Zum Buch
Er zählt zu den großen deutschen Expressionisten: Ernst Barlach schuf weltbekannte Skulpturen und blieb ein rätselhafter Künstler, seine Schöpfungen wirken erdschwer und schwebend zugleich. Gunnar Decker zeichnet das faszinierende Porträt des Mannes, der ebenso Archaiker wie Avantgardist war und dessen Leben wie kaum ein zweites die Verheißungen und Abgründe des 20. Jahrhunderts widerspiegelte. Es beschreibt das Drama eines Einzelgängers, der den Krieg hasste und sich zeitweilig zu Hitler bekannte – und dessen Existenz schließlich von den Nationalsozialisten zerstört wurde, die ihn als »artfremden Künstler« brandmarkten. Die erste große, meisterhaft erzählte Biographie des berühmten Künstlers.
Zum Autor
Gunnar Decker, 1965 in Kühlungsborn geboren, wurde in Religionsphilosophie promoviert. Er lebt als Autor in Berlin, veröffentlichte vielfach gelobte Biographien unter anderem zu Hermann Hesse, Gottfried Benn und Franz Fühmann sowie das Geschichtsbuch »1965. Der kurze Sommer der DDR«. Zudem ist er Filmkritiker und Redakteur der Zeitschrift Theater der Zeit. 2016 wurde er mit dem von der Berliner Akademie der Künste verliehenen Heinrich-Mann-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien »Franz von Assisi. Der Traum vom einfachen Leben« (2016).
GUNNAR DECKER
Ernst Barlach
DER SCHWEBENDE EINE BIOGRAPHIE
Siedler
Im Traum fliege ich oft.
Ernst Barlach
PROLOG
Der Mann mit dem Totengräbergesicht
KAPITEL I
Umwege
Die Welt als Sensation und Stätte der Verwechslung
Quellen des Glücks und des Unglücks: Ton kneten oder Anna lieben?
Die ungeliebte Gewerbeschule in Hamburg
Dresden und der Atem großer Kunst
Ausgesetzt im Nirgendwo: ein Jahr in Paris
Friedrichroda und Hamburg. Das Drama des Einzelgängers
Töpfern, Schreiben und Warten in Wedel
Als Lehrer in Höhr im Westerwald. »Keinerlei Rheinbegeisterung«
Die »tote Hölle« Berlin
KAPITEL II
Fernstraßen und Landwege
Die Reise nach Russland
Erste Ernte
Der Kampf um Sohn Klaus. Vatervergottung in »Der tote Tag«
Florenz oder Der Süden so karg
Theodor Däublers »erhabene Hysterie« und der südliche Traum vom »Nordlicht«
Der Kunsthändler Paul Cassirer
KAPITEL III
Waldwege und Exerzierplätze: Güstrow
Weltekel und Selbstmörderphantasien in »Der arme Vetter«
Der menschenferne Kunstfreund Albert Kollmann
Kriegsausbruch Sommer 1914. Barlach und Paul Cassirer im Rausch
Kriegsersatzdienst im Kinderhort
Als Musketier in Sonderburg
Wieder Zivilist. Der inwendig gewordene Krieg
KAPITEL IV
Moses
Erste große Nachkriegsausstellung bei Cassirer in Berlin. Däubler über Barlach
Moses, der Gesetzgeber. Kapp-Putsch in Güstrow und neue Beschwerlichkeiten
Tod der Mutter
»Ein hiesiger junger Herr Schult«
Grabmale. Erste Arbeiten zum Totengedenken
KAPITEL V
Bolls Welt
Der Löwe ist los! »Die echten Sedemunds«
Die Aufführungen von »Der arme Vetter« und »Der tote Tag«
Schwere Jahre. Arbeit als Heimatersatz
»Der Findling«
Kleist-Preis für »Die Sündflut«
»Der blaue Boll« als Selbstschöpfer
Lästige Familienbande und lästige Berühmtheit
KAPITEL VI
Von Frauen und Hexen. Liebe verjüngt?
Walpurgisnacht. Mit Goethe in die magische Welt der Hexen
Paul Cassirers Tod
Suche nach neuen Aufträgen und Einnahmen
Marga Böhmer als Zuflucht
Barlach als Liebesbriefschreiber auf Zeit
KAPITEL VII
Zwischen Diesseits und Jenseits: die Totenmale
Der schwebende Engel
Die Ehrenmale in Kiel und Magdeburg. Barlach als »artfremder Künstler«
Haus- und Atelierbau am Heidberg
KAPITEL VIII
Weltensturz
Barlach im Richtungsstreit der NS-Kulturpolitik
»Aufruf der Kulturschaffenden« von 1934. Warum bekennt sich Barlach zu Hitler?
Verbot der »Zeichnungen« im Piper Verlag
Der »Fries der Lauschenden« für Hermann F. Reemtsma als Privatdruck
KAPITEL IX
Die Verteidigung des Mondes
Die Schmähausstellung »Entartete Kunst«. Das schlimme Jahr 1937
Der gestohlene Mond
Nicht mithassen, sondern mitleiden. Barlach und das Mysterium Mensch
Das Ende
Das Nachleben
Freundesworte. Ernst Barlach zum Gedenken
KAPITEL X
Der gerettete Engel
Mai 1945. Tod Bernhard A. Böhmers, geretteter Nachlass
Die Wiedererrichtung des Hamburger Ehrenmals und der »Gemeinschaft der Heiligen« in Lübeck
Hugo Körtzinger als Retter von »Schwebendem Engel« und »Geistkämpfer«
Barlach 1951 in der DDR. Brechts halbherzige Verteidigung
Franz Fühmanns Wege zu Barlach
Helmut Schmidt rettet den Nachlass von Marga Böhmer
EPILOG
Der gläubige Zweifler
ANHANG
Dank
Anmerkungen
Bibliographie
Zeittafel
… meine Lieblingsthemen:
Bettler, Beter mit ihrem Nichts vor dem Tiefsten und Höchsten.
Brief an Karl Barlach 1
»Mutter Erde« hat Augen schmal wie Schlitze. Man weiß nie, in welche Himmel oder Höllen sie schauen. Sie sitzt, thront, ruht vor der Gertrudenkapelle in Güstrow, Mecklenburg. Oder der »Schwebende Engel« im Dom mit dem – ungewollt hineingeratenen – Gesicht der Käthe Kollwitz. Hier decken kreisrunde Lider die Augen.
