Nicola Förg ist im Oberallgäu aufgewachsen und studierte in München Germanistik und Geographie. Sie lebt mit vielen Tieren in einem vierhundert Jahre alten denkmalgeschützten Bauernhaus im Ammertal. Als Reise-, Berg-, Ski- und Pferdejournalistin ist ihr das Basis und Heimat, als Autorin Inspiration, denn hinter der Geranienpracht gibt es viele Gründe zu morden – zumindest literarisch. Im Emons Verlag erschienen ihre Kriminalromane »Schussfahrt«, »Funkensonntag«, »Kuhhandel«, »Gottesfurcht«, »Eisenherz«, »Nachtpfade«, »Hundsleben«, »Markttreiben« sowie die Katzengeschichten »Frau Mümmelmeier von Atzenhuber erzählt«.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlung, Personen und manche Orte sind frei erfunden. »Gut Sternthaler« existiert nicht, und an der beschriebenen Stelle gibt es auch kein Anwesen. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
© 2008 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany 2010
ISBN 978-3-86358-034-6
Oberbayern Krimi
Originalausgabe
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Für Maxi –
Freundschaft ist keine Frage der Quantität
der zusammen verbrachten Tage,
sondern der Qualität der Stunden.
PROLOG
»Kindness to animals is the
hallmark of human advancement;
where it appears, nearly everything
else can be taken for granted.«
Grey Owl, eigentlich Archibald (Archie)
Stansfeld Belaney
Es lag ihm im Blut – die Liebe zu Tieren, die Sehnsucht nach der Weite der Indianerwälder. Wie viele Jungs wollte er ein Indianer sein; er durchstreifte tagelang die Wälder rund um Hastings an der englischen Küste, weniger zur Begeisterung seiner Tanten, die ihn aufzogen. Nach seinem Schulabschluss begann er in einem Holzhandel zu arbeiten, wo er seinen Chef und die Mitarbeiter ständig foppte, Aufträge falsch ausführte und schließlich entlassen wurde. Zähneknirschend finanzierten die Tanten schließlich 1906 die Überfahrt nach Kanada.
Er jobbte in Toronto, das half zwar nicht, seine Sehnsucht zu stillen, brachte aber Geld ein. Damit reiste er in den Norden Ontarios, und die harte Realität entsprach nicht dem Traumbild seiner Kinderzeit. Von Moskitos aufgefressen zu werden, klatschnass geregnet, bei minus fünfundvierzig Grad im Freien zu übernachten, war anders als sein Traumbild. Er lernte den Trapper Bill Guppy kennen, der dem Jungen Tricks und Kniffe fürs Überleben in der Wildnis verriet. Und da zeigte Belaney Biss und Einsatz, er wurde in kürzester Zeit zu einem erfahrenen Trapper. Er begann sich mit den Ojibway-Indianern anzufreunden und nahm den Namen Grey Owl (Wa-Sha-Quon-Asin, »Vogel, der nachts wandert«) an. 1910 heiratete er eine Ojibway-Indianerin und bekam zwei Töchter. Er versuchte mit aller Macht, seine englischen Wurzeln zu vergessen. Er verleugnete nicht nur vor sich selbst, Engländer zu sein, sondern erfand eine komplett neue Vita und behauptete, ein Halbblut zu sein.
Mit einer gewissen Beunruhigung nahm er das Vordringen des weißen Mannes wahr, obwohl dem eine gewisse Schizophrenie zugrunde lag, denn auch er war ein weißer Mann. Für sich nahm er durchaus in Anspruch, dass er vom Fallenstellen und vom Verkauf der Biberfelle leben durfte.
Mit dem Ersten Weltkrieg meldete sich Grey Owl als Freiwilliger, wurde schwer verwundet und durch Giftgas verletzt. Er landete in einem Lazarett in Hastings, wo seine Tanten sich um ihn kümmerten. Die Tanten waren mit der jungen, bezaubernden Balletttänzerin Ivy Holmes bekannt, der Jugendliebe von Archie, und ganz nach Plan der Tanten verliebte sie sich erneut in den abenteuerlichen Exoten. Er heiratete sie 1917, obwohl er in Kanada bereits verheiratet war. Grey Owl reiste kurz nach der Hochzeit nach Nordontario, Ivy hatte mit Wildnis nichts am Hut, sondern strebte eine Bühnenkarriere an. Sie verkehrten nur per Brief miteinander, und schließlich gestand er ihr, dass er bereits rechtsgültig verheiratet war – Ivy Holmes ließ ihre Ehe wutentbrannt annullieren.
Traumatisiert vom Krieg war Grey Owl noch mehr überzeugt, dass die Zivilisation nur das Schlechteste im Menschen hervorbrachte. Aber auch in Kanada rückte ebendiese Zivilisation vor, Prospektoren und Bodenspekulanten hatten sein Paradies längst verhökert und aufgeteilt. Sie beuteten Bodenschätze gnadenlos aus, und rein geschäftsmäßig wirtschaftende »Biberfell-Unternehmen« dezimierten den ehemals reichen Biberbestand fast bis auf null. Für einen allein agierenden Fallensteller wie Grey Owl wurde das Überleben schwierig.
Er zog sich immer weiter in die Wildnis zurück, verbittert, zerrissen zwischen den Welten. 1925 lernte der nun sechsunddreißigjährige Grey Owl eine neunzehnjährige Mohawk-Indianerin kennen. Sie folgte ihm in seine Fallenstellerhütte. Grey Owl, nach wie vor verheiratet, ließ sich mit Gertrude in einer indianischen Zeremonie trauen. Er nannte sie Anahareo. Die sensible junge Frau litt sehr unter dem Töten der Tiere, und als Grey Owl eine Bibermutter fing und damit zwei kleine Biber auf dem Gewissen hatte, kam die Wende. Anahareo bestand darauf, die Waisen großzuziehen. Von den kleinen Tieren bezaubert, beschloss Grey Owl das Trapperleben aufzugeben und sich dem Naturschutz zu widmen, ja sogar eine geschützte Biberkolonie aufzubauen.
