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Buch

In diesem sehr persönlichen Buch erzählt Ruth Schneeberger, wie ihre lebenslustige, starke Mutter von einem Tag auf den anderen zum Pflegefall wird und wie sie die Entscheidung trifft, ihre Betreuung daheim zu organisieren. Es wird eine Zeit, die alle gängigen Vorstellungen widerlegt. Dass die Mutter noch zehn Jahre leben würde, hätte niemand gedacht. Erst recht nicht, wie schön diese Jahre für beide werden würden. Am allerwenigsten aber hätte Ruth Schneeberger erwartet, welche riesigen Knüppel ihr zwischen die Beine geworfen werden – von Behörden, Ärzten, Pflegern und der Krankenkasse. Dennoch macht sie Angehörigen Mut, das Wagnis häusliche Pflege einzugehen, denn in den eigenen vier Wänden dreht sich nichts um den finanziellen Gewinn, sondern alles um die Hauptperson: den Patienten.

Autorin

Ruth Schneeberger, 1978 am Niederrhein geboren, hat nach ihrem Abitur bei der »Neuen Rhein Zeitung« als Journalistin mit dem Schreiben angefangen und seitdem nie wieder aufgehört. Zwischendurch absolvierte sie ein Studium der Kunstgeschichte, Germanistik und Kommunikationswissenschaften in Köln und München. Es folgten Stationen bei »RTL«, »Kölner Stadtanzeiger« und »Elle«. Von 2006 bis 2018 war sie erst Redakteurin und später Textchefin bei »SZ.de« in München, seit 2019 ist sie Autorin der »Süddeutschen Zeitung« und lebt in Berlin. Von 2008 bis 2018 kümmerte sie sich um ihre nach einem Schlaganfall schwer pflegebedürftige Mutter. »Mama, du bleibst bei mir« ist ihr erstes Buch.

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Ruth Schneeberger

Mama,
du bleibst

bei mir

Vom Glück und Unglück,
einen Angehörigen zu pflegen

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Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte sind die Namen der meisten genannten Personen geändert. Orte, die eine genaue Identifizierung der beschriebenen Einrichtungen ermöglicht hätten, werden nicht genannt. Die Erlebnisberichte zeigen die Sicht der Autorin, und diese muss nicht mit der Wahrnehmung anderer beteiligter Personen übereinstimmen. Erzählungen werden so wiedergegeben, wie sie der Autorin berichtet wurden, abgesehen von Änderungen zur Wahrung der Anonymität.

Copyright © 2019 by Ruth Schneeberger

© 2019 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und -motiv: FAVORITBUERO, München

Fotos: © Sibylle Fendt/OSTKREUZ (Nr. 2, 3, 5); © privat (Nr. 1, 4, 6, 7)

KW · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24585-6
V001

www.blanvalet.de

Für Mama

»Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.«

Erich Kästner

Inhalt

Vorwort
Heute wird ihr Bett leer bleiben

Einführung
Gedanken und Fakten zur Pflege

Kapitel 1
Wie alles anfing

Kapitel 2
Unsere eigene Sprache

Kapitel 3
Skandalös: Erfahrungen mit Heimen und Krankenhäusern

Kapitel 4
Mit Pflegedienst und Helfern zu Hause

Wie kann man pflegen und gleichzeitig arbeiten?

Die Chancen der häuslichen Pflege

Die Pfleger

Die ambulanten Pflegedienste

Kapitel 5
Wie ich zur Detektivin werde

Kapitel 6
Eine neue Form von Lebensglück

Was Pflege auch bedeutet

Kapitel 7
Und täglich grüßt der Gerichtsvollzieher: Private Pflege in Deutschland macht arm

Kurzer Ausflug in den Leistungskatalog der Pflegekasse

Kapitel 8
Mit einem Bein vor Gericht: gesetzliche Betreuung

Kapitel 9
Kriminelle und andere Missstände: Was die Politik ändern muss

Kapitel 10
Finanzielle Ungerechtigkeit: Wie man pflegende Angehörige stärken könnte

Angehörige werden gestärkt? Von wegen!

Was ansatzweise funktioniert

Was zu tun ist

Kapitel 11
Andere Angehörige

Kapitel 12
Die Katastrophe

Wir ziehen um!

Wir haben ja immer noch uns

Niemand zeigt Verständnis

Muss ich jetzt auch sterben?

Kapitel 13
Wie alles endet

Was kommt nach dem Tod?

Kapitel 14
Wer beurteilt Lebensqualität?

Kapitel 15
Was ich gerne vorher gewusst hätte: Tipps und Tricks

Vor der Pflege

Im Pflegefall

Im Todesfall

Nach dem Tod

Nachwort und Danksagung

Quellenverzeichnis

BILDER AUS UNSEREM LEBEN

Vorwort
Heute wird ihr Bett leer bleiben

Mit der Leiche meiner Mutter haben sie sich Mühe gegeben. Mehr als mit ihrem kranken Körper, als sie noch lebte. Um den Holzsarg herum sind üppige rosa Rosen verteilt. Sogar eine weiße Engelsskulptur bewacht die Szene am Rande. Meiner Mutter hätte das gefallen.

Ich widerstehe dem Reflex zu prüfen, ob sie wirklich in dem Sarg liegt. Mich würde nichts mehr wundern. Ein kitschiges Lied lang darf ich bleiben und still auf das Arrangement blicken. Dann soll ich die Einäscherungshalle verlassen, bevor ihr Körper den Flammen übergeben wird.

