Cover

Buch

Ein Jahr lebte Scott Kelly ohne Unterbrechung im Weltraum, auf der ISS, viermal flog er ins All. Jetzt blickt er zurück auf ein Leben voller Gefahren und Abenteuer – mit der Hoffnung, dass der Blaue Planet zu retten ist: »Ich habe begriffen, dass Gras wunderbar riecht und dass Regen ein Wunder ist.« Aus der kalten Ferne des Universums und der Internationalen Raumstation hat der Raumfahrt-Veteran Scott Kelly wie kein anderer gefühlt, wie kostbar das Refugium Erde ist. In seiner persönlichen Geschichte nimmt er den Leser mit in eine lebensfeindliche Welt; er erzählt von den Herausforderungen eines Langzeitflugs im All und den dramatischen Folgen für Körper und Seele. Doch im Zentrum stehen die überwältigenden Eindrücke und Erlebnisse, die Begeisterung und der Wille, mit denen Menschen ihre Träume verwirklichen. Mit dieser Kraft können sie, so mahnt Kelly, auch die Schönheit ihres einmaligen Heimatplaneten bewahren.

Autor

Scott Kelly war zunächst Militär- und Testpilot, bevor er viermal ins All flog, dreimal Kommandant von Flügen zur ISS und dann Mitglied der einjährigen Mission auf der ISS war. Er ist der NASA-Astronaut, der die meiste Zeit im All ohne Unterbrechung verbrachte.

SCOTT KELLY

MIT MARGARET LAZARUS DEAN

ENDURANCE

MEIN JAHR IM WELTALL

Aus dem Amerikanischen
übertragen von Hainer Kober

C. Bertelsmann

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Die Originalausgabe ist 2017 unter dem Titel »Endurance. A Year in Space,
A Lifetime of Discovery« bei Alfred A. Knopf, New York, erschienen.
© 2017 by Mach 25 LLC
© 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by C. Bertelsmann Verlag,
München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München,
nach einem Entwurf von Chip Kidd
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-21189-9
V002
www.cbertelsmann.de

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Dank

Personenregister

Orts- und Sachregister

Bildnachweis

Für Amiko,
mit der ich diese Reise unternahm

Ein Mann muss sich unmittelbar einem neuen Ziel zuwenden,
wenn sich das alte als unerreichbar erweist.

Ernest Shackleton,
Polarforscher und Kapitän
der Endurance, 1915

Detaillierte Darstellung der Internationalen Raumstation

Nathan Koga

Prolog

Ich sitze am Kopfende des Tisches in meinem Haus in Houston und beende das Dinner mit meiner Familie: meiner langjährigen Freundin Amiko, meinen Töchtern Samantha und Charlotte, meinem Zwillingsbruder Mark, seiner Frau Gabby, seiner Tochter Claudia, unserem Vater Richie und Amikos Sohn Corbin. Eine einfache Sache, man sitzt an einem Tisch bei einer Mahlzeit mit Menschen, die man liebt. Viele Menschen tun das täglich, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Für mich ist das etwas, wovon ich fast ein Jahr lang geträumt habe. Immer wieder habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, diese Mahlzeit einzunehmen; nun, da ich endlich hier bin, erscheint sie mir nicht ganz real. Die Gesichter der Menschen, die ich liebe und die ich so lange nicht gesehen habe, das Stimmengewirr vieler Menschen, die miteinander plaudern, das Klappern der Bestecke, das leise Perlen des Weins in einem Glas – das alles ist mir fremd geworden. Sogar das Erlebnis der Schwerkraft, die mich in meinem Stuhl festhält, mutet seltsam an, und jedes Mal, wenn ich ein Glas auf den Tisch stelle oder eine Gabel hinlege, ist da ein Teil meines Bewusstseins, der nach einem Stück Klettband oder einem Klebestreifen Ausschau hält, um den Dingen einen sicheren Halt zu geben. Seit achtundvierzig Stunden bin ich wieder auf der Erde.

Als ich den Stuhl nach hinten schiebe und nur mühsam aufstehen kann, komme ich mir wie ein alter Mann vor, der sich aus einem Lehnstuhl erhebt.

