Es sind die Jahre der chilenischen Militärdiktatur, aber seine Eltern verlieren kein Wort darüber. Er selbst lernt gerade lesen und schreiben und malt schöne Bilder, und wie sollte er da begreifen, dass seine heile Vorstadtwelt so harmlos nicht ist? Als ein Mädchen aus der Nachbarschaft ihn bittet, ihren Onkel zu beschatten, willigt er ein. Und verstrickt sich auf eine Weise, die ihn sein Leben lang quälen wird. Die Erfindung der Kindheit handelt von dem mal melancholischen, mal wütenden Unterfangen, in den Trümmern der eigenen Geschichte eine verbindliche Wahrheit zu finden – ein Roman von blendender Strahlkraft und beeindruckender Tiefenschärfe. Und das bewegende Porträt einer ganzen Generation, die sich um ihre Vergangenheit betrogen fühlt.
Alejandro Zambra, geboren 1975, lehrt Literaturwissenschaft in Santiago de Chile und arbeitet als Kritiker für die wichtigsten Zeitungen seines Landes. Seine Artikel, Erzählungen und Gedichte sind mit vielen Preisen ausgezeichnet worden. Die Erfindung der Kindheit ist sein erstes Buch in deutscher Sprache.
Susanne Lange lebt als Übersetzerin (u.a. Cernuda, Lorca, Prieto, Rulfo, Domínguez) bei Barcelona. Bereits mit mehreren Übersetzerpreisen ausgezeichnet, erhielt sie für ihre Neuübersetzung des Don Quijote allerhöchste Anerkennung.
Die Erfindung der
Kindheit
Roman
Aus dem Spanischen
von Susanne Lange
Suhrkamp Verlag
Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel
Formas de volver a casa
bei Editorial Anagrama, Barcelona.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012
© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2012
© Alejandro Zambra 2011
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag: Hermann Michels und Regina Göllner
Umschlagabbildung: William Eisner/Associates
eISBN 978-3-518-79020-5
www.suhrkamp.de
I. Nebenfiguren
II. Die Literatur der Eltern
III. Die Literatur der Kinder
IV. Es geht uns gut
Für Andrea
Nun kann ich gehen; gehen lernen nicht mehr.
Statt zu schreien, schreibe ich Bücher.
Einmal hatte ich mich verlaufen. Mit sechs oder sieben. Ich hatte nicht aufgepasst, und plötzlich waren meine Eltern weg. Ich erschrak sehr, fand jedoch nach Hause zurück und war sogar vor ihnen da. Sie hatten lange verzweifelt nach mir gesucht, aber an dem Nachmittag war ich überzeugt davon gewesen, dass sie sich verlaufen hatten. Dass ich den Weg nach Hause fand, sie nicht.
Du hast einen anderen Weg genommen, sagte meine Mutter, immer noch mit Tränen in den Augen.
Nein, den anderen Weg habt ihr genommen, dachte ich, schwieg aber.
Mein Vater saß im Sessel und sah seelenruhig zu uns herüber. Manchmal scheint mir, er saß ständig dort und dachte. Vielleicht dachte er auch gar nicht. Vielleicht schloss er bloß die Augen und ließ die Gegenwart gelassen oder resigniert über sich ergehen. Doch an dem Abend ergriff er das Wort. Gut gemacht, sagte er zu mir, du hast eine Widrigkeit gemeistert. Meine Mutter warf ihm einen skeptischen Blick zu, aber er spann weiter an seiner wirren Rede über die Widrigkeiten.
Ich legte mich in den Sessel gegenüber und tat so, als schliefe ich. Dabei hörte ich sie nach bewährter Manier streiten. Sie spulte fünf Sätze ab, er antwortete mit einem einzigen Wort. Mal sagte er scharf: nein. Mal fast schreiend: Lüge. Manchmal sogar im Kripojargon: negativ.
Meine Mutter trug mich an dem Abend ins Bett, sie wusste wohl, dass ich nicht schlief, denn sie sagte, ich solle gut zuhören: Dein Papa hat Recht. Jetzt wissen wir, dass du dich nicht verläufst. Dass du dich draußen allein zurechtfindest. Aber du musst besser auf den Weg achten, schneller gehen.