Grey Owl und seine Frau waren in finanziellen Nöten, der Winter war hart, und Grey Owl war wie getrieben von seiner Angst, das letzte Paradies wieder zu verlieren. Sein Kopf war voller großer Gedanken, und dann begann er zu schreiben. »Why should the last of the silent places be destroyed ruthlessly whilst we stand by in listless apathy without making an effort? … We need an enrichment other than material prosperty, and to gain it we have only to look around at what our country has to offer.« Er schrieb während dieses Winters 1929 eine Naturerzählung für die englische Zeitschrift »Country Life«. Die Herausgeber waren so begeistert, dass sie einen großzügigen Scheck schickten und die Option auf eine Autobiographie eröffneten. Sein erstes Buch hieß »The Men of the Last Frontier«, er schrieb zudem für britische und kanadische Magazine. Die Welt hörte auf den Indianer und seine Sätze voller Wahrheit und Zauber. Ein mörderischer Stundenplan folgte: Lesereisen in Europa und den USA, Alkoholexzesse, Phasen fast manischen Schreibens bestimmten sein Leben. Er war unendlich weit weg vom kanadischen Wald, weit weg von seinem eigentlichen Lebensplan. Wegen seiner Zeitschriftenbeiträge und seines Ruhmes wurde die kanadische Nationalparkbehörde auf ihn aufmerksam und bot ihm Arbeit als Naturschützer an. Grey Owl zog mit seiner Frau und den Bibern zunächst in den Riding-Mountain-Nationalpark in Manitoba. Er empfand sein Arbeiten dort aber als zu eingeschränkt und bat um Versetzung in den Prince-Albert-Nationalpark in Saskatchewan.
Die Beaver Lodge, seine Hütte am Ajawaan-Lake, steht noch immer. Hier entstanden sein Bestseller »Pilgrims of the Wild« (1934) und einige weitere Werke sowie seine Kurzgeschichten mit dem Titel »Tales of an Empty Cabin« (1937). Er starb 1938 im Alter von nur fünfzig Jahren an einer Lungenentzündung im Hospital in Prince Albert. Einen Tag nach seinem Tod enthüllte der »Toronto Star« Grey Owls wahre Identität. Dass er Brite gewesen war. Seine Fangemeinde fühlte sich geprellt, war sie doch einem falschen Wilden aufgesessen. Was war er nun? Ein Betrüger? Oder ein großer Poet der Wildnis?
Er hatte das Beste gewollt und war als Tierschützer mit großem Sendungsbewusstsein an einem gescheitert: daran, eben auch nur ein Mensch zu sein!
EINS
Es war wieder so weit. Es war unvermeidbar, und es griff um sich wie eine Seuche. Am ersten Tag nur einmal, bald schon im Zweistundenrhythmus, um sich im furiosen Finale des vierten Advents dann so zu steigern, dass man es nahezu minütlich ertragen musste. »Last Christmas I gave you my heart, but the very next day you gave it away.« Es whamte wieder, und unweigerlich drängten sich da Bilder von George Michaels Achtziger-Jahre-Föhn-Inferno-Frisur vors innere Auge und jedes Bild dieses Videos, das Aliens – sollten Außerirdische mal Jahrmillionen später landen und die Überreste einer Zivilisation entdecken – in schiere Bestürzung treiben würde. Es war wieder so weit: Die stufenweise Weihnachtswahnsinnseskalation hatte die Endzeit erreicht.
Es war Weihnachtsmarkt in Weilheim, der ausnahmsweise entgegen der üblichen Terminierung am letzten Adventswochenende stattfand. Gerhard hatte frei und hatte sich zu einem Frühschoppen auf dem Markt eingefunden. Er hatte erfolgreich ein Gespräch bei den Bürgern von Weilheim abgeblockt und seiner Vermieterin Gundula glaubhaft versichert, dass er leider gar keine Zeit für ein Referat bei der Hausaufgabenbetreuung von sozial schwachen Kindern habe. Er hatte sich auch dem Eine-Welt-Laden verweigert, wo er eine Petition für einen Mann im fernen Sezuan hätte unterzeichnen sollen, etwas von »als Polizist keine politischen Äußerungen machen« murmelnd. Sezuan, war das nicht irgendwas mit Gulasch? Ach nein, das war Szeged, Sezuan hatte doch meist mit Schweinefleisch süßsauer zu tun. Was ihn daran gemahnte, dass er Hunger hatte. Um sicherzugehen und nicht in die kulinarische Vegetarierfalle bei den Betroffenenständen zu tappen, orderte er eine Leberkassemmel in der Metzgereifiliale, unweit vor deren Eingang zwei Schafe ein lebendes adventliches Bild abgaben, was Gerhard so Tür an Tür mit der Metzgerei doch eher bizarr fand. Er schlenderte rüber zu den blauen Jungs, schneidigen Burschen der Marine, die alljährlich hier waren. Immerhin gab es ja das Küchenminensuchboot Weilheim. Die blauen Jungs mit dem hervorragenden Glühwein, die ihrem Namen immer alle Ehre machten! Er hatte seinen Glühwein zur Hälfte leer getrunken, als sein Handy, dem er die bayerische Kulthymne »Vogelwiese«, eingespielt von den Schönberger Musikanten, als Klingelton verliehen hatte, sich meldete. Es war Melanie Kienberger, eine Kollegin, mit der er in diversen Sokos zu tun gehabt hatte. Gerhard lauschte mit zunehmender Beunruhigung.
»Melanie, was habe ich damit zu tun? Das ist wohl kaum Sache der Mordkommission«, sagte Gerhard. Das Schluchzen am anderen Ende war so laut, dass er unwillkürlich das Handy vom Ohr weghielt.
»Die sind doch alle krank. In Schongau haben alle die Magen-Darm-Grippe, die Füssener können wegen Glatteis nicht fahren, da ist das in Weilheim gelandet. Bei mir und Felix. Ich schaff das nicht, ich schaff das nicht, da hab ich Sie angerufen.« Der Rest ging in einem erneuten Schluchzen unter.
