Gianrico Carofiglio
Die Illusion
der
Weisheit
Erzählungen
Deutsch
von Verena von Koskull

Buch
Ein Polizist wartet nachts am Flughafen auf seinen Anschlussflug. Eine junge Frau sitzt ihm gegenüber, sie kommt ihm irgendwie bekannt vor – oder ist es das Buch, das sie liest? Ein ebensolches besaß seine Mutter, und als die Frau eine Seite aufschlägt, auf der ein Gedicht von Anna Achmatowa steht, kommen die beiden ins Gespräch. In ungewöhnlicher Vertrautheit erzählen sie einander von Gedanken, Erinnerungen, Empfindungen. Als sie gehen muss, gibt er ihr seine Visitenkarte, und sie kehrt noch einmal um und schenkt ihm das Buch. Tage später liest er über sie in der Presse: Sie hat den gewalttätigen Mann ihrer Zwillingsschwester nach deren verzweifeltem Selbstmord getötet. Wie aus dieser zufälligen Begegnung entstehen auch die anderen Geschichten in diesem Erzählband. Sie schildern sehr unterschiedliche Personen, Beziehungen und Situationen, wie wir sie überall antreffen und erleben, haben gelegentlich mysteriösen Charakter, handeln fast immer von Tod oder Verbrechen, aber auch von menschlicher Zuwendung und Liebe.
Autor
Gianrico Carofiglio wurde 1961 in Bari geboren und arbeitete in seiner Heimatstadt viele Jahre als Antimafia-Staatsanwalt. 2007 war er als Berater des italienischen Parlaments für den Bereich organisierte Kriminalität tätig. Seit 2008 ist Gianrico Carofiglio Mitglied des italienischen Senats. Seine Bücher feierten sensationelle Erfolge, wurden bisher in 24 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen literarischen Preisen geehrt, u. a. mit dem Radio-Bremen-Krimipreis 2008. Gianrico Carofiglio lebt mit seiner Familie in Bari.
Außerdem von Gianrico Carofiglio bei Goldmann lieferbar:
Reise in die Nacht. Roman (46429)
In freiem Fall. Roman (46708)
Das Gesetz der Ehre. Roman (46792)
Eine Nacht in Bari (47277)
Die Vergangenheit ist ein gefährliches Land. Roman (47384)
In ihrer dunkelsten Stunde. Roman (geb. Ausgabe, 31229)
Die Illusion
der Weisheit
Absurd, diese Reise, sagte ich mir.
Ich war erst nach Mitternacht in Amsterdam gelandet, und der Flug, der mich nach Italien zurückbringen sollte, ging in den frühen Morgenstunden. Es lohnte sich nicht, ein Hotelzimmer zu nehmen, und so beschloss ich, am Flughafen zu bleiben und den Sicherheitsbereich gar nicht erst zu verlassen.
Ich stand in einer riesigen Halle voller geschlossener Läden. Hier und da versprengte Reisende wie ich, ein paar unterhielten sich in kleinen Grüppchen. Sie strahlten etwas Weltverlorenes aus, wie es Menschen in solchen Zwischensituationen tun. Einige schliefen im Sitzen, andere auf dem Boden oder auf mehren Sitzen ausgestreckt; tief und fest, wie ich es vor Jahren auch gekonnt hatte.
Ich suchte mir eine freie Sitzreihe aus. Mir gegenüber saß nur eine junge Frau, die in ihre Lektüre vertieft war. Ehe ich mich setzte, sah ich zu ihr hinüber, und irgendwie kam mir ihr Gesicht bekannt vor, als hätte ich sie schon einmal gesehen oder getroffen.
Ich nahm Platz, zog mein Buch hervor, versuchte ein paar Minuten erfolglos zu lesen, dann gab ich es auf und blickte mich wieder um.
