu? Du schreibst doch eh kein Wort.«
Sie nahm meine Hand und küsste sie. »Stimmt! Du kennst mich einfach zu gut.«
In einem Regal waren die Postfächer von den Lehrern. Dixi holte gerade den Stapel Pornohefte aus ihrem Beutel, als wir einen Schlüssel im Türschloss hörten.
Dixi fluchte und knipste hektisch die Taschenlampe aus.
Ich zog sie blitzschnell hinter den Vorhang, weil mir einfach nichts Besseres einfiel. Wir standen hinter dem dicken Stoff und lauschten. Die Tür ging auf. Da waren Schritte.
Dixi drückte sich flach an die Wand, und ich versuchte, mich auch möglichst dünn zu machen und gleichzeitig darauf zu achten, dass meine Schuhspitzen nicht zu sehen waren. Ich traute mich nicht mal, richtig zu atmen. Das Unheimlichste war, dass kein Licht anging. Wir konnten nichts sehen, wir hörten nur diese Schritte, die langsam durch den Raum schlurften.
Ich kam mir wie ein Schwerverbrecher vor, drückte mich noch enger an die Wand und kniff die Augen zu, als ob das was nützen würde. Das Herz pochte mir dumpf in den Ohren.
Die Tür fiel ins Schloss.
Dixi nahm meine Hand.
Wir kamen aus unserem Versteck. Alles ruhig.
»Hast du was gesehen?«, fragte ich.
Dixi schüttelte den Kopf. »Nichts. Keine Ahnung, wer das war. Ein Alien! Grün und schleimig.« Sie versuchte lustig zu sein, aber an ihrer Stimme merkte man, dass sie genauso Schiss hatte wie ich.
»Lass uns abhauen!«
»Erst noch die steilen Tanten«, sagte sie und legte die Pornos in Straubmanns Fach. »Hab sogar ’ne Schleife drum gemacht.«
Ich wollte nur noch weg und guckte vorsichtig aus der Tür. Kein Mensch da.
Dixi kam und wir schlichen wieder den Gang entlang. Wir waren fast beim Jungsklo, da hörten wir eine tiefe Stimme: »Ist da jemand?« Dann Schritte, und dann: »Ich weiß, dass da jemand ist.«
Mist, das war der Stenzel!
Die letzten Meter zum Klo rannten wir.
»Mach schnell!«, wisperte ich.
Dixi kraxelte aufs Waschbecken und aus dem Fenster.
Ich kletterte hinterher.
Die Klotür ging auf.
Ich sprang, landete auf Knien und Händen.
Und dann rannten wir los.
Wir stoppten erst bei mir vorm Haus.
»Das war knapp«, keuchte ich. »Ich hätte mir fast in die Hose gemacht.«
»Wir sind unschlagbar!«
Meine Hände waren aufgeschürft und brannten. Ich fasste mir an den Hals. »Mein Schal! Scheiße, ich hab den irgendwo verloren.«
Dixi tanzte um mich rum, fand alles superklasse und sang: »Vergiss den Schal, vergiss den Schal, is doch egal …«
War auch egal. Ich hatte keinen Bock, ihn zu suchen. Und eigentlich fand ich auch alles super.
Aber am nächsten Morgen in der Schule war auf einmal gar nichts mehr super.
3
Erst war alles normal. Der Straubmann ließ uns die Deutscharbeit schreiben und wie immer kritzelte Dixi nur irgendeinen Mist. Ich guckte rüber. Sie lächelte mich an und ich lächelte zurück. Mit Dixi konnte man echt jeden Scheiß machen.
Am Ende der Stunde sammelte der Straubmann unsere Hefte ein. Dann ging er an seine Tasche, holte den Stapel Pornos mit der Schleife raus, kam damit zu Dixi und mir und knallte ihn uns auf den Tisch.
Die Jungs an den Tischen neben uns grinsten blöd.
»Aber Herr Straubmann«, sagte Dixi, »solche schlimmen Sachen in der Schule!«
Er tippte auf die Hefte. »Exklusive Lektüre, vielen Dank. Ich habe sie schon durch und gebe sie euch gleich zurück.«
Ein paar von den Jungs grölten und pfiffen.
»Herr Straubmann, zeigen Sie mal!«, rief Mirkan.
»Aber wir haben nichts damit zu tun«, hauchte Dixi.
Der Straubmann lächelte zufrieden. »Ihr wurdet gesehen.«
Stenzel! Bestimmt hatte er mich erkannt, als ich durchs Fenster raus bin.
Der Straubmann guckte mich an. »Erstens, du gehst Montag zur Probe. Zweitens, wenn du das Theaterprojekt fertig hast, schreibst du mir eine Inhaltsangabe dieser wunderbaren Werke.« Er tippte wieder auf die Hefte. »Und drittens …«
»Aber Herr Straubmann …«, sagte Dixi.