»Melanie, beruhigen Sie sich! Ich komme!« Na, das war ja toll. Nun musste er, sozusagen als Freundschaftsdienst, in die Einöde fahren. Er überlegte noch kurz, den Kollegen in Schongau zu informieren, aber er beschloss doch, erst hinterher vorbeizufahren. Hinter was nur? Das klang nämlich nicht gut, gar nicht gut. Das klang nach Ekel, und das klang, so viel war klar, nach verdammtem Medienrummel, sofern Melanie nicht übertrieben hatte. Und es klang nach einer Scheißfahrerei an irgend so einen Weltenarsch. Dieser Landkreis Weilheim-Schongau war für Gerhard immer noch ein Buch mit gewissen Siegeln, und wohin er nun berufen wurde, das hatte er wahrlich noch nie gehört.
»Hinter der Wieskirche«, hatte Melanie gesagt, »aber nicht über die Wieskirche zu erreichen.« Da Gerhard sich immer geweigert hatte, ein Navi zu verwenden, und auf seine alten Landkarten bestand, würde das ein echter Spaß werden, denn seine Karten stammten aus den achtziger Jahren und waren zumeist wegen Colaüberflutungen verpappt. So wie sich das allerdings anhörte, brauchte man in dem Fall eher eine Wanderkarte.
Es nieselte vor sich hin, Gerhard nannte so ein Wetter »hohe Luftfeuchtigkeit«. Er war nun mal Optimist. Er hastete durch die Fußgängerzone, sein Auto stand auf dem Parkplatz des Weilheimer Tagblatts. Weil er so ein netter Bulle war, hatte er mal von einem Redakteur ein paar der Ausfahrtsmarken erhalten, in einer retsina- und ouzoseligen Verbrüderungsaktion im Dionysos, beim kleinen Griechen Toni.
Das Wetter war wirklich eins für viel Weihnachtsmarktglühwein oder für Bettdecke über den Kopf – oder beides. Keines für eine Ausfahrt. Wie fuhr man eigentlich auf dem schnellsten Weg nach Steingaden?, fragte er sich und registrierte, dass er nach über drei Jahren im Oberland immer noch weiße Flecken auf der inneren Landkarte hatte. Zumindest wusste er seit seinem letzten Fall, wie man von Schönberg nach Echelsbach gelangte, wo Jo und Kassandra nach wie vor ihre Wohngemeinschaft hatten. Und von der unseligen Selbstmörderbrücke gleichen Namens ging es ab nach Steingaden. Jo und Kassandra – die beiden mit all ihren Viechern –, für sie musste das der Alptraum sein, was ihn nun erwartete. Sofern Melanie nicht übertrieben hatte.
Als er auf Höhe Wildsteig war, wurde es stürmischer. Der Wind zerrte an seinem Bus, aber auch an den Wolken, die ab und zu einer blauen Lücke Platz machten. Gerhard stellte fest, dass auf einmal Schnee lag, gar nicht mal so wenig. Plötzlich war Winter, Schneewinter, Sturmzeit. In Steingaden bog er nach links ab, ganz durch den Ort müsse er fahren und am Schild mit den vielen Namen abbiegen. Was damit gemeint war, ging Gerhard am Ortsende auf: So schnell konnte man gar nicht lesen, zu viele Namen standen da. Fronreiten, Schlatt, Gogel – Hiebler war auch dabei gewesen. Das Sträßchen war eng und kurvig, und es wand sich unmerklich bergauf. Und als wolle Steingadens wildes Hinterland Werbung für sich machen, riss der Himmel auf. Der Blick ging über einen zugefrorenen Tümpel und hinein in die Allgäuer Alpen – alles wie im Bilderbuch.
Gerhard kam an eine Abzweigung, aha, da ging’s nach Hiebler. Definitiv, hier war er noch nie gewesen; er bezweifelte, ob hier überhaupt je Fremde gewesen waren. Das war ja eine … Er stutzte: gottverlassene Gegend? Nein, das eigentlich nicht, es war wohl vielmehr so, als hätte Gott hier eine gute Lobby: Feldkreuze, Kruzifixe an den Häusern, Lüftlmalerei mit biblischen Motiven.
Die Straße führte in ein kleines Tal hinab, wo jemand augenscheinlich ein Bauernhaus mit viel Liebe renovierte, und wieder hinauf nach Hiebler. Ein paar Höfe, eine enge Ortsdurchfahrt, ein Hund bellte, eine rote Katze huschte über die Straße. »Weiter auf der Teerstraße«, hatte Melanie gesagt, »vielleicht fünfhundert Meter, dann geht’s rechts in den Wald. Aber da steht dann eh ein Schild.« Da stand ein Schild, zweifelsfrei: »Gut Sternthaler«. Der blaue Himmel hatte soeben den Kampf gegen die Wolken verloren, schlagartig wurde es dunkler.
Gerhard rüttelte über einen Schotterweg und hielt, stieg langsam aus und sog die Atmosphäre mit einem langen Blick in sich auf. Es ging ein wirklich frischer Wind, so einer, der augenblicklich durch alle Klamotten kroch. Fröstelwetter, zumal das Haus da im Wald einem unwillkürlich Schauer über den Rücken jagte. Es war von einer hohen Mauer umgeben, gekrönt mit Stacheldraht. Kameras richteten ihre neugierigen Augen auf jeden Ankömmling. Das Tor stand offen. Das Haus selbst war ein altes Gutshaus oder besser ein großes Bauernhaus, das unter wild wucherndem Efeu zu ersticken drohte. Es war ein typisches Einhaus, westseitig war der ehemalige Stalltrakt, der vor sich hin bröselte. Einige wie zufällig platzierte Schuppen und Nebengebäude wirkten, als hätte ein Riese Bauklötzchen auf den Boden geworfen. Bei schönem Wetter im Sommer mochte das romantisch wirken, momentan hatte es was von der »Rocky Horror Picture Show«, irgendjemand von der »Addams Family« würde gleich auftauchen oder »der Hund von Baskerville«. Nebel war nun auch aufgezogen.