Lauter vulkanische Ausbrüche an Schöpferkraft, die sich wenig um die Erwartungen anderer, gar um herrschende Konventionen scheren. Insofern ist Ernst Barlach gewiss ein Expressionist, dem sich alles in gesteigerten Ausdruck verwandelt, aber auch darin ein Außenseiter, ein passionierter Alleingeher, der barocke Welten im Kopf trägt und im Herzen ein Mystiker bleibt. Die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits scheint für ihn nicht zu existieren. Und zugleich ist dieser Expressionist das Gegenteil eines Expressionisten, einer, der mit Linien geizt, ein Asket, dem jede Entäußerung wieder zur Verinnerlichung gerät. Entfesselung führt zu neuer Gebundenheit, Glauben und Skepsis finden unerwartet zusammen.
Ernst Barlachs Schöpfungen wirken erdschwer und schwebend zugleich, sind von einer gefangennehmenden Intensität, als handle es sich hier um die Wächterfiguren einer magischen Welt – so wie jene Balabanows, auf die er 1906 in der russischen Steppe stieß. Diese merkwürdigen Gestalten (riesenhafte Götzen) sind Seher, die nach innen, nicht nach außen blicken. Melancholische Klage und sachliche Kampfansage zugleich gegen das alltägliche Sich-gemein-Machen mit dem Gewöhnlichen spricht aus ihnen.
Wer sich mit unvollkommenen Verhältnissen, wie sie nun einmal sind, arrangiert, hat es gewiss immer und überall leichter. Ernst Barlach kann das nicht. Oft trägt er schwer daran, wirkt unter Menschen stets eine Spur fremd.
Vielleicht ist es das einzigartige Zusammenspiel von Nähe und Distanz, das ihn zum formstreng-opulenten Menschenbildner macht, zum Alchemisten gar, der meint, die Schöpfung der Elemente sei noch nicht beendet, mehr noch, sie sei in seine Hände gelegt? Barlach notiert dazu am 8. August 1911 in einem Brief an Wilhelm Radenberg: Tatsächlich ist mir seelisch der russische, der asiatische Mensch, der nur mystisch zu verstehen ist, verwandter als der typisch gebildete Zeitgenosse. Das Phänomen Mensch ist auf quälende Art von jeher als unheimliches Rätselwesen vor mir aufgestiegen. Ich sah am Menschen das Verdammte, gleichsam Verhexte, aber auch das Ur-Wesenhafte, wie sollte ich das mit dem landläufigen Naturalismus darstellen! 2
Die Menschen, die Barlach zeigt, sind weder erlöst noch verdammt, sie befinden sich in einem spannungsreichen Zwischenzustand. Bestenfalls sind sie auf dem Wege der Erlösung, die nicht allein aus ihnen selbst kommen kann, aber die sie auch nicht von einem transzendenten Gott erwarten.
Mit Barlach geraten wir in jene Regionen der Mystik eines Jakob Böhme oder Meister Eckhart, wo Gott allein auf dem Grunde der Seele geboren wird und Geist etwas ist, das funkengleich ausstrahlt. Ein Übermaß an Licht ist da nicht zu erwarten, aber genug, um die Finsternis nicht mehr fürchten zu müssen.
Wir kennen Ernst Barlach als Dramatiker barock-überbordender Stücke, in denen die Toten lebendiger sind als die Lebenden. Als einen Bildhauer, dessen Plastiken wie archaische Fetische darauf zu warten scheinen, dass jemand mit ihnen zaubert – aber niemand wird dies je tun können, denn Barlach, der Magier, setzt Brüche, vergrößert Abstände und vermeidet so voreilige Identifikation. So macht er sich unerreichbar für zweckhaftes Begehren. Als Grafiker und Zeichner durchwandert er surreale Traumwelten, als lägen diese gleich hinter Güstrow, wo er fast drei Jahrzehnte seines Lebens verbringt – am Ende ist es das wütende Standhalten von einem, der sich nicht vertreiben lassen will durch niedrige Gesinnung, wie sie 1933 auch in Mecklenburg in Amt und Würden kam.
Barlach trägt sie alle in sich, die Dämonen, die Furien, die Kobolde, die Gnome, die Wiedergänger, die seinem Werk etwas Gespensterseherisches geben. Er meint es ernst mit dem Leben als Maske des Todes.
Sein engster, aber – wie sollte es anders sein – auch fernster Freund, der neunzehn Jahre jüngere Güstrower Zeichenlehrer Friedrich Schult, der bis zu seinem Tod 1978 in der mecklenburgischen Kleinstadt lebte und jahrzehntelang unermüdlich an der Vervollständigung von Barlachs Werkverzeichnissen arbeitete, ist wohl auch der Einzige, dem es gelingt, Barlach als – durch noch zu erläuternde Umstände, aber auch durch dessen Wesensart – fremden Freund auf immer noch gültige Weise zu porträtieren. Er kannte ihn aus Jahren des intensiven Gesprächs und Jahren des angespannten Nebeneinanderher-Schweigens, schließlich des intensiv-ernsthaften Briefgesprächs (im selben Ort!), er erkannte ihn als freundlich-zuwendungsvollen Vater des Sohnes Klaus und als treuen Sohn der psychisch labilen Mutter Luise, die sich im Alter schließlich das Leben nahm.
Dennoch war da immer ein nur metaphysisch zu nennender Vorbehalt dem Leben gegenüber. Dieser Vorbehalt schmolz nur dahin, wenn Barlach – vor allem bei Kälte und Wind – in der Umgebung von Güstrow wandern konnte.
