Eckhard Lange
Die Niebelsaga
Roman nach Motiven des Nibelungenliedes
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Inhaltsverzeichnis
Titel
1. Der Besuch
2. Siegfried
3. Die Enttarnung
4. Die Schwester
5. Die Auskunft
6. Der Vater
7. Hilla
8. Der Ausweg
9. Die Suche
10. Die Eröffnung
11. Das Verlöbnis
12. Die Einladung
13. Die Feier
14. Brunhilde
15. Die Verabredung
16. Xanten
17. Der Gegenbesuch
18. Die Anwälte
19. Der Zweifel
20. Die Hochzeitsnacht
21. Der Plan
22. Der Abschiedsbrief
23. Das Geständnis
24. Der Infarkt
25. Die Verschwörung
26. Der Unfall
27. Der Verdacht
28. Das Erbe
29. Die Erkenntnis
30. Die Aussprache
31. Die Trennung
32. Der Fremde
33. Der Friedhof
34. Der Abend
35. Das Wochenende
36. Das Wiedersehen
37. Jerusalem
38. Der Entschluß
39. Massada
40. Die Wahrheit
41. Nachtrag
Impressum neobooks
Ez wuohs in Burgonden ein vil edel Magedin
daz in allen Landen nicht schöners mochte sin,
Kriemhilt geheizen. Sie wart ein schöne Wip,
dar umbe muosen Degene vil verliren den Lip
(aus dem Nibelungenlied)
Er stand eines Tages einfach vor der Tür. "Hallo! Ich bin der Siggi. Ich bin der Freund von Hilla," sagte er zu dem etwas dicklichen jungen Mann, der ihm geöffnet hatte. Der schaute erstaunt, irritiert, befremdet. Sein fülliges Gesicht unter dem dichten, aber kurzgehaltenen Haarschopf drückte Ablehnung aus, und er hielt die Tür noch immer nur halb geöffnet, bereit, sie jederzeit wieder zu schließen. Aber der schlaksige junge Mann in künstlich gealterten Jeans, der sich Siggi genannt hatte, wand sich mühelos durch die schmale Öffnung, tauchte unter dem Arm des anderen hindurch und trat in die geräumige Halle, die düster und eichengetäfelt den Mittelpunkt der gründerzeitlichen Villa bildete.
"Ich finde sie allein. Sie hat mir den Weg bestens beschrieben," rief er über die Schulter zurück und fügte dann hinzu: "Du bist doch dieser Typ von Schreibtischtäter, stimmts?" Und die Verachtung für diese Menschen, die korrekt und höflich, arbeitsam und damit total langweilig waren, ließ sich deutlich heraushören. Das war der Beginn einer erbitterten Feindschaft, ehe die beiden auch nur wußten, warum sie sich bekämpfen würden, bekämpfen mußten noch über das tödliche Ende hinaus.
Siggi und Hagen - so nämlich hieß der Türöffner: Verschiedener können Menschen kaum sein. Woher Siggi kam, was er eigentlich machte, wenn er nicht in irgend- welchen Szenekneipen oder Edeldiskos herumhing - wer wußte das schon? Nicht einmal Hilla wußte das, und doch war sie diesem jungenhaft-abschätzigen Grinsen, dieser ausschweifenden Gebärdensprache, dieser zugegebenermaßen ziemlich plumpen Anmache sofort erlegen, als er sich einfach neben sie auf einen Barhocker schwang, der eigentlich von einem ihrer Freunde besetzt war. Sie hatte auch anstandslos seinen nicht geringen Alkoholkonsum auf ihre Rechnung genommen, weil er allzu theatralisch seine Taschen abtastete, um dann fröhlich festzustellen, daß er sein Geld wohl irgendwo anders verwahrt haben müßte als in diesen Jeans. Er kam, sie sah, er siegte - und das so nachhaltig, daß sie sich fest vornahm, beim nächsten Treffen ein paar Kondome ins Handtäschchen zu tun. Schließlich war es Sommer, und der fiel diesmal recht heiß und regenlos aus, selbst die Nächte wurden nicht richtig kühl, das Gras am Ufer des Kanals war weich und trocken, und die anderen Pärchen dort hatten ebenfalls verrutschte T-Shirts und Hosen.
Siggi war eben einfach Siggi. Nicht einmal seinen Nachnamen kannte sie. Dafür hatte er die merkwürdige Eigenschaft, urplötzlich dazusein, wie aus dem Nichts aufzutauchen, Hallo zu sagen und dann rasch zur Sache zu kommen. Danach lagen die beiden nebeneinander, sie schwieg vor sich hin und wußte nicht, ob es richtig war, hier zu liegen; er aber konnte plötzlich weitschweifig von Dingen reden, die sie nur teilweise verstand: von Walen, die Japaner und Norweger immer noch dezimierten, obwohl sie hochentwickelte Säugetiere sind und die Jagd längst international geächtet war; von tibetischen Mönchen, die orangefarben auf der Straße saßen und von chinesischen Milizen heruntergeprügelt wurden; von Bankern, die das Geld ihrer Kleinanleger verzockten und dann aus den Verlusten Bonuszahlungen erhielten. Es klang alles so wissend, so überlegen, und doch so verworren und ohne daß man das eine mit dem anderen sinnvoll verbinden konnte. Schon gar nicht, wenn man erschöpft war von den Anstrengungen der Liebe.
Nur bei der Erwähnung der Banker horchte sie auf, schließlich war das der Job ihres Vaters und ihres Bruders, und die Villa, die ihre Eltern bewohnten, war einmal aus dem Gewinn ihres Großvaters erworben, den er mit irgendwelchen Geschäften seines Bankhauses gemacht hatte. Daß beides einen jüdischen Vorbesitzer hatte, der es in den dreißiger Jahren zu günstigen Konditionen veräußert hatte, darüber sprach niemand in der Familie, das wußte sie wiederum nur von Hagen, und der wußte nahezu alles über ihre Familie und deren Geschäfte, schließlich war er so etwas wie der Privatsekretär ihres Vaters und wahrscheinlich längst schon etwas mehr.