Und das Hundebellen klang schauerlich. Es kam von der Ostseite des Hauses, wo sich Hundehäuser mit davorliegenden Zwingern anschlossen; in Reih und Glied standen sie, das Ganze wirkte mehr wie eine Ferienhaussiedlung denn wie ein Tierasyl. Die Hundehäuschen waren in weit besserem Zustand als das Haus, und Gerhard rieselte es eiskalt den Rücken hinunter. Er sah schnell weg und richtete den Blick wieder auf das Haupthaus. Im gekiesten Hof standen ein Sanka, ein Notarztwagen und ein Polizeiauto. Melanie lehnte am Wagen, weiß wie eine frisch gekalkte Wand. Felix Steigenberger stand abseits, er hantierte mit einer Tempopackung, es war augenscheinlich, dass er sich übergeben hatte. Melanie machte einen Schritt auf ihn zu, sie wirkte wie ferngesteuert.
»Ist gut, Melanie. Warum ist der Notarzt hier?«, fragte Gerhard.
»Die Frau dahinten ist komplett zusammengebrochen. Das ist so, so …« Melanie begann wieder zu weinen.
»Ist gut, Melanie«, sagte Gerhard nochmals und reichte ihr einen Flachmann. »Kräftiger Schluck, ich nehm das auf meine Kappe. Geben Sie Steigenberger auch einen.« Er fummelte wieder in der Jacke. »Pfefferminz, kann er vielleicht auch brauchen.«
Gerhard ging auf den Sanka zu, wo eine Frau lag, die völlig apathisch wirkte. Eine Infusion tropfte, der Arzt sprang elastisch aus dem Wagen.
»Haben Sie die Schweinerei schon gesehen?«, fragte er.
Gerhard schüttelte den Kopf.
»Das ist widerlich, die einzige Bestie im Tierreich ist der Mensch. Kennen Sie Nietzsche? Der hat mal gesagt: ›Ich fürchte, die Tiere betrachten den Menschen als ein Wesen ihresgleichen, das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Tierverstand verloren hat.‹« Der Arzt zog angewidert die Mundwinkel hoch.
»Die Dame?«, fragte Gerhard.
»Ist, glaub ich, die Zweite Vorsitzende des Ganzen«, sagte der Arzt.
»Ansprechbar?«
»Keine Chance, wir mussten sie stark sedieren. Sie war völlig hysterisch, hat hyperventiliert, dann ist ihr Kreislauf kollabiert. Wir bringen sie nach Schongau. Ich denke, am Abend sollten Sie mit ihr reden können.«
»Danke«, sagte Gerhard und wandte sich nun doch den Hundezwingern zu. Zögerlich ging er näher. Das Gebell wurde wieder lauter, ein junger Mann war dabei, Hunde aus ihren Zwingern zu holen, sie anzuleinen. Wobei »Zwinger« ein sehr tiefstapelnder Terminus war. Das waren Luxusherbergen. Jeder der Hunde hatte eine Art Ferienhaus mit davorliegender Betonterrasse und einem Wiesenstück. Gerhard sah den jungen Mann fragend an.
Der junge Mann streckte Gerhard die Hand hin. »Moritz Niggl. Ich will die einen …« Seine Stimme brach. »Sie sind total verstört, sie müssen doch die anderen nicht so sehen.« Tränen traten in seine Augen.
»Haben Sie sie entdeckt?«, fragte Gerhard.
»Ja, ich trete jeden Morgen um acht meinen Dienst an, heute war ich erst um zehn da. Ich hatte verschlafen. Wenn ich früher da gewesen wäre, wer weiß …« Er starrte zu Boden, um seine Tränen zu verbergen. »Normalerweise hören die Hunde schon mein Auto. Es ist ein Gebelle, eine Freude. Heute Morgen war es totenstill.«
»Was haben Sie dann getan?«
»Die Frau Eisele angerufen und die Polizei.« Moritz kämpfte immer noch mit den Tränen.
»Frau Eisele?«
»Die Zweite Vorsitzende, die Frau im Sanka. Sie war keine echte Hilfe. Sie ist total zusammengeklappt, ich musste mich um sie kümmern. Ich hab dann gleich noch den Notarzt verständigt.«
»Sonst haben Sie alles gelassen, wie es war?«, fragte Gerhard.
»Ja, war das nicht gut?«
Er sah Gerhard mit seinen rehbraunen Augen an. Hundeaugen, lange Wimpern, ein hübscher Kerl, dieser Moritz Niggl. Trotz seiner fünf Millimeter kurzen Haare oder gerade deshalb.
»Doch, sehr gut. Sehr umsichtig von Ihnen. Ist Ihnen irgendwas aufgefallen, war irgendwas anders?«
»Nein, wie immer, nur diese Stille, es war so unerträglich still!« Er wischte sich kurz über die Augen.
»Wie kommen Sie denn durch das Tor? Das Haus wirkt auf mich sehr gut gesichert«, sagte Gerhard.
»Ich habe eine Steckkarte und muss einen Code eingeben.« Niggl fummelte in seiner Latzhose und reichte Gerhard die Karte.
»Aha, wer kann denn noch das Tor öffnen?«
»Frau Pfaffenbichler, Herr Eicher, Frau Eisele und ich.« Tränen rannen ihm noch immer übers Gesicht, er hatte die Hand auf den Kopf eines Schäferhundmischlings gelegt.
»Können die Hunde irgendwohin?«, fragte Gerhard.
»Ja, ich habe mit einer unserer Gönnerinnen gesprochen. Sie nimmt sie auf. Es sind ja nicht mehr so viele.« Nun begann er richtig zu weinen.
Gerhard legte ihm linkisch die Hand auf die Schulter. Weinende Frauen waren ihm schon ein Gräuel, aber heulende Männer? »Kann ich Sie irgendwo erreichen?«
Der junge Mann nickte und holte noch eine Karte aus seiner Arbeitslatzhose. »Handy steht drauf.«
Dann ging er, sieben Hunde an der Leine. Große und kleine, er wirkte wie einer dieser Walker, die in Großstädten wie München die Hunde viel beschäftigter Berufstätiger ausführten. Aber das war kein netter Spaziergang an der Isar oder im Englischen Garten, das war Flucht, die Vertreibung aus dem Paradies. Der größte Hund war ein schlaksiger Irish Wolfhound, der auf einmal stehen blieb und zurücksah. Über die Zwinger blickte er, und dann schaute er Gerhard an. Lange. In den Augen des Tieres lag ein so tiefer Schmerz, dass Gerhard versucht war, wegzusehen. Aber er hielt dem Blick stand. In dem Moment zerbrach etwas in ihm, aber es erwachte plötzlich ein neuer Wille in ihm. Der Wolfhound hatte die Rute ganz kurz gehoben, das war kein Wedeln, aber ein Lebenszeichen. Dann drehte er sich um und trottete neben den Seinen her.
