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Emery Lord

Nur um dich

lächeln zu sehen

Aus dem amerikanischen Englisch

von Ilse Rothfuss

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1. Auflage 2018

Copyright © 2016 Emery Lord

Copyright © für die deutschsprachige Ausgabe 2018

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel

»When We Collided« bei Bloomsbury Children’s Books

Übersetzung: Ilse Rothfuss

Umschlaggestaltung: zeichenpool

Umschlagmotive: Shutterstock (Diana Indiana, Look Studio,

Bob Pool, Andrew Zarivny, Maria_Galybina)

TP • Herstellung: eR

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-20172-2
V001

www.cbt-buecher.de

Für meine Familie, die immer weitersegelt

1

Vivi

Ich wusste sofort, dass ich mich in Verona Cove verliebt hatte, aber erst am siebten Tag konnte ich mich dazu bekennen. Nach einer Woche schnitzte ich also meinen Namen in einen großen Baum in der Ortsmitte. Mir war nicht klar, wie schwierig es ist, mit dem Taschenmesser eine harte Rinde zu durchbohren: Ich habe eine Ewigkeit für nur elf Buchstaben gebraucht. Zum Glück patrouilliert die Polizei nicht im Irving Park, bevor die Sonne aufgeht, und auch sonst nirgends. In Verona Cove wirft höchstens mal jemand eine Papierserviette weg, das vermutlich schwerste Verbrechen, das hier je begangen wurde. Und ich wette, dieser Jemand hat einfach die Serviette fallen lassen und ist ihr dann verzweifelt nachgejagt, aber der Wind hat sie fortgerissen, bis sie irgendwo zu Müll wurde.

Außerdem reizt mich der Gedanke, erwischt zu werden, oder würde ich mich sonst mit rissigen Buchstaben für immer in einem Baum verewigen, der älter ist als alle 3051 Einwohner von Verona Cove zusammen? Vivi war hier.

Als ich fertig bin, tätschle ich mein Werk, weil – okay, ja, ich bin eine Umweltzerstörerin, aber das hier ist ein Verbrechen aus Leidenschaft. Und dem Park macht es nichts aus, das weiß ich, weil ich das alles hier liebe, und ich glaube, selbst der megaordentlich gemähte Rasen und die beschilderten Bänke spüren meine Zuneigung.

Ich verlasse den Park und merke erst jetzt, dass ich viel später dran bin als sonst. Die Morgensonne ist bereits über den Horizont gekommen und die Blätter werfen Schatten so zart wie Seidenspitze auf den Gehsteig. Überall sprießen Blumen, aus jedem Quadratzentimeter des Ortes – fuchsienrote Rosen, die über die Spaliere kriechen, Forsythien, funkelnd wie gelbe Leuchtraketen. Während ich den Weg entlangschlendere, ziehen sich die Bäume über mir aus und streifen blassrosa Blütenblätter ab wie in einem langsamen Burlesquetanz.

Deshalb will ich für immer hierbleiben, nicht nur den Sommer über. Bisher habe ich Mom gegenüber immer behauptet, dass Hawaii im Vergleich zu Verona Cove wie eine schwimmende Müllhalde aussieht. Also streng genommen war ich noch nie in Hawaii, aber ich habe Fotos davon gesehen. Verona Cove ist ein winziger Ort, den man wohl eher irgendwo in Massachusetts oder North Carolina suchen würde, der sich aber stattdessen in eine kleine Bucht an der kurvigen kalifornischen Küste schmiegt. Ich habe schon in mehreren Städten gelebt, und Verona Cove ist keine, so viel steht fest, sondern eher eine Mischung aus Kleinstadtidylle, Regenwald und Shangri-La. Jedes Detail ist so perfekt, dass man sich an ein Filmset versetzt fühlt, und ich würde am liebsten meine Hände über die bemalten Gartenzäune gleiten lassen, die Retro-Briefkästen, die Straßenlaternen, die wie eine lange Reihe schimmernder weißer Monde aussehen. Alles ist sauber, aber nicht steril, man spürt, dass jeder noch so winzige Fleck an diesem Ort bewohnt und geliebt wird.