Siggi und Hagen - was für grundverschiedene Typen! Sie lag und sah den weißlichen Wolken zu, die den nächtlichen Mond verschluckten und wieder ausspien; sie dachte an Hagens mißbilligende Blicke, als ihr der Name Siggi gestern herausgerutscht war. Und sie sah dieses unverschämte Grinsen in Siggis Gesicht, wenn sie Hagen erwähnte.
Überhaupt: Siggis Gesicht! Was war daran eigentlich so attraktiv? Sie wußte es nicht. Sie blickte zur Seite: Die Nase war schmal und ein wenig zu lang, die Augen lagen eigentlich viel zu dicht nebeneinander, und die meist ungekämmten Haare setzten tief an, machten seine Stirn niedrig und flach. Nein, so richtig schön war er weiß Gott nicht, aber er konnte sie so besonders anblicken, so bedeutsam und doch fast abwesend, und dann war da seine Art, den Mund spöttisch zu verziehen, die eigentlich hochmütig war und oft auch aggressiv, die ihr aber jedesmal eine leichte Gänsehaut irgendwo auf dem Rücken verursachte - einen wollüstigen Schauer, so könnte man vielleicht sagen.
Und Hagen? Sein Binder saß immer korrekt über dem weißen Hemd, nie hatte sie ihn in Freizeitkleidung gesehen, stets zeigte er sich in dieser langweiligen Banker- Uniform, genau wie ihr Vater und wie der Großvater: Der allerdings hatte immer noch eine Weste darunter getragen und darauf diese goldfarbene Uhrkette. Daran konnte sie sich noch erinnern, sonst war er nach seinem Tod aus ihrem Gedächtnis verschwunden, weil er ihr wenig bedeutet hatte. Und, wie sie glaubte, sie wohl auch ihm.
Hagen dagegen hatte seine Designeruhr am Handgelenk, zwei silberne Stifte in der äußeren Brusttasche seines Sakkos, obwohl er stets mit irgendeinem Kugelschreiber schrieb, von denen überall welche herumlagen. Falls er noch schrieb, denn eigentlich ging alles Geschriebene über Tastatur und Bildschirm. Hagen ist ein richtiger Schreibtischtäter, so hatte sie zu Siggi gesagt. Woher dieser Ausdruck stammte, was er eigentlich bedeutete, war ihr nicht bewußt, wie Siggi sofort bemerkte, und er vermied es, sie aufzuklären.
Nun also war dieser Siggi in die Festung eingedrungen, die bislang die Tochter des Hauses beschützt hatte, während ihre Operationen draußen der Familie kaum bekannt waren. Schließlich kannten sie sich nun schon drei Wochen, und da gehörte es sich, so meinte er, daß er das Innere der Burg einmal inspizierte. Und Hagen hatte es nicht verhindern können, zu überraschend kam der Angriff, und im Grunde hatte er auch nicht damit gerechnet, daß so eine flüchtige Disko-Bekanntschaft hier auftauchen würde, selbst wenn Hilla in letzter Zeit gelegentlich unverstandene Weisheiten dieses ominösen Siggi in ihren Sprachschatz aufgenommen hatte.
Hagen stand immer noch ein wenig verwirrt an der Haustür, bevor er entschied, sie zu schließen und an seinen Arbeitsplatz zurückzugehen, ohne sich weiter um den Besucher zu kümmern. Schließlich war er nicht als Türhüter angestellt, sondern als heimlicher Hüter bestimmter Geldflüsse des Bankhauses, vor allem, soweit sie am Fiskus vorbei irgendwohin zu transferieren waren. Mochte dieser Siggi sehen, wie er im Obergeschoß zurechtkam.
Der aber war zielbewußt auf eine der tiefbraunen Holztüren zugegangen - sein Orientierungssinn war schon immer gut ausgeprägt, auch wenn Hillas Beschreibungen manchmal nur schwer miteinander in Einklang zu bringen waren. Das unterschied sie eben: Siggi wirkte oft verwirrt oder doch verwirrend, aber er verbarg dahinter klare Ziele, die es zu erreichen galt; Hilla gab sich gerne als selbstbewußte junge Frau, klug und zielstrebig, doch in Wahrheit waren Wissen und Urteilsvermögen im Höchstfalle durchschnittlich, und im Grunde ließ sie sich treiben, genoß ihre kleinen Abenteuer, ohne wirklich zu wissen, wo der so genannnte Ernst des Lebens einsetzte. Was früher allein den Söhnen aus reichem Hause vorbehalten war, ehe sie - plötzlich wohlanständig - das ihnen zustehende Erbe antraten, das galt nun auch für die Töchter - nur daß ihre Erbschaft oft unsicher blieb.
Siggi klopfte nicht an, drückte einfach die Türklinke herunter - sie zeigte einen stilisierten Löwenkopf, kitschig und zugleich imponierend - öffnete mit einem nachlässigen "Hallo" und trat ins Zimmer. Es war leer, Hilla war nicht da, doch das machte dem Besucher nichts aus. Er warf die Tür ins Schloß und sich selbst auf die penibel glattgestrichene, grün gemusterte Tagesdecke, die über ein Bett mit Messinggestell gebreitet war. Man sah, hier gab es noch Hausangestellte, die für Ordnung sorgten. Das hinderte Siggi nicht, seine Turnschuhe an den Füßen zu lassen, während er liegend die restliche Einrichtung musterte. Eine altmodische Spiegelkommode stand an der einen Seite - Gelsenkirchner Barock, dachte Siggi abschätzig, davor ein lederbezogener Würfel als Sitzgelegenheit. Sicher Erbstücke, vielleicht sogar angeeignet aus ehemals jüdischem Besitz. Einen Schrank gab es nicht, dafür versteckte Türen in der getäfelten Wand, auch hier alles in düsterer Eiche. Vor einem der beiden Fenster protzte auf andere Weise ein Schreibtisch, vollständig aus Acryl, darauf ein Laptop - Tribut an den Zeitgeist. Ein Bücherregal suchte er vergebens; Lesen schien nicht so sehr Hillas Ding. Nur ein paar Zeitschriften lagen herum, immerhin eine Ausgabe von "Geo" war darunter, allerdings nicht gerade die neueste, wie das Titelbild dem Kenner verriet.
