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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus
erschienenen Originalausgabe 2013





Worum geht es im Buch?

Angelika Oberauer

Kein anderes Leben


Lore und Stefan sind glücklich. Sie glauben fest, dass sie für immer zusammen sein werden und alle Schwierigkeiten meistern können. Doch plötzlich ändert sich ihr Leben. Denn Stefan will Karriere in der Stadt machen, während Lore ihre Heimat niemals verlassen würde. Die beiden trennen sich, obwohl sie sich immer noch lieben.

Lores Bruder Markus, der Hoferbe, kommt bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Lore versucht alles, um den Hof zu retten. Doch der Immobilienmakler Dieter Paschke möchte das Grundstück erwerben, um dort ein Hotel zu bauen. Er setzt seinen gutaussehenden Halbbruder auf Lore an, damit diese verkauft.

Wird er Lores Herz für sich gewinnen können, oder ist ihre Liebe zu Stefan immer noch zu stark?

1

Der Buchbergerhof lag etwas außerhalb des Dorfes in einem sonnigen Tal. Im Süden konnte man bei schönem Wetter von seinen drei übereinanderliegenden Balkonen die blaue Silhouette des »Wilden Kaisers« erkennen, im Osten erhob sich der Hochgern und im Westen der Geigelstein. Ging man um den Hof herum zur Tenne hin, vorbei an der Fassade, die bis zum Giebel hinauf mit wildem Wein bewachsen war, so erblickte man von hier aus die hügeligen Ausläufer der Hochplatte. Der Hof war einer der stattlichsten und größten in Hinterbrand. Ein dichter Laubwaldgürtel schützte das Anwesen vor kalten Herbst- und Schneestürmen, und eine sanft abfallende Wiese führte zu einem kleinen See. Kirschbäume säumten die schmale Zufahrtsstraße.

Es war ein warmer Juniabend, als Lore Buchberger die Straße entlangradelte. »Bald sind die Kirschen reif, wenn das sonnige Wetter anhält«, dachte Lore gut gelaunt. Die junge Bauerstochter freute sich schon auf die süßen Herzkirschen, die sie so gerne aß. Dann blickte sie zum See hin, der wie ein blauer Spiegel, von keinem Windhauch getrübt, hinter der blühenden Wiese lag. Unbedingt wollte sie heute, nach der für die Jahreszeit ungewöhnlichen Hitze des Tages, noch ein erfrischendes Bad nehmen. »Wer hat schon das Glück, dass das eigene Grundstück bis zum See reicht«, dachte sie schmunzelnd. Schon in der Schulzeit hatten ihre Freundinnen sie um den Badesee beneidet.

Beim Haus angekommen, lehnte sie ihr Fahrrad an die noch sonnenwarme Hausmauer. Bello, der alte Hofhund, der schläfrig auf dem Pflaster lag, hob nur müde den Kopf, als er sie bemerkte.

Von draußen hörte sie durch die offen stehende Haustür lautes Stimmengewirr, und ihre hohe, runde Stirn kräuselte sich dabei besorgt. »Streiten sich die Eltern denn schon wieder mit Markus?«, fuhr es ihr durch den Kopf, und ihre gute Laune trübte sich dabei zusehends. »Warum ist der Markus nur so unzuverlässig und leichtfertig«, dachte sie weiter, als sie den kühlen, feuchten Flur betrat, in dem es nach frisch gemolkener Milch, und auch ein klein wenig nach Stall und Heu roch.

»Das kannst du doch nicht machen!«, hörte sie nun den Vater durch die gleichfalls offen stehende Küchentür schreien. »Gehst jede Woche zwei, drei Mal auf ein anderes Fest und lässt die Sabine in ihrem Zustand allein daheim sitzen!«

Darum geht es also wieder einmal. Lores Gesicht verfinsterte sich. Nichts mehr war übrig von der guten Laune, die sie gerade noch empfunden hatte. Trotzdem oder gerade weil daheim wieder einmal dicke Luft herrschte, wollte sie zum See hinunter. Sie würde sich gar nicht bei ihrer Familie blicken lassen. So schlich sie leise die steile Treppe zu ihrem Zimmer hinauf, um sich ihren Badeanzug zu holen und dann unbemerkt das Haus wieder zu verlassen. Sie hatte keine Lust, sich in die ständigen Auseinandersetzungen zwischen Bruder und Eltern hineinziehen zu lassen.

Niemand bemerkte sie, und so radelte sie fünf Minuten später über den Wiesenpfad zum See hinunter. Sofort stürzte sie sich in das klare, blaue Wasser, das von einem Gebirgsbach gespeist wurde und deshalb auch im Hochsommer nie wärmer als zwanzig Grad wurde. Lore machte das nichts aus. Sie liebte das kalte Wasser, es erfrischte und belebte sie.

Als sie nach einigen Minuten zurückschwamm, bemerkte sie in der Ferne einen Radler zwischen den Kirschbäumen. Die Gestalt kam rasch näher, und bald erkannte Lore darin ihren Freund Stefan. Ihr Herz schlug schneller bei seinem Anblick, zumal sie völlig überrascht war, dass er heute schon kam. Sie hatte ihn erst morgen erwartet.

»Sicher hat Stefan den Streit zwischen den Eltern und dem Bruder mitbekommen, als er mich abholen wollte«, musste sie dann jedoch mit einem unangenehmen Gefühl denken.

»Ich hab dich schon von der Straße aus gesehen«, rief er ihr eine Minute später vom Ufer aus zu, und schlüpfte dabei aus Hemd und Hose, um sich gleichfalls in das frische Wasser zu stürzen.

»Huch, ist das kalt!«, prustete er. »Wie hältst du das nur aus?« Er gab ihr einen flüchtigen Kuss, als er sie erreicht hatte, kraulte noch ein paar Meter in den See hinaus, machte dann aber schnell wieder kehrt.

