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Reinhard Schlüter

Schönsprech

Wie uns Politik und Lobby das Blaue vom Himmel erzählen

1. Auflage

Originalausgabe

© 2015 Riemann Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Lektorat: Ralf Lay, Mönchengladbach

Umschlaggestaltung und Layout: Stephan Heering, Berlin

Umschlagabbildung unter Verwendung eines Fotos von © Infinity/Fotolia

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN 978-3-641-15420-2

www.riemann-verlag.de

Inhalt

Vorwort: Die »Agonie des Realen«

Wie durch Statistiken, Befürchtungsszenarien und allgegenwärtige Beschönigungen unsere Wahrnehmung perforiert wird

Sprachliche Nebelwerfer

1. Grundrechtsschonend handlungsfähig!

Die Schwammsprache der Politik

2. Mit Schwimmwesten unter den Rettungsschirm

Krisennebel ohne Ende

3. Vom Extremnutzer zum Intensivtäter

Der Bürokrat als Sprachschöpfer

4. Sozial ausgewogene Maßnahmenpakete

Woran wir uns längst gewöhnt haben

5. Mit verschärften Verhörmethoden zum verbalen Küstenschutz

Euphemismen in aller Welt

Literatur

Verzeichnis der Stichwörter

Vorwort Die »Agonie des Realen«

Wie durch Statistiken, Befürchtungsszenarien und allgegenwärtige Beschönigungen unsere Wahrnehmung perforiert wird

»Das Unheil in der Welt kommt fast immer von der Ignoranz.«

Albert Camus

Als Albert Camus im Herbst 1946 seinen Roman Die Pest beendete, machte sich jenseits des Ärmelkanals ein britischer Journalist gleichfalls daran, den Totalitarismus zweier Weltkriege, des Faschismus und des Stalinismus literarisch zu verarbeiten. Im Frühjahr hatte Eric Arthur Blair, der unter dem Pseudonym »George Orwell« schrieb, für die BBC die beiden Utopien We von Jewgenij Samjatin und Brave New World von Aldous Huxley rezensiert und war darin jenen vergleichbaren verbalen Manipulationstechniken – kurz »Euphemismen« – begegnet, an denen er während des Kriegs als english language producer unter Aufsicht des »Ministry of Information« selbst mitgewirkt hatte. Euphemismen sollten daher nun auch in seinem utopischen Roman, den er – in Umkehrung des geplanten Erscheinungsjahres 1948 – 1984 nennen wollte, zur zentralen Herrschaftsmetapher werden.

Kein negativer Begriff darf in Orwells totalitärem Staat dem großen Lauscher »Big Brother« zu Ohren kommen. Was nach allgemeinem Verständnis als bad gilt, wandelt sich dort umstandslos zu ungood mit der Steigerungsform plusungood. Selbst beim allerscheußlichsten Vorgang schwingt in doubleplusungood noch immer das »Gute« mit. Es ist dies ein ähnlicher Effekt, wie er heutzutage in Wortschöpfungen wie »Minuswachstum«, »Jobwunder« oder »Sparpolitik« zum Tragen kommt – Begriffe, hinter denen sich in Wahrheit Rezession, Niedriglöhne und steigende Staatsschulden verbergen. Zweck des Orwell’schen »Newspeak« – wie auch der Verlautbarungssprache unserer Tage – ist die ultimative Zustimmung, das »Yes« zu allem, was seitens der Regierenden geschieht. Zu den rhetorischen Mitteln hierfür zählen unter anderem sogenannte Dichotomien – das heißt, es wird das Gegenteil von dem behauptet, was Sache ist. So nennt sich Orwells Kriegsministerium nicht etwa nur »Verteidigungsministerium« (wie das deutsche), sondern »Ministry of Love«, und so firmiert das Propagandaministerium folgerichtig als »Wahrheitsministerium«. Wem fiele da nicht unser »Verbraucherschutzministerium« ein, das etwa der Lebensmittelindustrie erlaubte, Füllmengen durch Verpackungsgrößen willkürlich zu verblenden und dem Verbraucher wichtige Informationen über allergieauslösende Inhaltsstoffe vorzuenthalten?

Doch handelt es sich wirklich um Lüge, wenn etwa Gesetze »harmonisiert« werden, obwohl es in Wahrheit um ihre Verschärfung geht? Wenn »Bio-Sprit« die Vorstellung von »gesunder« Energie weckt? Oder wenn Atommüll »zwischengelagert« wird, obwohl auf absehbare Zeit weit und breit kein Endlager in Aussicht steht?

Von Arthur Schopenhauer stammt die Feststellung, dass in jedem Menschen eine Neigung zur Wahrheit liege, die bei einer Lüge erst »überwältigt« werden müsse. Wenn das so ist, bieten Euphemismen eine ideale Möglichkeit, die Wahrheit auszuklammern, ohne explizit zu lügen. Etwa indem man beim Verklappen oder Fracking nur auf die technische Seite verweist (das Öffnen der Schiffsklappe beziehungsweise das Öffnen von Gesteinsschichten mittels Flüssigkeit) und die schädlichen Konsequenzen (die Verseuchung der Umwelt durch Giftmüll oder durch giftige Additive) verschweigt – indem man Anglizismen erfindet (wie »Bail-out-Klausel«, »Bad Banks«, too big to fail oder »Flexicurity«) oder indem man konkrete Vorgänge nicht durch den zutreffenden, sondern möglichst allgemeine Begriffe wiedergibt, wie etwa »Harmonisierung« oder »Maßnahme«. Auch mit »Anpassung« lassen sich die unterschiedlichsten Vorgänge umschreiben, ohne dass dabei deutlich wird, dass es sich in Wahrheit um Entlassungen, Preiserhöhungen oder den Abbau von Freiheitsrechten handelt.