Eine Weile lag er so da, lauschte auf die Geräusche, die irgendwo im Hause entstanden und wieder erloschen, atmete den Geruch des Zimmers, der Hillas Körper mit frischem Bettzeug und altem Eichenholz mischte, atmete, horchte, wartete. Nur den obersten - nein, den einzigen Knopf seiner Jeans hatte er geöffnet, und der Reißverschluß rutschte danach selbsttätig etwa ein Drittel nach unten.
Dann kam Hilla. Nichts wußte sie von dem Besucher, und einen Augenblick blieb sie erschrocken im Türrahmen stehen. Siggi hatte sein Gesicht abgewandt, als die Klinke heruntergedrückt wurde, und er drehte sich ihr auch nicht zu, allein ihr Geruch verriet ihm, wer dort geöffnet hatte. "Komm," sagte er. Nur dieses einzige Wort, keine Begrüßung, keine Erklärung, nur das, was in seinen Augen notwendig war. Und das reichte an Kommunikation fürs erste. Sie schloß die Tür, drehte vorsichtshalber den Schlüssel herum, der innen steckte, streifte die Pantoletten ab, zögerte nur einen einzigen kleinen Moment und stürzte sich dann auf den Mann, der da so selbstverständlich auf ihrem Bett lag und auf sie wartete. Erst lag sie auf ihm, biß ihn in Nase und Ohrläppchen, dann drehte er sich nach oben, griff unter ihr Shirt und streifte es hoch, bis es ihr Gesicht bedeckte, sie blind dalag und in den Stoff biß.
Keine Wolken zogen diesmal vorbei, die Nacht war rötlich von ihrem Shirt, dann spürte sie den kratzigen Stoff seiner Jeans, das Metall des Reißverschlusses auf ihrem nackten Bauch, und dann spürte sie auch seine Haut und spreizte gehorsam die Beine, um ihm Einlaß zu gewähren. Erst als alles vorbei war, zog er ihr den Stoff von Mund und Augen, und sie sah, wie er kleine Schweißperlen hatte auf der Stirn und unter der Nase.
Es war alles so überraschend, es war irgendwie unwirklich, was da in ihrem Zimmer, inmitten der beschützenden Burg, geschehen war. Und zum ersten Mal fragte sie sich: Liebe ich ihn eigentlich, oder sind das nur andere Gefühle? Dann lagen sie schweigend nebeneinander, und auch Siggi hatte keine Weisheiten parat wie sonst, sondern legte nur ungewohnt sanft seine Hand zwischen ihre Beine und spielte ein wenig mit dem Zeigefinger - dort, wo sie empfindlich war und empfindsam. Sie ließ es geschehen und genoß es.
Plötzlich ertönte irgendwo im Hause ein Gong. Es klang nach Tempel und Buddha, aber Hilla richtete sich erschrocken auf: "Essenszeit," sagte sie, zog ihre Hose hoch und streifte das T-Shirt über. "Ich muß zum Essen gehen. Und du?" Er lachte, frech und aufsässig, wie es seine Art war. "Was soll schon sein? Ich komme mit. Hunger habe ich schon." Ehe sie noch Einwände vorbringen konnte, hatte er seine Kleidung in Ordnung gebracht und schloß die Tür auf. "Bitte, nach Ihnen, Gnädigste!" Aber er ging vorweg auf den Flur. Doch dann mußte er sich ihrer Führung anvertrauen.
Die wenigen Schritte zu dem Raum, den man in alter Tradition das Speisezimmer nannte, versuchte Hilla, ihre Kleidung und ihre Gedanken zu ordnen. Schließlich war eine Erklärung fällig, wenn sie plötzlich mit einem ungebetenen Gast erschien. Aber wieder war Siggi schneller: Als sie eintraten und sich die Augen der anderen erstaunt und fragend auf ihn richteten, sagte er wie gehabt: "Hallo, ich bin der Siggi, Hillas Freund. Sozusagen ihr Verlobter." Danach herrschte Totenstille. Hilla schwieg, weil sie nicht wußte, ob er das ernst meinte, ob sie protestieren mußte, ob sie einfach lachen sollte wie über einen dummen Scherz. Ihr Vater schwieg, weil es ihm schlicht die Sprache verschlagen hatte, weil es selbst für einen Zornesausbruch zu schnell ging. Ihr Bruder schwieg, weil er mit seinen Gedanken wieder einmal anderswo war, bei irgendeinem Geschäft, und er sie erst einmal zurückholen mußte, um zu verstehen, was da ablief.
Siggi brach als erster das gesammelte Schweigen. Er ging auf einen leeren Platz zu, sagte einfach "Ich darf doch" und setzte sich, ohne eine Antwort abzuwarten. Doch dann wurde er ausgesprochen höflich: "Hilla hat mich eingeladen. Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich so unkonventionell" - er sagte wirklich "unkonventionell" - "hier hereinkomme. Ich hoffe, ich bereite Ihnen und der Küche keine Umstände." Und dann fügte er nach kurzer Pause hinzu: "Jedenfalls freue ich mich, Sie kennenzulernen. Das mit der Verlobung war natürlich scherzhaft gemeint - zumindestens ein wenig voreilig." Wie gewählt er sich plötzlich ausdrückt, dachte Hilla. Er kann also auch anders. Und irgendwie machte sie diese Erkenntnis traurig.