Er ist ein starker Raucher mit krankem Herzen, ein Spaziergänger, gar ein wohltemperierter Flaneur ist er nicht. Er schreitet energisch voran, den Hut tief ins Gesicht gezogen: Drei Stunden zu Fuß im Wald oder über Land, und ich fühle mich gesund und von innen heraus beruhigt in der Art, daß alle kleinliche Sorge oder der falsche, d. h. hetzende Lebensrhythmus beseitigt sind. 3
Schult notiert in seinen »Letzten Aufzeichnungen« über Barlachs Art, die Dinge dieser Welt durchwandernd gleichsam beständig ins Surreale zu verwandeln, ihnen in seinem oft beschwerlichen Lebensalltag eine gespensterhaft-spielerische Gestalt zu geben: »Das Dämonische war ihm seit je vertraut. Er ging mit den Hexen, in denen es Gestalt gewann, jederzeit so freundschaftlich um wie die anderen Zeitgenossen mit Hunden und Katzen.« 4
Er kennt Barlach als kauzigen Eigenbrötler, doch er erkennt dahinter eben auch den Mystiker von barockem Ausmaß, der sich hartnäckig hinter seinem Werk verbirgt, der sich nur insoweit dieser Welt als zugehörig empfindet, als er sich ihr nicht zugehörig empfindet. Da bringt jemand das Kunststück fertig, gleichzeitig archaisch und avantgardistisch zu sein.
Alles Denken, alles Fühlen wurzelt ihm im Paradox. Etwas ist nur wahr, wenn auch sein Gegenteil wahr ist – das hat Barlach nicht nur abstrakt gedacht, sondern tagtäglich gelebt und in Ausdruck verwandelt. Dieser Beter zweifelt, dieser Zweifler betet. Barlach führt die Gegensätze immer wieder auf faszinierende Weise zusammen. Auch die Wirkung seiner Stücke ist nicht nur polarisierend, sondern bringt nicht selten einander sich ausschließende Urteile in einen Widerspruchszusammenhang. Berühmt ist das Diktum Alfred Polgars, der 1925 die konträren Wirkungen von Barlachs Dramen auf das Publikum wie auf die Kritiker so karikierte: »Da stand schwarz auf weiß, klar und eindeutig, wie die Sache gewesen und was von ihr zu halten sei. So lautete der eine Spruch: ›Es ist reiner Dilettantismus, maßlose Langweiligkeit, ein scheintiefes Mißdrama‹, und so der andere: ›Ein ganz großer, unvergeßlicher Abend. Barlachs Werk überwältigte.‹ Ich bin ganz der Meinung der beiden Herren.« 5
Thomas Mann wird im April 1924 in einem »Barlach und Brecht« überschriebenen Theaterbrief aus Deutschland für die Zeitschrift »The Dial« in New York über »Der tote Tag« schreiben: »Die Münchener Kammerspiele hatten den schönen Mut, dies Trauerspiel vom Menschen, dem heldischen Geistsohn, der ewig ein Muttersöhnchen der eifersüchtig klammernden Erde bleiben wird, auf die Bühne zu bringen. Die Aufführung war vorzüglich. Sie konnte ein- oder zweimal wiederholt werden; dann blieb das Publikum aus. Das ist begreiflich, denn die stundenlange Konzentration auf das Raunend-Halbdeutliche ist keine jedermann genehme Abendunterhaltung. Aber es gibt zu grübeln über das Verhältnis von hoher Dichtung und Popularität.« 6
Von »hoher Dichtung« wollen Barlachs Intimfeinde Alfred Döblin und Alfred Kerr nichts wissen, Döblin sieht nur »verqualmten Tiefsinn«, »Knurren«, »Drucksen« und befindet: »Barlach leidet an schwerster seelischer Verstopfung«, er sei eben ein »Provinzler«, ein »Kleinbürger«, »dumpf und nicht tief«. Und Kerr nennt »Die Sündflut«, für die Barlach 1924 den Kleist-Preis erhält, ein »scheintiefes Mißdrama«, »reiner Dilettantismus«. 7 Das scheint mehr als Kritik, purer Hass.
Es gehört zur Aura dieses rätselhaften Menschen, der sich so hartnäckig verbergen will, dass sein beständiges Nicht-mittun-Wollen die ebenso stolze wie demütige Reserve inmitten einer sich in selbstzerstörerische Handlungen stürzenden Zeit ist: die Offenbarung seines Geistes gegen den herrschenden Geist der Zeit.
Barlachs sich wie Sturm und Windstille hin und her wendende Stimme prägt sich ein, zu hören auf seinen letzten Tonaufnahmen vom Januar 1933. Sein Vertrauter Friedrich Droß wird es so ausdrücken: »Barlach sprach wie er ging: stoßweise, bald schnell, bald langsam ...« 8 Noch da, wo er sich in Unverständlichkeit wie in ein Versteck hinein murmelt, um dabei doch immer dem einen entscheidenden Wort, das er sucht (dem Zauberspruch!), nachzulauschen, klingt es – obwohl fraglos niederdeutsch – nicht recht auf mecklenburgische Weise platt: Man hört die Elbe, an der er geboren wurde, in seinen Sätzen rauschen.
Es sind wenige Augenblicke in seinem Leben (die Jahre 1933 und 1934), da gab auch er einige Male der Versuchung nach, wollte so sein, wie eben alle Welt – zu eigenem Vorteil den neuen Mächten hinterherlaufend. Aber er konnte es nicht, alles, was er bislang geschaffen hatte, sein ganzes Wesen zeugte dagegen. Er wusste es gut, er hatte es erfahren: Der Teufel, das negative Prinzip, das alles Wertvolle vernichtet wie ein böser Gott, er steckt auch in ihm selbst.