»Und drittens«, jetzt sah er Dixi an, »schreibst du eine Interpretation.« Er lächelte. »Hab ich mich klar ausgedrückt?«
»Aber Herr Straubmann«, versuchte ich es nun auch. Ich wollte echt nicht zu diesem Theatermist.
Es klingelte, aber niemand stand auf. Alle wollten wissen, was hier lief.
Der Straubmann ging zum Schreibtisch. Er klatschte in die Hände. »Auf in die Pause, ihr seid doch sonst nicht so langsam! Nur Sarah bleibt.«
Stuhlbeine schabten, alle fingen an zu reden. Dixi blieb noch in der Tür stehen, doch der Straubmann machte ihr ein Zeichen, dass sie gehen sollte. Und dann waren nur noch er und ich da.
»Ich glaube, der gehört dir.« Er zog meinen blauen Schal mit den Sternen aus der Tasche. »Was meinst du, was deine Großeltern dazu sagen?«
»Aber Herr Straubmann, echt, das können wir doch auch anders regeln!«
4
Wir haben es dann auch anders geregelt. Und darum hingen Dixi und ich jetzt im Römerkastell rum. Wir warteten, damit ich wenigstens zu spät zu meiner Strafarbeit kam, wenn ich schon hinmusste. Um fünf sollte ich da sein, nun war’s gleich halb sechs und wurde dunkel. Der Eingang war schräg gegenüber. Ein paar Fahrräder lehnten aneinander und ein Roller stand da. Die waren bestimmt schon alle drin. Neben der Tür hing ein Schild:
Magic 7
Ich konnte jederzeit reingehen, wenn’s mir gefiel. Aber pünktlich sein, das kam nun wirklich überhaupt nicht infrage.
Der Straubmann hat mir einen ziemlich miesen Deal angeboten, dachte ich. Aber ich hatte ja keine andere Wahl. Er hat nicht meine Großeltern angerufen, dafür aber meinen Bruder. Der ist die Pest in Dosen und hat natürlich keinen Herzinfarkt bekommen, aber ich dafür total Stress mit ihm, dabei hat der schon viel schlimmere Sachen gemacht, früher. Jetzt ist alles ordentlich und spießig bei dem.
Arbeit, Auto, Wohnung, Fernseher.
Es gab keine Lehrerkonferenz und ich kriegte keinen Schulverweis. Dafür musste ich den ganzen Rest vom Schuljahr für so ein Theaterprojekt arbeiten. Der Straubmann hat es mir dann noch mal genau erklärt. Sein Sohn war der Chef, und dem sollte ich helfen. Einmal die Woche mindestens. Und vor der Aufführung noch öfter.
Jede! Woche!
Ich hatte keine Ahnung, was ich genau tun sollte, und es interessierte mich auch nicht.
Außerdem durfte ich nicht mehr so oft in meiner Currywurstbude arbeiten. Das war die zweite Sache. Nur noch einmal in der Woche. Aber ich fand, das Wochenende zählte nicht, wie sollte ich denn sonst an Geld kommen? Das mit dem Gras verkaufen hatte sich ja erledigt.
Und dann gab es noch eine dritte Sache, aber da dachte ich erst mal nicht drüber nach. Das kam so was von nicht infrage. Ich brauch doch keine Nachhilfe! Und die Sache mit der Pornoinhaltsangabe, das war einfach nur peinlich. Aber das würde ich schon hinkriegen.
Jetzt saßen Dixi und ich auf einem Mäuerchen am Rand von diesem Römerdings. Es war erst Februar, aber nicht mehr so kalt. Ich hatte trotzdem meine verfilzten Wollhandschuhe angezogen.
Dixi steckte sich eine Kippe an und blies den Rauch aus. »Ich muss gleich los. Die anderen sind schon im Bambule …«
»Hm …« Ich zog die Handschuhe aus, nahm ihr die Kippe ab und rauchte ein bisschen.
»Kickern.«
»Schon klar.«
»Oder soll ich mit reinkommen?«
»Nee, lass mal.«
Sie hatte ein schlechtes Gewissen, aber das brauchte sie nicht. Mussten ja nicht zwei bestraft werden.
Dixi ließ die Beine baumeln – sie ist wirklich so klein, dass sie mit den Füßen nicht auf den Boden kam. Von hier konnten wir bis zum Neckar gucken. Da unten waren rauschender Verkehr und laute Baustellen, weiße Schwaden aus Schornsteinen und das Münster E-Werk. Da hat mein Opa früher gearbeitet.