Inzwischen hatte ihr Vater sich wieder gefangen: "Es war in der Tat ein wenig überraschend für uns, Herr ..." Er wartete vergeblich darauf, daß Siggi ihm seinen Nachnamen verriet, darum fuhr er fort: "Unsere Tochter ist gelegentlich ein wenig spontan in ihrem Verhalten. Aber das ist wohl das Vorrecht der heutigen Jugend. Natürlich sind Sie uns herzlich willkommen." Er nickte dem jungen Mann zu, und der deutete tatsächlich so etwas wie eine leichte Verbeugung an, als wäre er in der Tanzschule.
Man legte noch ein Gedeck auf, das Hausmädchen - sie trägt doch wirklich ein schwarzes Kleid mit weißer Schürze, bemerkte Siggi und verschluckte nur mühsam eine entsprechende Bemerkung - das Hausmädchen also hatte in der Küche geschickt umdisponiert und servierte auch dem vierten an der Tafel, als hätte sie mit ihm gerechnet. Siggi suchte ihre Augen, aber sie gab ihm keine Chance. Erst beim Abräumen konnte er ein dezentes Lob anbringen, was sie jedoch nur mit einem betont gleichgültigen Dank entgegennahm.
Das Tischgespräch - falls man es überhaupt so nennen konnte - verlief ziemlich einsilbig. Hillas Bruder schwieg weiterhin, ob nun aus Abneigung gegenüber dem Fremden oder weil seine Geschäfte ihn wieder eingefangen hatten. Hilla selbst hatte Mühe, einige belanglose Äußerungen einzuwerfen, so daß der Dialog weitgehend zwischen Siggi und dem Clanchef stattfand. Vergeblich versuchte Hillas Vater, den vollen Namen des Gastes zu erfahren, ohne direkt danach fragen zu müssen. Aber Siggi überhörte alle versteckten Anfragen, dafür gab er sich ausgesprochen friedlich, vermied alle provokativen Äußerungen, mit denen er sonst so gerne glänzte, beschränkte sich auf höfliche Gemeinplätze und wich allem aus, was über ihn selbst Rückschlüsse zuließ. Es war eine Meisterleistung nichtssagender Konversation, die er zum besten gab, und Hillas Vater registrierte das mit einer Mischung aus Ärger und Anerkennung.
Jedenfalls waren alle froh, als das Mädchen auch die leeren Dessertschüsseln abräumte, und der Alte verzichtete sogar auf den sonst fälligen Kognak danach, hob die Tafel auf und entschuldigte sich mit dringenden Angelegenheiten. Auch sein Sohn verschwand, kaum daß er einen Gruß über die Lippen brachte. Hilla saß noch da, starrte vor sich hin und wußte nicht, wie es nun weitergehen sollte. Siggi aber hatte wieder diesen arroganten Zug um die Mundwinkel, als er plötzlich in die Stille hinein sagte: "War doch ganz schön, oder?" Und als sie schwieg, stand er auf und sagte ziemlich schroff: "Ich glaube, ich gehe jetzt lieber."
Hilla brachte ihn bis zur Tür und blieb dann zögernd stehen. Irgendetwas muß ich jetzt sagen, irgendetwas, was nichts kaputtmacht, dachte sie. Aber ihr fiel nichts ein. Er öffnete die Tür. "Wie kommst du denn jetzt in die Stadt?" fragte sie, und ihr Verlangen war unüberhörbar, dennoch traute sie sich nicht, das andere zu sagen: Soll ich dich bringen? Er gab ihr keine Chance: "Mach dir keine Sorge, ich komm schon hin." Und dann, nach einem sehr flüchtigen Kuß, nur noch dies: "Bis bald!" Er sprang mit einem Satz über die drei Stufen hinweg auf den Kiesweg, lief, ohne sich umzuschauen, bis zur Gartenpforte und verschwand hinter der Hecke.
Hilla stand noch ein paar Minuten in der Tür, als hoffte sie, er würde noch einmal zurückkommen. Dann ging sie hinauf in ihr Zimmer, riß die zerwühlte Tagesdecke vom Bett und trampelte darauf herum. Plötzlich hielt sie inne, kniete nieder, nahm die Decke in den Arm und wartete, bis ihr endlich die Tränen kamen.
Warum - warum bin ich so, wie ich bin? Warum habe ich das getan? Es ist so leicht arrogant zu sein, den Überlegenen zu spielen, wenn man es erst einmal gelernt hat. Es ist so einfach, zu reden, immer nur zu reden, um nichts Wesentliches zu sagen. Dabei übertönt die eigene Stimme die Stimme in mir, die etwas ganz anderes sagen möchte und es doch nicht vermag.
Ich liebe dich doch, Hilla, will sie sagen. Ich will dich nicht verletzen. Ich will nur deine Nähe spüren, deine Wärme, deinen Körper. Ich will dich lachen sehen, will mich dir offenbaren, damit kein Geheimnis zwischen uns steht, damit Wahrheit ist - und dir so die Freiheit bleibt, mich zu lieben, oder auch nicht. Und ich will diese Freiheit dann aushalten, auch wenn sie wehtun könnte.
Warum also bin ich nicht so, wie ich sein möchte? Warum verstecke ich meine Gefühle hinter dieser Maske, statt sie dir einfach zuzumuten? Warum immer wieder Tarnung statt Offenheit? Ich habe sie mir erkämpft, diese Tarnkappe, das ist wahr. Ich bin dem Bösen begegnet, habe Haß erfahren und Gewalt, und ich habe ihm diese Maske abgerungen, die die Wahrheit verbirgt, weil Wahrheit manchmal tödlich sein kann.