Ich hörte auf sie. Von da an ging ich schneller. Ja als ich zwei Jahre später zum ersten Mal mit Claudia sprach, fragte sie, warum ich immer so schnell unterwegs sei. Seit Tagen hatte sie mich verfolgt, mir nachspioniert. Wir hatten uns erst vor Kurzem kennengelernt, in der Erdbebennacht am 3. März 1985, hatten damals jedoch nicht miteinander geredet.
Claudia war zwölf und ich neun, das machte eine Freundschaft zwischen uns unmöglich. Trotzdem waren wir Freunde oder beinahe. Wir sprachen viel miteinander. Manchmal scheint mir, dieses Buch schreibe ich nur, um mich an unsere Gespräche zu erinnern.
In der Nacht des Erdbebens hatte ich Angst, und doch gefiel mir irgendwie, was da geschah.
Die Erwachsenen hatten in einem der Vorgärten zwei Zelte aufgestellt, in denen die Kinder schlafen sollten. Zuerst gab es Gerangel, weil wir alle in dem Igluzelt schlafen wollten, das damals der letzte Schrei war, aber das bekamen die Mädchen. Wir zogen uns zurück, um uns im Stillen zu hauen, was wir immer taten, wenn wir allein waren: fröhlich und wüst aufeinander einprügeln. Aber kaum hatten wir angefangen, da blutete dem Rothaarigen schon die Nase, und wir mussten uns ein neues Spiel suchen.
Jemand kam auf die Idee, jeder solle sein Testament machen, was wir für einen guten Plan hielten, bis wir merkten, wie sinnlos er war, weil bei einem noch stärkeren Erdbeben die Welt untergehen und uns niemand mehr würde beerben können. Als Nächstes malten wir uns aus, die Erde wäre ein Hund, der sich schüttelte und die Leute wie Flöhe in den Weltraum schleuderte, und so lebhaft malten wir uns das aus, dass uns das Lachen übermannte, dann der Schlaf.
Aber ich wollte nicht schlafen. Ich war so müde wie noch nie, eine neue Art Müdigkeit, die in den Augen brannte. Ich beschloss, die Nacht wach zu bleiben, und versuchte, in den Iglu zu schlüpfen, um mit den Mädchen weiterzureden, aber die Tochter des Carabinero warf mich hinaus und sagte, ich wolle sie vergewaltigen. Damals wusste ich nicht, was ein Vergewaltiger war, beteuerte jedoch, dass ich nur schauen, nicht vergewaltigen wollte, aber sie lachte höhnisch und entgegnete, das sagten alle Vergewaltiger. Ich musste draußen bleiben und zuhören, wie sie spielten, ihre Püppchen seien die einzigen Überlebenden, sie rüttelten ihre Besitzerinnen und brachen in Tränen aus, als sie feststellten, dass sie tot waren; nur eine der Puppen war zufrieden, die Menschheit sei ihr schon immer zuwider gewesen. Am Ende entbrannte ein Machtkampf unter ihnen, der sich in die Länge zu ziehen drohte, jedoch schnell gelöst wurde, weil es nur eine echte Barbiepuppe gab. Die gewann.
Unter den Trümmern fand ich einen Liegestuhl und näherte mich damit schüchtern dem Lagerfeuer der Erwachsenen. Es kam mir seltsam vor, die Nachbarn vielleicht zum ersten Mal versammelt zu sehen. Sie spülten die Angst mit ein paar Schluck Wein und tiefen Verschwörerblicken hinunter. Jemand kam mit einem alten Holztisch an und warf ihn kurzerhand ins Feuer. Wenn du willst, werfe ich die Gitarre hinterher, sagte mein Vater, und alle lachten, sogar ich, trotz meiner Verblüffung, denn mein Vater machte gewöhnlich keine Witze. Da kam unser Nachbar Raúl mit Magali und Claudia zurück. Das sind meine Schwester und meine Nichte, sagte er. Nach dem Erdbeben war er sie holen gegangen und kehrte nun sichtlich erleichtert zurück.
Raúl war der Einzige in der Gegend, der allein lebte. Mir wollte nicht in den Kopf, wie jemand allein leben konnte. Das Alleinsein hielt ich für eine Art Strafe oder Krankheit.