»Ich hab dich erst morgen erwartet«, sagte Lore, als sie beide am Ufer standen. Der Glanz in ihren klaren, blauen Augen drückte dabei aber deutlich ihre Freude aus, ihn schon einen Tag früher zu sehen.

»Ich hab’s in München nicht mehr ausgehalten«, flüsterte er ihr zärtlich zu und umarmte sie innig, ohne sich vorher abzutrocknen. »Ich hatte solche Sehnsucht nach dir.«

Lore versuchte ihn nicht ernst zu nehmen. »Ach, dir war es in der Stadt doch bloß zu heiß«, erwiderte sie scherzend, »sonst kommst du doch auch immer erst am Samstag.«

Stefan ließ sie los und trocknete sich ab. »Nein, im Ernst«, erwiderte er und legte drei Finger an seine Brust. »Dieses Mal war die Sehnsucht nach dir nicht mehr auszuhalten.«

»Und warum auf einmal?«, fuhr sie fort ihn zu necken, obwohl ihr Herz immer noch schneller klopfte. »Bisher hast du es doch auch immer ohne mich ausgehalten.«

Sie setzten sich auf den Baumstamm, der letzten Sommer an einem verregneten, stürmischen Tag angeschwemmt worden war und den Lore an Land gezogen hatte.

»Wir wachsen eben immer mehr zusammen«, bemerkte er leise und drückte dabei ihre Hand.

Lore glaubte ihm nur zu gerne. Sie warf ihm von der Seite her einen glücklichen Blick zu. »Gehört dieser schöne, kluge Mann wirklich mir?«, musste sie wieder einmal denken.

»Du könntest ein Italiener sein«, bemerkte sie plötzlich. Lore war ein zurückhaltender Typ, und Liebesschwüre kamen ihr nur schwer über die Lippen.

»Sie ist nicht leicht zu erobern gewesen«, dachte Stefan hingegen, als er ihren Blick erwiderte. »Aber meine Ausdauer hat sich gelohnt.« Endlich gehörte ihm ihr Herz, und dies machte ihn glücklich und gelöst, gab ihm Kraft für sein Studium.

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Stefan verblüfft.

»Deine braune Haut, das schwarze Haar, die dunklen Augen, dein schmales Gesicht«, sprach sie in leicht neckendem Tonfall weiter, ihn ungeniert betrachtend.

»Italiener sind meistens klein«, erwiderte er ein wenig ernüchtert.

»Eher ein Römer als ein Sizilianer«, scherzte sie übermütig weiter. »Du hast auch eine so kühn geschwungene Nase.« Sie fuhr mit ihrem Zeigefinger seinen leicht gebogenen Nasenrücken entlang.

Stefan schüttelte den Kopf. »Du bist ein seltsames Mädel«, meinte er nachdenklich. »So eine wie dich hab ich noch nie kennengelernt. Aber gerade deshalb mag ich dich so gern.« Er sah sie verliebt an. »Nur ein wenig abwesend bist du manchmal. Da möchte ich gern wissen, was du gerade denkst. So ganz und gar werde ich dich wohl nie ergründen«, fuhr er sinnierend fort.

»Da gibt es nichts zu ergründen«, erwiderte sie lächelnd. »In mir stecken keine Geheimnisse.«

»Wirklich nicht?« Er zog sie wieder an sich, küsste sie behutsam auf die Lippen. Er freute sich auf das Wochenende mit ihr, auf die langen Gespräche, vor allem aber auf die Liebe, die sie ihm schenken würde.

Er dachte mit einem versonnenen Lächeln daran, wie sie sich vor drei Wochen das erste Mal geliebt hatten. Bei der türkisfarbenen Gumpe war es gewesen, im hellen Sonnenschein. Er sah ihre leicht geöffneten vollen Lippen, ihre weißen Zähne vor sich, als sie unter ihm lag. Ihre Augen waren halb geschlossen gewesen. Als er daran dachte, spürte er, wie ihm das Blut in die Schläfen schoss.

Lore entzog sich ihm nun lächelnd. »Mir ist ein wenig kalt«, bemerkte sie. »Die Sonne geht gleich unter.«

»Ich sorge schon dafür, dass dir ganz schnell wieder warm wird«, raunte er verheißungsvoll in ihr Ohr. Aber Lore wehrte lachend ab. »Besitzt du denn gar keinen Anstand mehr?«, tadelte sie ihn mit gespielter Strenge. »Da kann jederzeit wer kommen.«

»Dann lässt du heute Nacht für mich die Haustür offen, wenn deine Eltern schon so altmodisch sind und mich nicht offiziell bei dir übernachten lassen.«

»Ja, sie sind wirklich altmodisch. Und streng«, erwiderte Lore nun ernst. Sie zog sich ihren Pulli über, denn es wurde wirklich ein wenig kühl. Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht.

»Was hast du denn plötzlich?«, fragte er besorgt. »Ist es, weil mich deine Eltern immer noch nicht so ganz als zukünftigen Schwiegersohn akzeptieren?«

Lore lächelte schwach und winkte ab. »Das ist nicht der Grund. Sie mögen dich schon. Aber über eine Hochzeit sollten wir jetzt noch nicht reden. Wir kennen uns doch erst ein halbes Jahr«, antwortete sie ausweichend.

»Ich bin mir meiner Gefühle für dich jedenfalls sicher«, entgegnete er ein wenig beleidigt.

Sie schmiegte sich wieder an ihn. »Ich doch auch. Aber wir sollten jetzt wirklich nichts überstürzen. Du studierst ja noch, und wenn du fertig bist, dann wirst du erst einmal in die weite Welt hinaus wollen.«

Stefan dachte über ihre Worte nach. Er wusste, dass sie nicht so ganz unrecht damit hatte. Aber er wollte nur Lore und keine andere. Dabei war ihm klar, wie sehr sie an ihrer Heimat hing und dass sie in einer Großstadt eingehen würde wie eine Blume in der Wüste. Sie müssten einen Kompromiss finden.