Die Läden sind mehr oder weniger alle in einem Quadrat aus drei mal drei Straßen angesiedelt, mit der Main Street als Mittellinie. Jeden Morgen komme ich an einem hübschen Restaurant, einem kleinen Baumarkt und dem Buchladen vorbei. An dem Haus, auf das ich jetzt zugehe, verkündet eine Tafel in sorgfältiger Kreideschreibschrift »Betty’s Diner«. Darunter folgt in rosa Blockbuchstaben: BESTES FRÜHSTÜCK laut Daily Gazette, mit einer Aufzählung der Frühstück- und Lunch-Specials. Im Schaufenster des »Cove Coffee« hängt die gleiche Auszeichnung: BESTER KAFFEE laut Daily Gazette. In Verona Cove gibt es von allem immer nur eins – einen Drogeriemarkt, einen Supermarkt, eine Kunstgalerie. Jedes Geschäft ist also automatisch das beste, aber mir gefällt es, dass alle gewürdigt werden.

Eine Ladenglocke klingelt, als ich eintrete, und mir schlägt der Geruch von Ahornsirup, Kaffee und gebratenen Würstchen entgegen. Ich komme seit sieben Tagen jeden Morgen hierher, weil um diese Zeit nichts anderes geöffnet hat. Es ist alles so aufregend und neu für mich, dass ich immer sehr früh aufwache.

Aber heute bin ich, wie gesagt, später dran, und der Diner ist brechend voll mit Achtzigjährigen – weiße bauschige Frisuren, die wie Wolken über den Rückenlehnen der wasserblauen Kunstledersitze schweben.

Betty steht selbst hinter der Kasse und tippt in die Tasten. »Oh, hallo, honey bun. Eine Sekunde.«

Ich glaube, Betty hat Kosenamen wie sugar, darling und honey auf zwei Würfeln in ihrem Kopf gespeichert. Bei jedem neuen Gast lässt sie die Würfel rollen, bis sich eine passende Kombination ergibt: honey love, sweetie pie, sugar babe. Ich bin gespannt, was für mich an diesem Morgen abfällt. Das ist dann wie der Glückskeks bei meinem Lieblings-Chinesen. Nicht dass ich extra deshalb hingehe, aber dadurch wird das Ganze noch ein bisschen heimeliger.

Betty kommt hinter der Theke hervor und schaut sich im rappelvollen Diner um. »Kann einen Moment dauern, bis ein Tisch frei wird.«

Aber ich habe meine Chance bereits erspäht: bei einem älteren Mann in einem dünnen Pullover. »Kein Problem. Ich setze mich zu Officer Hayashi.«

Betty starrt mich an, als hätte ich gesagt: »Ich geh jetzt da rüber und zähme das Raubtier, bis es mir die Pfannkuchen aus der Pfote frisst.«

»Oh, sweetie, Officer Hayashi ist ziemlich heikel. Der will hier morgens seine Ruhe. Und zwar immer.«

»Ach, das schreckt mich nicht.« Ich werfe ihr ein Lächeln zu, weil ich etwas weiß, das sie nicht wissen kann. Officer Hayashi ist kein alter Miesepeter, wie sie mir einreden will. Als ich an meinem dritten Morgen in Verona Cove zu Betty’s Diner spaziert bin, habe ich einen Schäferhund entdeckt – alles an ihm wachsam, Körperhaltung, Nase, Ohren –, der hinten in einem Polizeiwagen saß.

»Hey, warum haben sie dich eingebuchtet, Süßer?«, fragte ich durch den Spalt in der Scheibe. Der Hund starrte mich an, stolz und gleichmütig, wie es sein Job offenbar verlangt. »Ein Überfall? Körperverletzung? Nein, bestimmt nicht, dafür bist du zu gutmütig – das seh ich dir an. Schwarzhandel? Nein, nicht der Typ dafür. Ah, ich weiß! Diebstahl, jede Wette. Also, was hast du geklaut? Eine Pizza, direkt vom Tisch runter? Oder hast du einem Kind den Geburtstagskuchen vor der Nase weggeschnappt? Du siehst aus, als ob du ganz wild auf Süßes wärst.«

Sein langer Schwanz knallte gegen die Rücklehne.

»Chickenwings ohne Knochen mit Chilisauce«, ertönte da eine Stimme hinter mir. »Da kann sie nicht widerstehen.«

Eine Hündin. Ich Idiot, warum hatte ich das nicht gleich gecheckt? Und natürlich wedelte sie mit dem Schwanz, weil ihr Herrchen zurückgekommen war. Ein Mann mit weißem Haar und dunkelblauer Polizeiuniform. Ich las den Namen auf dem silbernen Schildchen: Hayashi.

