[DIE NEUE POLIS]

Herausgegeben von Astrid Epiney und Georg Kreis

DIE NEUE POLIS ist Plattform für wichtige staatsrechtliche, politische, ökonomische und zeitgeschichtliche Fragen der Schweiz. Eine profilierte Herausgeberschaft versammelt namhafte Autoren aus verschiedenen Disziplinen, die das Für und Wider von Standpunkten zu aktuellen Fragen analysieren, kontrovers diskutieren und in einen grösseren Zusammenhang stellen. Damit leisten sie einen spannenden Beitrag zum gesellschaftspolitischen Diskurs.

NZZ Libro

Kleine Geschichte des Rahmenabkommens

Eine Idee, ihre Erfinder und was Brüssel und der Bundesrat daraus machten

Felix E. Müller

NZZ Libro

Inhalt

Vorwort

[1]
Einleitung

[2]
Vom EWR-Nein zum Bilateralismus

[3]
Eine Idee wird geboren

[4]
Das Parlament fordert ein Rahmenabkommen

[5]
Die Bilateralen II haben Vorrang

[6]
Bundesrätin Calmy-Rey wirbt für ein Abkommen

[7]
Jedes Departement mit eigener Europapolitik

[8]
Die EU entdeckt das Rahmenabkommen

[9]
Der Bundesrat sagt: «Vielleicht»

[10]
Didier Burkhalters grosses Ziel

[11]
Staatssekretär Rossier gibt ein fatales Interview

[12]
Störfaktor Massen­einwanderungs­initiative

[13]
Kommissions­präsident Juncker überrascht alle

[14]
Zeitbombe «flankierende Massnahmen» explodiert

[15]
Bundesrat Cassis verspricht einen «Reset»

[16]
Das Abkommen ist fertig verhandelt – vielleicht

[17]
Schluss

Anmerkungen, Quellen und Literatur

Timeline

Abkürzungs­verzeichnis und Glossar

Auszug aus der Eingabe der Groupe de réflexion an den Bundesrat

Vorwort

Wir leben in einer Welt der gegenseitigen Abhängigkeit, in einer Welt, in der selbst der mächtigste Staat nicht alle Probleme allein zu lösen vermag, denn die Herausforderungen, die es zu meistern gilt, machen an der Grenze nicht halt. Denken Sie an die radioaktiven Niederschläge, an Fukushima, denken Sie an den Terrorismus, an die Ebolafieber-Epidemie, die im Jahr 2014 Westafrika plagte, denken Sie an die Klimaerwärmung und an die Migrationspolitik. Wir erleben tiefgreifende Veränderungen auf weltweiter Ebene. Immer häufiger wirken sich Faktoren oder Ereignisse ausserhalb unseres unmittelbaren Einflussbereichs auf unsere Wirtschaft und unser Alltagsleben aus. Infolgedessen gewinnt die Aussenpolitik, d. h. das Handeln eines Staats auf der internationalen Bühne, zunehmend an Bedeutung. Denn dort wird um die Bewältigung der globalen Herausforderungen gerungen, dort zeigen sich die Kräfteverhältnisse und die Fähigkeit eines Staats, seine Interessen zu vertreten. Die gewählten Behörden eines Landes treten internationalen Kompromissen bei und gehen die Verpflichtung ein, diese daheim zu vertreten, obwohl sie oftmals nur wenig zu ihrer Ausarbeitung beigetragen haben. Die UN-Klimakonferenz in Paris oder der UN-Migrationspakt zeigen, dass dies kein einfaches Unterfangen ist. Eine solche Erkenntnis müsste eigentlich die Position des Vorstehers oder der Vorsteherin des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten stärken, was übrigens in den meisten Ländern, wo die Aussenminister Macht haben, der Fall ist.

In der Schweiz vollzieht sich das Gegenteil: Angesichts der Häufung der auf internationaler Ebene eingegangenen Verpflichtungen hält jedes Departement den Aufbau einer eigenen, sektorbezogenen Aussenpolitik für erstrebenswert. Traditionell wurde das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten häufig Vertretern der Sozialdemokratischen Partei anvertraut, denn der Vorsteher oder die Vorsteherin dieses Departements sollte einen möglichst geringen Einfluss auf die Innenpolitik ausüben, und infolgedessen besass die Linke, die in der Regierung die Minderheit bildete, nur eine eingeschränkte Macht. Wobei der Vorsteher oder die Vorsteherin des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten selbst dann einen schweren Stand hat, wenn er oder sie aus der traditionellen Rechten kommt. Eine integrierte aussenpolitische Strategie, die vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten koordiniert wird, stiess und stösst noch immer auf grosse Hindernisse.