Lore ahnte, welchen Gedanken Stefan nachhing und dass sein künftiger beruflicher Werdegang ein Problem für sie beide werden würde. Sie wollte jedoch an diesem schönen Abend nicht weiter darüber nachdenken.

»Ich mache mir Sorgen um meinen Bruder«, wechselte sie deshalb rasch das Thema. »Hast du den Streit bei uns daheim nicht mitbekommen, als du mich abholen wolltest?«

»Das ist es also!« Stefan atmete auf. »Und ich dachte schon, du liebst mich nicht mehr.«

Lore sah nun still und versonnen auf den See hinaus, der im Abendwind kleine Wellen schlug, die leise an den Rand des Ufers plätscherten. Sie war froh, dass er sich so schnell täuschen ließ. Gleichzeitig wandten sich ihre Gedanken jedoch in Wirklichkeit dem schlimmen Streit zu, den sie vorhin mit anhören musste.

»Ich war gar nicht bei euch im Haus. Ich hab dich gesehen, wie du ins Wasser gegangen bist, und bin gleich weitergeradelt.« Er erhob sich nun, trat hinter Lore, zog sich seine nasse Badehose aus, schlüpfte wieder in seine Radhose und sein Sporthemd. »Was ist denn los bei euch daheim?« fragte er sie, während er sich anzog.

»Immer das Gleiche«, antwortete sie seufzend. »Es ist einfach so, dass mein Bruder die Sabine halt nicht liebt.«

Stefan trat von hinten an Lore heran und küsste ihren zarten Nacken.

»Das ist bei uns zwei anders«, flüsterte er ihr zu.

Sie drehte sich zu ihm um und blickte ihn mit ihren schönen Augen ehrlich an. Ja, sie liebte ihn. Aber es war keine bedingungslose Liebe. Sie wusste es und verdrängte es nur immer wieder.

»Ich weiß nicht, wo das noch hinführen soll«, antwortete sie seufzend und versuchte dabei abermals ihre eigenen Ängste beiseite zu schieben.

»Der Markus treibt es immer schlimmer. Aber er ist nun einmal verlobt und, was noch viel schwerer wiegt, die Sabine erwartet ein Kind von ihm.

Im Mai hätte wieder einmal Hochzeit sein sollen, aber er hat es wieder verschoben. Drei Mal in der Woche geht er ins Wirtshaus, und auf jeder Feier ist er zu finden. Natürlich immer ohne seine Braut. Meine Eltern halten ihm das natürlich vor und sind wütend auf ihn.«

»Dann ist es wohl besser, sie heiraten erst gar nicht. Das kann doch keine gute Ehe werden«, meinte Stefan nachdenklich. Er hatte sich nun ins hohe Gras sinken lassen und kaute an einem Halm.

»Der Markus war schon immer ein Luftikus. Die Sabine hätte sich gar nicht erst mit ihm einlassen sollen.«

»So könnte ich nie sein«, raunte Stefan ihr zu, und zog sie zu sich herunter ins Gras.

Lore ließ es geschehen, und als er sie wieder küsste, erwiderte sie diesen Kuss mit der ganzen innigen Zärtlichkeit und Liebe, die sie für diesen Mann empfand.

***


Für den nächsten Tag, einen Samstag, hatten sie sich wieder verabredet. Stefan hatte jedoch erst nachmittags Zeit, da er am Vormittag für sein Diplom lernen musste.

»Tut mir Leid, dass es wieder später geworden ist«, bat er seine Liebste um Verzeihung, als er mit einer halben Stunde Verspätung mit dem Fahrrad auf dem Buchbergerhof ankam. »Aber bald hab ich alle Prüfungen hinter mir, und dann liegt ein wunderbarer Sommer vor uns.«

Lore verstand ja, dass er lernen musste, und hätte ihm deswegen niemals Vorwürfe gemacht.

Auf dem Buchbergerhof herrschte noch immer schlechte Stimmung, und so war Lore froh, dass sie mit Stefan zurzeit ihrer Familie entfliehen konnte.

Als sie Stefan dies sagte, schüttelte er nur nachdenklich den Kopf. »Wenn ein Wanderer bei eurem Hof vorbeikommt, glaubt er sicher, da ist das Paradies daheim, so schön ist es hier. Dabei herrschen hier Streit und Sorgen. Das muss doch nicht so sein! Soll ich einmal mit dem Markus reden? Ich kenne ihn ja noch von früher, von der Schule.«

Stefan Lechner, in dessen eigener Familie eigentlich alles zum Besten stand, von kleineren Reibereien einmal abgesehen, glaubte immer, er könne die Menschen bessern, ja die Welt verbessern. Lore kam dies gerade in den Sinn, und ihre Lippen spannten sich dabei zu einem schwachen Lächeln.

»Das kannst du dir sparen«, erwiderte sie, uns schwang sich auf ihr Rad. »Einen uneinsichtigeren Menschen wie den Markus habe ich bisher noch nicht kennen gelernt.«

»Dann lass uns nicht mehr davon reden und den Tag genießen«, meinte Stefan. »Ich hab mein Angelzeug dabei. Ich fang’ dir heute noch eine wunderbare Forelle und brat sie dir dann gleich an Ort und Stelle«, versprach er ihr großspurig.

»Wir wollten doch abends aufs Feuerwehrfest gehen«, erinnerte sie ihn.

»Trotzdem können wir bei der Gumpe eine Forelle essen. Der Tag ist noch lang, und er ist traumhaft schön.« Stefan war heute bester Laune, und von dem Prüfungsstress, der sich gestern Abend noch ein wenig in seinem Gesicht abgezeichnet hatte, war nichts mehr zu erkennen.

Eine Stunde später hatten sie ihr Ziel erreicht. Sie waren eine steile Forststraße hinaufgeradelt, versteckten dann ihre Räder im Gebüsch und gingen noch das kurze Stück, bis sie zu der Stelle kamen, an der sich der klare Gebirgsbach in einer tiefen und breiten Gumpe fing. In dem türkisfarbenen Wasser standen und schwammen prächtige Regenbogenforellen. Weiter oben stürzte ein Wasserfall von einer hohen Felswand. Sein Tosen war heute aufgrund der langen Schönwetterperiode jedoch nur schwach zu hören.