Heinrich Mann wird in Barlach jenen Typus des Intellektuellen erkennen, der der natürliche Feind aller Ideologen ist. Ende 1938 notiert er: »Das ist der Intellektuelle. In seiner echten Erscheinung ist er kein Fremder unter den gewöhnlichen Leuten. Er weiß über sie mehr, und was er ihnen darbietet, ist gewachsen. So wachsen sie selbst, so wächst auf dem Acker das Korn. Wirklich fremd, wirklich herbeigelaufen und wurzellos sind alle, die den redlichen Arbeiter am Wort und Bild von den gewöhnlichen Leuten trennen. Sie müssen ihre trüben Gründe haben, wenn sie ihn ausscheiden aus einem Volk, das er richtig sehen, tief empfinden, zuletzt auch denken lehrte.« 9
Barlachs Gesicht auf den späten Fotos des Jahres 1938 ist das eines Ketzers und Großinquisitors zugleich. Unendlich müde – und doch jederzeit auf dem Sprung zu etwas, das dieses Verhängnis, in dem der Mensch gefangen ist, in einen Ausdruck zu bringen vermag. Eine Form, die den Betrachter bannt. Sein Vetter Karl Barlach schrieb: »Vom Vater hat er die Statur, der der kleinste unter den Söhnen des Pastors war, auch die großen lauschend abstehenden Ohren, die Ernst in seinen Selbstbildnissen keineswegs verschönt. Phantasie und lebhafte Empfänglichkeit haben von der Mutter her Stärkung erfahren. Aber die schauenden, fast übergroßen grauen Augen, ganz offen zum Aufnehmen, durchsichtig, so daß man glaubt, in sie hineinzuschauen, sind ganz Ernsts eigen.« 10
Der Blick, mit dem Barlach in die Kamera schaut, ist nicht der eines furchtsamen, menschenscheuen Sonderlings, sondern der eines – trotz Alter und Krankheit – wehrhaften Alleingehers, der signalisiert: Meine Welt ist durch Feinde nicht zu erobern, nur Eingeweihten kann sie vertraut werden. Schult wird einräumen, es sei nicht leicht gewesen, mit Barlach umzugehen. Er vermeidet den Sündenfall ihrer Freundschaft, den Barlach auf schwer verzeihliche Weise herbeiführte, zu benennen, konstatiert nur: »Er war misstrauisch.«
Barlach gab sich gern als Landmann, obwohl er den urbanen Geist Berlins, der ihm zum Erfolg verhalf, immer in sich trug, aber auf eine ins Negative gewendete Weise. Er sprach von der Kunstmetropole auf eine für ihn typische Weise als von einer toten Hölle. Ein Mantelträger, der – wie sein früh verstorbener Vater, ein Landarzt – bei jedem Wetter weite Wege ging. »Im Sommer in einem leichten, im Winter in einem Lodenmantel.« 11
Bei einem passionierten Wanderer wie Barlach verwundert das blutleere Gesicht, das ihm etwas Geisterhaftes gibt. Es zeigt den lebenslang starken Raucher, der als junger Mann schon herzkrank wurde – und dennoch bis ins letzte Lebensjahr die schwere körperliche Arbeit an der Skulptur nicht aufgab. Ein auf stoische Weise angenommenes Leiden des chronisch Kranken überschattet sein Antlitz, in dem sich etwas Faszinierendes ereignet: Scheinbar fern Liegendes wird als allerrealste Gegenwart verhandelt.
Das Schauspiel seines Geistes vollzieht sich wie hinter einem nur halb durchsichtigen Vorhang. Lauter Stimmen hören wir dahinter, im Zusammenklang mit Gesten, die wir mehr ahnen als im Detail wissen können. Wir spüren, dass sich hier etwas abspielt, das von größter Bedeutsamkeit ist, aber sein Erscheinen vor aller Augen erst noch vor sich hat.
Schult hat Barlach so genau beschrieben, weil er ihn erkennen wollte. Was er sah, war ein nach außen recht gewöhnlich wirkender Mensch, der sich bereits fast ganz ans innere Leben verausgabt hatte: »Barlach war mittelgroß, der Körper von leichtem Bau, mager, ohne Fettansatz. Die Augen groß, darunter Tränensäcke, die schon in den frühesten Aufnahmen retuschiert sind. Die Nase spitz, Gesichtsfarbe unfrisch, Kinnbart dürftig.« Nur Barlach selbst hat diese Beschreibung noch knapper auf den Punkt gebracht, als er von seinem Totengräbergesicht sprach.
Erst seine Bewegung ist es, die dem Körper im Raum die geistige Dimension gibt. »Die Gangart die eines Wanderers, der nach Gewohnheit lange Strecken bewältigt, langschrittig, den Mantel über die linke Schulter geworfen, in der Rechten den Stock.« 12
So tritt der Wanderer dann auch mehrfach in seinen Plastiken auf: Im Wind, der ihm hart entgegenbläst und am Voranschreiten zu hindern sucht. So bereits 1908 in »Schäfer im Sturm«, aus Lindenholz geschnitzt. Doch der schwer Vorangehende hält, die rechte Hand am Hut, seinen nach vorn gebeugten Kopf dem feindlichen Element entgegen. Entschlossen stemmt er seinen Körper gegen die Gefahren, die seiner noch harren.
1934 hat Barlach den »Wanderer im Wind« thematisch noch einmal aufgenommen – vor einem ganz anderen gefährlich-drohenden zeithistorischen Hintergrund, der nicht nur sein Werk zu vernichten droht. Dieser Wanderer, der nun geradezu wie ein Soldat wirkt, steht hoch aufgerichtet in seinen langen Mantel geschlagen, die linke Hand geht auch hier zum Kopf, die Kopfbedeckung, die mit ziemlicher Bestimmtheit ein Helm zu nennen ist, tief ins Gesicht drückend. Er wirft sich nicht in den Sturm, sondern erwartet diesen auf seinem Posten ausharrend. Die obere Gesichtshälfte wird vom Helm bedeckt, die untere erweist sich als das vom Bart umrandete Kinn Barlachs, bereit, allen kommenden Angriffen zu trotzen.
Der Wind, die in arge Bewegung geratene Luft, so weiß Barlach, ist dem Wanderer nicht eigentlich feindlich. Im günstigsten Falle lässt sie ihn sogar schweben wie seinen an Theodor Däubler erinnernden Gottvater oder den Engel im Güstrower Dom.
So sah auch Anna Seghers im mexikanischen Exil auf Ernst Barlach, erblickte einen, der »salonunfähig« (Elmar Jansen) bleiben wird, der ganz allein für sich steht und nur im Traum anderen Menschen nah kommt: »Van Gogh und Käthe Kollwitz und Barlach gehören darin zusammen.« 13
Im Traum fliege ich oft, 14 hatte Barlach bekannt. Die Flughöhe variiert, je nach Art des Traums, mal erdnah, mal himmelhoch, aber immer im Zutrauen auf die Elemente und ihre Verwandlungskraft oder – wie Christa Wolf im Herbst 1989 nach einem Besuch im Güstrower Atelierhaus über Barlachs Figuren notiert –: »Sie wühlen auf und trösten zugleich, ich würde gerne herausfinden, wodurch.« 15
So wird der »Schwebende Engel« zum Symbol seiner Existenz: erdschwer und federleicht zugleich.
Ein Fall von Magie.