Meine Erinnerung geht nicht weit genug zurück, um noch die Liebe zu spüren, die sie doch einmal empfunden haben müssen, meine Eltern, und die sie doch einmal auch mir zuteil werden ließen. Denn als mein Gedächtnis seine Aufzeichnungen begann, da berichtet es nur noch von Streit, von haßerfülltem Schweigen, immer wieder abgelöst von ebenso haßerfülltem Wortgefecht. Was mir damals blieb, war die Flucht - fort aus dem Teufelskreis dieser ewigen Schlacht, dieser ständig gekreuzten Klingen, irgendwohin, wo Stille war: ins Kinderzimmer zunächst und unter die Kissen, später dann in das Baumhaus im Garten, wo nur eine Drossel ihren Gesang gegen die mißtönenden Wortkaskaden aus dem Mund der Eltern setzte. Und endlich in eine mythische Welt, fernab aller Wirklichkeit, wohin mich meine Fantasie entführte - und wo ich endlich Mittelpunkt sein konnte, geliebt von geheimnisvollen Feen, geachtet von Baumgeistern und Faunen, gefürchtet von Riesen und Drachen. Den Drachen vor allen, die mein Zauberschwert töten konnte, wenn ich nur wollte. Es war diese Zauberwelt, die mich seither begleitet hat und die in den vielen Träumen - denen tagsüber ebenso wie in den Nächten - bis heute ihre eigenen Wirklichkeit schafft. So wurde ich zum Wanderer zwischen beiden: der inneren Wahrheit, die mich vor der Verzweiflung am Leben bewahrte, und der realen Welt, die mich kritisch werden ließ und oft genug auch zynisch, weil ich ihre Verlogenheit erfahren hatte seit frühesten Kindertagen.
Dann kam das Ende mit Schrecken, ebenso herbeigewünscht wie gefürchtet: die Scheidung der Eltern, die Verhöre vor dem Richter, der das Kindeswohl erforschen wollte und dabei nur kaum vernarbte Wunden wieder bluten machte, und endlich die scheinbar so salomonische Lösung, die mich von beiden trennte, vollständig und für immer, und mich einem Fremden zusprach, der Herkunft nach einem Verwandten, der den Knaben aufziehen sollte und ihm seinen Namen gab.
Er hat mir nicht viel bedeutet, dieser Adoptivvater, obwohl er sich auf seine Art Mühe gab, das gestehe ich ihm zu. Dennoch war die leibliche Tochter ihm näher, und auch mir war sie vertrauter, als Schwester zunächst, aber später dann - heimlich - auch in anderer Weise. Doch der Alte hat mich Dinge gelehrt, die es mir bald erlaubten, mit List zu agieren und notfalls rücksichtslos meinen Weg zu gehen. Er hat mich Verstellung gelehrt und mir gezeigt, wie man aus dem Verborgenen heraus dennoch zum Sieger wird im Kampf um Einfluß und Macht und um Geld und Besitz. Und - er hat mir von seinem Reichtum hinterlassen, ohne daß ich ihn wirklich verdient habe mit Dankbarkeit und Liebe.
Lange habe ich mich vor mir selbst geweigert, dieses Vermögen anzugreifen, weil ich wußte, wie es zustande gekommen war. Und als ich davon dann doch einiges nutzte, weil es mir Unabhängigkeit gab - vorsichtig und in bescheidenem Umfang nur nutzte, um mein Gewissen zu schonen - da opferte ich ihm mit zynischem Reden. Denn zynisch erschien es mir, für Gerechtigkeit und den Erhalt dieser Schöpfung vor anderen einzutreten und zugleich davon zu leben, was durch ungerechtes Handeln und den Mißbrauch der Schöpfung angehäuft wurde.
Um es offen zu sagen: Mein Ziehvater hat sein Vermögen gewonnen aus Waffengeschäften, verboten zwar, aber doch mit heimlicher Unterstützung einflußreicher Leute in manchem Ministerium, deren politischen Zielen solche Lieferungen dienten. So brauchte er keine Strafverfolgung zu fürchten und konnte den Gewinn anlegen etwa in Aufkauf von Tropenhölzern, den er in einer Art Ringtausch geschickt mit dem Transfer von Milchpulver in einige Drittweltländer verband - doppelte Einkünfte und doppelter Verrat an Natur und Mensch. Und ich habe von alledem gewußt und dabei auch mitgetan, als ich in seinen Unternehmen ausgebildet wurde zum ehrbaren Kaufmann. Dankbar bin ich ihm nur, daß er mir ausschließlich Barvermögen und einigen Grundbesitz hinterließ, nicht aber die Aktienmehrheit am Konzern, den die Schwester als leibliche Tochter erbte - und mit ihr den Vorsitz im Vorstand.
Was sollte aus einem Menschen werden, der dies alles erlebt hat, dessen Kindheit der Haß, dessen Jugend die Geldgier prägten? Entweder er wurde selber böse - gewissenlos böse - oder er flüchtete sich in Zynismus. Denn zum Verzicht, zur heiligen Einfalt in geläuterter Armut fehlte mir stets die Kraft. Innere Größe mag dem Gewissen förderlich sein - leben kann man davon jedenfalls nicht. Und leben wollte ich schon. So blieb mir nur, den Reichtum selber nicht zu mißbrauchen, ihn auch nicht protzend hochmütig zu verschleudern, sondern so sparsam wie möglich zu nutzen. Mehren tat er sich dennoch von selbst.
So wurde ich, was ich bin: Ein verbummelter Student, der dennoch stets neugierig blieb und darum lernen wollte; ein Mädchenaufreißer, der dennoch nur ehrlich lieben wollte; ein arroganter Schwätzer, der dennoch die Welt verändern wollte; ein notorischer Zyniker, der dennoch überall nach der Wahrheit suchte. Die Wahr- heit über mich selbst habe ich wenigstens dabei gefunden, aber sie allein hilft mir auch nicht weiter. Im Gegenteil, sie macht mich nur depressiv, wenn sie überhand gewinnt in meinem Denken, und diese düsteren Zeiten kommen immer wieder über mich.