Lore erfrischte sich gleich in dem eiskalten Wasser und streckte sich dann auf dem Felsen aus, der in Tausenden von Jahren von den Wassermassen so platt geschliffen worden war, dass man bequem darauf liegen konnte. Links und rechts von der Schlucht ragten schlanke Fichten hoch in den Himmel, der sich heute wieder einmal in jenem tiefen, dunklen Blau zeigte, wie er nur im Gebirge zu finden war.

Stefan warf sofort seine Angelrute aus, denn er wollte heute unbedingt etwas fangen, nachdem es die letzten Male nicht geklappt hatte. Er war ein leidenschaftlicher Angler.

Lore machte es nichts aus, dass er nun sicher eine Stunde lang etwas entfernt von ihr mit weit ausholenden Bewegungen die Angelschnur in das schäumende Wasser schleudern würde, um mit Würmern die Forellen anzulocken. Sie musste dann nur noch ein wenig Holz für die Feuerstelle sammeln. Aber das hatte noch Zeit, denn es war ja nicht sicher, ob Stefan das Anglerglück überhaupt hold sein würde. So lag sie erst einmal faul auf dem Bauch, den Kopf in die Hände gestützt, und beobachtete ihren Liebsten, wie er unermüdlich seine Angel auswarf. Sie betrachtete seinen tief gebräunten breiten Rücken, das Spiel seiner geschmeidigen Muskeln, wenn er wieder und wieder die Rute auswarf. Endlich hatte er einen Fisch gefangen und drehte sich nun lachend zu Lore um. »Jetzt brauchen wir Feuerholz, damit wir ihn braten können«, rief er ihr erleichtert zu.

Lore freute sich mit ihm und sprang auf. Sie suchte im Wald nach ein bisschen Reisig und dürrem Holz. Schnell hatte sie einen Arm voll zusammen und trug es zu der kreisrunden, aus Bachsteinen zusammengesetzten Feuerstelle, die sie vor ein paar Wochen gebaut hatten.

Stefan strahlte sie an, als sie aus dem Wald kam. Er nahm den Fisch gerade sorgfältig aus und fragte Lore, ob sie auch nicht das Salz vergessen hätte.

»An alles gedacht«, erwiderte sie lachend. »Sogar einen Kartoffelsalat hab ich heute früh noch gemacht. Er ist im Rucksack, im Schatten.«

Stefan entfachte ein Feuer, nachdem er die Forelle ausgenommen hatte. Er hatte die Stelle sorgfältig ausgewählt, nahe am Wasser und weit weg vom Wald, damit nichts passieren konnte, denn ein Waldbrand war bei der momentanen Trockenheit schnell entfacht. Dann briet er den Fisch, indem er ihn an einem langen Stecken über das Feuer hielt. Lore erfrischte sich inzwischen noch einmal in dem eiskalten Tümpel.

Ohne viel zu reden aßen sie wenig später den wohlschmeckenden Fisch und den Salat. Ihren Durst stillten sie mit dem klaren, sauberen Wasser aus dem Bach, indem sie es einfach aus den Händen tranken.

Nach ihrer Mahlzeit wurden sie müde und legten sich in die Sonne, die noch hoch am Himmel stand. Stefan hielt dabei ihre Hand, die ihm jedoch schnell entglitt. Er war eingeschlafen.

Lore betrachtete verliebt sein Gesicht, während er schlief. Zärtlich strich sie ihm eine Strähne seines dunkelbraunen Haares aus der Stirn, auf der kleine Schweißperlen standen.

Er bemerkte es, schlug die Augen auf und ergriff wieder ihre Hand, um sie an seinen Mund zu führen und zu küssen. Er sah den Schimmer in ihren Augen, der ihm sagte, dass sie ihm ganz gehören wollte. Er zog sie zu sich herunter, von Leidenschaft erfüllt. Alle Bedenken, Sorgen, Ängste, die sie im Alltag so oft belasteten, schwanden endgültig dahin. Er spürte ihr weiches Haar auf seinem Gesicht und roch die herbe Frische ihrer Haut.

Die Sonne hatte sich inzwischen immer weiter nach Westen geneigt, ihre Strahlen fielen nun gedämpft durch die Zweige der Bäume in die breite Schlucht. Noch immer lagen sie auf dem flachen Fels, blickten in den blauen Himmel. Sie sprachen kaum etwas, waren auch ohne Worte glücklich.

Es fiel ihnen ein, dass sie heute noch zu dem Feuerwehrfest wollten.

Nur schwer konnten sie sich von ihrem Liebesnest trennen, doch der Blick auf Stefans Armbanduhr und der sich ausbreitende Schatten mahnten zum Aufbruch.

Stefan raffte sich zuerst auf, küsste dabei noch einmal Lores Stirn, ihre Wangen, ihren Hals, dann erhob er sich und suchte sein Angelzeug zusammen.

Nun erhob sich auch Lore, und so wie die Schatten nun die Schlucht durchdrangen, schlichen sie sich auch in ihre Seele.

»Warum muss das Leben nur so kompliziert sein«, dachte sie wehmütig, »warum schleichen sich Ängste und Sorgen gerade dann wieder ins Herz, wenn man kurz zuvor so glücklich gewesen ist?« Sie wusste, dass es darauf keine Antwort gab, dass das Leben einfach so unberechenbar war.

Lore traten plötzlich Tränen in die Augen, die sie sich nicht erklären konnte. Es war doch nichts anderes geschehen, als dass Stefan und sie sich geliebt hatten und dass es wunderschön gewesen war. Sie war sich seiner Liebe doch sicher. Warum also diese Ängste, diese Zweifel, die sie immer wieder einholten, so oft sie diese auch verscheuchte?

Stefan bemerkte ihre Niedergeschlagenheit und warf ihr einen verwunderten Blick zu.