Als der Ofen seinen Schlund öffnet, drehe ich mich um. Ich will das Feuer nicht sehen, das meine Mutter verschlingt.

Solange sie krank war, sind nur wenige Menschen sorgsam mit meiner Mutter umgegangen. Dabei sollte man eigentlich das Gegenteil erwarten können: Ein Mensch, der vollständig auf andere angewiesen ist, nicht mehr laufen, nicht mehr sprechen, sich nicht einmal mehr im Bett umdrehen kann, der sollte doch auf Hilfe hoffen können. Hatte ich gedacht – und wurde eines Besseren belehrt.

Nach einem schweren Schlaganfall gab es kein Heim, in dem meine Mutter hätte leben können. Schon in der Rehaklinik zeichnete sich ab, dass sie von den Pflegekräften einfach nicht verstanden wurde. Der Pflegenotstand führt dazu, dass Menschen wie meine Mutter, mit speziellen Anforderungen und Bedürfnissen, in Pflegeeinrichtungen durch jedes Raster fallen.

Sie kann nicht sprechen? Dann kann sie sich auch nicht beschweren. Sie kann die Notrufklingel nicht bedienen? Dann klingelt sie auch nicht ständig wie andere schwierige Patienten. Sie isst ihr Essen nicht allein? Dann wird sie wohl keinen Hunger haben. Sie trinkt nichts? Da kann man ihr auch nicht weiterhelfen. Sie möchte nicht den halben Tag zusammengesunken im Rollstuhl sitzen? Ja, was soll sie denn sonst machen? Außerdem ist Mobilisierung Vorschrift …

Weil meine Mutter zwar körperlich extrem eingeschränkt, aber geistig noch klar war, war eine solche Behandlung umso schlimmer für sie. Sie litt wie ein Tier. Erst die schlimme Krankheit und dann auch noch die fremden, oft gleichgültigen Menschen, das Unverständnis, das ihr in diversen Einrichtungen begegnete. Es muss ihr vorgekommen sein wie eine Bestrafung dafür, dass sie krank geworden war. Mir war schon bald völlig klar: Ich nehme sie mit zu mir nach Hause.

Das ist nun zehn Jahre her. Und jetzt liegt meine Mutter in diesem Sarg. Bald wird nichts mehr von ihr übrig sein außer einem Häufchen Asche. Und sehr viele Erinnerungen. Mehr gute als schlechte. Und ein dringender Appell an die Pflege in diesem Land, dass sich so gut wie alles ändern muss.

Meine Mutter hat sich ihr halbes Leben lang um Bedürftige gekümmert. Um Obdachlose, Flüchtlinge, ihre eigene Mutter im Alter, kleine Kinder, hilflose Tiere. Immer war sie die Kämpferin, die sich wie eine Löwin für ihre Schutzbefohlenen einsetzte. Doch als sie selbst Hilfe benötigte, versagten die gängigen Hilfsangebote kläglich. Hätte ich sie nicht gepflegt, wäre meine Mutter binnen kürzester Zeit gestorben.

Was klingt wie ein böses Märchen aus einem Entwicklungsland, ist bitterer Pflegealltag in einem Hochentwicklungsland, in dem wir gut und gerne leben. Aber möglichst nicht hilfsbedürftig werden sollten. Wer in Deutschland sterbenskrank wird, womöglich über Jahre hinweg auf andere angewiesen ist, der ist verraten und verkauft. Mich wundert es nicht mehr, dass viele Menschen vor einem solchen Lebensende so viel Angst haben.

Meine Mutter hatte einen unbändigen Lebensmut. Sie wollte leben, trotz aller Einschränkungen, und sie wollte gut leben. Um ihr das zu ermöglichen, habe ich alles getan, wovon ich in diesem Buch erzählen will. Heute kann ich sagen: Es hat zu Hause – trotz aller Widrigkeiten – gut funktioniert. So gut, dass meine Mutter anstatt der diagnostizierten sechs Monate noch ganze zehn Jahre überlebte. So gut, dass ich mir in dieser Zeit kaum ein anderes Leben hätte vorstellen können. Wir haben alles getan, was möglich war, und es hat sich gelohnt. Für uns beide. Dass es ganz zum Schluss doch sehr hart wurde, lag nicht in unserer Hand. Da hatte das Schicksal eingegriffen. Dagegen ist niemand gefeit.

Eine wichtigere als diese Zeit werde ich vielleicht nicht mehr erleben. Ich habe mich auf ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang eingelassen, dessen Auswüchse ich anfangs nicht einmal erahnte. Sehr vieles ist schiefgegangen, aber auch sehr vieles ist gut gegangen. Und ich wusste immer, wo ich hingehöre.

Meine Mutter konnte sich über die kleinsten Dinge freuen: ein Eis im Bett essen, mitten im Winter. Die Katze streicheln, über Stunden. Im Fernsehen Krimis gucken, bis tief in die Nacht. All das war für sie etwas Besonderes. Weil sie es alleine nicht mehr realisieren konnte. Sie dankte es mir mit dem schönsten Lächeln der Welt. Sie konnte strahlen, heller als die Sonne.