Die «Kleine Geschichte des Rahmenabkommens» von Felix E. Müller ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Sie enthüllt unsere Unzulänglichkeiten: Departemente, die Sektor für Sektor im Alleingang regieren, anstatt mit vereinten Kräften zu kämpfen. Die Schweiz ist in zweifacher Hinsicht mit einem Führungsproblem konfrontiert, einerseits, was die Machtverteilung betrifft, und andererseits in Bezug auf die Fähigkeit, eine tatsächliche Konkordanzdemokratie zu pflegen.

Im Hinblick auf die Machtverteilung unter den Mitgliedern des Bundesrats habe ich bereits 2005 die Idee eines Rahmenabkommens vertreten, und zwar aus folgendem Grund: Ein Rahmenabkommen würde die Möglichkeit bieten, die Positionen der Schweiz unter der Regie des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) zu koordinieren und zugleich den Einfluss des EDA und seines Vorstehers oder seiner Vorsteherin innerhalb des Gesamtbundesrates zu stärken, was die Kohärenz der schweizerischen Europapolitik gewährleisten und folglich ihren Ergebnissen mehr Effizienz sichern würde. Immerhin erntete ich bei meinen Kollegen verhaltenen Beifall.

Heute erleben die Europäer, wie sich unsere verschiedenen Vertreter in Brüssel die Klinke in die Hand geben, der eine, um seine finanziellen oder wirtschaftlichen Interessen zu verteidigen, der andere, um sich mit Migrationsfragen auseinanderzusetzen, der nächste, um politische Fragen zu erörtern. Sie erleben, dass der Bundespräsident oder die Bundespräsidentin jedes Jahr wechselt, dass den Worten des Aussenministers oder der Aussenministerin in Bern widersprochen wird, dass das geduldig ausgehandelte Abkommen abgelehnt wird. Zumindest eine interne Verständigung und die Bemühung um einen Konsens vor Aufnahme der Verhandlung täten not. Doch dies setzt die Bereitschaft voraus, sich wenigstens einer Koordination unterzuordnen. Im Jahr 2011 wurde das Integrationsbüro, das bis dahin vom Eidgenössischen Departement für Wirtschaft und vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten gemeinsam geleitet wurde, vollständig Letzterem angegliedert und mit einer neuen Bezeichnung ausgestattet: Direktion für europäische Angelegenheiten. Das ist zwar ein erster Schritt, aber es reicht nicht.

Im Hinblick auf die Fähigkeit des Systems, eine tatsächliche Konkordanzdemokratie zu pflegen, muss festgestellt werden, dass der Gesamtbundesrat gespalten ist und sich mit Entscheidungen schwertut. Die Europäische Union (EU) drängt die Schweiz zum Abschluss eines sogenannten institutionellen Abkommens mit ihr. Sie will nicht, dass die Schweiz das EU-Recht anders anwendet als ihre Mitgliedstaaten, die sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EUGH) orientieren müssen. Der Preis der Zustimmung zu einem solchen Abkommen erhitzt die Gemüter. Die Schweiz begrüsst Lösungen, die ihr bei gleichzeitiger Wahrung ihrer Souveränität und des einwandfreien Funktionierens ihrer Institutionen einen Marktzugang sichern würden, die ihre wirtschaftlichen Interessen berücksichtigen und im Bereich des Möglichen ihre komparativen Vorteile aufrechterhalten würden. All das ist nicht selbstverständlich, und sollten wir künftig keine tragbare Lösung finden, kommt ein gewaltiges Dilemma auf uns zu. Wir sollten uns entscheiden, einem von beiden den Vorrang einzuräumen: entweder dem Marktzugang oder der kompromisslosen Achtung unserer Institutionen. Wir sollten zwischen unseren wirtschaftlichen und politischen Interessen trennen.

Es stellt sich also die Frage, ob dieses Vorhaben angesichts der unterschiedlichen Ansätze nicht zum Scheitern verurteilt ist.