»Aber sie steht nicht unter Arrest. Noch nicht jedenfalls.« Er nippte an seinem Coffee-to-go aus Betty’s Diner.

»Oh, ich weiß, dass sie im Dienst ist«, sagte ich. »Wollte sie nur ein bisschen aufziehen. Tut mir leid, aber ich kann nicht anders – ich liebe Hunde, und sie ist ein Juwel. So was seh ich.«

»Ja, sie ist ein braves Mädchen, was, Babs?«

»Babs?«, wiederholte ich, mir sträubte sich förmlich das Nackenfell. Was für ein lächerlicher Name für einen Polizeihund! Im Ernst, bei männlichen Schäferhunden würde sich das niemand erlauben. Die heißen alle Rex oder Maverick oder Ace.

»Eigentlich Kubaba.«

Oh nein, noch schlimmer, aber ich ließ mir nichts anmerken.

»Okay, hallo, Kubaba, freut mich, dich kennenzulernen«, sagte ich zu der Hündin, dann wandte ich mich wieder an ihren Partner und hielt ihm die Hand hin. »Ich heiße übrigens Vivi.«

Er schüttelte mir die Hand. »Und, bist du eine gesetzestreue Bürgerin?«

»Also jedenfalls nicht vorbestraft. Noch nicht«, antwortete ich lächelnd.

Aber dann bin ich schnurstracks nach Hause gegangen und habe den Namen Kubaba gegoogelt. Und jetzt weiß ich genug über Officer Hayashi, um keine Angst vor ihm zu haben. Er wird mich nicht wegscheuchen.

»Hi«, sage ich und trete an seinen Tisch. Er starrt auf sein Kreuzworträtsel und füllt sorgfältig mit blauer Tinte ein Kästchen aus. »Ich bin Vivi. Von neulich. Die Ihrem Hund unterstellt hat, dass er was ausgefressen hätte.«

Officer Hayashi hebt den Kopf und sieht mich an, als wolle ich ihn irgendwie austricksen. »Ich erinnere mich.«

»Kubaba«, fahre ich fort, »war die einzige sumerische Königin. Die einzige Frau in einer langen Reihe von sumerischen Herrschern.«

Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. »Du hast ihren Namen nachgeschlagen, was?«

Schon komisch. Da gibt es jede Menge männliche Schäferhunde, die darauf dressiert sind, Verbrechern an die Kehle zu gehen, und was macht er? Gibt seinem Königsmädchen den Namen, den es verdient – ihnen allen ebenbürtig.

»Kann ich mich zu Ihnen setzen?«

Der Officer blickt sich um, sucht offensichtlich einen anderen freien Platz, nur um mich loszuwerden. Ich dagegen lächle freundlich und warte ab, bis er endlich klein beigibt. So wie sonst auch immer alle. Sein Blick wandert zu mir zurück. »Ja, klar kannst du das.«

Hmpf. Herablassender Seniorenspruch, auf den ich jetzt korrekterweise antworten müsste: »Ich meine natürlich, darf ich mich zu Ihnen setzen?« Stattdessen setze ich mich einfach auf den Platz ihm gegenüber und lasse meine Tasche neben mich fallen.

Und jetzt? Der gute Officer weiß nicht, was er mit mir anfangen soll.

»Bist du sicher, dass du nie was angestellt hast?«, fragt er. »Du scheinst mir der Typ dafür zu sein. Missachtung gesellschaftlicher Regeln und so.«

Ich lege theatralisch eine Hand auf meine Brust. »Ich doch nicht, Ehrenwort.«

Ich kann mir nur mühsam ein Lächeln verkneifen. Selbst wenn der Officer mich auf frischer Tat im Park ertappt hätte, in Wahrheit, das wette ich, ist er butterweich unter seiner rauen Schale. Als er sich wieder seinem Kreuzworträtsel zuwendet, öffne ich mein Skizzenbuch auf der Seite, auf der ich gestern Abend gearbeitet habe. Mein Inspirationswort ist oben hingekritzelt und fordert mich erneut heraus. Wabi-sabi: Ich wollte einen einfachen rosa Morgenmantel malen – Seide, am Saum unten aufgeraut. Aber irgendwie ging dann die Fantasie mit mir durch, und es wurde ein Mädchen mit einem Kleid aus Kirschblütenzweigen, deren rosa Blüten sich wie im Tanz fächerförmig ausbreiten.