Natürlich wäre ich zwischendurch auch mal gerne ausgerissen und hätte weiterhin die Nächte durchgetanzt wie meine Freundinnen oder sonntags mal den halben Tag im Bett verbracht. Stets verantwortlich zu sein für einen Pflegebetrieb – und nichts anderes war mein Zuhause, als ich zwischen dreißig und vierzig war –, kann einen streckenweise mürbe machen. Diese Phasen gibt es, da muss man nichts beschönigen. Aber es gibt auch die anderen Phasen. In denen ich mir nichts Tolleres vorstellen konnte, als meine Mutter zu pflegen.

Für uns war die häusliche Pflege die einzige Option. Alles andere wäre für meine Mutter fatal und für mich unerträglich gewesen. Wer pflegt, bekommt tiefe Einblicke in die Situation, der hilfsbedürftige Menschen hierzulande ausgesetzt sind. Ich kenne Heime, in denen hauptsächlich Hilfskräfte die Arbeit machen, weil alle anderen zu teuer sind. Mit teils tödlichen Auswirkungen für die Patienten. Ich kenne Krankenhäuser, in denen meine Mutter angeschrien wurde, weil sie nicht sprechen konnte. Und ich kenne Ärzte, die sich eine Kopfpauschale für die Vermittlung ins Heim erhofften.

Ich kenne aber auch Ärzte, die alles dafür getan haben, dass meine Mutter weiterleben durfte. Oft waren es junge Assistenzärzte, noch unverbraucht von einem krankmachenden Gesundheits- und Pflegesystem. Ärzte, die noch Ideale hatten. Schwestern, die meiner Mutter auf der Intensivstation ein Radio besorgten, damit sie ihren Lieblingssender hören konnte. Und Pfleger, die sich mit ähnlicher Hingabe um meine Mutter kümmerten wie ich. Weil sie sich anstecken ließen von ihrem Lebensmut, der so bewundernswert war.

Um all diese Erfahrungen reicher, um viele Nerven und Zehntausende Euro ärmer fahre ich an diesem Winterabend aus dem Krematorium nach Hause, in unsere leere Wohnung. Das Bett meiner Mutter wird an diesem Abend leer bleiben, aber ich bin nicht allein.

Für ihre Asche habe ich eine elfenbeinfarbene Schmuckurne ausgesucht, die ein Goldkranz ziert. Wie eine römische Vase, das hätte meiner Mutter gefallen. Nichts Düsteres, wie die üblichen schwarzen Urnen. Ich sehe sie an und freue mich, dass sie da ist. Zu Hause stelle ich sie auf die Fensterbank, bevor ich sie später zum Friedhof bringe.

Heute werde ich kein Abendessen für meine Mutter zubereiten, ich werde ihr nicht die Medikamente mit Pudding geben und sie nicht zum Trinken animieren. Wir werden uns nicht über das Fernsehprogramm streiten, und sie wird nicht bis nach Mitternacht fernsehen. Ich werde mir keine Sorgen mehr um ihre Lunge machen müssen, die sie zuletzt so gequält hat. Ich werde keine Sorge haben müssen, ob sie einen epileptischen Anfall hat. Ich werde keine Angst mehr haben müssen, dass sie stirbt.

Ich muss überhaupt nichts mehr für meine Mutter tun. Jetzt muss ich mich nur noch um mich selbst kümmern.

Aber wie ging das noch mal?

Obwohl ich weiß, dass Angehörige unter der Pflege auch leiden können und es mir zeitweise genauso ging, möchte ich andere zur Pflege ermutigen. Warum? Weil ich erstens glaube, dass Sie, liebe Leser, sich oft viel besser um Ihre Lieben kümmern können als fremde Menschen. Zweitens, weil es neben der schwierigen auch die andere, sehr positive Seite gibt, und die findet bislang viel zu wenig Erwähnung. Pflege kann eine glücklich machende, existenzielle Erfahrung sein, extrem bereichernd für Pflegebedürftige und auch für Sie selbst. Und weil ich drittens hoffe, dass wenn mehr Angehörige auf ihre Bedürfnisse aufmerksam machen, sich auch die Pflege insgesamt verbessern wird. Also: nur Mut!

Einführung
Gedanken und Fakten zur Pflege

Was passiert, wenn jemand pflegebedürftig wird? Er kommt ins Heim. So denken die meisten.

Das stimmt aber nicht. Drei Viertel der offiziell 3,4 Millionen Pflegebedürftigen in diesem Land werden zu Hause gepflegt. Die meisten von ihren Angehörigen, davon wiederum die meisten ohne zusätzliche professionelle Hilfe. Nur ein Viertel der Pflegebedürftigen wohnt laut Statistischem Bundesamt in Heimen.

Warum ist das kaum bekannt? Wir diskutieren in der Öffentlichkeit vor allem die Heimversorgung und den dortigen Pflegenotstand. Zu kurz kommen dabei die Pflegebedürftigen selbst und ihre Angehörigen, die in Deutschland nach wie vor die Hauptarbeit in der Pflege leisten.

Pflegende Angehörige sind die größte und zugleich unsichtbarste Gruppe in der Altenpflege. Auf jeden Pflegebedürftigen kommt im Schnitt ein pflegender Angehöriger, doch das sind eben nur die offiziellen Zahlen. Der Deutschen Ärztezeitung zufolge pflegt fast jeder zehnte Deutsche. Die meisten im höheren Lebensalter: Ab fünfundsechzig Jahren kümmert sich jeder zweite um seinen hilfsbedürftigen Partner. Gepflegt wird aber in jedem Alter – sogar von Kindern. Aktuell gibt es deutschlandweit fast eine Viertelmillion pflegender Kinder.

