#fomo - Fear of Missing Out

Die Angst, etwas zu verpassen

Manfred Poser


ISBN: 978-3-86191-203-3
1. Auflage 2020
© 2018 Crotona Verlag GmbH und Co. KG, Kammer 11, D-83123 Amerang



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Inhalt

Es gibt kein richtiges Leben im falschen.

Theodor W. Adorno

Einleitung

Da sitzen wir also vor FOMO, diesem komischen Wort wie aus der Babysprache. Ich habe es zunächst mit Großbuchstaben geschrieben und es damit aufgeblasen, damit es auffällt. Es ist ja – und alle wissen das – ein Akronym oder „Initialwort“, das aus den Anfangsbuchstaben eines vierspännigen Begriffs besteht: The Fear of Missing Out oder Die Furcht, etwas zu verpassen. Die wäre, in unsere deutsche Sprache umgesetzt, dann die FEZV, und die „Verpassensfurcht“ könnte man als VPF abkürzen. Das klingt nach Bundesgesetzbuch und deutsch nach alter preußischer Art, aber aussprechen lässt es sich nicht. In der Welt von „Gugel“ und „Äppel“ brauchen wir Vokale und einen guten „Flow“. Überhaupt: Kann man eine Welt ernst nehmen, in der „Google“ einen prominenten Platz (im Wortschatz und überhaupt) einnimmt?

Fomo? FOMO? FoMO!

Fomo. Erinnert ältere Zeitgenossen an ein Waschmittel, das vor fünfzig Jahren in Deutschland für weiße Wäsche sorgte und dies heute erfolgreich in Afrika tut. Omo kann jedes Kind aussprechen. Klein schreibt man unseren ominösen Begriff jedoch nur im Netz. Manchmal liest man ihn in der Version FoMo, mit einer „Binnenmajuskel“ (M). Das sieht symmetrisch aus und kann gefallen, korrekt ist es aber auch nicht.

Richtig ist FoMO. Im Englischen, das keine Großschreibung kennt, werden in Titeln sogar Pronomen wie „of“ und „what“ groß geschrieben, deutlich sind die Regeln keineswegs. Jedoch sagt das „Chicago Manual of Style“, das erste und das letzte Wort einer Überschrift werde groß geschrieben, also auch das „Out“ in „Fear of Missing Out“. So landen wir bei FoMO, und so schreibt es auch der US-Marketingmann Dan Herman, der das Phänomen erstmals 1996 beobachtet und definiert haben will. Das Museum of Modern Arts in Manhattan schreibt sich ja auch MoMA, anders als das unsägliche ZDF-Morgenmagazin, das MOMA.

Die Furcht, etwas Konkretes zu verpassen (etwa ein Treffen), wäre einfach the „Fear of Missing It“ (ES zu verpassen, den bestimmten Anlass); die „Fear of Missing Out“ ist eher unscharf und bezieht sich auf eine Möglichkeit, auf vieles möglicherweise zu Verpassende, so dass sie fast als eine Angst gelten könnte, ein Grundgefühl. Darum geht es bei unserem Phänomen: Nicht um ein Verpassen, das schwere Folgen hätte, sondern um ein vages Nichts-verpassen-Wollen, alles mitzukriegen, dabeizusein und souverän seine Kontakte verwaltend.

Ängste werden gewöhnlich mit der griechischen Sprache bezeichnet, und man hört auch hier ein Echo von weit her: FoMO erinnert an Phobos, das griechische Wort für Furcht, das mit dem schönen Buchstaben φ beginnt. Manche reagieren „phobisch“ auf Gewitter, Spinnen oder Mäuse, und andere heute eben „fomisch“ im Chaos der vielen Möglichkeiten, und das ist nicht komisch.

Zwar sagt uns Rabbi Joseph Gikatilla in seinem Buch „Gates of Light“: „Glücklich ist der Mensch, der sich immer fürchtet.“1 Wer sich fürchtet, passt gut auf und geht von den Wegen des Herrn nicht ab. Die Furcht gehört einfach zur Liebe dazu, vielleicht in der Form der Ehrfurcht, schrieben jüdische Gelehrte im Mittelalter. Furcht sei das Gegenteil der Liebe oder ergänze sie. Beides kann da sein.

Nur: Wenn Furcht da ist, wird die Liebe kleinmütig. Die Menschen der Frühzeit wurden weit mehr durch das beeinflusst, was sie fürchteten, als durch das, was sie liebten, meinte einmal der berühmte Anthropologe J. G. Frazer. Die Furcht vor der Natur führte zur Religion, die mit Opfern die Dämonen und die Naturgewalten zu zähmen hoffte, und die Furcht vor dem Tod ließ uns in den Staub sinken, als die christliche Kirche uns mit der ewigen Höllenstrafe drohte.2

Das liegt hinter uns. Es herrscht Angst davor, den Job oder Hab und Gut zu verlieren. Um das zu verhüten, schließen wir Versicherungen ab, die Verluste ersetzen (aber nichts verhüten können), und da wir nichts versäumen wollen, halten wir streng die Regeln ein, bis nichts mehr Spaß macht und wir uns in unserem Job gleichsam eingebunkert haben. „Worin unterscheiden sie sich eigentlich von angeketteten Sträflingen?“, fragte im dritten Jahrhundert Yang Zhu, ein Philosoph der Sinneslust, und er meinte jene, die „für eine Stunde des Ruhms“ ihre einzelgängerischen Wege gehen, die alles analysieren und „abwägen, was gut für Körper und Geist ist“ … und so die glücklichsten Augenblicke ihres Lebens verpassen.

Furcht und Ehrfurcht. So stehen wir auch irgendwie ehrfürchtig und furchtsam vor unserer digitalen Welt, die wir ja gleichzeitig lieben, weil sie uns so verschwenderisch beschenkt. Wir fürchten, ihren Verheißungen nicht gerecht zu werden, ihre Angebote nicht richtig auszuschöpfen. Die Tore zum Paradies stehen scheinbar weit offen, und wir sollen nun handeln und unser Leben zur Perfektion bringen; das ist eine große Aufgabe, die einen auch lähmen kann. Wir fürchten, das Wichtigste zu verpassen, uns des Paradieses als nicht würdig zu erweisen. Doch wir kennen die Internet-Welt, wir können sagen: „Der Herr ist für mich; so fürchte ich nichts.“ (Ps 118,6) Und doch fürchten wir uns manchmal und huldigen einem (unsichtbaren) elften Gebot: Du sollst nichts verpassen.


1 Gikatilla, Gates of Light (2002), S. 202

2 Lorimer, Whole in One (1990), S. 244