Ich beginne auf der gegenüberliegenden Seite wieder von vorne, werfe ab und zu einen verstohlenen Blick auf meinen Tischnachbarn. Wenn Hayashi ein Lösungswort nicht weiß, kaut er am Ende seines Stifts herum und funkelt die Zeitung an, als ließe sich die Seite dadurch einschüchtern und lieferte ihm das richtige Wort.

»Hey, doll baby«, sagt Betty zu mir und füllt meinen Becher mit Kaffee. Ich trinke Kaffee nur wegen des Geschmacks, klar, denn Koffein ist echt das Letzte, was ich brauche. So bin ich nun mal – ich mache etwas, weil ich es mag, und nicht weil ich muss. »Und? Geht’s heute mit den Waffeln weiter?«

Am ersten Morgen in Betty’s Diner hatte ich mir einfach das Erstbeste auf der Karte bestellt – das Klassiker-Omelett –, was mich auf die Idee brachte, alles der Reihe nach auszuprobieren. Die Omeletts habe ich alle schon abgehakt. »Ja, bitte! Klingt definitiv köstlich.«

»Hier, Pete.« Betty stellt einen Teller vor den Officer. Spiegeleier und knuspriger Speck auf warmen Brötchen. Mmmm. Bis zu diesem Special bin ich noch nicht vorgedrungen.

»Also …« Hayashi greift zur Gabel, »warum dieser Marylin-Monroe-Look?«

Ich zupfe an meinen Locken. »Kein Marylin-Monroe-Look. Ein Ich-Look.«

Er schaufelt das Essen in sich hinein, ohne auch nur hinzusehen. »Okay.«

Im Ernst, kann man nicht einfach mal was nur zum Spaß machen? Ich habe in den letzten Monaten ein bisschen zugenommen und die Kurven sind neu für mich. Also dachte ich mir: Jetzt – oder nie – ist der Moment, meine Haare platinblond zu färben und auf eine Länge zwischen Ohrläppchen und Schultern zu kürzen. Ich habe meine naturblonden Haare auf große Schaumwickler aufgedreht und das Ganze mit Dauerwellenflüssigkeit behandelt. Dabei weiß ich fast nichts über Marylin. Wollte nur was mit meinen Haaren machen. Jetzt wippt die ganze Pracht auf meinem Kopf herum und fühlt sich gut an, ganz leicht und duftig, als würde ich sofort Ja schreien, falls mich irgendwelche Waldelfen zum Tanz bitten. Und wenn ich schon so marylinmäßige Haare habe, kann ich mir auch gleich noch rote Lippen malen und die Nägel lackieren.

Tierfarben dienen angeblich der Tarnung oder als Schutz – oder als Signal für potenzielle Räuber oder Paarungspartner. Ha! Vielleicht sind meine platinblonden Haare, die roten Lippen und rosigen Wangen alles auf einmal. Oder vielleicht schmücke ich mich einfach gern.

Als die Waffeln kommen, schiebe ich mein Zeichenbuch beiseite, um Platz zu schaffen, und stopfe mich voll. Ummpf! Kohlenhydratparadies, golden, buttrig und mit Puderzucker bestäubt.

Officer Hayashi starrt auf mein aufgeschlagenes Skizzenbuch. Er tunkt mit einem Brötchenstück sein restliches weiches Eigelb auf. »Wabi-sabi. Weißt du, was das ist?«

»Wenn ich es richtig verstanden habe«, sage ich, um mein neu erworbenes Wissen auszubreiten, »ist das Wort unübersetzbar. Wabi kann rustikal oder stark oder vergänglich bedeuten. Und sabi verblichen oder so ähnlich. Oder verblasst. Alt. Beide Wörter zusammen bedeuten, dass man die Schönheit im Einfachen erkennt, in der Natur. In flüchtigen Momenten und sogar im Verfall. Glaube ich jedenfalls.«

Der Officer nimmt seinen Becher und kippt den letzten Rest Kaffee hinunter. »Wo hast du das gelernt?«

»Von meiner Freundin.« Kann ich Ruby noch als Freundin bezeichnen? Ihr Bild drängt sich in meinen Kopf, ihr tiefroter Lippenstift, der schwarze Pony, und mir wird schwindlig vor Sehnsucht nach ihr, vor Sehnsucht nach ihrer ganzen Familie. »Ihre Mom hat letztes Frühjahr eine tolle Mixed-Media-Ausstellung gemacht, um die japanischen Schönheitsideale, mit denen sie aufgewachsen ist, und die westlichen Kunsttheorien, die sie am College studiert hat, miteinander zu vergleichen.«