Und zu Hause wohnen nicht nur die leichten Fälle, zunehmend werden auch Intensivpatienten dort versorgt. Angehörige kümmern sich um alle – von Pflegegrad 1, leichtem Hilfsbedarf, bis hin zu Pflegegrad 5, schwerster Pflegebedürftigkeit. Ganz zu schweigen von den Millionen Menschen, die nicht in eine Pflegebedürftigkeit eingestuft werden. Und doch diskutieren wir seit Jahren über den Pflegenotstand außerhalb des Zuhauses.

Laut Bertelsmann-Stiftung fehlen bis zum Jahr 2030 bis zu fünfhunderttausend Pflegekräfte in Deutschland. Rund 1,1 Millionen Menschen arbeiten heute in der professionellen Altenpflege, je zur Hälfte Fach- und Hilfskräfte, hat das Bundesgesundheitsministerium errechnet. In fast vierzehntausend Heimen und bei genauso vielen Pflegediensten. Überall fehlt es an Personal. Aufgrund enormer Arbeitsverdichtung fühlen die Pflegekräfte sich überfordert und unterbezahlt, viele steigen nach ein paar Jahren wieder aus. Und immer wieder lesen wir von Pflegeskandalen.

Warum also werden Angehörige nicht besser unterstützt? Das würde viele Probleme auf einmal lösen. Und wieso werden Pflegekräfte so schlecht bezahlt, obwohl Deutschland händeringend nach ihnen sucht?

Die Antwort liegt auf der Hand: weil sich mit Pflege sehr viel Geld verdienen lässt, wenn man den höchsten Kostenfaktor senkt – die Personalkosten. Fast fünfzig Milliarden Euro Umsatz hat die Pflegebranche 2015 erzielt, seit 2005 stieg dieser jährlich um fünf Prozent. Damit wächst der deutsche Pflegemarkt schneller als die Gesamtwirtschaft. Bis 2030 soll der Umsatz auf bis zu vierundachtzig Milliarden Euro steigen, prognostiziert die Unternehmensberatung Roland Berger.

Die Frage, warum davon so wenig beim Personal ankommt und noch weniger beim Patienten, um den es eigentlich gehen sollte, ist damit schon beantwortet. Es gibt, wie so oft, zu viele Akteure und Investoren, die hohe Gewinne schöpfen wollen. Der Pflegemarkt ist seit der Öffnung des Marktes für die Privatwirtschaft zu einem Renditegeschäft geworden. Seitdem haben fünfundsiebzig Prozent mehr private Heime eröffnet. Die Zahl der öffentlichen Heime sank in zwanzig Jahren um fünf Prozent. Fast die Hälfte der Heime und Pflegedienste ist inzwischen in privater Hand. Nur noch fünf Prozent der Heime gehören den Kommunen. Der Rest ist gemeinnützig – noch.

Allein im zweiten Halbjahr 2017 wurden drei große Altenheimketten von Hedgefonds übernommen. Global operierende Konzerne kaufen den Pflegemarkt in ganz Europa auf.

Wen wundert es da, dass laut Umfragen nur sechs Prozent der Deutschen freiwillig ins Heim ziehen würden? Neun von zehn Menschen haben Angst davor.

Dieses Buch handelt davon, wie stattdessen die Pflege zu Hause funktioniert.

Pflegebedürftig kann jeder werden. Die einen benötigen im Alter nur ein wenig Unterstützung im Alltag, die anderen werden schon jung zum schwersten Pflegefall, wieder andere werden behindert geboren. Unsere Gesellschaft macht aus diesen Umständen viel zu große Probleme. Weil sie nicht richtig hinschaut. Und weil sie die Pflege nicht in den Alltag integriert.

Pflegende Angehörige müssen nicht ihr Leben opfern, um einen Angehörigen zu Hause zu versorgen. Ich selbst habe neben der Pflege meiner Mutter Vollzeit gearbeitet.

Und Pflege bedeutet eben nicht automatisch Qual und Leid. Meiner Mutter und mir hat sie viel Kraft gegeben. Wir haben uns unser eigenes kleines Reich erschaffen, in dem wir über weite Strecken sehr zufrieden gelebt haben. Das ist das Glück in der Pflege.

Auf der anderen Seite wird die Situation pflegender Angehöriger an zu vielen Stellen unnötig erschwert. Ich kann deshalb auch jeden verstehen, der enerviert die Pflege aufgibt. Es fehlen dringend Unterstützungsangebote, die Bürokratie ist fast unüberschaubar. Die Politik hat Versprechen gemacht, die sie nicht einhält. Familien werden in ihren schwersten Stunden alleingelassen. Das ist das Unglück in der Pflege.

Trotzdem plädiere ich für die Pflege zu Hause, weil sie in den Einrichtungen kaum noch funktioniert. Wie das gelingen kann und was sich dafür noch alles ändern muss, davon handelt dieses Buch.

Ich möchte allen Mut machen, die dafür sorgen möchten, dass ihre Angehörigen zu Hause bleiben können. Und ich will die Diskussion eröffnen für eine neue Sicht auf das Thema. Denn Pflege kann Spaß machen.

Auch die Politik muss sich der häuslichen Pflege jetzt dringend widmen, anstatt fieberhaft zu versuchen, die ausgebluteten Einrichtungen zu reanimieren. Der Schlüssel zur Rettung des Pflegesystems liegt nicht in den Heimen, sondern zu Hause.

