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Das Buch

Diese Briefe sind außergewöhnlich nicht nur durch ihren Inhalt. Von den ersten Zeilen an sieht der Leser den Zweiten Weltkrieg durch den Blick seiner Soldaten. Die Unverblümtheit ihrer Aussagen bildete einen Kontrast zu den banalen Details des Militärlebens, die Brutalität des Krieges zu den zärtlichen Worten, die sie ihren Ehefrauen schickten. Das Schmerzlichste ist die Erkenntnis, dass diese Soldaten, die die Welt in einen extrem mörderischen und völkermordenden Krieg stürzten, einfache Männer waren.

Die Zensur der Nazis war eine der strengsten im Zweiten Weltkrieg und veränderte sich im Laufe des Kriegs. Zunächst wurde nur jede militärische Information zensiert, später wurden dann die Passagen geschwärzt, die nicht der Ideologie entsprachen: Die Familien durften nicht allzu deutlich über die Sorgen und Zweifel in ihrem Alltag sprechen, und die Soldaten durften keinen Defätismus an den Tag legen. Die deutsche Armee warnte die Soldaten: keine Details über Militäroperationen, über die Position der Truppen, keine Flugblätter des Feindes, keine kodierten Aufschriften und die Abfassung der Briefe in einer europäischen Sprache – außerdem mussten Spionage und Subversion verhindert werden. Aber die Soldaten, die sich dieser Gefahr bewusst waren, zensierten sich selbst. Doch gerade diese Selbstzensur macht diese Quellen unter anderem so interessant.

Marie Moutier hat die Briefe chronologisch, dem Kriegsverlauf entsprechend, in drei Teilen angeordnet: 1939–1941, 1942–1943 und 1944–1945.  

Die Autorin

Marie Moutier studierte an der Sorbonne in Paris Geschichte und promoviert gegenwärtig an der der Universität von Amiens. Als Archivleiterin der Organisation Yahad-in Unum forschte sie über Massenexekutionen von Juden zwischen 1941 und 1944  auf dem Gebiet der heutigen Ukraine und Weißrussland.

Marie Moutier

unter Mitarbeit von Fanny Chassain-Pichon

„Liebste Schwester,

wir müssen hier sterben

oder siegen.

Briefe deutscher

Wehrmachtssoldaten 193945

Vorwort, Einführungstexte und Anmerkungen

aus dem Französischen

von Michael von Killisch-Horn

Blessing

Originaltitel: Lettres de la Wehrmacht.

Originalverlag: Perrin, Paris

1. Auflage 2015

Copyright der Übersetzungen 2015 Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Geviert Grafik & Typografie, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-16353-2

www.blessing-verlag.de

VORWORT

Die Veröffentlichung dieser Briefe von Soldaten der Wehrmacht ist ein wichtiger Schritt für das Verständnis des Zweiten Weltkriegs. Immerhin waren diese Männer die einzigen Europäer, die an allen Fronten Europas gekämpft haben: im Osten und Westen, Norden und Süden. Sie bildeten eine große Mehrheit unter jenen Deutschen, die den Krieg außerhalb ihres Heimatlandes verbrachten, da sie die Zivilisten und die SS-Männer zahlenmäßig übertrafen. Die hier gebotene Zusammenstellung ihrer Briefe erlaubt uns, die ungeheure Bandbreite der Erfahrungen zu erfassen, welche die deutschen Soldaten über fast sechs Jahre hinweg gemacht haben.

Frankreich ist eines der Themen. Aber der Frankreichfeldzug erscheint hier weder als typisch noch als außergewöhnlich. Er ist eine Erfahrung unter anderen, die mit Sicherheit die Eroberungspolitik der Deutschen prägte, doch das galt auch für alle anderen Länder, die sie annektierten. Wenn man diese Briefe liest, stellt man fest, wie sehr die Vorstellungen, die sich die Deutschen vom Leben in Frankreich machten, ihre Beschreibungen des Alltags beeinflussten. Und das gilt auch für Polen und die Ukraine, wo die Ideologie auf heimtückischere Art der Erfahrung einer äußerst blutigen Besetzung vorausging und sie prägte.

Hannah Arendt sprach von der Banalität des Bösen. In diesen Briefen tritt das Böse der Banalität zutage. Die deutschen Soldaten waren sich der Gräuel vollkommen bewusst, deren Zeugen sie wurden oder die sie begingen, doch aus ihrer Sicht waren diese Verbrechen lediglich ein Element ihres Alltags und nur selten dasjenige, das am meisten zählte. Was sie aßen, wo sie schliefen, was sie über ihre Kameraden oder über die Abwesenheit ihrer Familien dachten, beschäftigte sie weitaus mehr. Die Veröffentlichung dieser Briefe erlaubt uns, diese erschreckende Totalität des Alltagslebens zu verstehen. Und da kommt natürlich auch ein nicht unerheblicher Wahrnehmungsunterschied zwischen Verbrecher und Opfer ins Spiel. Für den Verbrecher ist das Verbrechen ein Element der Geschichte und nicht die Hauptsache. Für das Opfer ist das Verbrechen die Geschichte selbst.

Was für die deutschen Soldaten gilt, galt ebenso für die Soldaten der anderen Länder. Ihre Briefe erinnern uns durch den Platz, den sie der Intimität einräumen, sowie durch ihre Details und ihre Vielfalt daran, dass die deutschen Soldaten auch Menschen waren. Sie sprechen hier nicht zu sich selbst oder zu ihren Befehlshabern, auch nicht zu denen, die sie nach dem Krieg befragten, ja nicht einmal zur Geschichte. Sie sprechen zu den Personen, die sie lieben. Die Verbindungen, die sie zwischen dem knüpfen, was sie sehen, und dem, was sie tun, müssen auf eine Weise erklärt werden, welche die Bedeutung, die dem Krieg in Deutschland gegeben wird, ebenso berücksichtigt wie die Bedeutung, die der Intimität geschenkt wird. Die Fähigkeit der Wehrmachtssoldaten, das Böse zu tun und es den anderen und folglich sich selbst zu erklären, war nur allzu menschlich.

Deswegen ist diese Auswahl von großem Wert: Sie zwingt uns, über den Krieg in allgemeineren Begriffen nachzudenken, als uns lieb ist.

Timothy Snyder

April 2014