»Ich bin fertig, fix und fertig«, erkläre ich. Alle lachen und reden mir gut zu, mich ein wenig auszuruhen. Ich nehme die Reise in mein Schlafzimmer in Angriff: ungefähr zwanzig Schritte vom Stuhl bis zum Bett. Beim dritten Schritt beginnt der Boden unter mir zu schwanken, und ich stolpere in eine Zimmerpflanze. Natürlich war es nicht der Fußboden, sondern mein Gleichgewichtsorgan, das versuchte, sich wieder an die Schwerkraft der Erde zu gewöhnen. Ich lerne wieder zu gehen.

»Das ist das erste Mal, dass ich dich stolpern sehe«, sagt Mark. »Du hältst dich ziemlich gut.« Er weiß aus eigener Erfahrung, was es nach einem Aufenthalt im All bedeutet, in die Schwerkraft zurückzukehren. Als ich an Samantha vorbeigehe, lege ich ihr die Hand auf die Schulter, und sie blickt lächelnd zu mir hoch.

Ohne weiteren Zwischenfall schaffe ich es in mein Schlafzimmer und schließe die Tür hinter mir. Jeder Teil meines Körpers schmerzt. Alle meine Gelenke und Muskeln protestieren gegen den mörderischen Druck der Schwerkraft. Außerdem ist mir übel, obwohl ich mich nicht übergeben habe. Ich ziehe mich aus, gehe ins Bett und genieße das Bettzeug – den leichten Druck der Bettdecke über mir und die weichen Daunen des Kissens unter meinem Kopf. All das sind Dinge, die ich während des letzten Jahres schmerzlich vermisst hatte. Ich kann das heitere Gemurmel meiner Familie hinter der Tür hören, Stimmen, die ich ein Jahr lang nicht ohne die Verzerrung durch satellitengestützte Telefone gehört habe. Zum tröstlichen Klang ihrer plaudernden und lachenden Stimmen versinke ich in den Schlaf.

Ein Lichtschein weckt mich: Ist es Morgen? Nein, Amiko kommt ins Bett. Ich habe nur zwei Stunden geschlafen. Aber ich fühle mich wie im Fieberwahn. Es ist ein schwerer Kampf, weit genug zu Bewusstsein zu kommen, um mich zu bewegen und ihr zu sagen, wie fürchterlich es mir geht. Mir ist jetzt sehr übel, ich habe offensichtlich Fieber, und meine Schmerzen sind schlimmer geworden. Das ist nicht wie nach meiner letzten Mission. Das ist viel, viel schlimmer.

»Amiko«, bringe ich schließlich hervor.

Sie ist vom Klang meiner Stimme beunruhigt.

»Was ist?« Sie legt die Hand auf meinen Arm, dann auf meine Stirn. Ihre Haut fühlt sich sehr kühl an, aber das liegt daran, dass ich so heiß bin.

»Mir geht es nicht gut«, sage ich.

Ich bin jetzt insgesamt viermal im All gewesen, und sie hat mich schon einmal als unentbehrliche Stütze durch den ganzen Prozess begleitet, nachdem ich 2010/11 159 Tage in der Raumstation verbracht hatte. Auch damals ist die Rückkehr aus dem All nicht spurlos an mir vorübergegangen, aber das war nichts im Vergleich zu meiner heutigen Reaktion.

Mühsam versuche ich mich aus dem Bett zu kämpfen. Suche die Bettkante, stelle die Füße auf den Boden, richte mich auf, stehe auf. In jedem Stadium habe ich das Gefühl, mich durch Treibsand zu quälen. Als ich schließlich in der Senkrechten bin, sind die Schmerzen in meinen Beinen grausam, und hinzu kommt eine Empfindung, die noch beunruhigender ist: der Eindruck, dass das gesamte Blut meines Körpers in meine Beine strömt, so wie Sie das Blut in Ihren Kopf schießen fühlen, wenn Sie einen Handstand machen, nur umgekehrt. Ich kann spüren, wie meine Beine anschwellen. Ich schlurfe ins Badezimmer, indem ich in bewusster Anstrengung mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagere. Links. Rechts. Links. Rechts.

Ich gehe ins Badezimmer, mache das Licht an und schaue meine Beine an: fremdartige, geschwollene Stümpfe, keine Beine.

»Oh, Scheiße!«, sage ich. »Guck dir das an, Amiko.«

Sie kniet nieder und drückt auf einen Knöchel, ein Geräusch, als wenn man einen Wasserballon quetscht. Besorgt blickt sie mich an. »Ich kann nicht einmal deine Knöchel spüren«, sagt sie.