Bevor er etwas sagen kann, deute ich seufzend auf das wirbelnde Kirschblütenkleid. »Ich versuche gerade, ein paar von diesen Vorstellungen in Mode umzusetzen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich sie mit meinem persönlichen Schönheitsbegriff in Einklang bringen kann. Ich liebe kreative, gewagte Mode, also werde ich mich wohl mehr auf Street Style verlegen, wenn ich endlich mal nach Japan komme. Waren Sie schon mal dort?«

»Nein, war ich nicht. Aber …« Er zögert, zieht seinen Geldbeutel heraus. »Ich wollte immer mal den Kinkaku-ji sehen.«

»Den Goldenen Pavillon?«

Er nickt. »Meine Mutter hat immer voller Ehrfurcht davon gesprochen.«

»Warum sind Sie dann nie hingefahren, wenn Sie es doch gern möchten?«

»Ach, du weißt schon. Das Leben.« Damit setzt er seine abgetragene Basecap auf, steht auf und verschwindet ohne ein weiteres Wort.

Ich folge ihm wenig später, weil mein Morgenprogramm noch einen zweiten Zwischenstopp vor der Arbeit vorsieht.

Verona Cove liegt etwas oberhalb des Meeresspiegels, und wenn man auf einer der Straßen nach Westen geht, egal auf welcher, landet man unweigerlich bei den Felsklippen. Einige davon fallen steil ins Meer ab, andere laufen zum Strand hin aus.

Wahrscheinlich hatte ich mir die kalifornische Küste immer voller Surfer vorgestellt, die sich Hals über Kopf in die Wellen stürzen, dazu jede Menge leuchtend bunte Sonnenschirme am Strand. Aber hier ist es still, nur das Rauschen der Brandung und das Geschrei der Vögel sind zu hören. Ich stehe auf der Klippe im Nebel, der vom Ozean fast senkrecht zu mir aufsteigt, und selbst nach einer ganzen Woche wirft mich der Anblick jedes Mal wieder um. Die Natur stellt alles in den Schatten, selbst die besten Architekten, Designer und Künstler lässt sie wie armselige Amateure aussehen. Ich platze fast vor Glück, dass ich das hier erleben darf, das blaue Himmelsgewölbe, die schaumgekrönten Wellen, die rissige Erde unter meinen Füßen!

Ich habe mir schon gedacht, dass die Vögel wieder in meiner Nähe herumhüpfen werden, und ein paar Waffelreste von meinem Frühstück eingesteckt. Sie picken die Bröckchen am Boden auf, während ich in meiner Tasche nach etwas wühle, das ich hier loswerden will. Ich habe zwei grellorange Fläschchen dabei, muss also aufpassen, dass ich das richtige erwische.

Die Tabletten fühlen sich glatt an. Ich fingere eine davon langsam heraus. Sobald sie in meiner Hand liegt, richte ich mich auf, weil ich aus Erfahrung weiß, wie viel Kraft man beim Werfen dieser winzigen Tablette aufbringen muss. Ich lasse meinen Arm vorschnellen und öffne die Hand.

Die Tablette fliegt über die Klippe, und ich stelle mir das leise Pling vor, mit dem sie im Wasser auftrifft. Vielleicht ist ein Fisch in der Nähe, der sie erspäht, und sein rundes Maul bricht aus dem Wasser hervor, um sie zu verschlingen, und falls er in letzter Zeit psychische Probleme hatte, falls er seine Höhen und Tiefen nicht mehr in den Griff bekam, wird es ihm jetzt besser gehen! Willkommen im Club.

Ich kehre dem Ozean den Rücken und mache mich auf den Weg zum Töpferladen. Einen besseren Sommerjob hätte ich mir nicht wünschen können. Ich muss keine Uniform tragen, kann beobachten, wie Kunst unter den Händen anderer Leute entsteht, was mich ein bisschen zum Voyeur macht – ein Blick in fremde Seelen. Magisch ist das. Krass.