»Ich erwische sie. Für dich, Kumpel!«, sagte Gerhard leise, und dann musste er den Blick auf das richten, was er bisher nur aus den Augenwinkeln registriert hatte. Insgesamt gab es zwanzig dieser Luxus-Hundezwinger. Sechs schienen leer gewesen zu sein, sieben Hunde zogen mit dem jungen Mann von dannen, sieben waren noch da. Sie hatten Galgen errichtet, alle akkurat gleich hoch, zwei Meter, schätzte Gerhard, Querbalken, Stützbalken – Galgen aus hellem Holz, sie sahen brandneu aus. Eine Galgenparade wie im Holzfachmarkt. Sie hatten die Hunde aufgeknüpft, große und kleine. Das Schlimmste war ein Jack Russell. Er hing da seltsam verdreht, die Zunge aus dem Maul … Hatte er noch verzweifelt um sein kleines Hundsleben gekämpft? Gerhard fror, ihm war übel, und dann auf einmal stieß er einen Schrei in die neblige Dämmerung hinaus. Es war wie Wolfsgeheul, und Gerhard sah nochmals die Augen des Wolfhounds. Das hier war anders. Das hier war Frevel. Ein Massaker an Schwachen.
ZWEI
Ein Mann war neben ihn getreten. Er trug eine Latzhose, ein Thermohemd und Lodenstiefel, eine Mütze mit Fendt-Aufdruck.
»Des san Irre«, sagte er nur.
Als würde ihn das retten, als würde ein Mensch, ein klarer Mensch ihn heilen können, fühlte Gerhard sich gleich besser.
»Eicher, Flori, ich bin der Nachbar, ich helf ab und zu aus, ich liefer Fleisch und so«, sagte der Mann.
»Weinzirl, Gerhard, Kripo«, sagte Gerhard. Dann standen die beiden Männer nur da. Eicher stopfte sich bedächtig eine Pfeife.
»Seit wann sind Sie da, Herr Eicher?«, fragte Gerhard nach einer langen Weile.
»Ich bin dazugekommen, als der Notarzt durch den Ort fuhr. Und Blaulicht und so. Wir waren grad beim Aufräumen, hatten ein Fest am Hof, meine Frau hatte Geburtstag. Ich hatte so ein ungutes Gefühl, dass was auf dem Gut los ist. So viel kommt ja dann nicht mehr dahinten.« Er machte eine Bewegung in Richtung des Hohen Trauchbergs, der wie ein bedrohlicher schwarzer Dinosaurierrücken den Himmel verdeckte und die Sicht auf die Alpen abriegelte.
»Wann war das?«, fragte Gerhard.
»Gegen elf. Ein Mordsaufzug. Wollte sehen, ob ich was helfen kann. Sie sind ja dann auch bald danach gekommen.«
Das glaubte ihm Gerhard sogar, der Mann wirkte nicht wie ein Schaulustiger, der neugierig war und Maulaffen feilhielt. Gerhard hätte so viel fragen können, ja müssen, aber er fühlte sich wie gelähmt. Die Worte wollten nur sehr zähflüssig von seinen Lippen abtropfen. »Können Sie sie abhängen?«, fragte er schließlich.
Der Mann nickte bedächtig. »Soll ich sie begraben? Ich mein, ist das erlaubt, bei so vielen?«
»Sicher ist das erlaubt«, sagte Gerhard und wusste, dass er log. »Ich würde gerne mal in das Haus gehen. Können Sie bitte dableiben, damit ich dann noch mit Ihnen reden kann?«
»Sicher, ich warte. Ich häng sie jetzt mal ab.«
Wie das klang, nach Waschgluppen und »Keiner wäscht reiner«-Werbung. Gerhard vermied es, zurückzusehen. Melanie und Felix sahen beide etwas frischer aus, und obgleich Gerhard hier wahrlich nicht zuständig war, spürte er, dass die beiden auf eine Weisung warteten, darauf, dass jemand den Überblick hatte, Struktur in den Irrsinn brachte. »Fahrt ihr jetzt mal ins Büro, Protokoll und so, ich klär das mit Schongau. Verschwindet!«
Als das Polizeiauto gefahren war, senkte sich eine ungute Stille über den Hof. Die Haustür stand offen, eine schwere Holztür war das, die in einen dunklen Gang führte. Gerhard fand einen Lichtschalter, der augenblicklich die Welt in gleißende Helle tauchte. Halogen-Lichtobjekte tanzten über dem blütenweiß gekalkten Gang, italienische Terrakottafliesen lagen zu seinen Füßen. War das Anwesen von außen auch marode, innen hatte jemand beim Renovieren weder Geld noch Aufwand gespart. Gleich rechts gab es eine Art Empfangsraum, Wartezimmer, Stüberl – wie immer man das nennen wollte. Ein schwerer Holzschreibtisch, der allein wahrscheinlich ein Vermögen wert war, stand da, dazu waren eher moderne Sessel in Türkis arrangiert. Hier wurden wohl Interessenten empfangen. Ein dicker Ordner lag auf dem Tisch. Gerhard begann zu blättern. Hier waren die Schicksale der einzelnen Hunde detailliert beschrieben. Zu detailliert, wie Gerhard fand. Einer hieß Pueblo und war ein Galgo, eine spanische Rasse für Hunderennen.