Die Konkordanzdemokratie, auf die wir so stolz sind, ist im Bereich Aussenpolitik, genauer gesagt Europapolitik, nichts als Fassade. Es wäre höchste Zeit, sie nicht länger als Modell der Machtverteilung unter den Mitgliedern des Bundesrats aufzufassen, sondern als Konzept für die Gesamtpolitik und die Positionierung der Schweiz als Land zu begreifen. Was die Beziehungen zur EU betrifft, stellt die notwendige Anpassung unserer Konkordanzdemokratie keine bloss zweitrangige Aufgabe dar, sondern vielmehr eine ganz zentrale Herausforderung, die auf die Entwicklung der Schweiz enormen Einfluss hat. Und das Fehlen einer politischen Leitlinie ist in dieser Hinsicht mehr als besorgniserregend.

In diesem Stadium drängen sich zwei Schlussfolgerungen auf:

1.

Die bilateralen Mechanismen nehmen zu und werden immer ausgefeilter.

Die Integration des Besitzstands der EU durch die Schweiz vollzieht sich im Vergleich mit den Mitgliedsländern des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) zusammenhanglos und bruchstückhaft, denn die Beziehung zur Schweiz beruht lediglich auf einer Ad-hoc-Grundlage, die sich in Sektoren aufgliedert. Zwar bewundern unter unseren europäischen Ansprechpartnern manche unsere wirtschaftlichen, politischen und sozialen Erfolge, doch gleichzeitig äussern sie Bedenken: Der bilaterale Mechanismus würde die Homogenität, die das einwandfreie Funktionieren des europäischen Binnenmarkts erfordert, nicht mehr gewährleisten. Sie haben den Eindruck, dass wir von bestimmten Aspekten des Binnenmarkts profitieren wollen, ohne uns seinen Regeln zu unterwerfen, dass wir uns nur die Rosinen aus dem Kuchen picken wollen, ohne Solidarität zu üben. Sie gehen davon aus, dass die mit der Schweiz geschlossenen Abkommen angesichts der Unverhältnismässigkeit zwischen den Chancen eines Markts mit 500 Millionen Verbrauchern einerseits und eines Markts mit knapp achteinhalb Millionen Einwohnern andererseits eine Schieflage aufweisen.

Infolgedessen will die EU verhindern, dass die Schweiz alle Vorteile eines Beitritts geniesst, ohne die dazugehörenden Pflichten erfüllen zu müssen. Sie vertritt die Ansicht, dass die Unternehmen aus Drittländern, die an ihrem Binnenmarkt teilhaben möchten, zu jedem Zeitpunkt denselben Rechtsnormen unterliegen und an deren Einhaltung gebunden sein müssen. Wenn strengere Richtlinien eingeführt werden, müssen diese folglich ebenso für jene gelten, die über einen freien Marktzugang verfügen. Aus der Perspektive der Union bedeutet dies, dass die Abkommen, die einen gleichberechtigten Marktzugang gewähren, einen einheitlichen Rechtsraum begründen sollten. Nicht nur der bestehende Besitzstand der EU müsste übernommen werden, sondern nach und nach müsste auch der neue Besitzstand mehr oder weniger automatisch übernommen werden, da die Erläuterungen und Auslegungen des EUGH, mit anderen Worten die Rechtsprechung des Gerichtshofs, respektiert werden sollten. Darüber hinaus müssten gemäss der Europäischen Kommission die Unternehmen aus Drittländern derselben Aufsicht unterliegen wie die Unternehmen der Mitgliedstaaten.

Diese Forderungen, von denen einige in den Schlussfolgerungen des EU-Rats vom 8. Dezember 2008 über die Beziehungen zu den EFTA-Ländern und der Schweiz enthalten sind, stellen entscheidende Herausforderungen für die Entwicklung unserer bilateralen Beziehungen dar. Lösungen, die auf der gegenseitigen Anerkennung der Gleichwertigkeit der schweizerischen und europäischen Rechtsnormen beruhen, möchte die EU in der Tat vermeiden, da sie das entsprechende Verfahren als zu komplex und schwerfällig einstuft.