Mein Job ist ein echter Glücksfall, so viel steht fest. An meinem zweiten Tag hier saß ich auf der Bank vor dem Laden, weil ich ein bisschen darin stöbern wollte, sobald er aufmachte. Und als die Besitzerin endlich erschien – eine geschlagene Stunde nach der offiziellen Öffnungszeit –, hatte ich meinen ganzen Bleistift für Kleiderskizzen aufgebraucht. Whitney, so heißt die Töpferin, strahlt eine ungeheure Wärme und Energie aus, und sie hat die schönsten Locken, die ich je gesehen habe. Tausende davon, ganz kleine. Ich konnte kaum meine Augen von ihrem Haar lassen, das der liebe Gott persönlich geschaffen haben muss, mit einem Lockenstab so dünn wie ein Zweier-Bleistift. Sie sprudelte Entschuldigungen und Erklärungen hervor – dass sie letzte Nacht völlig in einer Töpferarbeit versackt sei und deshalb wieder mal verschlafen habe.

Danach saßen wir eine Stunde zusammen, ich bemalte eine Schale für Mom, und Whitney ordnete ihre Farbglasuren in einem schönen leuchtenden Regenbogen an. Sie hörte nicht auf, sich zu entschuldigen, obwohl ich ihr versicherte, der Schlaf und ich seien nur flüchtige Bekannte. Dann könne ich doch vormittags den Laden übernehmen, scherzte sie, damit sie endlich mal ausschlafen könne. »Oh, das trifft sich gut«, antwortete ich prompt. Ich sei nämlich gerade auf der Suche nach einem Sommerjob. Whitney hörte auf zu lachen und wollte wissen, ob das mein Ernst sei. Sie könne mir allerdings nicht sehr viel bezahlen. Was soll ich sagen? Wie meine Antwort ausfiel, ist ja wohl klar, denn hier bin ich und krame die Ladenschlüssel aus meiner Tasche.

Als ich in die High Street einbiege, sehe ich, dass jemand auf der Bank vor dem Fired Up (so heißt der Töpferladen) sitzt – ein kleines Mädchen mit rosa Turnschuhen und daneben ein Typ in meinem Alter mit dunklem Haar. Selbst von Weitem sehe ich, dass sein Haar nicht wirklich gestylt ist, sondern einfach lange Zeit keinen Friseur mehr gesehen hat – irgendwie verwuschelt, mit einem Ansatz von Locken. Superschön, diese Haare – wenn ich solche Haare hätte, würde ich sie niemals schneiden lassen oder färben oder überhaupt irgendwas damit machen.

Die beiden sind in ein Gespräch vertieft, während ich auf sie zugehe. Das kleine Mädchen baumelt mit den Beinen. Der Typ ist siebzehn oder achtzehn – zu jung, um ihr Dad zu sein –, aber man kann ihn sich irgendwie gut als Papa vorstellen. Vielleicht, weil er so tiefe Ringe unter den Augen hat. Oder wegen seiner knittrigen Khakihose und dem dunkelblauen T-Shirt mit Brusttasche. Das ist weder ein cooles noch ein uncooles Outfit, es wirkt einfach nur praktisch. Alles an ihm verrät, dass der Junge zu viel um die Ohren hat, um zu merken, wie süß er ist.

»Guten Morgen«, sage ich. Die beiden starren mich an, als wäre ich eine Comicfigur, die plötzlich zum Leben erwacht ist.

»Hey.« Der Typ steht abrupt auf und das kleine Mädchen folgt seinem Beispiel.

»Seid ihr zum Malen hier?«

»Ja«, antwortet er. Die Kleine nickt.

»Okay, dann kommt mit.« Ich winke sie mit einer Hand herein, während ich mit der anderen immer noch nach dem Schlüssel krame. Dabei schenke ich ihnen mein charmantestes Lächeln, um sie ein bisschen aus der Reserve zu locken. Verlegen schweigen ist nicht mein Ding, das passt einfach nicht zu mir. Ich führe lieber Selbstgespräche, als mich von peinlichen Pausen verschlingen zu lassen.

Ich halte den beiden die Tür auf und lasse sie eintreten. »Seid ihr von Verona Cove oder nur in den Ferien hier?«, frage ich, weil mir nichts Besseres einfällt.

Der Typ räuspert sich. »Von hier.«

»Oh, gut.« Die Tür fällt hinter uns zu und ich knalle meine Tasche auf die Theke. »Wisst ihr, ob die Polizei hier sehr streng ist? Ich meine, zu Ersttätern. Die sich, ähm, vielleicht mit illegaler Street Art am heimischen Pflanzenbestand vergriffen haben? Ich frage natürlich nicht für mich, sondern für eine Freundin.«