Kapitel 1
Wie alles anfing

Bevor meine Mutter krank wurde, war ich ständig auf Partys. Wenn es gut lief, fing die Tanzwoche für mich am Mittwochabend an und endete am Dienstag in der Früh. Zwischen neunzehn und neunundzwanzig Jahren habe ich mein Leben so vollgepackt mit Vergnügen, dass ich mich manchmal fragte, wie das weitergehen solle, wenn ich älter würde. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, anders zu leben. Die Neunzigerjahre haben mich geprägt wie viele andere Kinder des Spaß-Jahrzehnts und der Techno-Bewegung.

Ich war Stammgast in Elektro-Clubs, erst in meiner Heimat am Niederrhein, dann in Köln, schließlich in München. Tagelang die Nächte durchzumachen fiel mir leicht, weil ich kaum Alkohol trank, dafür aber umso mehr tanzte. Tanzen war für mich wie für andere das Joggen. Es hielt mich fit und gut gelaunt. Als Kind war ich zehn Jahre lang Ballerina, nun tanzte ich wie besessen zu elektronischer Musik. Sie war meine Droge, ich brauchte keine andere. Deshalb war das Nachtleben auch gut mit meiner Arbeit zu vereinbaren. Viel geschlafen habe ich ohnehin nie – ein Umstand, der uns noch sehr zugutekommen sollte.

So war ich auch im November 2007 auf einer Party, als der Anruf kam. In München hatte ein neuer Club eröffnet, da durfte ich nicht fehlen. Ich hatte gerade mein Studium beendet, mich von meinem Freund getrennt, einen festen Job angetreten, wohnte in einer WG und war optimistisch, fröhlich, frei. Als ich nach draußen ging, um frische Luft zu schnappen, sah ich, dass meine Mutter mir auf die Mailbox gesprochen hatte. Ich solle sie dringend zurückrufen.

Hätte ich gewusst, dass dies die letzten Worte sein würden, die ich von ihr hören sollte, ich wäre auf der Stelle zu ihr gefahren.

In den nächsten Tagen erreichte ich sie nicht. Das konnte schon mal vorkommen. Ich war in München und als Journalistin viel unterwegs; meine Mutter wohnte am Niederrhein und war Kommunalpolitikerin. Und zwar eine der engagierten Art. Fast ein Vierteljahrhundert setzte sie sich schon für Arme, Obdachlose, Tiere und die Umwelt ein. Immer stand sie auf der Seite der Schwachen. Es war ihr eine Selbstverständlichkeit, ihre Stärke für andere einzusetzen. Dementsprechend viel hatte sie zu tun.

Auch sie machte die Nächte durch, aber anders als ich. Sie schrieb in der Zeit Reden für den Stadtrat, Konzepte für Petitionen oder Strategien für den Wahlkampf. Jahrzehntelang war sie Fraktionsvorsitzende der Grünen in ihrer Stadt, eine Frau der ersten Stunde. Als Deutschland unter Außenminister Joschka Fischer erstmals wieder in den Krieg zog, trat meine Mutter aus Protest aus der Partei aus – und gründete ihre eigene. Mit der sie gleich wieder in den Stadtrat einzog.

Sie war unermüdlich, doch niemals fanatisch oder pedantisch. Bei uns wurde Fleisch gegessen, aber selten. Die Umwelt geschützt, aber mit gesundem Augenmaß. Meine Mutter war ein Genussmensch, lebenslustig, engagiert und mutig. Mit einer starken Mutter aufgewachsen, die die Familie ernährte, hatte sie als Kind viele Freiheiten genossen und war ein echtes Kölsches Mädchen: gesellig und mit viel Humor.

Ihr Lebensmotto war ein Zitat von Erich Kästner: »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.« Dicht gefolgt von Don Bosco: »Gutes tun, fröhlich sein und die Spatzen pfeifen lassen.« Diese Mischung aus Engagement und Gelassenheit erscheint mir heute eher selten.

Mit ihrem ganz eigenen Kopf und ihren Vorstellungen von einer friedlicheren, toleranteren, bunteren Welt hatte meine Mutter am tiefschwarzen Niederrhein aber erheblich zu kämpfen. Zumal als Frau. Themen, über die heute die halbe Welt spricht, waren damals erst noch mühevoll zu platzieren: Umweltschutz, Mitbestimmung, Frauenrechte, Hilfe für Flüchtlinge, die damals noch Asylbewerber genannt wurden, Anti-Atomkraft, Abrüstung. Sogar ich als Kind bemerkte den starken Widerstand. Schulkameraden nannten meine Mutter »Hexe« und fragten mich, warum wir denn Haus und Auto hätten, wenn wir doch Kommunisten seien.

Heute wünscht sich jeder zweite Deutsche einen grünen Kanzlerkandidaten, damals war das noch ein Traum meiner Mutter: Als Bürgermeisterkandidatin kämpfte sie auf verlorenem Posten, aber mit so viel Herzblut, dass sie die gesamte Bandbreite des Drucks, den wir von der großen politischen Bühne kennen, im Kleinen zu spüren bekam. Oft achtete sie bei so viel Gegenwind zu wenig auf sich selbst. Das blieb nicht ohne Folgen.

Während eines Wahlkampfs besuchte ich sie am Stand, sie war im Gesicht ganz grau. Ich konnte sie gerade noch zum Krankenhaus fahren, wo auf der Intensivstation Vorhofflimmern festgestellt wurde. Trotz ihres desolaten Zustands ließ sie es sich auf dem Weg dorthin nicht nehmen, dem Stadtdirektor noch aus dem Auto zuzuwinken – huldvoll wie die Queen. Um sich ja keine Schwäche anmerken zu lassen.