Langsam begann Gerhard zu lesen:
»Win«, englisch für »gewinnen« – das sollen die Windhunde auf den Rennbahnen auf der ganzen Welt, und viel Geld sollen sie einbringen. Dem Besitzer, dem Wetter und dem Staat, denn der verdient am kräftigsten an den schnellen Hunden. Bloß sind sie nicht alle schnell, oder sie waren mal schnell und kommen dann in die Jahre – und das ist beim Windhund schon mit drei oder vier Jahren. Dann sind sie nutzlos und werden entsorgt, im nettesten Fall gehen sie in sogenannte Dog Pounds, in denen sie ein Tierfreund binnen einer Woche abholen könnte, was selten geschieht. »Glück« haben die, die eingeschläfert oder erschossen werden, weniger Glück jene, die ertränkt werden oder einfach irgendwo angebunden, wo sie qualvoll verhungern und verdursten. Tierversuchslabors sind erfreut, wenn ihnen abgetakelte Windhunde verkauft werden. Und die Restaurants, denn Hunde, die zum Beispiel auf Südkoreas Bahnen ausgemustert werden – pikanterweise von einem großen Autohersteller und einem Elektronikkonzern dorthin geschafft –, werden gegessen. Auch pikant: Hunderennen wurden in der EU aus dem Landwirtschaftsetat finanziert, bis nicht zuletzt Tierschützerproteste aus Deutschland mit etwa 42 000 Unterschriften dem Ganzen 1999 ein Ende machten. Die EU fand ein Schlupfloch, nun ist der Etat für »Kunst, Sport und Tourismusförderung« zuständig. Am schlimmsten in Spanien: Viva España, das Urlaubsland voller Kultur und Badespaß – so präsentiert sich Spanien den Touristen. Und dann stellen Sie sich vor, Sie gehen in einem lichten mediterranen Wald spazieren und sehen einen Baum, an dem ein Hund aufgehängt ist. Der Hund genügt den Anforderungen des Besitzers nicht mehr und wird hingerichtet. Wenn er am Ende seiner Rennkarriere ungehorsam war oder schlechte Rennen lief, wird er nicht »einfach aufgehängt«, sondern so, dass er mit den Zehenspitzen noch trippeln kann, vier Tage lang kann der Todeskampf dauern, tanzen nennen das die Spanier!
Pueblo war so einer gewesen, eine Touristin hatte ihn gerettet, dafür, dass er hier nun in der trügerischen Sicherheit aufgeknüpft worden war. Er hatte neben dem Jack Russell gehangen. Gerhard spürte eine nie gekannte Machtlosigkeit, dann brandete eine Welle von Wut heran. Er machte sich nicht viel aus Tieren, aber er machte sich viel aus Fairness.
In einem Aufsteller an der Tür gab es Postkarten mit Hundefotografien, jeder der Hunde sah direkt in die Kamera. Große Augen, viel zu große Augen. Auf diesen Postkarten waren Zitate schlauer Menschen abgedruckt.
»Das Mitgefühl mit allen Geschöpfen ist es, was Menschen erst wirklich zum Menschen macht.«
Albert Schweitzer (ev. Theologe, Arzt u. Philosoph, 1875–1965)
»Wir schenken unseren Hunden ein klein wenig Liebe und Zeit. Dafür schenken sie uns restlos alles, was sie zu bieten haben. Es ist zweifellos das beste Geschäft, das der Mensch je gemacht hat.«
Roger Andrew Caras (1928–2001, Präsident des britischen Tierschutzvereins)
»Die Größe und den moralischen Fortschritt einer Nation kann man daran messen, wie sie ihre Tiere behandelt.«
Mahatma Gandhi
Es war nicht gut um den Fortschritt bestellt, dachte Gerhard bitter. Nicht gut um diese Nation bestellt, wenn er das Massaker da draußen bedachte. Gerhard begann durch die anderen Räume zu streifen: Küche todschick, die Speis’ nur spärlich gefüllt, ein Wohnraum: pure Chrommoderne inmitten alter Mauern. Dann eine Art Wintergartenanbau, der als Atelier diente. Die Bilder auf den Staffeleien waren schreiend bunt, sie waren schrill, laute Bilder, nichts, was Gerhard auch nur eine Sekunde zu lang hätte betrachten wollen.
Im Obergeschoss gab es fünf Zimmer, zwei waren zu Abstellräumen verdammt, zwei waren Schlafzimmer, auch hier teures Mobiliar, und ein Raum diente als begehbarer Kleiderschrank. Im Gegensatz zur leeren Speis’ war das hier mehr als opulent. Jede Boutique war weniger gut sortiert, und auch wenn Gerhard nun kein Spezialist für Damenoberbekleidung war – das Zeug sah teuer aus. Spätestens hier, in diesem Raum, verdichtete sich eine vage Idee zur Gewissheit. Hier hatte jemand alles durchwühlt, ein anderer hatte wieder aufgeräumt. Aber so, als wäre er in großer Eile gewesen, so aufgeräumt, dass es nicht gleich ins Auge stach, dass hier Vandalen gehaust hatten.
Von unten war eine Stimme zu hören. »Herr Weinzirl, ich wär’s dann.«
»Komme.«
Gerhard löschte die Lichter und stapfte die Treppe hinunter. Eicher stand im Gang, irgendwie verloren unter den Halogenstrahlern.
»Haben Sie?«, fragte Gerhard.
Er nickte. »Ja, ich hab noch ein kleines Kreuz, ich mein … ich bin sonst nicht so, in der Landwirtschaft verrecken dauernd Viecher …« Er brach ab.
Gerhard verstand ihn, verstand ihn zu gut. »Können wir uns irgendwo setzen?«
»In Moritz’ Büro?«, fragte Eicher, der sich im Haus sichtlich unwohl fühlte.
»Sicher. Kann man hier irgendwie absperren?«, fragte Gerhard.
»Ziehen Sie einfach zu, das ist ein Sicherheitsschloss. Die Frau Eisele hat auch ‘nen Schlüssel, das ist die Frau, die im Sanka …«
Eicher neigte dazu, seine Sätze nicht zu beenden, aber warum sollte er auch, es war ja alles gesagt, was als Info nötig war. Draußen war es stockdunkel, ein Bewegungsmelder tauchte den Hof ebenfalls in gleißendes Licht.
»Ganz schön viel Sicherheitsbedürfnis«, meinte Gerhard.