»Auch meine Haut brennt«, sage ich. Panisch untersucht Amiko meinen ganzen Körper. Ich habe einen merkwürdigen Ausschlag am ganzen Rücken, an der Rückseite meiner Beine, an Hinterkopf und Nacken – überall, wo ich Kontakt mit dem Bett hatte. Ich spüre, wie sich ihre kühlen Hände über meine entzündete Haut bewegen. »Sieht wie eine allergische Hautreaktion aus«, sagt sie. »Wie Nesselausschlag.«

Ich gehe auf die Toilette, schlurfe ins Bett zurück, frage mich, was ich tun soll. Normalerweise würde ich in die Notaufnahme fahren, wenn ich in einem solchen Zustand aufwache, aber niemand im Krankenhaus dürfte Symptome kennen, die Folge eines einjährigen Aufenthalts im All sind. Ich krieche ins Bett zurück und suche eine Möglichkeit, mich so hinzulegen, dass mir der Ausschlag keine Probleme macht. Ich höre, wie Amiko im Medizinschrank herumsucht. Sie kommt mit zwei Ibuprofen und einem Glas Wasser zurück. Als sie sich zu mir setzt, kann ich an jeder ihrer Bewegungen, jedem Atemzug erkennen, dass sie sich Sorgen macht. Wir waren uns beide der Risiken bewusst, auf die ich mich eingelassen habe. Nach mehr als sechs Jahren Zusammenleben kann ich selbst in der wortlosen Dunkelheit genau erkennen, wie es ihr geht.

Während ich mich krampfhaft bemühe, Schlaf zu finden, frage ich mich, ob sich mein Freund Michail Kornienko genauso fühlt wie ich mich in diesem Augenblick – Mischa ist wieder zu Hause in Moskau, nachdem er fast ein Jahr mit mir im All verbracht hat. Ich nehme an, es geht ihm nicht besser. Das ist schließlich der Grund, warum wir uns freiwillig zu diesem Einsatz gemeldet haben – um zu erfahren, wie der menschliche Körper auf einen Langzeit-Raumflug reagiert. Wissenschaftler werden Mischa und mich bis an unser Lebensende untersuchen, und darüber hinaus. Unsere Raumfahrtbehörden werden nicht in der Lage sein, tiefer ins All vorzudringen, etwa zu einem Ziel wie dem Mars, bevor wir genauer wissen, wie wir die schwächsten Glieder in jener Kette stärken können, die den Raumflug ermöglicht: den Körper und den Geist des Menschen. Häufig werde ich gefragt, warum ich mich freiwillig zu dieser Mission gemeldet habe, da ich doch um die Gefahren gewusst hätte – die Gefahr beim Start, die Gefahr während meiner Weltraumspaziergänge, die Gefahr bei der Rückkehr zur Erde, die Gefahr, die mir ständig drohte, während ich die Erde mit einer Geschwindigkeit von 28 000 Kilometern pro Stunde in einem Metallbehältnis umrundete. Ich gebe einige Antworten auf diese Fragen, aber keine von ihnen erscheint mir wirklich befriedigend, und keine ist vollständig

Als Junge hatte ich einen seltsamen, ständig wiederkehrenden Tagtraum. Ich sah mich in einem kleinen Raum eingeschlossen, kaum groß genug, mich darin auszustrecken. Während ich zusammengerollt auf dem Fußboden lag, wusste ich, dass ich dort lange bleiben musste. Ich konnte ihn nicht verlassen, aber das machte mir nichts aus – ich hatte das Gefühl, alles zu haben, was ich brauchte. Irgendwie gefiel mir dieser kleine Raum, es war eine Ahnung, etwas Außerordentliches zu tun, indem ich dort einfach nur lebte. Ich hatte den Eindruck, genau dort zu sein, wo ich hingehörte.