Das heißt, ich fing an, die junge Frau gegenüber zu mustern, und merkte sofort, dass sie weit weniger jung war, als ich angenommen hatte. Sie musste ungefähr genauso alt sein wie ich, und je länger ich sie ansah, desto mehr verflüchtigte sich der Eindruck, ihr schon einmal begegnet zu sein. Leicht zusammengesunken saß sie da, mit dem Buch auf ihren Knien, und schien die Lippen zu bewegen, als wollte sie sich einen Satz genau einprägen. Irgendwann änderte sie ihre Haltung, reckte die Schultern, lehnte sich zurück und hob das Buch, sodass ich den Umschlag erkannte: einfarbig rot mit weißen Großbuchstaben.
Mir wurde schwindelig. Als hätte ich plötzlich die Fühlung mit der Wirklichkeit verloren. Ich sprach, ohne es zu merken.
»Meine Mutter hatte dieses Buch. Sie las es, als ich klein war.«
Sie hob den Kopf, sah mich – bis dahin hatte sie mich gar nicht bemerkt – und schwieg. Unschlüssig, was sie sagen oder tun sollte. Dann klappte sie das Buch zu, den Finger als Lesezeichen zwischen den Seiten. Sie hielt es hoch, den Deckel nach vorn, wie um zu sagen: Reden Sie mit mir? Reden Sie von diesem Buch hier?
Ich nickte. Ich redete mit ihr und von diesem Buch.
»Sie kennen Anna Achmatowa? Das ist selten.«
»Ich kenne dieses Buch, weil meine Mutter es hatte, vor vielen Jahren.«
»Ihre Mutter ist …«
»Ich war vierzehn, als sie starb. Mit vierzehn sollte man eigentlich einen ordentlichen Packen Erinnerungen beisammenhaben. Aber bei mir ist das nicht so. Meine Mutter im Schaukelstuhl mit diesem Buch, das ist eines der wenigen Bilder, die ich noch im Kopf habe.«
Sie stand auf und setzte sich mit einem Sitz Abstand neben mich.
»Möchten Sie reinschauen?« Sie hielt mir das Buch hin.
Behutsam griff ich danach, als wäre es zerbrechlich, als könnte es zwischen meinen Fingern zerfallen oder eine andere ungeahnte Wirkung haben.
»Wer weiß, wo das Exemplar meiner Mutter geblieben ist«, murmelte ich und blätterte durch die Seiten. Mir war ein Gedicht eingefallen – aufgetaucht aus den verschütteten Tiefen kindlichen Schmerzes –, das Mama laut vorgelesen hatte. Darin hieß es, der Tod existiere vielleicht gar nicht, oder so ähnlich. Ich fand es nicht. Ich fragte die Unbekannte, ob es ein Gedicht mit einem ähnlichen Vers gebe. Ja, das gebe es.
Sie nahm mir das Buch aus den Händen, blätterte darin, schlug das Gedicht auf, gab es mir wortlos zurück und ließ mich lesen. Wie eine zehrende Totenklage hallte mir die Erinnerung an die Stimme meiner Mutter durch den Kopf.
Unser heiliges Handwerk
Ist tausend Jahre alt …
Auch ohne Licht erhellt es die Welt.
Doch es sagte bis jetzt noch kein Poet,
Es gebe keine Weisheit und kein Altern,
Und, vielleicht, auch keinen Tod.
Nach einer unbestimmten Weile klappte ich das Buch zu. Sekunden oder Minuten, ich weiß es nicht.
»Als ich ankam, war mir, als hätte ich Sie schon mal irgendwo gesehen.«
»Ja?«
Eine leise Unruhe in ihrer Stimme. In dem Moment bemerkte ich es gar nicht, erst später erinnerte ich mich daran.
»Doch das war, bevor wir miteinander geredet haben. Jetzt ist der Eindruck verflogen.«
»Also erinnere ich Sie an niemanden?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Umso besser.«
Ich wollte gerade fragen, was sie damit meinte, als sich Musik näherte. Ein hoch aufgeschossener, schlaksiger Junge mit einem Rucksack auf dem Rücken und einem großen Radio unter dem Arm ging an uns vorbei.
We destroy the love, it’s our way
We never listen enough
Never face the truth
Then like a passing song
Love is here and then it’s gone.
Der Junge zog nicht nur die Musik hinter sich her, sondern auch einen rauen, schweren, erdigen Geruch.