An dem Morgen, als er mit einer Matratze auf dem Dach seines Fiat 500 eingetroffen war, fragte ich meine Mutter, wann seine Familie nachkommen würde, und sie antwortete sanft, nicht jeder habe eine Familie. Ich ging davon aus, wir würden ihm zur Seite stehen, erkannte jedoch bald schon überrascht, dass meine Eltern kein Interesse daran hatten, Raúl zur Seite zu stehen, dass sie es nicht für nötig hielten und sogar gewisse Vorbehalte gegen diesen dünnen, schweigsamen Mann hatten. Wir waren Nachbarn, teilten dieselbe Mauer, dieselbe Ligusterhecke, und dennoch trennte uns ein Abgrund.
Im Ort erzählte man sich, Raúl sei Christdemokrat, und das fand ich interessant. Es lässt sich heute schwer erklären, was ein neunjähriger Junge interessant daran findet, dass jemand Christdemokrat ist. Vielleicht glaubte ich, als Christdemokrat sei man zwangsläufig allein. Noch nie hatte ich meinen Vater mit Raúl reden sehen, deshalb war ich so erstaunt, dass sie in jener Nacht mehrere Zigaretten zusammen rauchten. Bestimmt redeten sie über seine Einsamkeit, bestimmt gab mein Vater dem Nachbarn Ratschläge, was sich dagegen tun ließ, obgleich er über die Einsamkeit recht wenig wissen konnte.
Abseits hielt Magali Claudia umarmt. Sie schienen sich unwohl zu fühlen. Aus Höflichkeit, vielleicht auch mit einer Spur Argwohn fragte eine Nachbarin Magali nach ihrem Beruf, und sie antwortete prompt, als hätte sie die Frage erwartet, sie sei Englischlehrerin.
Es war bereits spät, und ich wurde ins Bett geschickt. Widerwillig musste ich mir ein Plätzchen im Zelt schaffen. Ich hatte Angst, vom Schlaf überwältigt zu werden, hielt mich jedoch damit wach, den verirrten Stimmen in der Nacht zu lauschen. Raúl musste Schwester und Nichte inzwischen weggebracht haben, weil draußen nun über sie geredet wurde. Jemand hatte das Mädchen seltsam gefunden. Ich ganz und gar nicht. Schön hatte ich es gefunden. Und die Frau, sagte meine Mutter, hat nicht wie eine Englischlehrerin ausgesehen – ganz nach Hausfrau hat sie ausgesehen, warf ein anderer Nachbar ein, und auf dem Witz ritten sie noch eine Weile herum.
Ich stellte mir das Gesicht einer Englischlehrerin vor und wonach es auszusehen hatte, dachte an meine Mutter, meinen Vater, dachte: Wonach sieht das Gesicht meiner Eltern aus. Aber Eltern haben nie wirklich ein Gesicht. Nie lernen wir, sie richtig anzuschauen.
Ich hatte geglaubt, dass wir Wochen, ja Monate im Freien verbringen und auf Lastwagen würden warten müssen, die von weit her mit Lebensmitteln und Decken kamen, sah mich schon im Fernsehen sprechen, mich bei allen Chilenen für die Hilfe bedanken, wie nach einer Unwetterkatastrophe – im Kopf die schrecklichen Regengüsse früherer Jahre, wenn ich nicht nach draußen durfte, vor dem Bildschirm hocken musste und mir die Leute anschaute, die alles verloren hatten.
Aber so war es nicht. Gleich kehrte wieder Ruhe ein. In dieser abgelegenen Ecke westlich von Santiago war das Erdbeben nicht mehr als ein gehöriger Schrecken gewesen. Etliche Grundstücksmauern waren umgekippt, aber es gab keine schweren Schäden, keine Verwundeten, keine Toten. Das Fernsehen zeigte den zerstörten Hafen von San Antonio und einige Straßen, die ich von unseren seltenen Fahrten ins Zentrum von Santiago kannte oder zu kennen glaubte. Dunkel ahnte ich, dass dort das wahre Leid zu finden war.
Wenn es etwas zu lernen gab, lernten wir es nicht. Heute weiß ich, es ist gut, wenn man das Vertrauen in die Erde verliert, wenn man damit rechnet, dass im nächsten Moment alles zusammenbrechen kann. Aber damals gingen wir einfach zum Alltag über.