Eines Nachts, als Mark und ich fünf Jahre alt waren, rüttelten meine Eltern uns wach und eilten mit uns die Treppe hinab ins Wohnzimmer, wo wir auf einem Fernsehschirm verschwommene graue Bilder betrachteten – Menschen, die auf dem Mond spazieren gingen, wie meine Eltern erklärten. Ich weiß noch, dass ich die vom Knacken und Rauschen verzerrte Stimme Neil Armstrongs hörte und mir klarzumachen versuchte, was die ungeheure Behauptung bedeutete, dieser Mann befinde sich auf der leuchtenden Scheibe im Sommerhimmel von New Jersey, die ich durch unser Fenster sah. Die Beobachtung der Mondlandung bescherte mir einen seltsamen Albtraum, der sich ständig wiederholte: Ich bereitete mich auf den Start einer Mondrakete vor, doch statt dass ich sicher auf dem Sitz im Inneren angeschnallt wurde, band man mich am spitzen Ende der Rakete fest, mit dem Rücken am Nasenkegel, sodass ich direkt in den Himmel starrte. Über mir hing der Mond und drohte mit seinen riesigen Kratern, während ich dem Countdown lauschte. Ich wusste, dass ich die Zündung der Triebwerke nicht überleben konnte. Stets erwachte ich schwitzend und starr vor Schrecken aus diesem Traum, kurz bevor die Triebwerke ihr Feuer brüllend in den Himmel spien.

Als Kind ging ich alle Risiken ein, die sich mir boten, nicht, weil ich tollkühn war, sondern weil mich alles andere langweilte. Ich sprang irgendwo hinunter, wo es hoch war, kroch irgendwo drunter, wo es gefährlich war, legte mich mit anderen Jungen an, fuhr Rollschuh, rutschte herum, schwamm, kenterte und setzte dabei nicht selten mein Leben aufs Spiel. Als wir sechs waren, kletterten Mark und ich an Regenrinnen hoch und winkten von Dächern von zwei- oder dreistöckigen Häusern zu meinen Eltern hinunter. Sich an schwierigen Dingen zu versuchen, war die einzige Möglichkeit zu leben. Etwas Sicheres zu versuchen, etwas, von dem man wusste, dass es sich machen ließ, war Zeitverschwendung. Ich fand es verblüffend, dass Leute meines Alters ganze Schultage lang still dasitzen konnten, geduldig und aufmerksam – dass sie dem Verlangen widerstehen konnten, nach draußen zu laufen, die Welt zu erkunden, Neues zu versuchen, Risiken einzugehen. Was ging in ihren Köpfen vor? Was konnten sie in einem Klassenzimmer lernen, das auch nur annähernd dem Gefühl gleichkam, auf einem Fahrrad ungebremst einen Hügel hinunterzurasen?

Ich war ein hoffnungsloser Schüler, blickte ständig aus dem Fenster oder auf die Uhr und wartete auf das Ende der Unterrichtsstunde. Meine Lehrer schimpften, bestraften mich und ließen mich schließlich links liegen – jedenfalls einige von ihnen. Unsere Eltern – ein Polizist und eine Sekretärin – versuchten vergeblich, uns Einhalt zu gebieten. Wir hörten nicht auf sie. Den größten Teil der Zeit – nach der Schule, wenn die Eltern noch arbeiteten, und an den Wochenenden morgens, wenn sie einen Rausch ausschliefen – konnten wir tun, was wir wollten. Und das hieß, das Risiko zu suchen.

Während meiner Highschool-Jahre fand ich zum ersten Mal eine Tätigkeit, bei der ich gut war und die auch von Erwachsenen gebilligt wurde: Ich arbeitete als Rettungshelfer. Als ich die Kurse für den Rettungsdienst absolvierte, stellte ich zum ersten Mal in meinem Leben fest, dass ich genügend Geduld hatte, um mich hinzusetzen und zu lernen. Ich begann als freiwilliger Helfer und arbeitete mich in wenigen Jahren zu einer Vollzeitkraft hoch. Die ganze Nacht war ich in einem Rettungswagen unterwegs und wusste nie, womit ich es als Nächstes zu tun bekäme – Schussverletzungen, Herzinfarkte, Knochenbrüche. Einmal half ich bei einer Entbindung in einer Sozialwohnung, die Mutter lag in einem ranzigen Bett mit ungewaschenem Bettzeug, eine nackte Glühbirne baumelte von der Decke, schmutziges Geschirr stapelte sich in der Spüle. Das aufregende Gefühl, in einer potenziell gefährlichen Situation zu stecken und auf mich allein gestellt zu sein, war wie ein Rausch. Ich agierte in Situationen, in denen es um Leben und Tod ging, nicht um langweilige – und, wie mir schien, sinnlose – Unterrichtsthemen. Wenn ich am Morgen nach Hause fuhr, legte ich mich oft schlafen, statt in die Schule zu gehen.