Ich fand, die Welt unter uns sah viel echter aus als das ganze Römersteingedöns um uns herum. Als wir klein waren, haben Najim und ich oft hier oben gespielt. Ist nur zehn Minuten zu Fuß von unserm Viertel. Wir mussten durch ein Loch in ’ner Absperrung kriechen, wenn wir reinwollten. Alles war ziemlich verfallen und kein Mensch war hier. Aber seitdem die alles repariert haben, ist es total uncool geworden. Klar, die alten Backsteingebäude sind noch da. Aber eben renoviert. Und in der Mitte ist jetzt ein riesiger Parkplatz mit ganz vielen Oma-Stehlampen, so wie die in unserm Wohnzimmer, nur dass die hier, wenn’s dunkel wird, in allen möglichen Farben leuchten und übergroß sind. Das ist Kunst, hatte in der Zeitung gestanden. Und in den Gebäuden gibt’s jetzt alles Schicki-Mögliche: eine Schicki-Kneipe und ein Schicki-Restaurant. Und ein Schicki-Zauberkünstler hat eine Bühne in einer Schicki-Halle, die er sich an so ein altes Gebäude drangebaut hat. Filmfirmen gibt’s auch. Und eben diese Theatergruppe. Aber besser hier als in der Uni. Der Straubmann hatte nämlich zuerst gesagt, die würden in der Uni üben. Da wär ich sowieso nicht hingegangen. Ich spiel schließlich auch nicht Tennis oder geh Golfen oder mach irgendeinen anderen Mist. Wenn ich mir das nur vorstelle, ich in so ’nem Tennisröckchen oder mit ’nem Golfschläger … Ich in der Uni, das wär ja, als ob man Senf auf Marmelade schmiert.
»Wollen wir mal Golf spielen gehen?«, fragte ich Dixi. »Wenn’s wieder Sommer ist?«
»Klar. Neckarblick?«
»Nee, nicht Minigolf. So echtes Golf.«
Sie schob sich einen Kaugummi in den Mund. »Spinnst du?«
Mein Handy klingelte. Najim. Ich drückte auf Ablehnen.
»Mein Bruder, der Idiot«, sagte ich zu Dixi. »Was will der denn? Der weiß doch, dass ich jetzt Strafarbeit hab.«
Sie machte eine fette rosa Blase und ließ sie platzen. »Vielleicht weiß der, dass du noch nicht drin bist?«
»Woher denn?«
Er rief wieder an. Ich drückte ihn wieder weg.
»Schwänz doch einfach und komm mit Kickern.«
»Geht nicht. Ich komm vielleicht später nach«, sagte ich.
Fast der ganze Schnee war über Nacht geschmolzen. Nur auf dem Platz vor uns gab es noch einen großen grauen Haufen. Als ob jemand die Reste vom Winter genau hier zusammengeschoben hatte.
Dixi sprang von der Mauer und hüpfte mittenrein. Der ganze Dreck blieb an ihrer weißen Jeans kleben.
Das ist es, was ich an ihr mag. Egal, wie toll sie angezogen ist, sie wirft sich mitten in jedes Schlammloch, wenn sie Lust dazu hat.
Dixi hopste wieder neben mich auf die Mauer, nahm mir die Kippe ab, rauchte den letzten Zug und warf den Stummel in den Matsch. Es machte ein kleines zischendes Geräusch.
Und von ihren matschigen Schuhen tropfte das Wasser.
»Oh, oh!« Sie zeigte nach vorn.
Mein Bruder kam in seinem schwarzen Spießer-Peugeot langsam über den Parkplatz gefahren. Direkt auf uns zu. So ein winzig kleines Auto mit Duftbäumchen am Spiegel, und er war auch noch stolz drauf. Die Scheinwerfer blendeten.
Dixi hüpfte vom Mäuerchen. »Ich geh dann mal.«
Sie lief quer durch den Schneematsch und dann über den Parkplatz davon.
Ich blieb erst mal sitzen. Mein Bruder konnte mich kreuzweise.
Er hielt direkt vor mir und ließ das Fenster runter.
Die Stoßstange war nur ein paar Millimeter von meinen Beinen weg.
»Spinnst du, oder was?« Ich versuchte, meine Beine aus dem Spalt zu ziehen, aber es ging nicht. »Fahr zurück, du Penner. Und mach das Licht aus, das blendet!«
»Wieso bist du noch nicht da drin?« Er lehnte sich aus dem Fenster und zeigte in Richtung Eingang. »Dein Lehrer hat mich angerufen!«
»Der Straubmann? Woher weiß der denn, dass ich nicht da bin?«
»Sein Sohn hat ein Handy, stell dir das mal vor! Er hat hinter dir hertelefoniert.«
»Ich denk, der übt Theater.«
Najim fuhr ein Stück zurück und stieg aus. Er hatte nur seinen Taekwondo-Anzug an. Ich sprang von der Mauer.
»Ich hab Unterricht, Sarah. Und echt keinen Bock mehr, ständig den Babysitter für dich zu spielen.«
Er hob seine Hand, und ich hielt schnell meinen Arm vors Gesicht, aber er wollte mich gar nicht schlagen, er packte nur mein Handgelenk und zog mich zum Proberaum.
Er riss die Tür auf. »Soll ich mitkommen?«, drohte er.
Ich schüttelte ihn ab. »Ich geh ja schon.«
»Du entschuldigst dich bei denen, und wenn du fertig bist, rufst du mich an. Verstanden?«
Er schubste mich in den Flur, die Tür fiel hinter mir zu.
»’nen Scheiß werd ich.«