Die Melodie entfernte sich, verklang und verschwand. Der Geruch brauchte länger. Die ganze Szene war plötzlich mit einer surrealen Spannung aufgeladen.
»Der hat merkwürdig gerochen, oder?«
Sie sah in die Richtung, in die der Junge verschwunden war, und dann wieder zu mir.
»Wieso sagst du das?« Sie hatte mich geduzt, und in ihrer Stimme schwang ein aggressiver Unterton mit. Als käme die Anspielung auf den Geruch des Jungen einer Regelverletzung oder gar einem feindseligen Akt gleich. Ich war perplex und hatte das Gefühl, ich müsste mich verteidigen.
»Nur so. Ich meine, ich habe nur angemerkt, dass der Junge merkwürdig gerochen hat. Ist was nicht in Ordnung?«
Sie musterte mich, als könnte sich hinter meinen Worten ein doppelter Sinn verbergen; als könnte ich ein Spiel mit ihr treiben. Doch dann kam sie offenbar zu dem Schluss, dass dem nicht so war.
»Nein, es ist nur … Manchmal missverstehe ich etwas. Entschuldige. Es passiert nicht oft, dass jemand auf Gerüche achtet. Und, ja, der Junge roch wirklich merkwürdig.«
Ich war froh, dass sie wieder normal war.
»Wenn ich jemandem von dieser Begegnung erzählen sollte, wäre ich nicht in der Lage, den Geruch dieses Jungen zu beschreiben.«
»Du könntest sagen: Rau, schwer, erdig. Mit einer strohigen Note.«
Jetzt musterte ich sie mit einem fragenden Blick, den sie leicht belustigt erwiderte.
»Wir haben keine Worte, um Gerüche zu benennen«, fuhr sie fort. »Ist dir das schon mal aufgefallen?«
»Wie meinst du das?«
»Wir können einen Geruch nicht so beschreiben, wie wir das mit einem Gegenstand tun. Wenn du diese Jacke beschreiben willst, könntest du sagen, sie ist blau, kurz, ein bisschen kratzig. Wir haben zahllose Wörter für Formen, Farben, Beschaffenheiten, Größen. Wir sagen, ein Gegenstand ist rund, eckig, groß, klein, rot, grün, blau, hart, weich, scharf. Für Töne und Geräusche haben wir sogar lautmalerische Wörter, präziser geht’s nicht. Doch für Gerüche müssen wir Behelfswörter nehmen und auf Analogien zurückgreifen. Auf eine kleine Anzahl von Geruchsdefinitionen, die keine eigene Bezeichnung liefern, sondern lediglich auf vertraute Geruchswelten anspielen. Blumen, Sauberkeit, frisch gewaschene Wäsche, Vanille. Neue Bücher. Gemähtes Gras. Erde kurz vorm Regen. Oder auch: Kacke, Fisch, faule Eier, ungewaschene Achseln, Füße.«
Sie hielt inne und sah mich an.
»Ist es dir unangenehm, dass ich von schlechten Gerüchen rede?«
Ich wollte schon Nein sagen, doch weshalb sollte ich lügen?
»Ein bisschen.«
»Eben. Jeder stört sich an Gerüchen, vor allem an schlechten. Das ist das Ergebnis eines kulturellen Prozesses. Wir neigen dazu, uns gegen schlechte Gerüche zu wehren, weil sie am primitivsten, animalischsten Teil von uns rühren. Überleg mal: Schon davon zu reden gilt als peinlich und vulgär.«
»Darüber habe ich noch nie nachgedacht.«
»Irgendjemand hat gesagt, die Dinge existieren nicht, wenn wir keine Worte haben, sie zu benennen. Zahllose Gerüche und Düfte existieren also nicht, nur weil wir nicht wissen, wie wir sie benennen sollen.«
»Vor ein paar Jahren habe ich einen Roman gelesen, in dem es um den Geruch der Angst ging. Das hat mich beeindruckt, weil ich diesen Geruch gut kenne, aber nie daran gedacht habe, ihm einen Namen zu geben.«
»Und wieso kennst du ihn?«
»Durch meine Arbeit.«
»Was arbeitest du denn?«
»Was würdest du sagen?«
»Vielleicht bist du Arzt. Hätte ich zwar nicht gedacht, aber jetzt, wo du den Geruch der Angst erwähnst …«
»Ich bin Polizeibeamter. Bereitschaftspolizei.«
»Polizist?« Echte Verblüffung in ihrem Gesicht.