»Sie hatte wenig Freunde. Aber diese Sauerei hat sie auch nicht verhindern können. Da huift koa Stacheldraht ned«, brummte Eicher.
Gerhard war Eicher gefolgt; eines der Nebengebäude war so eine Art Kommandozentrale: Computer, Fütterungslisten für die Tiere, es gab einen Lagerraum für Futter, fast eine kleine Metzgerei, wo Frischfutter zubereitet wurde, alles nur vom Feinsten. Eicher hatte aus dem Kühlschrank zwei Bier von der Aktienbrauerei Kaufbeuren geholt. Dieselross hieß das Bier mit Bügelverschluss.
»Passt zu Ihrem Käppi«, meinte Gerhard.
»Sie kennen sich mit Bulldogs aus?« Eicher strahlte.
»Na ja, mein Onkel sammelt Veteranen, er hat ein Fendt Dieselross, einen alten Aicher, einen Allgeier und ‘nen 52er Kramer mit Schwungrad.«
Nachdem die beiden eine Weile über Traktoren geplaudert hatten, nachdem sich eine gewisse konzentrierte Ruhe über Gerhard gesenkt hatte, hob er an: »Sie sagten, sie hätte wenig Freunde. Sie?«
»Ja, die Frau Pfaffenbichler, der gehört das Ganze.« Und nach und nach erfuhr Gerhard, dass Frau Pfaffenbichler wohl sehr vermögend war und »Zeit hatte für Gekrakel und das Ehrenamt«. Aus jedem anderen Mund hätte das gehässig geklungen, bei Eicher hörte sich das völlig neutral an. Frau Pfaffenbichler war Künstlerin, hatte diesen Hundeschutzhof initiiert, beschäftigte Tierpfleger Moritz und hatte in der Zweiten Vorsitzenden des Vereins Erika Eisele wohl eine Art rechte Hand.
»Die Pfaffenbichlerin war mehr so mit den Großkopferten und den Schauspielern bekannt, die Eisele hat die Arbeit gemacht.«
Wieder lag keinerlei Wertung in Eichers Stimme. Gerhard erinnerte sich vage, auch schon mal über den Schutzhof gelesen zu haben – immer im Zusammenhang mit Prominenten. Er hatte nie einordnen können, wo das Anwesen eigentlich lag, das die Reichen und Schönen dazu animierte, die Geldbörsen zu zücken und Schecks auszuschreiben.
»Und wo ist die Dame Pfaffenbichler?«, fragte Gerhard.
»Die Leut sagen, sie sei weggefahren, mit Bildern. Zu ‘ner Ausstellung, irgendwas mit Werni…, hat meine Frau gesagt.«
»Eine Vernissage, wo denn?«, fragte Gerhard.
»Keine Ahnung, weg eben«, sagte Eicher. »So, ich müsst jetzt dringend in den Stall. Brauchen Sie mich noch?«
»Nein, vielen Dank. Ich find Sie, wenn’s nötig wär …?
»Glei mitten in Hiebler, der Hof mit dem neuen Laufstall. Pfia Gott, Herr Weinzirl. Da können Sie auch einfach die Tür zuziehen.«
Sie waren beide nach draußen gegangen, es war stockfinster, aber als Eicher nur einen Schritt tat, gingen wieder Lichter an. Nebel waberte in den Lichtkegeln, es war kalt. Kalt wie in einer Gruft, nasskalt, eine Grabeskälte. Er würde jetzt erst mal klären müssen, wie das hier weiterzugehen hatte. Das war ein Vergehen nach dem Tierschutzgesetz, kein siebenfacher Mord. Das waren eben nur Tiere. Siebenfache Sachbeschädigung, nicht Gerhards Ding. Da waren die Uniformierten zuständig.
Gerhard war schließlich nach Schongau gefahren. Die PI war wirklich so was von notbesetzt. Der Kollege Fischle hielt die Stellung.
»Sie trotzen dem Virus?«, fragte Gerhard und sah den Kollegen mitfühlend an.
»Ja, Unkraut vergeht nicht. Herr Weinzirl, was machen Sie hier?«
»Sie wissen ja, dass Weilheim zu diesem Hundehof gefahren ist. Die Kollegin hat die Szenerie nur sehr schwer aushalten können, ich bin dann ebenfalls rausgefahren.«
Fischle runzelte die Stirn. »Was ist denn da draußen passiert?«
Gerhard umriss kurz das Geschehnis, berichtete von seinen Gesprächen mit Moritz Niggl und Florian Eicher. »Wirklich scheußlich«, schloss Gerhard, »aber ich will mich da nicht in Ihre Zuständigkeiten einmischen. Das war sozusagen nur eine erste Hilfe.«
»Sie sehen ja meine personelle Situation, mischen Sie ruhig. Der KHK in Weilheim wird ja wissen, dass Sie da sind?«, fragte Fischle.
»Ja, der bin ich momentan selber. Der Kommissariatsleiter ist im Urlaub. Karibik, er hasst Winter.«
Beide blickten aus dem Fenster, ja, Karibik – das wäre jetzt was.
»Kennen Sie denn diese Frau Pfaffenbichler? Diesen Hof?«, fragte Gerhard.
»Ja, ich war fast schon versucht zu sagen: Leider. Da gibt es immer wieder mal Probleme, vor allem wegen Verkehrsdelikten. Die Besucher des Guts nehmen allzu oft die gesperrte Straße hinter der Wies, die Anlieger sind ziemlich schlecht auf die Dame zu sprechen.«
»Na, dann wird sich ja bald einer finden, der für diese Sauerei zuständig ist. Ich beneide Sie nicht, Herr Kollege.« Gerhard verabschiedete sich und versprach noch, einen Bericht zu schicken.
DREI
»Sozusagen die Transzendenz des Naturalismus«, sagte die Dame in einem Kleid im Stil der siebziger Jahre gerade und blickte tief beseelt durch ihre schwarzrandige Brille. Einige Blitze zuckten auf, Journalisten schrieben eifrig mit. Jo hatte den Blick auf das angesprochene Bild gerichtet und unterdrückte ein Schmunzeln, denn das hier war ja schließlich nicht einfach irgendeine Vernissage in einer namenlosen Galerie, auch kein fröhliches Malen nach Zahlen. Volkshochschulabschlussfest, das war die Bayerische Vertretung in Berlin. Bis 1989 hatten die Devisen der DDR dort gelagert, nun war es bayerische »Botschaft«, wie Jo scherzhaft formuliert hatte.