»Was hast du denn auf einmal?«, fragte er sie besorgt.

»Mir ist nur wieder einmal klar geworden, wie sehr ich dich liebe«, erwiderte sie leise und sah ihn dabei hilflos an.

»Und deshalb bist du traurig?« Stefan versuchte zu lachen, doch es gelang ihm nicht ganz.

»Ich habe einfach Angst, dass dieses Glück nicht von Dauer sein wird«, gestand sie ihm und blickte nun an ihm vorbei.

»Wie kommst du denn darauf!«, rief er aus. »Warum sollten wir nicht ein Leben lang zusammenbleiben? Wir lieben uns doch. Wir gehören zusammen.«

Lore wischte sich schnell mit einer trotzigen Handbewegung die Tränen aus den Augenwinkeln. »Du bist so klug«, erwiderte sie nun mit leisem Spott, »und denkst doch kein bisschen weiter. Was wirst du denn tun, wenn du mit deinem Studium fertig bist? In Hinterbrand versauern und in einer kleinen Bankfiliale arbeiten?«

»Natürlich nicht«, musste er kleinlaut zugeben.

»Und was soll dann aus uns werden, wenn du in die Stadt ziehst? Vielleicht willst du sogar nach Amerika«, rief sie heftig aus.

»Wer redet denn von Amerika?«, erwiderte er, aber seine Stimme klang immer noch unsicher.

Lore merkte es. Sie hatte wohl ins Schwarze getroffen. Sicher hatte er sich bisher keine Gedanken darüber gemacht.

»Wenn ich eine gute Arbeit in München bekomme, wovon ich ausgehe, dann wirst du doch mitkommen«, meinte er schließlich, »und wenn nicht, dann ist es auch kein Problem. Bis jetzt ist es doch auch gut zwischen uns gegangen, auch wenn wir uns nur an den Wochenenden sehen.«

Lore blickte wieder an ihm vorbei. »Wenn es nur München ist«, dachte sie ein wenig beruhigt, »dann könnte es schon gehen.« Sie könnte es schon akzeptieren, dass sie sich nicht jeden Tag sahen. Bis jetzt war es ja auch so gegangen. Dahingehend hatte er recht. Trotzdem konnte er sie nicht ganz überzeugen, blieb ein beunruhigender Nachgeschmack.

Ihre vollen Lippen, die ihn gerade noch so hingebungsvoll geküsst hatten, entspannten sich ein wenig. Sie ordnete sich das blonde, halblange Haar und band es im Nacken zusammen.

»Lore«, redete Stefan wieder auf sie ein, »mach dir doch nicht so viele Gedanken um die Zukunft. Wenn sich zwei Menschen lieben, werden sie immer einen Weg finden.«

»Ja«, erwiderte sie sinnierend, »vielleicht sollte ich wirklich nicht so sehr an die Zukunft denken, sondern nur in der Gegenwart leben.«

»Du sollst schon an die Zukunft denken«, widersprach er, »aber du sollst dich nicht so um die Zukunft sorgen. Es wird alles gut. Was machst du dir nur immer solche Gedanken?« Er ging zu ihr hin, umarmte sie. Dieses Mal ohne Leidenschaft, dafür umso einfühlsamer und zärtlicher. »Und jetzt lass uns diesen Sommer genießen«, sagte er zu ihr. »Am Montag schreibe ich meine letzte Prüfung, dann kommt noch die mündliche, und dann habe ich es geschafft. Bald bin ich jeden Tag bei dir. Ein langer herrlicher Sommer liegt jetzt vor uns, der nur uns beiden gehört.«

Wieder traten Lore Tränen in die Augen, aber dieses Mal lag Zuversicht in ihnen. Sie liebte Stefan, und sie vertraute ihm. Für heute hatte er sie überzeugt, was die Zukunft brachte, wusste sie nicht, wollte sie jetzt auch nicht wissen. Ein halbes Jahr waren sie nun bald zusammen. Dabei fiel ihr ein, dass sie noch nicht einmal bei Stefan zu Hause war. Der Lechnerhof lag weit ab vom Dorf in der Einöde, hoch oben am Berg.

»Warum ist nicht er es, der den Hof übernimmt«, musste sie denken, »warum sein Bruder Georg? Wie viel leichter wäre alles, wenn es anders herum liegen würde.« Doch sie teilte ihm diese Gedanken nicht mit. Sie meinte nur: »Ich sollte endlich einmal zu euch auf den Hof kommen, um mich vorzustellen.«

»Bis jetzt hast du das nie gewollt«, erwiderte er mit gerunzelter Stirn, »ich hab es dir mehr als einmal vorgeschlagen.«

»Dann lass es uns gleich morgen hinter uns bringen«, meinte Lore schmunzelnd.

»Warum musst du es ›hinter dich bringen‹? Meine Eltern sind keine Menschenfresser. Freilich hat meine Mutter bei uns daheim die Hosen an. Sie redet halt ein wenig viel, da muss ich dich jetzt schon warnen. Und sie tut recht fein«, fügte er grinsend hinzu.

»Ich kenne deine Mutter«, antwortete Lore schmunzelnd. »Irgendwie sind meine Mutter und deine sogar über ein paar Ecken herum miteinander verwandt. Frag sie doch einmal.«

»Oh Gott! Hoffentlich können wir beide dann auch heiraten!« rief Stefan mit gespieltem Entsetzen aus.

»Ich glaube, meine Großmutter und deine Großmutter waren Cousinen. Dann müsste es schon gehen«, ging sie auf seinen Scherz ein.