Ich schaffte den Highschool-Abschluss, allerdings gehörte ich zur schlechteren Hälfte der Klasse. Ich ging an das einzige College, das mich aufnahm (das allerdings nicht dasjenige war, an dem ich vorgehabt hatte, mich zu bewerben – so viel zu meiner Konzentrationsfähigkeit). Dort hatte ich nicht mehr Interesse am Unterrichtsstoff als an der Highschool, und ich wurde allmählich zu alt, um irgendwo aus Jux und Tollerei hinunterzuspringen. Partys traten an die Stelle körperlicher Risiken, aber es machte nicht so viel Spaß. Wenn Erwachsene mich fragten, sagte ich, ich wolle Arzt werden. Ich schrieb mich für vorklinische Kurse ein, fiel in ihnen aber am Ende des ersten Semesters durch. Ich wusste, dass ich mich nur in einer Warteschleife befand, bis man mir sagte, ich müsse mir etwas anderes suchen, hatte aber keine Ahnung, was das sein könnte.

Eines Tages ging ich in eine Buchhandlung auf dem Campus, um mir etwas zu essen zu holen, als mir ein Buchtitel ins Auge fiel. Die Buchstaben auf dem Umschlag schienen eine unwiderstehliche, zukunftsweisende Botschaft zu enthalten: The Right Stuff [dt.: Die Helden der Nation]. Ich war nicht gerade ein Bücherwurm – wenn ich für die Schule ein Buch lesen musste, blätterte ich es kurz durch, hoffnungslos gelangweilt. Manchmal las ich die Kurzfassungen in CliffsNotes und behielt gerade genug, um die fälligen Tests zu den Büchern zu schaffen – oder auch nicht. Freiwillig habe ich in meinem ganzen Leben nicht viele Bücher gelesen – doch dieses übte eine enorme Anziehungskraft auf mich aus.

Ich nahm es in die Hand, und schon der erste Satz entführte mich in den Gestank eines in Rauch gehüllten Flugfelds der Marinefliegerbasis in Jacksonville, Florida, wo ein junger Testpilot gerade ums Leben gekommen und bis zur Unkenntlichkeit verbrannt war. Er war mit seinem Flugzeug in einem Baum gelandet; der hatte seinen »Kopf in Stücke geschlagen wie eine Melone«.* Die Szene nahm meine Aufmerksamkeit gefangen wie noch nichts, was ich jemals gelesen hatte. Irgendetwas daran war mir zutiefst vertraut, obwohl ich nicht sagen konnte, was es war.

Ich kaufte das Buch, legte mich auf mein ungemachtes Bett im Studentenwohnheim und las mit pochendem Herzen den Rest des Tages Tom Wolfes hyperaktive und verschlungene Sätze, die sich fest in meinem Kopf einnisteten. Mich faszinierte die Beschreibung der Navy-Testpiloten, junger Heißsporne, die sich von Flugzeugträgern katapultieren ließen, instabile Flugzeuge testeten, mächtig tranken und überhaupt ziemlich harte Typen waren:

»… hier (in der allumfassenden Bruderschaft) schien man zu glauben, dass ein Mann fähig sein sollte, in einer rüttelnden Maschine aufzusteigen, Kopf und Kragen zu riskieren und dann die Nerven, die Reflexe, die Erfahrung, die Gelassenheit zu besitzen, sich im allerletzten Augenblick noch zu retten – und dann am nächsten Tag und am übernächsten Tag und an jedem folgenden Tag erneut aufzusteigen, selbst wenn sich diese Serie als endlos erweisen sollte – und dies alles letzten Endes in der Überzeugung, es für eine gute Sache zu tun, die etwas für Tausende, für ein Volk, für eine Nation, für die Menschheit bedeutet, für den Glauben an Gott.«**