»Du staunst, dass ein Bulle von Büchern redet und den Konjunktiv beherrscht.«
»Nein, also, ja. Ich meine … Ja, ich weiß, dass das ein blödes Vorurteil ist, aber … Na ja, entschuldige.«
»Ich bin das schwarze Schaf der Familie. Meine Eltern waren Professoren. Intellektuelle, Kommunisten, Aktivisten. Ein Polizistensohn war das Letzte, was sie sich erhofft hatten.«
»Und wieso bist du Polizist geworden?«
»Willst du die offizielle Version oder die Wahrheit?«
Zum ersten Mal seit Beginn unserer Unterhaltung lächelte sie. Sie hatte schöne, weiße, gefährliche Zähne. Sie strahlte Natürlichkeit aus, etwas Instinktives, Lebendiges, das ich bei anderen stets neidvoll wahrnahm. Ich selbst hatte es nie gehabt.
»Beides.«
»Die offizielle Version lautet, dass ich studiert habe, um Richter zu werden. Um einen Einblick in die Praxis zu bekommen, bewarb ich mich bei der Polizei. Ich wurde genommen, fing an zu arbeiten und hängte bedauerlicherweise das Studium an den Nagel.«
»Und die Wahrheit?«
»Ich bewarb mich um eine Stelle bei der Polizei, weil ich Polizist werden wollte, und basta. Alles andere ist Quatsch. Bis heute Nacht habe ich es nie jemandem erzählt.«
»Wieso wolltest du Polizist werden?«
»Weil ich dachte, es macht die Dinge einfacher.«
»Was meinst du damit?«
»Ich dachte, die Dinge würden dadurch eindeutiger. Gut und Böse, Recht und Unrecht und so weiter. Natürlich funktioniert es so nicht, und man merkt schnell: Wenn man lang genug in einen Abgrund blickt, blickt der Abgrund zurück.«
»Nietzsche.«
»Das Zitat hätte ich natürlich gleich aufgezeigt.«
»Natürlich.« Wieder dieses sinnliche, gefährliche Lächeln.
»Du glaubst doch nicht etwa, ich wollte mir diesen Satz aneignen?«
»Nein, nein. Das wäre dir bestimmt nicht im Traum eingefallen. Du bist schließlich Ordnungshüter.«
Ich merkte, dass ich mit dieser Frau gern gelacht hätte. Nur einmal hatte ich so eine Frau getroffen, vor vielen Jahren. Es war nicht gut ausgegangen.
»Was braucht es, um ein guter Polizist zu sein?«
»Die Gabe, die geheimen Laster der Menschen zu erahnen. Das können nur wenige.«
»Und was noch?«
»Ein bisschen gesunden Menschenverstand, die Fähigkeit, Dinge zu hinterfragen, und Sinn für Humor.«
»Sinn für Humor?«
»Genau.«
»Verstehe ich nicht.«
»Wenn man sich in diesem Job zu ernst nimmt, hat man verloren. Man kann unglaublichen Schaden anrichten.«
»Du bist ein seltsamer Polizist.«
Ich zuckte die Achseln.
»Ich hatte einen Großvater, den ich sehr liebte. Er meinte, die wichtigste Eigenschaft eines Menschen sei der Sinn für Humor. Er sagte etwas Ähnliches wie du: Wenn man Sinn für Humor habe – nicht Ironie oder Sarkasmus –, nehme man sich nicht ernst. Und dann könne man weder böse noch beschränkt oder vulgär sein. Er meinte, der Sinn für Humor sei die beste Art, in schwierigen Momenten seine Würde zu bewahren, er sei eine ethische Tugend.«
Das ist sehr schön, dachte ich. Wenn man dergleichen hört oder liest, hat man das Gefühl, man habe es immer gewusst, aber nie die richtigen Worte dafür gefunden.