Das war nun ein paar Jahre her, und in dieser Zeit hatte sie Blutverdünner nehmen müssen, um keinen Schlaganfall zu erleiden. Eigentlich hatte sie deshalb kürzertreten wollen, doch ihre politischen Weggefährten hatten sie zu einer letzten Kandidatur überredet.

Jetzt, nach ihrem Anruf, trieb mich ein ungutes Bauchgefühl um. Es wurde von Tag zu Tag stärker. Auch mein Bruder hatte schon Freunde und Bekannte gebeten, nach ihr zu sehen. Wir lebten beide viele Hundert Kilometer entfernt und waren auf das Urteil des Umfelds angewiesen. Doch alle beteuerten, es gehe ihr gut. Sie sitze im Sessel und schaue fern. Heute kann ich mir das nur so erklären, dass meine Mutter noch verhältnismäßig fit gewirkt haben muss und vielleicht keine Hilfe annehmen wollte. Vielleicht hat es aber auch einfach keiner für nötig gehalten, genauer hinzuschauen, weil niemand glaubte, dass ihr wirklich etwas Schlimmes passiert sei.

Jedenfalls hielt ich das quälende Gefühl bald nicht mehr aus. Als mich schließlich meine Kollegen in der Redaktion bestärkten, zu Hause nach dem Rechten zu sehen, weil ich ein einziges Nervenbündel sei, setzte ich mich noch am selben Tag in den Flieger.

Vor dem Abflug erreichte ich meine Mutter endlich telefonisch, aber sie war kaum zu verstehen. Dann legte sie einfach auf. Ich betete, dass sie mich noch ins Haus lassen könnte. Während des Fluges zitterte und weinte ich vor Angst. Was, wenn ich zu spät käme?

Als ich eintraf, war ihre Wohnung verschlossen. Erst nach langem Bitten hörte ich, wie meine Mutter langsam an die Tür kam. Ihr Mundwinkel hing herunter, genau wie der rechte Arm. Die ganze Körperhälfte wirkte schwach. Sie konnte schon jetzt nicht mehr sprechen. Jedenfalls nicht richtig. Ihre Sätze endeten im Nichts. Dass sie einen Schlaganfall erlitten hatte, war offensichtlich. Sie musste sofort ins Krankenhaus. Doch sie weigerte sich vehement.

Ich rief ein Taxi und lotste sie unter viel gutem Zureden hinein. Als der Taxifahrer das Fahrtziel lautstark wiederholte, wollte sie prompt aussteigen. Und als wir endlich in der Notaufnahme standen, wollte die Ärztin uns wieder nach Hause schicken.

Ich wusste schon, dass das Krankenhaus, in dem wir gelandet waren, nicht gerade Modellcharakter hatte. Eine Kollegin meines Vaters hatte dreißig Jahre zuvor in ihren Personalausweis eintragen lassen: »Im Notfall NICHT in dieses Krankenhaus!« Auch meine Mutter war extra in die Nachbarstadt gefahren, um mich dort zur Welt zu bringen, genau wie die Mutter meiner besten Freundin. Sein schlechter Ruf eilte dem Haus voraus.

Im Taxi hatte ich noch überlegt, fünfzig Kilometer weiter in die nächste Klinik zu fahren, mich dann aber dagegen entschieden. Wenn es ein Schlaganfall war, kam es auf eine schnelle Behandlung an. Und hier gab es sogar eine Stroke Unit, eine Station extra für Schlaganfälle.

Hätte ich gewusst, was uns erwartet, wäre ich mit meiner Mutter ganz weit weggefahren.

Die Ärztin in der Notaufnahme sah sich die Arme und Beine meiner Mutter an, deren Reflexe offenbar noch funktionierten, und bat sie, die Zunge herauszustrecken. Als sie das nicht konnte, befand sie, meine Mutter würde wohl nicht kooperieren wollen, und wir sollten doch bitte nach Hause gehen, anstatt ihre Zeit zu stehlen.

Kaum dass ich etwas darauf antworten konnte, standen wir auch schon wieder auf dem Flur. Ich frage mich bis heute, wieso die Frau dachte, wir wären zum Spaß da. Meine Mutter machte auf Außenstehende offenbar keinen besonders hilflosen Eindruck, sonst hätten ihre Freunde sie ja schon ins Krankenhaus gebracht. Aber zumindest Ärzte sollten die Anzeichen eines Schlaganfalles doch erkennen, hatte ich gedacht.

Vor Sorge war ich am Rande meiner Kräfte, aber irgendwie schaffte ich es, meine Mutter wieder in das Untersuchungszimmer zu bugsieren und die Ärztin aufzufordern, sie eingehend zu untersuchen.

»Fragen Sie sie doch mal etwas!«, bat ich inständig. Seufzend ließ sich die Ärztin zu einem »Welchen Tag haben wir heute?« herab. Erst dann wurde sie endlich aufmerksam: Meine Mutter faselte unverständliches Zeug.

Immer noch widerwillig, schickte sie uns auf den Flur vor der Stroke Unit. Endlich bekommen wir Hilfe, dachte ich. Doch ich hatte mich getäuscht.