Die Welt als Sensation und Stätte der Verwechslung
Bereits das Kind, das er einmal war, scheint lüstern nach Schauspiel aller Art, jubelt den Sensationen zu, die sich seinem Auge bieten. In »Ein selbsterzähltes Leben« erinnert Barlach sich an sein Geburtshaus in Wedel bei Hamburg zuerst unter dem Aspekt der Aussicht, die sich ihm von hier aus bot: »Die Welt, die ich anzuschauen bekam, ließ es sich von meinem guten Platze aus gefallen, dem Eckhaus am Markt, wo ich vom Balkon herab einen Leichenzug mit herzlichem Hurra begrüßte, da ich den Unterschied von einem Schützenausmarsch noch nicht wahrnahm.« 1 Der Unterschied ist dann wohl auch tatsächlich nicht so groß, wie es sich das moralische Bewusstsein der Erwachsenenwelt ausmalt.
Das Kind weiß es ein für alle Mal besser, wenn es im Leichenzug bloß wieder den Schützenausmarsch erkennt, dem man in der Kleinstadt mit Jubel begegnet, während der Leichenzug betretene Stille und den Anschein von Ehrfurcht verlangt. Doch all das sind Konventionen, der ursprüngliche Impuls ist bei Barlach ein anderer: ein theatralischer. Aber eben nicht wohltemperiertes Staatstheater, sondern faustgrober Jahrmarkt mit metaphysischem Anspruch. Die höchsten Weihen für das im bürgerlichen Sinne Niedere, die Synthese von Bettler und Beter.
Geburt und Tod wachsen aus derselben Wurzel, das Kind in ihm sucht in beiden lebenslang das Schauspiel, den überwältigenden Effekt, der aber eben beides bleibt: Überwältigung und Effekt. Das große Drama wird bei Barlach immer auch kleine Komödie sein, das Passionsspiel ein c, das Gebet eine Groteske mit bitterer Geschmacksnote, in das sich allerdings ein leichter Anhauch von Erlösungsaroma mischt.
Träumt sich das Kind ein langweiliges Kleinstadtleben zum großen Welttheater und kann dann nie mehr damit aufhören? Es scheint so, denn Ernst Barlach gehört zu jener Spezies Mensch, deren Leben vor allem in der eigenen Phantasie stattfindet. Das Spiel ist immer ein doppeltes. Arm an äußerem Erleben, dafür reich an innerer Anschauung? Wer dieser Eichendorff’schen »Taugenichts«-Perspektive nichts abgewinnen kann, dem wird Barlach fremd und verschlossen bleiben, als Mensch ohnehin, aber auch in seinen Texten wie in seinen Grafiken und Plastiken.
Für Barlach ist der Künstler auf sehr unmittelbare Weise ein Schöpfer, ein kindalter Gott in seinem eigenen selbst geschaffenen Reich, der im Kleinen über die Essenz der großen Welt verfügt. Ein Alchemist mit einer Handwerkerehre, ein Skeptiker, der nicht aufhört, jene Leerstelle in der Welt zu suchen, die der abwesende (wie Nietzsche meint: gestorbene) Gott hinterließ. Aber wir greifen vor.
Barlach, das sei bereits hier am Beginn gesagt, nimmt nicht die Wahrheit für sich in Anspruch, sondern will das Wahrhaftige.
In den Anfang ist alles gelegt? Bei Barlach stimmt dies auf eine frappierende Weise. Nur dass der Anfang so lange brauchen würde, um wirklich seiner zu sein, also einer, mit dem er tatsächlich etwas anfangen könnte, das hätte er nicht geglaubt. So hatte er mit sechsunddreißig Jahren schon aufgehört, an ihn zu glauben. Aber dann kam im Jahr 1906 die Russlandreise, die etwas in ihm zu einem Ende brachte. Und in diesem Moment war dann auch der Anfang seiner.
Zurück zu jenem Wedel, in dem Barlach am 2. Januar 1870 das Licht der Welt erblickte, oder sollte man sagen: Es erblickte ihn? Ganz so hochfliegend ging es nicht her in der Barlach-Familie. Die Zeit der Apotheosen mittels Kunst und ihrer Zügelung mittels kleinstädtischem Exil im mecklenburgischen Güstrow ist noch nicht gekommen. Aber natürlich blicken die Dinge, die er anblickt, auf ihn zurück. Diese Gewissheit ist ihm nicht erst gekommen, er hat sie von Anfang an. Und es geht dabei nicht nur ums Dinge-Anschauen, sondern darum, sie sich einzuverleiben wie in einem archaischen Ritus: Knöpfe, die man mir zum Spielen reichte, fraß ich auf, desgleichen Zigarrenstummel, die mein Vater wegwarf, und vom Mistberg mußte man mich gelegentlich wegbesorgen, weil ich mir da etwas an Üblen zugute tat; ich nahm eben die Welt in der Weise in mich auf, die ich am schnellsten begriff. 2
Und hier tritt es bereits auf, wenn die Kinder Ernst und sein Bruder Hans, der 1871 geboren wird, mit dem er »am Frischen so gut wie am Faulen« schmarotzte, will heißen, wohin die Einbildungskraft sie trieb, dann zum Schlafen in ihren Betten lagen: das »Es«, das Ernst Barlach lebenslang begleitete. Gespenster seien in seinem Hause als ebenso selbstverständlich anwesend aufgefasst worden wie Haustiere, wusste sein in aller Fremdheit doch naher Güstrower Freund Friedrich Schult. Und Barlach selbst erinnert sich in Sachen jener Dinge, die man nicht sehen und nicht hören konnte, und die doch gewiß wirklich waren, an die Wächterrolle, die den Brüdern im verteilten Rollenspiel zufiel: »Es« kann kommen oder auch nicht, machten wir aus, wenn wir am taghellen Sommerabend im Bett lagen – »sieh du nach der Stubenseite, ich will die Wand bewachen«, denn wir wußten bald, daß »Es« auch durch die Wände kam. 3
»Ein selbsterzähltes Leben« ist auf den Grundton von Herman Bangs »Das weiße Haus« gestimmt, worin alles um das »Kindheitstage, ich will euch zurückrufen« kreist. Das Bild der Eltern schwebt über dem Kind, an das sich Barlach mit siebenundfünfzig Jahren erinnert. Es schwebt wie der Engel in der Gertrudenkapelle in Güstrow über ihm, schützend, aber auch auf unnahbare Weise fremd.