»Er meinte, Gott habe Sinn für Humor, und ein guter Witz, mit dem man jemanden zum Lachen bringt, sei wie ein Gebet.«
Ich merkte, dass sie feuchte Augen hatte; es stand mir nicht an, sie in dem Moment anzusehen. Dann nahm mein Gedankenfluss plötzlich eine andere Wendung.
»Jetzt ist mir doch noch etwas anderes von meiner Mutter eingefallen. Etwas, das ich total vergessen hatte.«
Sie sah mich wortlos an. Wartete, dass ich erzählte.
»Als ich zum ersten Mal ins Kino gegangen bin – ich war vielleicht fünf –, sah ich einen Zeichentrickfilm von einem Kind in einem fliegenden Bett, das es jede Nacht an einen anderen unglaublichen Ort der Welt brachte. Als ich nach Hause kam, fragte ich meine Mutter, ob mein Bett sich auch verwandeln und mich von einer Stadt zur anderen durch die Welt tragen könnte. Sie sagte, aber sicher, das könnte es, und als sie mir an jenem Abend die Bettdecke feststeckte, sagte sie, ich solle genau aufpassen, denn in dem Moment, in dem ich einschliefe, würde sich das Bett in eine Flugmaschine verwandeln und mich bringen, wohin ich wollte. Ich müsse sehr gut aufpassen, denn der Zauber funktioniere nur, wenn ich genau merkte, wann ich einschliefe.«
»Und dann?«
»Als meine Mutter mich am nächsten Morgen fragte, wie es war, erzählte ich ihr alles, das heißt, ich schilderte ihr meine schönsten Fantasien. Ich sagte, ich hätte genau gemerkt, wann ich eingeschlafen sei und wie das Bett sich verwandelt habe – es konnte sogar sprechen –, genau wie im Film. Dann wären wir zusammen durch die Nacht gereist – ich lag zum Glück sicher unter meiner Decke –, und ich hätte Paris gesehen.«
»Paris?«
»Ja.«
»Ich habe eine ganze Weile dort gelebt, vor langer Zeit. Wieso ausgerechnet Paris?«
»Keine Ahnung. Vielleicht wegen des Eiffelturms, oder weil die Stadt bei uns Gesprächsthema war. Keine Ahnung, ich fand es ganz selbstverständlich zu sagen, wir wären nach Paris geflogen.«
»Das ist eine schöne Geschichte.«
»Seit jener Nacht bin ich jahrelang mit dem Gedanken eingeschlafen, dass mein Bett mich durch die Welt trüge, jede Nacht woandershin. Das war mein persönliches Märchen.«
»Ich will dir etwas vorspielen. Ein Lied, das ich sehr mag, es erinnert mich an meine Schwester.«
Sie holte einen MP3-Player aus der Tasche, suchte das richtige Stück und reichte mir die Kopfhörer. Ich erkannte es sofort, und das Herz zog sich mir zusammen.
»As tears go by.«
Sie nickte und ließ Marianne Faithfulls schöne, herzzerreißende Stimme zu Ende singen.
Dann sah sie auf die Uhr.
»Ich muss gehen.«
Damit hatte ich nicht gerechnet. Die Knie wurden mir weich, und wäre ich aufgestanden, hätte ich mich womöglich nicht auf den Beinen halten können. Ein gnadenloser Gedanke schoss mir durch den Kopf. Ich dachte, dass ich binnen weniger Tage – vielleicht gar weniger Stunden – nichts mehr in der Hand hätte, um zu beweisen, dass diese Begegnung wirklich stattgefunden hatte.
»Ich … weiß nicht, was ich sagen soll. Es ist absurd, aber ich finde es schade, entsetzlich schade, dass du gehst.«
Ich zögerte kurz, dann fügte ich hinzu: »Ich würde dir gern schreiben können oder dich anrufen. Vielleicht wenn du wieder in Italien bist. Ich weiß noch nicht mal, wie du heißt.«
Ich verstummte, doch sie tat nichts, um die Leere zu füllen. Sie schwieg.
Sie lächelte. Traurig und kummervoll, wie mir schien. Und schwieg.