Ich kann ihnen nicht ausweichen, aber ich will mir die Krankheit auch nicht eingestehen. Also muß ich sie durchleiden, ohne Hilfe, ohne Drogen - ob nun ärztlich verordnet oder heimlich vom Dealer erworben. Dann bleibt nur eins: warten, bis es selbsttätig endet.
Verzeih mir, Hilla, wenn ich die Tarnkappe trage - erst den kalten Zyniker spiele und jetzt ganz aus deinem Gesichtfeld mich stehle. Was du nicht wissen kannst: Ich muß wieder einmal diese Traurigkeit durchstehen, die dieser Tag mir beschert hat - weil er so wundersam aufregend begann und weil ich selbst ihn dann leichtfertig beschmutzt habe. Ich bitte dich: Sei geduldig mit mir und warte, ob ich zurückkehren kann in das Licht.
Du hast es doch auch empfunden, nicht wahr, als ich den Stoff, der deine Brüste verbarg, dir unbewußt nur bis über die Augen zog: diese Dunkelheit, die plötzlich hereinbricht mitten am Tag? Vielleicht war das schon ein Zeichen, das ich dir geben wollte. Denn jetzt ist die Dunkelheit bei mir selbst angekommen, und ich kann nichts anderes tun, als auf ihr Ende zu warten, irgendwo im Versteck vor allem und auch vor mir selbst - auf das Licht zu warten, das bislang immer wieder das Dunkel besiegte. Ja, "bis bald" mußt du noch warten. Ich bitte dich, tu‘s
Irgendwie hatte Hillas Bruder wohl doch besser zugehört, als er sich den Anschein gab. Günther Niebel, Juniorchef des Bankhauses Niebel, war nur in seinem Äußeren eine unauffällige Erscheinung. Wenn er nichtssagend wirkte, dann galt das allein seiner offensichtlichen Schweigsamkeit. Aber dahinter verbarg er strategisches Kalkül: Banker reden nicht, Banker rechnen, das war sein Motto. Und er war Banker - nicht deshalb, weil ihm als Erbe einer der erfolgreichsten Privatbanken kaum etwas anderes übrigblieb. Er war Banker mit Leib und Seele, wie man so sagt, so sehr, daß für ihn Privatleben bislang ein Fremdwort war.
So hatte er mit unauffällig wachem Interesse in seinem inneren Notizbuch verzeichnet, was dieser unbekannte Gast namens Siggi angeblich als bloßen Scherz zum besten gab: daß er sich als Verlobter seiner Schwester titulierte. Sei es nur ein Gag, sei es vielleicht mehr - dieser junge Mann spielte ab sofort eine Rolle in der Familienpolitik des Bankhauses Niebel, ob vorübergehend oder auf längere Sicht, mußte geprüft werden. Und deshalb war es notwendig, ihn auch sonst zu überprüfen - seine wahren Absichten ebenso wie seine bislang unbekannte Herkunft, seine Bonität wie seine Einstellung. Allerdings hatte er sich geschickt bedeckt gehalten bei dieser Vorstellung, die er am Mittagstisch inszeniert hatte - und eine eindeutige Inszenierung war auch beabsichtigt, dessen war sich Günther Niebel sicher. Nicht einmal seinen vollen Namen hatte er sich entlocken lassen, und ob Hilla ihn überhaupt wußte, dessen war sich ihr Bruder keineswegs sicher. Direkt fragen wollte er sie auf keinen Fall, denn sie sollte und durfte nichts von irgendwelchen Nachforschungen erfahren.
Dann war da noch Hagen, der Vertraute des Hauses, aber auch er hatte bei der kurzen Begegnung nichts Bedeutsames in Erfahrung bringen können. Doch Hagen mußte in ihm die Konkurrenz sehen, das war Günther klar, denn sein scharfer Blick sah sehr wohl, daß Hagen ein gewisses Interesse an Hilla nicht vollständig verbergen konnte, ob das nun auf Zuneigung beruhte oder bloßes Kalkül war, um so in den engsten Führungszirkel des Hauses aufzusteigen. Übrigens: Günther, dem mögliche Gefühle bislang fremd waren, sah in beidem letztlich das gleiche - den zielstrebigen und insofern achtenswerten Weg eines jungen Bankers zu mehr Macht.
Also war es sinnvoll, Hagen ins Vertrauen zu ziehen, seine offensichtliche Abneigung zu nutzen. Günther hingegen empfand keine Abneigung gegenüber diesem Fremden - das wäre ja auch ein bloßes Bauchgefühl und keine berechenbare Größe - ihm war nur ein objektives Mißtrauen eigen, solange nicht geklärt war, ob dieser Siggi eine Gefahr war für die Familie und damit für die Bank oder nicht. Hagen war folglich einzuschalten, wenn es dies aufzuhellen galt, denn er selbst mußte sich so weit wie möglich heraushalten, um die Schwester nicht zu verletzen. Und auch der Vater blieb besser uninformiert, solange die Aktion nicht abgeschlossen war.
Günther lud Hagen schon am folgenden Tag zu einem vertraulichen Gespräch an einem neutralen Ort. Schnell waren sich beide einig: Eine Detektei wäre hier das geeignete Instrument. Das Bankhaus hatte gelegentlich solche Dienste bereits in Anspruch genommen, wenn die Bonität eines Partners in Zweifel gezogen werden mußte. Also übernahm es Hagen, den Auftrag zu formulieren. Natürlich weder schriftlich noch durch Vorladung des entsprechenden Detektivs; Hagen würde ihn persönlich und privat aufsuchen und auch privat entlohnen. Nichts darf sich später in den Büchern finden, auch nichts auf den Konten, über die Günther privat verfügte und die letztlich doch innerhalb der Familie lesbar gemacht werden konnten. Die Erstattung des Honorars, das natürlich der Juniorchef übernehmen würde, ließ sich auch anders regeln.