Sie schwiegen nun, genossen die letzten Minuten an diesem stillen, verschwiegenen Ort. Nur ganz selten verirrten sich Wanderer hierhin, der Platz gehörte ihnen allein. Von ihrer Klause aus blickten sie nun auf das breite, überwiegend trockene Bachbett, auf die Gumpe, die im Abendlicht nicht mehr türkisfarben leuchtete, sondern sich nun in einem dunklen Grün zeigte. Sie blickten auf die Moose und Farne, die sich auf dem Waldboden wie ein feuchter grüner Teppich den Berg hinaufzogen. Der Abendwind fuhr durch die Baumkronen, braune Nadeln rieselten auf das weiche, dunkle Moos, das jetzt, da die letzten Sonnenstrahlen die Schlucht streiften, mystisch aufleuchtete. Dann erlosch der Zauber, und es wurde sofort dämmrig im Wald.

»Lass uns endlich aufbrechen«, meinte Stefan und erhob sich nun endgültig, nachdem sie noch eine Weile sitzend die Stille genossen hatten.

»Müssen wir heute Abend auf das Feuerwehrfest? Ich würde viel lieber hier bleiben und mit dir in die Sterne sehen. Nur wir beide! Wäre das nicht schön?« Lore blickte verträumt vor sich hin.

Er warf ihr einen liebevollen Blick zu. »Ich möchte das auch. Aber schon in einer Stunde wird es empfindlich kalt hier oben, trotz der Tageshitze. Wir haben keine Jacke dabei, und ich denke mir, dass nicht einmal ich es schaffe, dich die ganze Nacht über warm zu halten.«

Lore stand seufzend auf. »Dann lass uns gehen, bevor ich es mir wirklich noch anders überlege.« Sie packte die Reste des Proviants in ihren Rucksack, und Stefan goss vorsorglich mit den Händen noch einmal Wasser in die Asche. Dann kämpften sie sich eine Weile durch das Dickicht, bis sie zu der Forststraße kamen, an der sie ihre Räder abgestellt hatten. Nun ging es nur mehr bergab.

»Ich habe es dir noch nicht gesagt«, meinte Stefan ein wenig schuldbewusst, als sie unten im Dorf waren, »aber ein paar Kommilitonen von mir werden heute beim Fest auftauchen. Ich hoffe, du hast nichts dagegen. Sie werden auch ihre Freundinnen mitbringen.«

Lore verzog ein wenig das Gesicht. Sie hatte diese Studienkollegen schon einmal kennen gelernt und mochte sie nicht besonders, wenn es denn dieselben waren.

»Der Beni und der Karl«, ergänzte Stefan, »ich glaube nicht, dass ich sie dir schon einmal vorgestellt habe. Der Beni wohnt in Bad Reichenhall, und der Karl stammt aus Traunstein.«

»Dann sind das andere«, dachte Lore erleichtert, »vielleicht sind die nicht so arrogant.«

»Nein, die kenne ich nicht«, antwortete sie.

Beim Dorfbrunnen blieben sie stehen, denn dort schieden sich ihre Wege. Stefan musste jetzt noch durch das Dorf fahren, auf die andere Talseite und dann noch weit den Berg hinauf, bis er beim elterlichen Hof angekommen war.

»Also dann bis acht Uhr«, sagte er. »Mach dich hübsch.«

»Für deine Freunde?«, fragte sie ihn keck.

»Nein, nur für mich«, rief er ihr zu und trat in die Pedale.

Sie sah ihm noch kurz hinterher, dann radelte auch sie weiter. Es dauerte keine fünf Minuten, dann war sie auf dem Buchbergerhof angekommen.

***


Als Lore auf das Fest kam, zog sie viele bewundernde Blicke auf sich. Sie sah auch wirklich reizend aus in ihrem dunkelblauen Dirndlkleid, das so gut zu ihrer Augenfarbe passte. Das silberblonde Haar trug sie hochgesteckt, und sie hatte sich ein ganz klein wenig geschminkt, was sie sonst nie tat. Obwohl Stefan sie um Haupteslänge überragte, war auch sie nicht klein und besaß eine sportliche, schlanke Figur.

Stefan, der mit seinen Freunden nahe beim Eingang saß, winkte ihr zu, als er sie erblickte. Sie war froh darüber, nicht durch das ganze laute Zelt gehen zu müssen, wo sie überall erkannt und begrüßt würde. Sie war nicht schüchtern, aber jede Selbstdarstellung lag ihr fern, bedeutete ihr zumindest nichts.

Von Stefans Freunden wurde sie schon ein wenig bierselig begrüßt. Sie unterhielt sich anfangs auch recht gut, obwohl dies aufgrund der lauten Musik und des Stimmengewirres nicht einfach war. Es wurde viel gelacht und gescherzt.

Doch dann, im Laufe des Abends, vertiefte sich Stefan immer mehr in eine nicht enden wollende Fachsimpelei mit seinem Freund Beni, und Lore kam sich allmählich ziemlich überflüssig vor. Sie verspürte jedoch keine Lust, sich zu anderen Bekannten an den Tisch zu setzen, obwohl sie mit vielen befreundet war. Sie langweilte sich plötzlich und sah immer wieder auf die Uhr. »Dieser Tag ist so schön gewesen«, dachte sie, »als ich mit Stefan ganz alleine bei der Gumpe war. Sie dachte daran, wie leidenschaftlich und zärtlich sie sich heute Nachmittag geliebt hatten. Dabei blickte sie Stefan an, doch er bemerkte es nicht. Sie sah es ihm lächelnd nach, dass er sie gerade ein wenig vernachlässigte, wenngleich sie sich für diesen wunderbaren Tag einen würdigeren Ausklang gewünscht hätte.