Also zog ich das kleine Notizbuch, das ich immer bei mir trage, aus meiner Jackentasche, riss ein Blatt heraus und schrieb alles auf, womit sie mich ausfindig machen könnte – Telefonnummern, Anschrift, E-Mail-Adresse –, wenn sie denn wollte.
Sie nahm den Zettel und steckte ihn in die Tasche. Ein paar Sekunden saßen wir noch da und sahen uns an. Wir wussten beide, dass das, was wir in diesen Stunden geteilt hatten, gleich im Nichts verschwinden würde.
»Also dann, ciao. Gute Reise«, sagte sie. Und gleich darauf, ungehalten: »O Gott, was für ein Schwachsinn. Alles. Du machst dir keine Vorstellung. Ciao.«
Sie drehte sich um und ging langsam davon. Ich sah ihr nach.
Plötzlich machte sie kehrt und kam zurück. Sie holte das rote Buch aus der Tasche und gab es mir.
»Behalte du es.«
Ich nahm es, und sie beugte sich zu mir und küsste mich auf die Wange.
»Du riechst übrigens sehr gut. Und ich heiße Valeria.«
Das waren ihre letzten Worte. Ohne meine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und ging weg. Diesmal eilig. Sie durchquerte die ersten Warteschlangen, die sich an den Gates bildeten, und war nach wenigen Sekunden verschwunden.
Zwei Tage später, als ich im Büro saß, aber noch nicht mit der Arbeit begonnen hatte, sah ich sie in der Zeitung. Ich erkannte sie sofort, auch wenn das Foto ein paar Jahre alt war.
Es war ein aufsehenerregender Fall gewesen, und beim Lesen konnte ich mich gut daran erinnern.
Valeria T. war Parfümeurin einer berühmten Pariser Maison und hatte einen Mann umgebracht. Den Mann ihrer Zwillingsschwester.
Jahrelang hatte der Kerl seiner Frau das Leben zur Hölle gemacht, sie physisch und seelisch missbraucht und gequält. Sie hatte ihn nie anzeigen wollen und nicht einmal den Mut gefunden, ihn zu verlassen, obgleich Valeria mit allen Mitten versucht hatte, sie dazu zu bewegen.
Bei manchen Bindungen gibt es nur einen Ausweg.
Eines Morgens rief die Schwester im Büro an und sagte, dass sie nicht kommen würde. Dann machte sie das Bett, räumte die Küche auf, ging auf den Balkon und stieg über das Geländer. Ein Zeuge berichtete, sekundenlang hätte die Ärmste ans Geländer geklammert auf der schmalen Zementkante über dem Abgrund gestanden. Dann hätte sie sich fallen lassen.
Noch ehe die Leiche fortgebracht worden war, traf Valeria ein, und zwei Stunden später ging sie mit einer Pistole in der Tasche zu dem Witwer. Legaler Waffenbesitz, ein väterliches Erbstück. Sie feuerte nur einen einzigen Schuss auf ihn ab. Mitten ins Herz, sprichwörtlich. Dann stellte sie sich der Polizei.
Der Staatsanwalt plädierte auf Mord und somit auf lebenslänglich, doch Valerias Anwalt beherrschte sein Handwerk. Von der Provokation bis zu ganz allgemeinen mildernden Umständen machte er alles geltend, was zur Strafmilderung führen könnte. Er brachte die gesamte Vorgeschichte in die Verhandlung ein: die physischen und psychischen Misshandlungen, die medizinischen Gutachten, die durch die häusliche Gewalt verschlimmerte Depression. Der Prozess zog sich hin, und die Angeklagte wurde wegen Fristablauf aus der Haft entlassen. Als das Urteil rechtskräftig wurde und die Carabinieri bei Valeria T. zur Verhaftung vorstellig wurden, mussten sie feststellen, dass die Wohnung leer und die Verurteilte unauffindbar war.
Es war genau an jenem Morgen gewesen.
Valeria musste sich kurz vor dem Gerichtsurteil aus dem Staub gemacht haben, ganz offensichtlich mit falschen Papieren.
Ich habe mich oft gefragt, welcher Name wohl in diesen Papieren stand.