Einfach war das Unterfangen nicht, das war den beiden Männern bewußt: Was hatte man schon in der Hand, um dem Schnüffler eine Spur anzubieten? Einen Namen, der nicht einmal eindeutig auf einen richtigen Vornamen schließen ließ, keinen Nachnamen, keine Adresse, überhaupt keine Angaben zu Person oder Aufenthaltsort, nur eine gewisse Personenbeschreibung und die vage Angabe, daß Hilla ihn schließlich irgendwo kennengelernt haben mußte, und wenn es nicht ein völliger Zufall, vielleicht auf dem Mannheimer Unigelände oder an einer Straßenecke war, so kamen dafür vor allem jene Lokalitäten in Betracht, in denen sie häufiger verkehrte. Und deren Zahl war nicht ganz gering, aber doch begrenzt - und vor allem: Die Namen waren gelegentlich in den Gesprächen bei Tisch, dem einzigen privaten Kommunikationsort der Familie, gefallen. So bemühte Günther sein Gedächtnis, diese ihm absolut fremde Welt ins Bewußtsein zurückzurufen.
Was dem Detektiv in die Hand gegeben werden konnte, waren eine Reihe von Bezeichnungen, deren Exaktheit allerdings nicht garantiert werden konnte. Und eine zweite, allerdings heikle Empfehlung: Die Schwester bei ihren nächsten Ausflügen ins Nachtleben dezent zu beschatten. In der Detektei nahm man den Auftrag mit einem gewissen Zögern an, aber schließlich war das Bankhaus, dem Hagen angehörte und das man als eigentlichen Auftraggeber vermutete, ein nicht unwichtiger Kunde, und auch das angebotene Honorar reizte durchaus.
So geschah es, daß ein unauffällig geparkter Wagen sich in Bewegung setzte, als Hilla ihren kleinen Sportwagen aus der Garage fuhr - natürlich mußte es solch ein Sportwagen sein, den der Vater ihr zum 18. Geburtstag geschenkt hatte, obwohl sie viel lieber ein geländegängiges Gefährt gesehen hätte. Aber Hilla kehrte stets frühzeitig zurück, weil sie allein Siggi suchte und nicht fand; und für lange Nächte mit den anderen Freunden fehlte ihr der Mut. Um nicht aufzufallen, mußte die Detektei mehrfach die Leute wechseln, die ihr folgten und sich in den entsprechenden Lokalen - im Grunde waren es nur zwei, die sie ansteuerte - in unauffälliger Nähe an ein Bierglas setzten, das sie so selten wie möglich gegen ein neues eintauschten, um fahrtüchtig zu bleiben. Doch sie warteten vergeblich, daß die Beschattete einen Mann begrüßte, auf den die Beschreibung passen könnte oder der mit Siggi angeredet wurde. Der Gesuchte blieb fern, das stellten beide fest, und beide mit Enttäuschung: das Mädchen und der diensthabende Detektiv.
So wechselte die Detektei die Strategie: Man wußte nun, an welchen Orten Hilla Niebel offensichtlich diesen Siggi getroffen haben mußte, also galt es durch geschicktes Fragen zunächst bei der Bedienung, dann auch bei Leuten, die unschwer zu den näheren Bekannten der beiden gerechnet werden konnten, herauszufinden, ob dort Informationen über einen gewissen Siggi zu gewinnen waren. Und einer der Fragenden wurde endlich fündig, als die Nacht vorgerückt und der Befragte für ein gewisses Mißtrauen bereits zu betrunken war: "Siggi? Den hab ich auch schon lange nicht mehr gesehen!" "Der fährt doch jetzt auf Hilla ab, die mußt du mal fragen." "Nein, wir nennen ihn immer bloß Siggi. Reicht dir das nicht?" "Sonst kam er immer donnerstags, gleich nach einer Vorlesung, aus Mannheim herüber. Da hielt er dann immer Reden über den Regenwald, wenn du verstehst, was ich meine." "Also, ich glaube, der wohnt im Mannheimer Studentendorf." "Was fragst du denn so viel? Bist du etwa ein Bulle?" Da wurde das Gespräch vorsichtshalber abgebrochen. Immerhin gab es jetzt konkrete Hinweise, die man auswerten konnte.
Das Büro des Studentendorfes war sehr kooperativ, als man dort erfuhr, daß einer der Bewohner wegen einer geheimnisvollen Erbschaft gesucht wurde. Da wollte man doch gern helfen: "Wir haben zur Zeit drei Studenten, die Siegfried heißen. Und einer nennt sich Sigbert. Komischer Name, nicht? Also die vier könnten es sein. Hier sind die Zimmernummern. Und viel Glück auch!"
Nun galt es, geschickt die vier Kandidaten abzugleichen mit dem, was man bislang wußte. Mit der Personenbeschreibung war zunächst wenig anzufangen. Eher schon der Studiengang. Donnerstagabend und Regenwald! Also das Vorlesungsverzeichnis durchforsten. "Fachbereich Politikwissenschaften, Ringvorlesung Donnerstag 18.00 Uhr c.t., Nachhaltigkeit und Raubbau als wirtschaftliche Grundtendenzen an ausgewählten Beispielen." Das könnte es sein. Aber bei einer Ringvorlesung gab es keine Testate. Außerdem würde der Fachbereich kaum Auskunft geben. Also alle vier Kandidaten am Donnerstag observieren. Zwei fielen aus, sie hatten ab 17.00 Uhr Seminare bei den Juristen. Blieben die beiden anderen. Ein Siegfried und der ominöse Sigbert. Aber der war klein und untersetzt und hatte obendrein einen Vollbart. Endlich also waren sich die Detektive sicher, den richtigen geortet zu haben. Allerdings ging er nicht zu der Vorlesung, weder am gleichen Tag noch am folgenden Donnerstag. Er ließ sich überhaupt nicht sehen, soweit eine Observation durchgeführt werden konnte.