Dann fiel ihr Blick zufällig auf ihren Bruder, der ein paar Tischreihen von ihr entfernt saß, und den sie bisher noch gar nicht wahrgenommen hatte. Vielleicht war er später gekommen, oder sie hatte ihn einfach noch nicht gesehen. Lore stellte schnell fest, dass er schon ziemlich angetrunken war. Er hielt ein Mädchen im Arm, das sie noch nie in Hinterbrand gesehen hatte. Sie war ziemlich stark geschminkt, und ihr schrilles Lachen drang bis zu Lore herüber. Voll Abscheu wandte sich Lore von dem Paar ab. Sie wollte jetzt nur mehr heim. Doch Stefan schien sie vergessen zu haben. Er debattierte und debattierte mit seinem Freund, als ginge es um die Quadratur des Kreises. »Morgen werden wir uns ja wiedersehen«, dachte sie und überlegte, ob sie sich nicht einfach so davonschleichen sollte. Sicher würde er lange nicht merken, dass sie gar nicht mehr am Tisch saß. Sie dachte auch daran, Stefan zu unterbrechen, aber dann, als ihr Blick wieder auf ihren Bruder fiel, der völlig außer Rand und Band war, hatte sie nur mehr den einen Wunsch: Raus aus diesem stickigen, überfüllten Zelt, weg von dieser lauten Musik, dieser übermütigen, langsam außer Kontrolle geratenen Meute und vor allen Dingen: weg von ihrem Bruder, der sich hier so schamlos aufführte, während seine Braut schwanger zu Hause saß. Gerade seinen Anblick konnte sie nicht mehr ertragen. Wenn sie sich jetzt von Stefan und den anderen verabschiedete, würde man versuchen sie zurückzuhalten. Deshalb verließ sie ohne ein Wort den Tisch, und nur Benis Freundin bemerkte, dass sie mit Jacke und Handtasche zum Ausgang ging.

Sie entfernte sich immer weiter von dem Festzelt, und es wurde ihr wohler dabei. Sie war wirklich kein Kind von Traurigkeit, aber heute wollte sie von Anfang an nicht auf dieses Fest gehen. Sie wusste selbst nicht, warum. Vielleicht hatte sie schon so eine Ahnung gehabt, dass es für sie eine Enttäuschung werden würde. Sie schlenderte durch das kleine Dorf, das ziemlich verlassen wirkte. Entweder waren die Leute auf dem Fest oder schon im Bett. Beim Dorfbrunnen blieb sie stehen und blickte zum dunklen Nachthimmel empor. Da war kein Stern mehr zu sehen, dafür zuckten ein paar Blitze am westlichen Horizont, und gleich darauf hörte sie lautes Donnergrollen. »Es wird doch heute nicht noch ein Gewitter geben«, dachte sie gerade, dann hörte sie etwas entfernt, wie jemand ihren Namen rief. Es war Stefan. Er kam schnell auf sie zu.

»Warum rennst du denn einfach weg, ohne ein Wort zu sagen?« Er warf ihr einen verständnislosen Blick zu. Lore spürte, wie fremd er ihr in diesem Moment war, als ob dieser herrliche Nachmittag bei der Gumpe nur ein Traum gewesen wäre.

»Ich hab es einfach nicht mehr ausgehalten. Außerdem hast du dich ja nur mit deinem Freund unterhalten«, beschwerte sie sich.

»Entschuldige.« Stefan lenkte sofort ein. Sein Blick wurde nun mild und auch ein wenig schuldbewusst. »Ich hab mich wirklich zu wenig um dich gekümmert. Sei mir nicht bös, und komm doch wieder zurück. Es ist doch noch nicht einmal elf Uhr.«

»Ich bin dir nicht bös. Aber ich geh nimmer zurück. Hast du meinen Bruder gesehen? Er ist betrunken und amüsiert sich mit einer fremden Frau. Dabei ist er verlobt und wird Vater! Ich kann das einfach nicht länger mit ansehen.«

»Ja, ich hab ihn gesehen«, gab Stefan zu. »Er führt sich wirklich unmöglich auf.«

»Das ist so schäbig!«

»Dann geh zurück und stell ihn zur Rede«, meinte Stefan.

Soll ich ihm jetzt eine Szene machen? Damit die Leute noch mehr zu tratschen haben? Lore schüttelte energisch den Kopf. »Nein, Stefan, du musst für den Rest des Abends auf mich verzichten. So Leid es mir tut.«

Er schien sie nun zu verstehen und nickte. Wieder zuckte ein Blitz über den nachtschwarzen Himmel, wieder donnerte es. »Ein Gewitter scheint im Anzug zu sein. Dann werde ich lieber auch aufbrechen.« Er sah sie an, zog sie an sich. »Es tut mir so Leid, dass es dir heute Abend nicht gefallen hat. Du hast dich extra so schön gemacht.«

Lore senkte den Kopf. »Mir tut es Leid, dass ich dich enttäuscht habe. Du hast dich sicher auf das Fest gefreut.«

Stefan zuckte mit den breiten Schultern. »Ich hab meinen Freunden versprochen, dass ich komme. Eigentlich mach ich mir auch nichts aus solchen Festen. Vielleicht bin ich auch schon gesellschaftlich verdorben, weil die Studenten so viel feiern«, setzte er grinsend hinzu.

Doch Lore blieb ernst und schien mit ihren Gedanken woanders zu sein. Stumm stand sie da, blickte in das dunkle Wasser des Brunnens.

So wurde auch Stefan wieder ernst und musterte sie aufmerksam. »Manchmal möchte ich wissen, was hinter deiner schönen Stirn so vor sich geht«, murmelte er. Und als sie immer noch schwieg, setzte er hinzu, was er schon gestern zu ihr gesagt hatte: »Du bist ein seltsames Mädchen und unergründlich.«

»Das bildest du dir ein«, antwortete sie leise. »Ich bin ganz normal, wie jede andere in meinem Alter auch.«

»Du bist anders«, widersprach er, »aber wenn du nicht anders wärst, dann würde ich dich auch nicht so lieben. Doch du gibst mir immer wieder Rätsel auf, und du machst mir das Leben auch nicht immer leicht.«

»Nur, weil ich mir Gedanken mache?«

»Vielleicht machst du dir einfach zu viele Gedanken«, erwiderte Stefan nachdenklich.

»Und du dir vielleicht zu wenig.« Lore sah ihn an, doch sie lächelte jetzt. »Geh zurück zu deinen Freunden. Ich glaube, das Gewitter wandert woanders hin, will nichts von Hinterbrand wissen«, scherzte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich werde jetzt auch heimgehen.«

»Ich hab dir also den Abend verdorben?« Sie warf ihm einen schuldbewussten Blick zu.