Wir warteten vier Stunden auf ein Bett. Der Schlaganfall lag wohl schon ein paar Tage zurück, und die Chance auf eine Akutbehandlung war dadurch sowieso verstrichen. Dennoch ist die Gefahr groß, in den Folgetagen einen weiteren Schlaganfall zu erleiden, der dann tödlich enden kann. Das wissen auch Ärzte und Pfleger. Dennoch wurde meine Mutter erst mal nicht behandelt, und wir wurden ewig auf dem Flur sitzen gelassen.

Als sie endlich als Patientin aufgenommen wurde, war es spätabends, Ärzte waren nicht zu sehen, und es war nur noch ein Pfleger auf der Station. Es schien mir auch eher ein Pflegehelfer zu sein, denn er wirkte hilflos und beschwerte sich bei mir: »Ihre Mutter benimmt sich nicht normal!«

Kein Wunder, sie hatte einen Schlaganfall gehabt, und hier führte man sich so auf, als wären wir ins Krankenhaus eingedrungen und würden unter vorgehaltener Schusswaffe Absurditäten einfordern.

Ihr Zustand verschlechterte sich zusehends, sie wurde immer unruhiger und rutschte ungeduldig im Bett hin und her. Doch anstatt sich um sie zu kümmern, warf der Pfleger mir diesen Umstand vor. Es war völlig absurd.

Mir aber blieb nichts anderes übrig: Ich musste meine kranke Mutter in der Nacht auf der Station zurücklassen und hoffte, dass ihr bald geholfen würde.

In jener Nacht konnte ich kaum schlafen. Mich durchbohrte das schlechte Gewissen, sie in dieser fragwürdigen Einrichtung zurückgelassen zu haben. Als ich gegen Morgen endlich eingeschlafen war, rief mein Bruder an. Ein Arzt des Krankenhauses habe ihn gebeten, sofort zu kommen. Unsere Mutter liege im Sterben.

Ich begriff gar nichts mehr: Wieso war mein Bruder angerufen worden und nicht ich? Ich hatte sie doch eingeliefert. Und ich konnte viel schneller da sein als er. Er musste noch Hunderte Kilometer anreisen. Was war in der Nacht passiert?

Auf der Station herrschte wieder Chaos. Diesmal waren Ärzte da, aber keiner von ihnen wusste die Situation einzuschätzen. Meine Mutter hätte wohl eine Hirnschwellung gehabt, vermuteten sie, weshalb sie nun im Koma liege. Mein Bruder und ich, beide medizinische Laien, hatten inzwischen den Verdacht, dass unsere Mutter in der Nacht einen zweiten Schlaganfall gehabt haben musste. Der wieder nicht erkannt und deshalb auch nicht behandelt worden war. Wir redeten mit Engelszungen auf die Ärzte ein, doch sie hielten an ihrer Diagnose fest.

Nach einigen Tagen erwachte meine Mutter wider Erwarten aus dem Koma. Sie war rechtsseitig gelähmt und konnte nun gar nicht mehr sprechen. Jetzt glaubten uns die Ärzte den zweiten Schlaganfall. Leider zu spät. Weil sie also auch beim zweiten Mal nicht rechtzeitig behandelt wurde, sollte meine Mutter in diesem Zustand bleiben. Für den Rest ihres Lebens.

Das war mir damals aber noch nicht klar. Ich war erst mal nur froh, dass sie überlebt hatte.

»Hoffentlich bleibst du kein Pflegefall«, sagten ihre politischen Weggefährten am Krankenbett, halb ehrfürchtig, halb scherzend. Niemand konnte sich meine Mutter als hilflosen Menschen vorstellen. Am allerwenigsten sie selbst.

Mein Arbeitgeber gab mir drei Wochen frei. In der ersten Zeit im Krankenhaus war meine Mutter kaum ansprechbar. Die Ärzte versicherten, sie sei bis auf die Lähmung und die Aphasie – den Verlust des Sprechvermögens – wieder die Alte. Auf mich wirkte sie ganz anders als zuvor. Im Wachzustand war sie mal verwirrt, dann überemotional, dann wieder abgeflacht. Ich hatte Sorge, sie sei über die Umstände auch noch verrückt geworden.

Das würden sie schon wieder hinbekommen, meine Mutter würde hier am Stock wieder hinausspazieren, versicherten uns die Ärzte in der Reha-Klinik, in die sie kurz darauf eingewiesen wurde. In der Tat war das die beste Einrichtung, in der meine Mutter jemals war. Wenn, dann würde man sie dort wieder hinkriegen, hatten die Ärzte gesagt, als es darum ging, was weiter mit ihr passieren solle. Aber würde sie je wieder nach Hause zurückkehren können, ein selbstständiges Leben führen? Und was, wenn nicht?

Eigentlich hätten wir jetzt die erste Klinik verklagen müssen, in der sie falsch behandelt worden war. Zumal mein Bruder Anwalt war. Aber wir benötigten unsere ganze Kraft jetzt für unsere Mutter.

Es war ja noch alles offen. Wir hatten keine Ahnung, ob sie bald sterben oder sich doch wieder gut erholen würde. Also nahm ich mir ein Zimmer in Köln, um an den Wochenenden bei ihr sein zu können. Von Montag bis Donnerstag arbeitete ich in München, dann düste ich mit dem Flieger zu ihr ins Rheinland, um ihr in der Reha-Klinik zur Seite zu stehen. Die Rehabilitationsmaßnahmen waren auf mindestens ein halbes Jahr angelegt.