»Nicht zu täuschen und wissentlich sich nicht zu täuschen, sondern die Täuschung zu hassen, die Wahrheit dagegen zu lieben«, forderte Platon in seiner Politeia vom »idealen Staatshüter«. Dabei waren die hellenistischen Staats- und Schlachtenlenker des vierten vorchristlichen Jahrhunderts ebenso im Bilde über jene »Ungleichheit der Menschen vor dem Wissen, welches Macht bedeutet« wie die Politiker, Spindoktoren, PR-Manager, Mediencoachs, Image- und Stilberater unserer heutigen Tage.

So beunruhigt es denn auch weniger, dass etwa das Leitmedium Fernsehen das Banale überstilisiert oder das Außergewöhnliche banalisiert. Was beunruhigt, ist jene knallige Verlautbarungssprache in Nachrichten und Magazinen, die »Topterroristen« ranggleich neben Topmodels stellt und die etwa eine Partei mit einem Stimmenanteil von 12 Prozent zum Wahlsieger erklärt, nur weil sie bei der Wahl den höchsten Stimmenzuwachs verbuchte. Es ist dies eine Sprache, die Missbrauch und Vergewaltigung zum »sexuellen Übergriff« verharmlost, die »Militärmissionen« gleichrangig neben Friedensmissionen stellt, die Mord und Totschlag hinter der »Bluttat« verschummern lässt, von »Döner-« oder »Ehrenmorden« schwafelt und die selbst dann noch von der »Ruhigstellung« eines inhaftierten Asylbewerbers spricht, wenn diese mit dem Erstickungstod des Festgenommenen endete. Die unausgesprochene Botschaft des Fernsehens, so der Philosoph Peter Sloterdijk, sei: »Wir kümmern uns um alles. Also braucht sich nichts zu ändern.« Sozusagen das affirmative »Yes« zu allem, was das System erhält – zum Kapitalismus in seiner hässlichsten Ausprägung ebenso wie zur »Rettung« maroder Banken aus Steuermitteln.

»Ein wirklich leistungsfähiger Staat«, schrieb Aldous Huxley im Vorwort zu seiner 1946 neu aufgelegten Utopie Brave New World (Schöne neue Welt), funktioniere »am effektivsten bei Menschen, die zu nichts gezwungen zu werden brauchen, weil sie ihre Sklaverei lieben«. Dass boulevardisierende Medien in der Tat einen solchen Prozess befördern, dass Informationsüberflutung, ubiquitäre Zerstreuungsangebote, euphemistische Nebelwerfer und Emotionalisierung jene »behagliche Lust am Nichtwissen« (André Heller) fördern, die den fortschreitenden Demokratieabbau (Stichwort: »Präventionsstaat«) immer gleichgültiger hinnimmt, weiß auch der Publizist Burkhard Müller-Ullrich: »Ein wachsender Prozentsatz aller veröffentlichten Informationen handelt von Dingen, die gar nicht stattgefunden haben, sondern bloß als Drohungen im Raum stehen. Indem jedoch dauernd neue Gefahren halluziniert werden, greift eine Agonie des Realen um sich, weil niemand mehr imstande ist, den Tatsachengehalt der im Dutzend aufgeblasenen Befürchtungsmeldungen zu kontrollieren.«

Und der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann ergänzt: »Es wird wahrscheinlich gegenwärtig nirgendwo so viel gelogen wie mit Hilfe von Diagrammen, von Statistiken, von Zahlenspielereien. Gleichzeitig haben die eine unglaubliche Sogwirkung auf uns, weil sie uns so objektiv erscheinen, und sind doch in ihrer nackten Objektivität das Täuschendste, dem man anheimfallen kann.«

»Wir leben in einer Wirklichkeit, die immer unbegreiflicher wird, gemessen an unseren bisherigen Vorstellungen«, stellt der Soziologe Ulrich Beck fest. Als eine der Folgen diagnostiziert Peter Sloterdijk eine »chronische Duldungsstimmung«, und Hans Magnus Enzensberger lenkt mit dem Begriff »postdemokratisch« den Blick auf jenes Phänomen, das durch die Enthüllungen des NSA-Dissidenten Edward Snowden ins allgemeine Bewusstsein rückte, ohne dass dies zu irgendwelchen greifbaren Konsequenzen geführt hätte.

Tatsächlich sieht sich der desorientierte und zunehmend »gläserne« Bürger längst einer informationshungrigen und kontrollsüchtigen Machtelite gegenüber, die sich um die Folgen von Sozialabbau und Inflation umso weniger zu scheren braucht, als sie zunehmend die demokratische Kontrolle unterläuft. So ließ es sich etwa die US-Finanzlobby rund 500 Millionen Dollar kosten, um US-Regierung und Parlament von den »Nachteilen« einer Finanzmarktregulierung zu »überzeugen«. Und so pervertieren Parlamentarier und Exparlamentarier den Wählerwillen, indem sie nach ihrem Ausscheiden aus der Politik als bezahlte Lobbyisten von Firmen und Verbänden auf die Gesetzgebung Einfluss nehmen.

»Das Schlimmste ist die Gleichgültigkeit«, schrieb Stéphane Hessel seiner Schrift Empört euch! voran und griff damit den eingangs zitierten Gedanken von Albert Camus auf. Nach Lektüre des vorliegenden Buches sollte zumindest die Behauptung schwerfallen, man »blicke nicht mehr durch«.

Sprachliche Nebelwerfer