Wieder schüttelte er den Kopf. Er umarmte sie, drückte sie an sich. »Sehen wir uns morgen?«

»Wenn du willst?« Sie warf ihm einen leicht herausfordernden Blick zu.

»Na, und ob! Ich hol dich am Nachmittag mit dem Auto ab. Dann stell ich dich endlich meinen Eltern vor. Sie fragen eh schon immer, wann du einmal zu uns auf den Hof kommst.«

Lore nickte. »Dann gute Nacht, Stefan.« Sie entzog sich seiner Umarmung und drehte sich von ihm weg.

Er sah ihr nach, wie sie sich schlank und biegsam und doch mit festem, zielsicherem Schritt von ihm entfernte. Eine nicht zu definierende Unruhe erfasste ihn dabei, eine Angst, sie könnte ihm wieder fortlaufen, würde ihm nicht mehr gehören. Er versuchte diese Angst zu verdrängen, aber sie hielt ihn in dieser Nacht gefangen, auch in seinen Träumen. Erst als er am nächsten Morgen erwachte, als die Sonne in sein Zimmer schien, glättete sich seine umwölkte Stirn wieder, und er blickte voll Freude und Erwartung in den erwachenden Tag.

2

Der Lechnerhof war einer der höchstgelegenen Bauernhöfe in der Region. Der Familie gehörten gute hundert Tagwerk Wald und ein altes, von Obstbäumen umstandenes Gehöft.

Die Fassade des großen Wohnhauses war seit über hundert Jahren die gleiche, doch innen war der Hof immer wieder renoviert und modernisiert worden. Er war umgeben von steil ansteigenden Wiesen und einem großen Mischwald im Norden. Die zum Besitz gehörenden Weizen- und Maisfelder lagen etwas flacher und niedriger nahe dem Dorf. Wie die Holzbalkone des Buchbergerhofes waren auch hier im Sommer die schmiedeeisernen Geländer mit üppig blühenden Geranien geschmückt. Das Schönste war jedoch der idyllische Bauerngarten, in dem den ganzen Sommer über Gemüse, Kräuter und Blumen im Einklang miteinander prächtig gediehen. Zurzeit blühten vor allem Levkojen und Margeriten.

Eigentlich hießen die Besitzer des Lechnerhofes Gutsjahr, denn die Bäuerin hatte einen Schweizer dieses Namens geheiratet. Doch Gutsjahr sagte keiner im Dorf zur Familie, da waren sie nur die Lechnerbauern.

Der Winter kam hier oben immer ein wenig früher und der Frühling später als unten im Dorf. Aber wenn der ›Lenz‹ kam, dann konnte es nirgends schöner sein als hier oben, nahe dem Rechenberg, hinter dem um diese Jahreszeit die Sonne aufging. Seit Urzeiten war das so, und es würde wohl auch noch in Tausenden von Jahren so sein. Auch dann noch, wenn es den Lechnerhof schon lange nicht mehr geben würde.

Zum Hof gehörte ein schmales Austragshaus. Das Erdgeschoss hatten die Vorfahren aus grauen, runden Bachsteinen erbaut, verbunden mit gelöschtem Kalk. Der erste Stock bestand aus Lärchenholz, das mit den Jahrzehnten immer dunkler wurde. Auch dieses kleine Haus besaß einen Balkon, über den rote Geranien hingen.

Das Austragshäusl wurde nun schon seit fünfzig Jahren von Oktober bis Mai von Therese Bachler, genannt Theres, bewohnt. Den Sommer über war sie als Sennerin auf der Rossalm, die sich im Hochplattengebiet befand. Im Hochsommer zeigt sich die Alm sonnig, je weiter es jedoch in den Herbst hinein geht, umso später erreichen die Sonnenstrahlen das Plateau, dann kann es schon einmal Mittag werden, bis die Schatten weichen. Um diese Jahreszeit ziehen auch die schweren, weißen Nebel von den Gipfeln, Scharten und Karen herunter, und das Gras, auf dem die Kühe weiden, bleibt den ganzen Tag über nass.

Da wusste Theres, dass es Zeit war, die Viecher ins Tal hinunterzubringen.

Doch jetzt war es Juni, und der Almsommer begann erst.

Stefan stand am Fenster seines Zimmers und blickte auf die bunt gesprenkelte Wiese, die sich vor seinen dunklen Augen auftat. Auf den zarten Halmen zitterten Tautropfen, und ein süßer Wohlgeruch von Wildkräutern drang bis zu seinem Fenster, dessen Flügel er weit geöffnet hatte. Seit er in München studierte, wurde ihm die Schönheit seiner Heimat so richtig bewusst. Früher hatte er sie als ganz selbstverständlich angesehen. Mit ihr war er aufgewachsen, ohne sich viel dabei zu denken. Er hatte sie als Kind zum Spielen und als Jugendlicher für den Sport benutzt, denn Bergsteigen und Bergradeln waren schon immer seine große Leidenschaft gewesen. Nun, da er die ganze Woche über in der Studentenstadt lebte, in einem dunklen Zimmer bei ständig eingeschaltetem elektrischen Licht, mit Blick auf einen gepflasterten Innenhof, den nur Mülltonnen zierten, wusste er seine Heimat erst so richtig zu schätzen.

Der Tag versprach wieder schön zu werden. Immer mehr Gipfel und Zinnen begannen nun im strahlenden Licht der aufgehenden Sonne zu leuchten. Die warme, silberne Flut wanderte langsam talwärts, übergoss zuerst die Almen, dann die blühenden, steilen Frühsommerwiesen, die noch vor der ersten Mahd standen, und schließlich den Hof. Nun überstrahlte sie den Bauerngarten, Haus, Stall und Tenne, ließ die alten, weißen Mauern, die grünen Fensterläden und das rote Schindeldach hell aufleuchten. Auch das Zuhaus, das länger im Schatten stand, wurde nun von ihr erfasst.