Mir hatte sie ihren richtigen Namen gesagt.
Valeria.
Natürlich hätte ich über diese Begegnung Bericht erstatten müssen. Der zuständigen Stelle, wie es bei uns heißt.
Hätte ich. Habe ich aber nicht.
Stattdessen habe ich ein wenig in eigener Sache ermittelt. Ich habe mir die Abflugliste von Amsterdam an dem Morgen vorgenommen und nachgesehen, welche Ziele mit Ländern übereinstimmten, die keinen Auslieferungsvertrag mit Italien haben. Ich bin Bulle, also bin ich genauso vorgegangen, als sollte ich die Flüchtige Valeria T. aufspüren, und hatte schließlich eine Idee, wo sie sein könnte.
Aber das war natürlich nur eine Vermutung, mit der ich monatelang gespielt habe. Ich habe mir vorgestellt, was sie gerade machte, was das Schicksal für sie bereithielt, wem sie begegnen würde. Solche Dinge.
Es war eine Vermutung, bis vor wenigen Tagen, als ich den Briefkasten öffnete und eine Postkarte vorfand. Darauf war das Foto eines Marktstandes, der von Gewürzen in allen Farben barst. Rot, orange, leuchtend gelb, ocker, violett. Man meinte, ihre vielfältigen Düfte riechen und sich in ihnen verlieren zu können.
Auf der Rückseite war der Poststempel besagten Landes und auf der Fläche für den Text nur ein Satz.
Es gibt keine Weisheit.
Plötzlich war ich ganz beschwingt; mich überkam ein Gefühl von Frühling und Ferien, wie ich es schon lange nicht mehr empfunden habe.
Ich habe die Postkarte in die Jackentasche gesteckt und beschlossen, zu Fuß ins Büro zu gehen. Oder an diesem Morgen vielleicht gar nicht hinzugehen.
Im Gehen bewegte ich die Lippen.
Es gibt keine Weisheit
Und kein Altern
Und vielleicht
Auch keinen Tod.
Heiligabend
Es war Heiligabend in der riesigen Bahnhofshalle der Stazione Termini.
Maresciallo Bovio, trüber Laune, die Hände in den Taschen seines dicken Dienstmantels vergraben, schob sich durch einen traurigen Gegenstrom von Männern und Frauen. Kleine, dunkle Gestalten, grüppchenweise; verlorene Blicke und ein paar Lacher, überlaut, um sich Mut zu machen; Obdachlosengesichter, alte, über Gepäckwagen gekrümmte Frauen, die ihren unförmigen Haufen von Habseligkeiten vor sich herschoben. Gleichgültig oder anteilslos gegenüber dem, was um sie herum passiert. Normale Gestalten, die am Weihnachtsabend aus Versehen in der Bahnhofskälte statt in der heimischen Wärme gelandet waren.
Der Maresciallo lehnte sich gegen die verrammelte Tür der Touristeninformation, sah auf die Uhr – neunzehn Uhr dreißig –, zog eine MS aus dem zerknautschten, halbleeren Zigarettenpäckchen, zündete sie an und nahm einen kräftigen Zug.
Vor vielen Jahren, erinnerte er sich, hatte er in der Weihnachtsnacht Dienst gehabt, und ein Reisender war neben dem Gleis, von dem der letzte Nahverkehrszug nach Nettuno ging, niedergestochen worden.
Die ganze Nacht über waren die armen Teufel, die im Bahnhof lebten, weil sie sonst keine Bleibe hatten, vernommen worden. Der Mörder war ein illegaler Taxifahrer gewesen, ein leicht verwachsenes Männchen, dessen Name dem Maresciallo entfallen war.
Doch an das Gesicht erinnerte er sich gut: der kranke Blick, der vor haltlosem Heulen bebende Unterkiefer, der animalische Schluchzer nach der letzten Ohrfeige. Das erste graue Tageslicht des Weihnachtsmorgens hatte sich mit dem kränklich gelben Schein der Glühbirnen, dem sauren Geruch nach Mensch und Angst gemischt, der nach den nächtlichen Verhören in den Büros stand. Raubmord für den verwachsenen Taxifahrer. Lebenslänglich. Nach dem Prozess hatte Bovio nie wieder etwas von ihm gehört.