Der Anfang war extrem hart. Das Personal war sehr freundlich und wusste genau, was es tat. Man merkte gleich: Hier arbeiteten nur Profis. Doch als ich zum ersten Mal sah, wie die Schwestern zu dritt meine Mutter im Bett herumwälzten, um ihr eine Windel anzuziehen, brach es mir fast das Herz. Ich musste mich abwenden, um nicht in Tränen auszubrechen. Meine große, starke Mutter: plötzlich hilflos wie ein Baby. Sie konnte sich nicht einmal alleine im Bett umdrehen. Sie war inkontinent und musste mit passierter Nahrung gefüttert werden. Nichts ging mehr alleine.

Es war der Moment, in dem mir klar wurde, dass wir jetzt die Rollen tauschen würden. Ich war neunundzwanzig Jahre alt, meine Mutter einundsechzig, und ich war nicht länger das Kind.

Es war ein Schock. Die Gewissheit über ihren Zustand erwischte mich mit voller Wucht. Ich hatte keine Chance, mich zu fragen, ob ich diesen Rollentausch überhaupt wollte. Als ich klein war, hat meine Mutter mir die Windeln gewechselt. Sie hat mich gefüttert, mir das Laufen beigebracht, mich getröstet, wenn ich weinte, und mit mir gelacht, wenn ich fröhlich war. Jetzt würde es andersherum sein. Das war mir augenblicklich klar.

Anfangs traute ich mich aber nicht einmal, sie zu berühren. Ich hatte Angst, ihr wehzutun, etwas kaputtzumachen. Sie wirkte so zerbrechlich, ganz anders als sonst. Als eine Pflegerin kam, sie mit viel Schwung in einen Pflegerollstuhl setzte und befand, wir sollten jetzt spazieren gehen, das Wetter sei so schön, war ich völlig überrumpelt. Wie, spazieren gehen? Ich sollte meine Mutter nach draußen schieben? Das hatte ich noch nie getan. Was, wenn unterwegs etwas passierte?

Nach dem ersten Schreck kam die Freude, sie mit ins Freie nehmen zu können, raus aus der Klinik. Ich musste sie nicht länger im Bett zurücklassen, ich konnte meine Mutter einfach mitnehmen, von der Welt der Kranken in die der Gesunden. Sie saß ein wenig schief im Rollstuhl und war noch blass und fahrig. Aus ihrem Bauch hing ein Schlauch, die Arme waren von Nadeln zerstochen, ihr Haar stand wirr vom Kopf ab. Und doch konnten wir beide jetzt zusammen spazieren rollen für eine halbe Stunde. Ein großer erster Schritt.

Meine Mutter genoss unsere erste Spazierfahrt sichtlich weniger als ich. Sie war das Sitzen nicht mehr gewöhnt, es war kalt draußen, sie wirkte noch sehr schwach, und vielleicht wusste sie auch nicht wirklich, wo sie war. Aber meine Zuversicht wuchs, mich in Zukunft um sie kümmern zu können. Wenn es so leicht ist, den Unterschied zu machen zwischen einem Pflegefall, der nur noch im Bett liegt und an die Wand starrt, und einem Menschen, der trotz aller Einschränkungen wieder am Leben teilhaben kann, wenn es dafür nur jemanden braucht, der ihm hilft, ihn aus dem Bett hebt und an die Hand nimmt, dann werde ich diejenige sein, beschloss ich.

Es gab noch einen weiteren Grund, warum es mir so am Herzen lag, mich selbst um meine Mutter zu kümmern: Die anderen verstanden sie einfach nicht.

Weil beide Schlaganfälle unbehandelt verlaufen waren, waren die von der Blutversorgung zu lange abgeschnittenen und dadurch zerstörten Areale im Gehirn besonders groß. Ihr Sprachzentrum war zerstört. Die Logopädinnen gaben sich die größte Mühe, sie hielten meiner Mutter Karten mit lächelnden Mündern vors Gesicht. Auch ein Sprachcomputer kam zum Einsatz. Doch sosehr sich alle kümmerten, ihre Sprache kehrte nicht zurück. Anfangs brachte meine Mutter nur unverständliche Laute zustande, später kristallisierte sich ein »Mumi« heraus, so ähnlich wie »Mami«. Damit konnten die Pfleger wenig anfangen.

Wie hätten sie auch wissen sollen, dass meine Mutter ihren Kaffee am liebsten mit einem Schuss Milch trinkt, ohne Zucker? Wie ahnen, dass sie stilles Wasser verabscheut, aber Sprudelwasser liebt? Dass sie auf gar keinen Fall Socken im Bett tragen will? Und der Kopf immer hoch gelagert werden muss?

Wir alle sind es gewohnt, ständig miteinander über alle möglichen Kleinigkeiten zu kommunizieren. Wenn einer das nicht kann, fliegt er raus aus unserem Verständnishorizont. Auch die besten Pfleger sind immer nur ein paar Stunden da, dann kommen neue. Das reicht nicht, um jemanden so gut kennenzulernen, dass man sich wortlos versteht.

Erschwerend kam hinzu, dass meine Mutter nicht nur unter Aphasie litt, sondern auch noch eine Umsetzungsstörung hatte, eine sogenannte Apraxie. In ihrem Hirn funktionierten die Gedanken noch, doch die Bewegungsabläufe waren nur teilweise koordiniert. Wenn sie Ja sagen wollte, schüttelte sie den Kopf. Meinte sie Nein, fing sie an zu nicken. Aber nicht immer. Und vor allem merkte sie den Unterschied selbst nicht.