Vater stellte zufrieden fest, dass die Schäden überschaubar waren: ein paar Risse in den Wänden, ein gesprungenes Fenster. Meine Mutter trauerte nur den Sternzeichengläsern nach. Acht waren zerbrochen, darunter ihres (Fische), das meines Vaters (Löwe) und das der Großmutter, wenn sie auf Besuch kam (Skorpion). Das ist nicht schlimm, wir haben viele Gläser, mehr brauchen wir nicht, sagte mein Vater, und sie entgegnete, wobei sie nicht ihn, sondern mich anschaute: Nur deins ist heil geblieben. Sofort holte sie das Glas mit dem Zeichen Waage, reichte es mir feierlich und war dann ein paar Tage lang gedrückter Stimmung und rang mit sich, ob sie die anderen Gläser einem Zwilling, einer Jungfrau oder einem Wassermann schenken sollte.
Die gute Nachricht war, dass wir nicht so schnell in die Schule zurückkehren würden. Das alte Gebäude war stark beschädigt worden: wer es gesehen hatte, beschrieb es als Trümmerhaufen. Die zerstörte Schule vermochte ich mir kaum vorzustellen, auch wenn ich kein Bedauern dabei empfand. Nur Neugier. Ich musste allerdings an das leere Stückchen Gelände hinten denken, wohin wir in den Freistunden immer zum Spielen gegangen waren, und an die Mauer, an der sich die aus der Mittelstufe verewigt hatten. Ich dachte an all die Botschaften, nun in Trümmern über die Asche auf dem Boden verteilt – komische Sätze, Parolen für oder gegen Colo-Colo, für oder gegen Pinochet. Vor allem ein Satz hatte mich sehr amüsiert: Pinochet schwingt gern den Schwengel.
Ob damals oder heute, immer werde ich für Colo-Colo sein. Pinochet war für mich bloß ein Fernsehonkel mit einer Sendung ohne festen Programmplatz, und deshalb hasste ich ihn, denn seinetwegen unterbrachen die langweiligen Staatssender oft im schönsten Moment ihr Programm. Später hasste ich ihn als Scheißkerl, als Mörder, aber damals hasste ich ihn nur wegen dieser ungelegenen Shows, die mein Vater ansah, ohne ein Wort zu sagen. Er zog nur fester an der Zigarette, die ihm ständig im Mundwinkel klebte.
Der Vater des Rothaarigen war damals von einer Reise nach Miami mit Baseballschläger und Handschuh für seinen Sohn zurückgekommen. Das Geschenk führte zu einem überraschenden Bruch mit unseren Gewohnheiten. Ganze Tage lang wechselten wir vom Fußball zu diesem langsamen, etwas stupiden Sport, der meine Freunde jedoch in seinen Bann schlug. Unser Platz war wohl der Einzige im Land, auf dem die Kinder Baseball und nicht Fußball spielten. Es bereitete mir Mühe, den Ball zu treffen oder zu werfen, weshalb ich rasch auf der Bank landete. Der Rothaarige wurde allseits beliebt, und der Baseball schien schuld daran zu sein, dass ich keine Freunde mehr hatte.
Ich fand mich mit dem Alleinsein ab und zog nachmittags durch die Gegend, damit ich etwas Auslauf hatte. Ich ging einfach drauflos und erweiterte ständig meinen Radius, beschrieb jedoch immer eine Art Kreis. Rasch steckte ich die Routen, die Häuserblocks ab und kartographierte Neuland, obwohl die Welt rundum sich kaum veränderte: überall die gleichen Häuser, hastig erbaut, als eilte es, und doch solide, widerstandsfähig. In wenigen Wochen waren die meisten Mauern repariert und verstärkt worden. Kaum etwas verriet mehr, dass unlängst ein Erdbeben stattgefunden hatte.