In Zukunft beabsichtigt die EU, den Zugang zu einem bestimmten Sektor ihres Markts an die Übernahme ihrer entsprechenden Normen zu knüpfen und zugleich jegliche Einmischung von Drittländern in den gemeinschaftlichen Entscheidungsprozess zu vermeiden, um ihre Entscheidungshoheit sowie die Integrität ihres Rechts zu bewahren. Ebenso möchte die EU verhindern, dass die Schweiz von komparativen Vorteilen, die sich aus der Abweichung zwischen den schweizerischen und europäischen Rechtsnormen ergeben könnten, profitiert. Also stehen nicht allein politisch-rechtliche Inhalte auf dem Spiel, sondern auch wirtschaftliche Aspekte.

2.

In Wirklichkeit will die EU der Schweiz keine Ausnahmeregelung gewähren.

Im ausgehandelten institutionellen Abkommen verlangt die EU von der Schweiz eine Konditionalität zwischen dem Zugang zu ihrem Markt und der Übernahme des Besitzstands sowie der zukünftigen Entwicklungen der EU-Vorschriften, was ebenfalls die Beaufsichtigung und die Kontrolle der Art und Weise, in der die Schweiz das EU-Recht anwendet, mit einschliesst. Dazu gehört eine verbindliche Schlichtungskompetenz des EUGH in diesem Bereich. Infolgedessen ist es nicht verwunderlich, dass ein solches Abkommen Mühe hat, die Schweizer und Schweizerinnen zu überzeugen.

Den Grundpfeiler des Streitbeilegungssystems bildet das Schiedsgericht. Man könnte meinen, dass es sich dabei um eine gute Sache handelt. Wenn jedoch die im Konfliktfall aufkommenden Fragen die Auslegung und Anwendung des EU-Rechts berühren, kann das Gericht den EUGH einschalten, wenn sich dies als erforderlich und relevant erweist, um in einem konkreten Fall zu befinden. Und die fünf bestehenden Abkommen, die vom institutionellen Abkommen betroffen sind (Personenfreizügigkeitsabkommen, Abkommen über den Landverkehr, Abkommen über den Luftverkehr, Abkommen über den Abbau technischer Handelshemmnisse und Abkommen über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen), sowie die zukünftigen Abkommen über den Marktzugang unterliegen grösstenteils dem EU-Recht, was die Entscheidungsfreiheit des Schiedsgerichts beschneidet. In der Tat ist es wahrscheinlich, dass die Anrufung des Gerichtshofs mit einer Rechtsfrage die vom Schiedsgericht gefällten Beschlüsse beeinflussen wird. Beispielsweise sieht das Abkommen die Übernahme der EU-Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen vor. Über ihre Anwendung in der Schweiz würde in diesem Sinne im Konfliktfall de facto der EUGH befinden. Es handelt sich also nicht um eine blosse Bagatelle, die lediglich das Problem der Voranmeldefrist von vier oder acht Tagen betrifft, sondern um die grundlegende Frage nach dem anwendbaren Recht. Das Abkommen beschneidet ja die flankierenden Massnahmen teilweise, womit diese in den Einflussbereich des EUGH geraten. Dies bedeutet, dass die flankierenden Massnahmen nicht in ihrer Gesamtheit als Ausnahme gelten können, was heisst, dass sie der Rechtsprechung des EUGH nicht entzogen sind.

Ein weiterer Punkt, der für Diskussionsstoff sorgt: Die Übernahme der Richtlinie über die Unionsbürgerschaft, die den Anwendungsbereich des Abkommens über die Personenfreizügigkeit erweitern könnte, wird im Abkommensentwurf nicht erwähnt. Das heisst, die Schweiz würde bei Unstimmigkeiten von keiner ausdrücklichen Ausnahme profitieren, da der im Abkommen vorgesehene Streitbeilegungsmechanismus zur Anwendung käme.

Schliesslich müssen die Staatsbeihilfen angesprochen werden. Es wäre entscheidend, sich zu vergewissern, dass die im Abkommensentwurf angestrebte Lösung keine horizontalen Wirkungen entfaltet, d. h. Wirkungen, die über den durch das institutionelle Abkommen abgedeckten Bereich hinausgehen und z. B. den Freihandel betreffen, und dass die Eidgenossenschaft und die Kantone gleichberechtigt behandelt werden.

Dass diese drei Punkte Schwierigkeiten bereiten, ist kein Zufall. In der Tat handelt es sich jedes Mal um Mehrdeutigkeiten, die mit der Anwendbarkeit des EU-Rechts innerhalb der schweizerischen Rechtsordnung zusammenhängen.