Der Vater, Georg Barlach, ein Pfarrerssohn, versucht sich als praktischer Arzt mit eigener Praxis zu behaupten. Es liegt nicht an ihm, dass er die Familie kaum ernähren kann, er ist ein Arzt aus Passion, kein Geschäftsmann. Auf den Jungen wirkt der Vater, der keine Dampfdoktorei betreibt, wie eine strenge ferne Gottheit. Eine, die man halb fürchtet, aber auch ein wenig bemitleidet, weil sie in ihrem hohen Anspruch an sich selbst von anderen zumeist verkannt wird.
So einer wird in den Augen der Kleinstädter schnell zur komischen Figur. Da ist es einem wichtiger, was er macht, als etwas herzumachen! Über die Anfangszeit des Arztes als Kleinunternehmer weiß Barlach zu berichten: Mein Vater ritt nach Hetlingen und Holm auf Praxis und schrieb den Marschbauern Rechnungen. Solch einer kam einst und mäkelte, während er die Taler aufzählte, über die Höhe der Leistung, und dem Doktor entfuhr im Zorn die Aufforderung, den »ganzen Schiet wedder mittonähmen«, was dem Bauern wohlgefiel zu hören. Er strich ein und meinte nur, das könne man ja beinahe nicht verlangen.
Den dickschädelig-schlauen holsteinischen Bauern ist der streng seinem hippokratischen Eid folgende Vater nicht gewachsen – im Praktischen jedenfalls nicht, doch in seinem kauzigen Idealismus ist er ihnen auch wieder auf eine sie befremdende Weise überlegen. Der Vater also ist nicht weltfremd im Sinne eines Taugenichts, im Gegenteil: Mein Vater war ein ziemlich kleiner, scharfer, feuriger, schwarzlockiger Herr, schnell bereit, in allen Dingen Ernst zu tun ... 4 Dass es sich hierbei um einen seinem Erstgeborenen bedrohlich nah kommenden Ernst handelt, aus dessen Umklammerung ihn die Mutter mit ihrem ganz anderen Wesen befreit, darauf wird zurückzukommen sein.
Ernst wollte den seltsam-unverständlichen Vater-Gott immer begleiten, wenn dieser mit der Kutsche in seiner geheimnisvollen ärztlichen Mission über Land fuhr. Dass er dies in einem höheren Auftrag tat, war Ernst früh klar. Denn für Dr. Barlach versank, wenn er Kranke behandelte, die Welt um ihn herum, er vergaß an Krankenbetten frierende Pferde, Kutscher und Kind. 5
Das Kind ist sein erstgeborener Sohn Ernst, der selbst im Winter in der offenen Kutsche oft stundenlang auf die Rückkehr des Vaters warten musste. Er tat es mit unkindlicher Duldermiene im Wissen um die Wichtigkeit des väterlichen Tuns.
Was das Kind aus seiner heilen Welt herausreißt, in der alles immer nur beginnt, aber nicht endet, jedenfalls nicht brutal und für immer, ist die Begegnung mit dem Tod. Der wirft zum ersten Mal seinen schweren Schatten auf ihn, als er den Vater auf Krankenbesuch begleitet. Der mit wildwüchsigem Geschick durch die Maschen der bürgerlichen Wohlanständigkeit gleitende Junge, der sich wie Lederstrumpf fühlt, ist auf unkindlichste Weise schockiert oder – wie Barlach rückblickend schreibt –: Doch das Leben nahm mich bisweilen am Genick und stieß mich mit der Nase in seine Wirklichkeiten, ich bekam die Elementarbücher des Geschehens um die Ohren geschlagen, daß mir der Kopf brummte. Was meint er damit? Er meint auch den Knecht, der bei ihnen zu Haus bewusstlos in der Diele lag, weil ihm von der Maschine der halbe Arm abgeschnitten. Das Bild trägt Barlach sein Leben lang mit sich: Ein blutfeuchtes Tuch war um den Stumpf gewickelt. 6
In einem anderen Fall wird er Zeuge davon, dass der Tod nicht einen alten Menschen trifft, einen, der einen Jungen wie ihn eigentlich nichts angehen sollte, nein, er trifft ein gleichaltriges Mädchen. Mit dem Kutscher des Vaters, Hoschen genannt, sitzt Ernst in der Diele, während sich der Doktor Barlach mit dem Vater des Mädchens im Haus aufhielt, in dessen innerm Raum sich das Letzte eines an Diphtherie sterbendes Kindes begab. 7
Der Junge beobachtet die Szenerie genau – und vergisst sie nicht wieder. Es sind weniger die schlimmen Ereignisse selbst, die ihn aufwühlen, als die Reaktionen der von ihnen betroffenen Menschen: Mein Vater und der des Kindes unternahmen drinnen irgendwelche verzweifelten Handlungen zur Rettung oder Erleichterung, wovon die Tochter des Hauses der Mutter von Zeit zu Zeit wie mit gewürgter Kehle die grausigen Einzelheiten zutrug. Die beiden Frauen standen vor unseren Augen leibhaftig im Tiefsten der Hölle. All dies beobachtet er in den Mienen und Gesten der Umstehenden.
Barlach ist früh ein Meister des indirekten Sehens, dem von innen her etwas zuwächst, was das Außen nicht preisgibt. Der Blick der Mutter des toten Kindes etwa, die tags darauf noch einmal zum Vater in die Praxis kommt. Als sie aus dem Sprechzimmer tritt, da ist dem Jungen, als trage ihr über ihn hingehender Blick etwas Unbestimmt-Fernes in sich, das ihm unheimlich anmutet.
Was der Junge selbst nicht gesehen hat, das erzählt ihm der Kutscher Hoschen mit all den naheliegenden Übertreibungen eines Fährmannes zwischen den Welten. Und Barlach, der, als er dies schreibt, auf die sechzig zugeht, erinnert sich genau: Nach solchen und ähnlichen Einblicken blieb ich viele Tage unbrauchbar für das gemeine Leben. 8 Oder sollte man sagen, er blieb es – nach einer Reihe solcherart Erlebnisse – sein Leben lang?