So begann wieder das Fragen, in aller Vorsicht, bei den nächsten Nachbarn auf dem Flur des Hauses. "Der Siggi? Ja, der wohnt hier. Aber ich hab ihn schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen." "Der Siggi? Ich glaube, der ist irgendwie krank. Nein, Näheres weiß ich auch nicht." Immerhin: Man hatte seinen Namen, seinen vollen Namen, und der war seltsam genug: "Siegfried de Castro" Weiß der Teufel, woher der kommt. Ist auch egal. Man hatte seine derzeitige Adresse. Und - durch eine Indiskretion im Büro des Hauses - auch sein Geburtsdatum. Na bitte! Das dürfte reichen, um den Auftrag als erfüllt anzusehen. Und die Prämie zu kassieren. Und Hagen zahlte. Das weitere erledigte er lieber selbst. Wozu gab es das Internet.
Es wurde eine lange Nacht, aber er wurde fündig. Und was er herausfand, ließ ihn hellwach werden trotz der vorgerückten Stunde. Geburtsort - irgendein Nest am Niederrhein. Aber - er war eingetragen unter einem anderen Nachnamen, Verwechslung unmöglich. Doch das erschien weniger wichtig gegenüber der nächsten Erkenntnis: Siegfried de Castro, erster Wohnsitz Xanten. Und "de Castro" - jetzt fiel es ihm wieder ein, der Name war ihm früher schon einmal untergekommen. Dahinter steckte eine Unternehmensgruppe mit Firmensitz eben in Xanten - "A. Albrecht AG. Groß- und Außenhandel." Eine Aktiengesellschaft als Holding, und darunter ein unübersichtliches Geflecht unterschiedlicher Firmen, aber alle irgendwie mit internationalen Handelsbeziehungen unterschiedlichster Art. Produktionsbetriebe: Fehlanzeige. Aktienstreuung gleich Null, die Firma war praktisch in Familienbesitz, und die Hauptaktionärin eine gewisse Brunhilde de Castro, zugleich Vorsitzende im Vorstand. Geboren 1978 in Xanten, Tochter des vorhergehenden Firmenchefs Alberto de Castro, geboren in La Plata, Argentinien, deutsche Staatsangehörigkeit.
Doch ein Siegfried de Castro? Fehlanzeige - sein Name taucht nirgendwo auf in dieser Firmenansammlung. Aber daß er irgendwie dazugehört, auch wenn er erst später diesen Namen erhielt, war dennoch sicher. Wie jedoch kam er in diese Familie? Vielleicht voreheliches Kind des Alten? Aber dafür war er zu jung, Brunhilde de Castro war ehelich und fast acht Jahre älter. Oder ein Fehltritt, irgendwann nach dem Tod der Ehefrau akzeptiert - sie starb früh, da war die einzige Tochter erst dreizehn. Oder irgendeine Adoption, warum auch immer, möglicherweise wollte er einen männlichen Nachfolger und wurde enttäuscht. Vermuten ließ sich so manches, doch es blieb die Namensgleichheit und damit die Zugehörigkeit zu diesem Clan.
Der Alte war vor fünf Jahren verschieden - übrigens als Ehrenbürger von Xanten mit allem Pomp beigesetzt, und Träger aller möglichen Orden war er auch. Er hatte einen argentinischen Vater - oder vielleicht einen deutschen, der sich nach Kriegsende dorthin abgesetzt hatte? Denkbar wäre das schon, so mancher Nazi verschwand damals in Südamerika und hat seinen Namen hispanisiert. Castro? Hieß er einmal "Burg" - oder "Borg", er kam schließlich vom Niederrhein, vielleicht auch "van Borg"? Oder - Hagens Fantasie war geweckt, und alte Schulkenntnisse kamen zurück: Xanten, war da in der Nähe nicht ein römisches Kastell, wie hieß das noch gleich? Er zog das Internet zu Rat: Vetera Castra. Nur ein Zufall, oder stammte der Typ bereits aus Xanten und machte sich den Spaß, in Argentinien nun de Castro zu heißen? Und der Sohn kehrte zurück, um das freigegebene Erbe anzutreten?
Gab es also mehr als die Firma? Industrie, Ländereien, städtischer Grundbesitz, eventuell sogar Kunstschätze? Und war dieses Mehr - vielleicht Siegfrieds Erbe? Hagen schloß seinen Laptop. Hier mußte er vorsichtiger vorgehen. Aber es gab sicher eine, die Auskunft geben könnte, wenn man geschickt genug fragt: Brunhilde de Castro. Doch wie sollte er einen Kontakt herstellen, solange er nicht wußte, in welchem Verhältnis Brunhilde und Siegfried zueinander standen?
Morgen früh würde er mit Bankkollegen sprechen, die Beziehungen zum Niederrhein hatten. Vielleicht ergaben sich da weitere Informationen. Zunächst aber konnte er dem Juniorchef seinen Erfolg vermelden. "Siggi" war enttarnt, weitgehend jedenfalls. Nur ein Teilchen fehlte ihm noch in diesem Puzzle: Was besaß dieser Mann, welchen Einfluß hatte er im Clan de Castro? Das ließ Hagen nur unruhig schlafen.
Sie hatte schon lange nichts Näheres mehr vom Bruder gehört - der ja nicht nur Bruder war, sondern das ständige Abbild geheimer, lange nicht mehr erfüllter Wünsche. Ein paar E-mails nur, nichtssagend und voller Kälte, seitdem er, um endlich zu studieren, das leer gewordene Vaterhaus noch leerer hinterlassen hatte, indem sie nun umherging wie ein Schloßgespenst, das wehklagend früheren Glückes gedenkt. Was brauchte sie diese Zimmerfluchten, wo doch ihr eigenes Zimmer ihr schon unendlich großäüüßüää