Jo war etwas überrascht gewesen, als die Einladung gekommen war. Sie war mit einer Abordnung bayerischer Touristiker hier, eingeladen vom Bundespresseamt. Mit von der Partie war der Zitherklub aus Peißenberg, dessen Oberzitherer definitiv nicht der politischen Richtung des Abgeordneten anhing, selbigen aber als Menschen und Peißenberger nicht unrecht fand. Geladen waren auch einige Honoratioren des Skiklubs Partenkirchen und des Trachtenvereins Huglfing, der bereits im Zug in vollem Trachtenornat angetreten war. Höchst faszinierend fand Jo die Größe der Koffer der männlichen Teilnehmer, halbe Überseekoffer waren das. Aber sie offenbarten bald ihr Innenleben. Biertragerl und Speck – so eine Fahrt konnte ja lang werden.
Gleich zu Beginn war die Reise auch zu einer Werbetour der DB geworden. Hatten sie sich doch im Bistro ein Bierchen bestellt, das sie aber nicht sitzend im direkt angrenzenden und völlig leeren Restaurant hatten trinken dürfen. Denn nur wer im Restaurant zu Restaurantpreisen bestellt, hat damit auch ein Anrecht auf einen Sitzplatz. Den Vorstoß eines fidelen Trachtlers, den Aufpreis zu zahlen, fand die Dame mit dem sächsischen Zungenschlag gar nicht witzig. Und so wurden sie dann des Bistros verwiesen.
In Berlin hatte sie der Bus namens Bayern Express aufgelesen und gleich mal in die Bayerische Vertretung gefahren. Berlin, ein einziges Werbeplakat; speziell der orbital-exorbitant große Passat auf der Charité überzeugte Jo zumindest davon, niemals einen VW zu kaufen. Den ersten Abend saßen sie in der rustikalen Bierstube, wo unter der Decke die Wappen aller bayerischen Landkreise aufgemalt waren. Es gab Buletten. Jawohl, die gab es auch an jedem weiteren Tag – mal mit Püree mit Sägemehlgeschmack, mal mit öligen Bratkartoffeln und mal mit fadem Kartoffelsalat. Wahrscheinlich war die Parole ausgegeben worden, dass das Essen günstig zu sein hatte. Immerhin ließ sich der Staat den Trip ja sonst was kosten. Und gut, dass der Trachtenverein den Speck dabeihatte!
Sie waren am Wannsee gewesen, in just jenem Raum, wo die Wannseekonferenz die »Judenfrage« erläutert hatte. Mittags Buletten mit Leipziger Allerlei. Sie hatten die Gedenkstätte Berliner Mauer besucht, abends Buletten. Anderntags war es in Stauffenbergs Arbeitszimmer gegangen und ins Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen. Die Führung hatte ein ehemaliger Häftling gemacht, die anschließenden Buletten wollten da sowieso niemand so recht schmecken.
Heute nun Vernissage. In der Weinstube Franken, wo ein umlaufendes Fresko Tiere als Menschen mit all ihren Eitelkeiten karikierte. Und ebendiese »tierische Location war ein Brückenschlag zum Werk der Künstlerin«, hatte die Laudatorin gleich zu Anfang geschwafelt. Einige Bilder hingen hier, andere auch in der Bierstube, die sie ja schon kannten. Diese Leanora Pia Pfaffenbichler war ja so produktiv und galt bei Insidern als die progressivste Tiermalerin nach Picasso. Die Transzendenz des Naturalismus, nun ja … Jo erkannte in dem Bild weniger den »gepeinigten rumänischen Straßenhund, dessen Blick das Wehklagen der Kreatur auf eine solch eindrückliche Weise zeigt, dass Schauer des Entsetzens den Betrachter beuteln«. Jo erfasste eher Durst, es war heiß und stickig hier drin. Und gebeutelt fühlte sie sich eher durch die Unsäglichkeit der Veranstaltung.
Sie ließ den Blick schweifen: Die Huglfinger Trachtler waren auch nicht so richtige Kunstfreunde, wie es schien. Einer der jüngeren popelte in der Nase. Er hatte gestern einem wildfremden Mädchen vor dem Reichstag seine Hosenträger verkauft, für hundertfünfzig Euro; seine Oma, die daran wahrscheinlich tausend Stunden gestickt hatte, würde ihn dafür lieben – und enterben. Der Oberzitherer gab sich interessiert, aber immerhin hatte ihn gestern eine Japanerin ungefähr tausendmal in Tracht fotografiert und »I love you« geflötet. Die Antwort hatte »Ei ju a« gelautet. Doch, dieser ganze Trip trug ein gewisses Amüsement in sich – bis auf das hier.
Sie hatte bereits eine Lesung von bayerischen Mundartgedichten im Franz-Sperr-Raum erduldet – begleitet von einer Panflöte. Mit Panflöte assoziierte Jo eigentlich eher peruanische Jungs mit bunten Ohrenklappenmützen mitten in deutschen Fußgängerzonen. Vor den Fronten der immer gleichen Modekettengeschäfte, die es von Flensburg bis Garmisch gab, schlimmer noch: in ganz Europa. »El Cóndor Pasa«! Aber das Ganze war eben multikulti und politically correct, und da wäre ein Hackbrett einfach als zu bayerisch erschienen. Schließlich präsentierte man sich als Laptop-und-Lederhosen-Bundesland. Als Mundart-und-Mandolinen-Country.
Gemessen an Pfaffenbichlers »transzendentem Hund« und den anderen Schauerlichkeiten war die Lesung ein echtes Gedicht gewesen. Zudem hatte Jo Hunger, es war später Nachmittag, die letzten Buletten lagen lange zurück, das Mittagessen war ausgefallen. Kein normaler Mensch veranstaltete eine Vernissage am Nachmittag!