Über die Krankenbesuche, bei denen das Kind den Vater begleitete, wird Barlach in einem Brief aus dem Jahr 1911 notieren: Man lebte so im Elementaren des Landes, aber man war sich seiner Anschauung nicht bewußt, war ein dummer Junge von außen, von innen vielleicht mehr angehender Dichter als Künstler. Ich nahm alles auf – aber mit so wenig Rechenschaft, daß, als ich später Künstler wurde, ich ohne Vorurteil, Geschmack oder Kritik alles tat, was man von mir verlangte. Es ist, so bekennt er hier, dieselbe Quelle, aus der dumpfe Anpassung und renitente Verweigerung wachsen. Denn: Erst wo sich die ersten Rücksichtslosigkeiten gleich halben Flegeleien zeigten, kam ich gewissermaßen – jetzt künstlerisch – auf einen altbekannten Ton zurück und besann mich darauf, wie meine Welt eigentlich aussah und wie meine Kunst aussehen müsste. 9
Die norddeutsche Kindheit an der Grenze von Holstein zu Mecklenburg rettet ihn gewiss mehrfach aus großer Gefahr, wenn sein Leben wieder einmal unter einer heranrollenden Welle begraben zu werden droht. Krisis nennt er diesen Einbruch der feindlichen Außenwelt dann selber – und was sich hinter diesem Wort verbirgt, ist vielgestaltiges Unbill, über das noch zu reden sein wird. Der schwerblütig-verschlossene, über die Maßen langsame Norden wird ihm dennoch – oder gerade deswegen – immer wieder zum Rettungsanker.
Vor allem das Plattdeutsche, die Sprache, die er lieber hört als spricht. Der einundvierzigjährige Barlach, der sich immer wieder selbst vor das Gericht nicht nur eigener Erwartungen (eingelöster wie uneingelöster) stellt, nicht nur die Zukunft, mehr noch sein Herkommen vor Augen hat, notiert: Das mit dem Plattdeutschen sehe ich so an: daß es eine naivsaftige, hartmäulige, allem Menschlichen und Ungelehrten passende Sprache ist. Ich möchte plastisch wirklich ausdrücken, was an Elementarem in dem mir von frühester Jugend an bekannten plattdeutschen Menschenschlag steckt. 10
Die Lehrer in der Schule ebenso wie seine Mitschüler sind für den Jungen eher ein Anlass zum Rückzug als zum Mittun an den Dingen der Welt. Im Widerstand gegen sie gewinnt jene Gegenwelt an Kontur, die aus Phantasie gemacht ist. Zur sonderbaren Erfahrung wird ihm bei diesem Rückzug, der zugleich ein Vorstoß in unerkannte seelische Bezirke ist, ein Kasperltheater, ein Weihnachtsgeschenk, die Idee seiner Mutter, das er ohne zugreifende Lust empfangen. Dieser Abend, so Barlach, habe mit der Vorstellung der unerschöpflich sprudelnden weihnachtlichen Lustquelle ein Ende gemacht. Das dumme Theater! Doch als er die Puppen dann – unlustig – zur Hand nimmt, machen sie etwas mit ihm, das ihn überrascht. Was für eine unverhoffte Verwandlungsmöglichkeit! Es brauchte keine Mühe, höchstens einen gewaltsam hergestoßenen Anfang, und das Stück bekam Fortgang und Ende. 11
Und schon sprechen sie alle, der Kasperl, Tod und Teufel, eine Sprache, die ihre ureigenste und doch auch die seine ist, sobald er sich eine Puppe über die Hand stülpt. Was für ungeahnte Möglichkeiten einer Vita experimentalis bietet doch die Bühne! Diese Faszination durchgespielter Lebenssimulation wird ihn nicht mehr loslassen.
Wie der Vater ein von der Passion seiner Pflicht über die Grenzen des ihm und seiner Familie Zuträglichen hinaus Getriebener ist, einer, der einen gewissen Hang zum lebensunpraktischen Fanatismus der Sache zeigt, so ganz anders erfährt der Junge die Gegenwart der Mutter Luise, einer geborenen Vollert. Sie ist Zuflucht, musisches Erbteil der Familie (obwohl Tochter eines Zöllners), aber in sich zutiefst unsicher, leicht von ebenjener Außenwelt irritierbar, mit der ihr Mann, seinem Berufsethos verpflichtet, so selbstverständlich umgeht.
Ernst Barlach, der dann konsequent Unverheiratete und dennoch passionierte Vater, der eine Ehefrau nicht geschenkt haben will (wohl aber eine Gefährtin), dekretiert in »Ein selbsterzähltes Leben«: Die Ehe meiner Eltern war so glücklich wie eine Ehe sein kann und nicht minder unglücklich. 12
Die Mutter ist die Weichere in der Beziehung der Eltern und darum leichter zu verletzen. Zweifellos wurde sie, die doch im tiefsten Haltlose, zum seelische Halt für den sich in der Wirklichkeit von Anfang an fremd wissenden Ernst. Doch amusisch konnte man auch den Vater nicht nennen, wie Barlach lapidaren Tons vermeldet: Ein bißchen Zeichnen oder Malen oder Schreiben mehr oder weniger fiel in der Familie nicht auf. 13
Ernst ist gerade zwei Jahre alt, als die Familie 1872 von Wedel nach Schönberg übersiedelt. Das ist die Hauptstadt des Fürstentums Ratzeburg, wie Barlach in »Ein selbsterzähltes Leben« nicht ohne einen ironischen Unterton mitteilt. 1912 schrieb er in einem Lebenslauf noch von Schönberg, als der in Mecklenburg liegenden Hauptstadt von Ratzeburg – da ist auf den verwaltungstechnischen Landkarten Norddeutschlands einiges in Bewegung geraten. Zum Höhepunkt des noch jungen und kargen Familienlebens wird, dass sich der Vater in Schönberg mit einem älteren Arzt vor Ort duellieren muss, weil sich dieser von dem jungen Konkurrenten bedrängt fühlte und diesen verleumdete.