Das war nicht nur eine aufregende Abenteuererzählung, sondern eher ein Lebensentwurf. Diese jungen Männer, die bei der Marine ihre Düsenjäger flogen, machten einen realen Job in der realen Welt. Einige von ihnen wurden Astronauten, auch das war ein realer Job. Mir war klar, dass diese Jobs schwer zu bekommen waren, aber ein paar Leuten gelang das. Es war zu schaffen. Was mich an diesen Marinefliegern so faszinierte, war nicht die Idee des »richtigen Stoffs« – eine besondere Eigenschaft, die diese wenigen tapferen Männer besaßen –, es war vielmehr die Vorstellung, etwas ungeheuer Schwieriges zu leisten, sein Leben dafür aufs Spiel zu setzen und zu überleben. Es war wie eine Nachtfahrt im Rettungsfahrzeug, nur mit Schallgeschwindigkeit. Die Erwachsenen in meinem Umfeld rieten mir, Arzt zu werden, weil sie dachten, ich sei gerne Rettungshelfer, mir gefalle es, Blutdruck zu messen, gebrochene Knochen zu fixieren und Menschen zu helfen. Doch was ich tatsächlich im Rettungsdienst suchte, waren die Aufregung, die Schwierigkeit, das Unbekannte, das Risiko. Hier fand ich in einem Buch etwas, an dessen Existenz ich nicht geglaubt hatte: ein Ziel. Als ich das Buch spät in der Nacht schloss, war ich ein anderer Mensch.

Ich bin in den folgenden Jahrzehnten häufig gefragt worden, wie meine Laufbahn als Astronaut begonnen habe, und ich antwortete dann, ich hätte als Kind die Mondlandung gesehen oder den Start des ersten Shuttle beobachtet. Diese Antworten waren nicht wirklich falsch, aber die Geschichte von dem Achtzehnjährigen, der in dem winzigen, miefigen Zimmer eines Studentenwohnheims hingerissen die schwungvollen Sätze über längst verstorbene Piloten verschlang, habe ich nie erzählt. Das war der eigentliche Beginn.

Als ich Astronaut wurde und während der Ausbildung meine Lehrgangskameraden kennenlernte, stellte sich heraus, dass viele von uns die gleiche Erinnerung hatten: Wir gingen als Kinder in Pyjamas die Treppe hinunter, um die Mondlandung zu sehen. Die meisten meiner Kameraden hatten damals und dort beschlossen, eines Tages ins All zu fliegen. Damals hatte man uns auch versprochen, bis 1975 – dem Jahr meines elften Geburtstags – würden Amerikaner auf dem Mars landen. Alles war jetzt möglich, nachdem wir einen Menschen auf den Mond gebracht hatten. Dann wurde der NASA der größte Teil ihrer Mittel gestrichen, und unsere Träume von der Raumfahrt wurden im Laufe der Jahrzehnte immer weiter gestutzt. Doch in unserem Astronautenkurs sagte man uns, wir würden die Ersten sein, die auf den Mars gelangten, und wir glaubten so fest daran, dass wir es auf unserem Aufnäher auf der Fliegerjacke verewigten: ein kleiner roter Planet, der sich über Mond und Erde erhebt. Inzwischen ist es der NASA gelungen, die Internationale Raumstation zusammenzubauen – die schwierigste Aufgabe, die Menschen bisher bewältigt haben. Zum Mars hin- und zurückzufliegen wird noch schwieriger sein. Ich habe ein Jahr im Weltraum verbracht – länger, als die Reise zum Mars dauern wird –, um meinen Teil zur Antwort auf die Frage, wie wir diese Reise überleben können, beizutragen.

Die Risikobereitschaft meiner Jugend habe ich noch nicht verloren. Meine Kindheitserinnerungen sind geprägt von unkontrollierbaren physikalischen Kräften, vom Traum, höher emporzusteigen, von den Gefahren der Schwerkraft. Für einen Astronauten sind solche Erinnerungen einerseits beunruhigend, andererseits aber auch tröstlich. Jedes Mal, wenn ich mich in Gefahr begab, überlebte ich und konnte wieder atmen. Jedes Mal, wenn ich in der Klemme steckte, kam ich mit dem Leben davon.

Während des größten Teils meines einjährigen Einsatzes musste ich daran denken, welche Bedeutung Die Helden der Nation für mich gehabt hatte, und ich beschloss, Tom Wolfe anzurufen – in der Annahme, es würde ihn freuen, einen Anruf aus dem All zu bekommen. Im Laufe des Gesprächs fragte ich ihn, wie er seine Bücher schreibe und wie ich anfangen könnte, meine Erfahrungen in Worte zu kleiden.

»Fangen Sie ganz vorne an«, sagte er, und das werde ich.

* Tom Wolfe, Die Helden der Nation, Hamburg 2015, S. 11.

** ebenda, S. 24.