Er zog ein letztes Mal an der bis zum Filter heruntergerauchten Zigarette und ließ sie zu Boden fallen.
Zu Hause waren jetzt bestimmt schon alle zum üppigen Weihnachtsessen – diese Tradition hielt sich hartnäckig bei den süditalienischen Familien – und zum Geschenkeaustausch nach den Weihnachtsköstlichkeiten versammelt. Duft nach hausgemachten Süßigkeiten, leuchtende Farben, heimelige Wärme.
Der Zeitungshändler neben der Touristeninformation machte sich als Letzter daran zu schließen. Mit der unterschwelligen Hast eines Menschen, der fürchtet, bei etwas außen vor zu bleiben, stapelte er die Zeitungen und Zeitschriften in ungeordneten Haufen in seinen Kiosk.
Eine Alte mit einem Gepäckwagen näherte sich. Eine Obdachlose mit ihren dreckstarrenden Tüten, ihren zerschlissenen, vollgestopften Beuteln. Doch irgendetwas – eine seltsame Würde, die sie ausstrahlte – unterschied sie von den lumpigen Bettelweibern, die wie traurige Gespenster durch den Bahnhof strichen und sich in den ausrangierten Zügen herumtrieben. Sie trug eine dicke Herrenstrickjacke und einen langen, kunterbunten Rock; das Haar wurde von einem sorgfältig geknoteten Taschentuch zusammengehalten.
Aufmerksam studierte sie die Zeitschriften, die der Zeitungshändler noch nicht weggeräumt hatte. Vorsichtig blätterte sie eine durch, als suche sie einen bestimmten Artikel.
Dann wandte sie sich an den Kioskbesitzer. Sie hielt einen Tausend-Lire-Schein in der Hand. »Die ›Unità‹, bitte«, sagte sie.
Der Mann sah auf und zögerte einen Augenblick, bevor er antwortete.
»Heute kostet die ›Unità‹ zweitausend Lire. Es ist Sonntag, da ist die Beilage mit drin.« Es klang entschuldigend.
Langsam zog die Alte die Hand mit dem Geldschein zurück und blieb vor dem Kiosk stehen. Sie stand noch immer reglos, als Bovios große Hand sich aus dem dunklen Stoff des Mantels löste und ihr tausend Lire zwischen die Finger schob.
Langsam hob die Alte den Blick zum Gesicht des Maresciallo.
»Was für ein anständiger, freundlicher Mensch.« Ihre Stimme war dünn, aber fest. »Ich hoffe, alle Ihre Wünsche werden wahr.«
Dann drehte sie sich um, hielt dem Zeitungsverkäufer wie selbstverständlich die zweitausend Lire hin, griff sich ihre Zeitung samt Beilage und zog mit ihrem Wagen gemächlich davon.
Er sah ihr nach. Er schämte sich ein wenig wegen des Segenswunsches, der in keinem Verhältnis zu seiner instinktiven Geste stand, die ihm jetzt erbärmlich erschien. Nachdenklich sah er zu, wie sie sich in einen entlegenen Winkel der Halle zurückzog.
Seltsam befangen setzte er sich in Bewegung.
Ein paar schliefen schon, zusammengerollt in Zeitungspapier, in Unterschlupfe aus Pappe gekauert, die Lider geschlossen, ohne zu wissen, was der nächste Tag bringen würde. Andere waren noch wach, starrten ins Leere oder putzten sich wie alte, müde Katzen. Einer hatte die Hosen aufgekrempelt; seine blau gefleckten Schienbeine waren mit grindigen Stellen übersät, an denen er minutiös herumpulte, systematisch und konzentriert, die Augen von irgendeiner grausigen Krankheit rot wie die eines streunenden Köters.
Absurderweise ging ihm auf, dass diese Erinnerung nicht die seine war. Und absurderweise dachte er, dass er sie der Alten zurückgeben müsse.
»Maresciallo.«
»Was gibt’s?«, erklang seine Stimme, allzu laut und aufgesetzt.