Nicht nur dem Leser von heute passiert es also, dass er sich in der Topographie der mit der Reichsgründung 1871 untergegangenen deutschen Kleinstreiche mitsamt all ihren provinziellen Selbstherrlichkeiten nicht mehr recht auskennt. Das Fürstentum Ratzeburg lag in Holstein an der Grenze zu Mecklenburg, Ratzeburg selbst jedoch war und ist immer noch eine Kleinstadt im weiteren Umland von Hamburg. Aber auch hier bleibt die Familie nicht lange. 1872 werden die Zwillinge Joseph und Nikolaus geboren. Die Mutter, die wie ihr Erstgeborener ein träumerisches Verhältnis zum Dasein pflegt, jedoch ohne jene die Außenwelt abpanzernde Härte des noch dem Stein seine Form aufzwingenden Ernst Barlach, beginnt früh an dem so poesiefernen Familienalltag zu verzagen. Sie habe von ihren nun vier Söhnen so viele Pflichten empfangen, schreibt Barlach, daß sie mit aller erdenklichen Vorsicht die Frage tat, ob denn die Welt für sie bloß noch Kinderklein, Geschrei, Darmdrücken, Kleidernässen und Krankenwartung übrig habe. 14
Den Takt des Lebens im Hause des Doktor Barlach bestimmt nach wie vor die Nachtglocke, die den Vater zu Patienten auch über Land ruft. Das Kind hört dies, aus dem Schlaf gerissen. Nachts darf Ernst den Vater nicht begleiten, er soll schlafen, aber er liegt wach und träumt von dem, was den Vater wohl erwartet. Er malt sich die Geschehnisse aus, er übertreibt so sehr, dass er dann gar nicht mehr einschlafen kann.
Die Ehe der Eltern leidet unter diesen Zwängen. Der Sohn versteht sie instinktiv beide; den seinen Beruf mit unverhandelbarem Ernst ausübenden Vater und ebenso die Mutter, die sich ein friedlich-stilles Leben erträumt hatte und sich nun, da die Realität so anders ist, immer mehr in Träume flüchtet: Nein, das Ideal meiner Mutter eines Seins auf einsamer Insel lebenslang in trauter Gemeinschaft mit dem geliebten Mann fand auch in Ratzeburg keine Erfüllung. 15
Und dann verschwindet die Mutter den Kindern ganz plötzlich aus den Augen. Als sie aus der Schule heimkommen, erfahren sie es. Sie sei abwesend auf kurze vielleicht auf längere Zeit, wird ihnen mitgeteilt. Nachfragen auf solche Mitteilungen sind nicht üblich und erfolgen auch nicht. Man schweigt über das psychische Leiden der Mutter, auch der Vater, der doch Arzt genug ist, um darüber mit Sachkunde zu urteilen, erweist sich als sprachlos.
Als praktischer Mensch verschafft er den vier Kindern jedoch umgehend eine Ersatzmutter und sich eine Haushälterin, Hermine Bark aus Rhena, bei den Jungen nur »Herminsch« genannt oder eher gescholten, eine aus Saft und Jugend heraus zäh geräucherte Jungfrau. 16 Der alternde Barlach steht nach über vierzig Jahren noch immer unter dem Schock des so plötzlich zerstörten häuslichen Friedens, der sich dramatisch äußert: Es kam sogar zum Handgemenge zwischen ihr und uns Jungen – der eine sprang zu, als er den anderen sich widersetzen sah, und der dritte und vierte griffen ein. Nach hergestelltem Gewaltfrieden saßen wir vier in der Pfeifenkrautlaube des Gartens und pflegten in traurig-süßer Eintracht unsere Wunden. Herminsch machte aber doch einige unzulängliche Versuche, von ihrem Ufer an das unsere überzusetzen, unnötig; denn wir verwarfen sie mitsamt ihren Versuchen, wir haßten Herminsch von da, wo sie kam, bis da, wo sie ging. 17
Wo ist die Mutter geblieben? In einer Nervenheilanstalt. Ihre Depressionen und starken Stimmungsschwankungen haben es dem Arzt und Ehemann geraten sein lassen, seine Frau einzuweisen. Und dann ist sie ebenso plötzlich wieder da, wie sie fort war. Als die Brüder aus der Schule nach Hause kamen, wurden sie von den Eltern erwartet. Zur Feier der Rückkehr und als Zeichen eines von den Eheleuten gewollten Neubeginns wird das Haus renoviert, aber die feinnervig-unruhige Mutter scheint etwas zu ahnen von dem Unbestand dieses behäbig gelagerten Seins. Das Weitere ist von Barlach in jener sachlichen Knappheit erzählt, die wohl nur jemand erlangt, dem die ewig gleiche Geschichte immer und immer durch die Kopf gerollt ist, bis er nur noch das Handlungsskelett des sich ereignenden Dramas in Worte zu fassen vermag.
Pfingsten 1884 reisen die wieder vereinten Eltern nach Hamburg auf Verwandtenbesuch. Der Vater hat seine Ratzeburger Praxis zu versorgen und kehrt also einige Tage vor seiner Frau zurück. Ernst Barlach, der schon als Kind hellhörig die Nächte durchwacht, vernimmt den Vater spät von einer Fahrt über Land zu einem Patienten heimkehrend die Worte sagen: Der Kutscher ist krank und ich bin auch nicht wohl, Sie dürfen niemand hereinlassen. 18
Aber er selbst ist es, der sich an diese so vernünftige Anweisung an das Dienstmädchen dann doch nicht zu halten vermag. Der Doktor wird zu einem dringenden Fall gerufen, irgendwo auf dem Land. Nein zu sagen schafft er nicht und geht, da der Kutscher krank ist, bereits hustend den weiten Weg zu Fuß. Als er heimkehrt, muss er sofort zu Bett. Er bekommt Fieber. Die Ärzte aus dem näheren Bekanntenkreis stellen sich ein, eher pro forma und um ihre Zigarren zu rauchen und Scherze zu machen. Ernst Barlach erinnert sich an dieses launige Konzil der Kollegen am Bett des Vaters. Als die Krankheit, eine Lungenentzündung, wie Barlach schreibt, auf diese Art Behandlung nicht einging, blieben sie aus.
Die Mutter wird aus Hamburg zurückgerufen. Onkel Karl, ein Arzt, kommt ebenfalls, sagt zu dem Jungen eines Morgens, während er sich mit Vehemenz die Zähne putzte: »Du mit deinem Vater steht es faul« – reiste aber ab, weil er schwere Fälle in eigener Praxis wahrnehmen mußte. Der Arzt war ohne Arzt. 19
In der auf ihren dramatischen Kern verknappten Schilderung dieser sich in wenigen Tagen vollziehenden Ereignisse beweist Ernst Barlach seine poetische Sendung: Wenige Tage nach Pfingsten ist die kleine Welt Barlachs in Ratzeburg eine ganz andere, als sie es noch vor Pfingsten gewesen war.