Heute begreife ich die Freiheit nicht mehr, die wir damals genossen. Wir lebten in einer Diktatur, man sprach von Verbrechen und Attentaten, von Ausnahmezustand und Sperrstunde, und doch hielt mich niemand davon ab, tagsüber fern von zu Hause umherzustreifen. Waren die Straßen von Maipú damals nicht gefährlich gewesen? Nachts schon und tagsüber ebenfalls, aber die Erwachsenen, hochmütig oder naiv, vielleicht auch beides zusammen, taten so, als wüssten sie nicht um die Gefahr, taten so, als wäre die Unzufriedenheit Sache der Armen, die Macht Sache der Reichen, und bei uns war niemand arm oder reich, zumindest noch nicht, damals in unserer Gegend.
Eines Nachmittags begegnete ich Raúls Nichte, wusste jedoch nicht, ob ich sie grüßen sollte. Auch an den nächsten Tagen sah ich sie. Ich merkte nicht, dass sie in Wirklichkeit mir folgte, ich gehe eben gern schnell, antwortete ich, als sie mich ansprach, worauf ein langes Schweigen eintrat, das sie mit der Frage brach, ob ich mich verlaufen hätte. Nein, entgegnete ich, problemlos fände ich den Weg nach Hause. Ich mache bloß Spaß, ich will mit dir reden, treffen wir uns nächsten Montag um fünf im Supermarkt vor der Konditorei. Das sagte sie einfach so, in einem einzigen Satz, und ging.
Am nächsten Morgen musste ich früh aufstehen, weil wir das Wochenende am Ovalle-Stausee verbringen wollten. Meine Mutter war dagegen und zögerte die Vorbereitungen hinaus, in der Hoffnung, dass der Plan aufgegeben werden musste, weil bald Mittagszeit war.
Doch mein Vater beschloss, unterwegs im Restaurant zu essen, und wir fuhren gleich los. Auf dem Rücksitz des Peugeots überlegte ich mir, was ich bestellen würde, nahm am Ende jedoch ein gewöhnliches Steak mit Fritten und Ei – mein Vater warnte mich, das sei eine große Portion, die ich nicht aufessen würde, aber bei unseren seltenen Ausflügen durften wir bestellen, was wir wollten.
Plötzlich herrschte diese gespannte Atmosphäre, in der nur noch eine Rolle spielt, wann endlich das Essen kommt. Die Bestellung ließ so lange auf sich warten, dass mein Vater gehen wollte, sobald die Teller kämen. Ich protestierte oder wollte protestieren oder denke heute, ich hätte es tun sollen. Wenn wir gehen, dann auf der Stelle, sagte meine Mutter resigniert, aber mein Vater erklärte uns, das Restaurant müsste das Essen bezahlen, das sei ein Akt der Gerechtigkeit, der Rache.
Verdrossen und hungrig setzten wir die Reise fort. Eigentlich fuhr ich gar nicht gern an den Stausee. Dort durfte ich mich kaum entfernen, langweilte mich entsetzlich und versuchte mich damit bei Laune zu halten, ein wenig zu schwimmen, vor den Mäusen wegzulaufen, die zwischen den Felsen hausten, den Würmern beim Sägemehlessen zuzusehen und den Fischen, wie sie am Ufer mit dem Tod rangen. Vater saß den ganzen Tag da und angelte, Mutter schaute ihm den ganzen Tag dabei zu, und ich konnte einfach nicht glauben, dass sie das unterhaltsam fanden.
Am Sonntagmorgen tat ich erkältet, denn ich wollte etwas länger schlafen. Sie gingen zu den Felsen, nicht ohne mich vorher mit tausend guten Ratschlägen einzudecken. Etwas später stand ich auf und hörte beim Frühstückmachen Raphael. Es war eine Kassette mit seinen besten Liedern, die Mutter im Radio aufgenommen hatte. Unglücklicherweise drückte ich aus Versehen ein paar Sekunden auf die Rec-Taste und löschte ausgerechnet den Refrain des Liedes »Qué sabe nadie«.
Ich war verzweifelt. Nach kurzem Grübeln schien mir die einzige Lösung zu sein, selbst zu singen, weshalb ich die Liedzeile mit verstellter Stimme übte, bis ich zufrieden war. Dann schritt ich zur Aufnahme, hörte das Band mehrmals an und erklärte es schließlich großzügig für akzeptabel, auch wenn mir die fehlende Hintergrundmusik während dieser Sekunden zu denken gab.