Katya Balen: Mein Bruder und ich und das ganze Universum

Aus dem Englischen von Annette von der Weppen

Manchmal hätte Frank lieber doch keinen Bruder. Max ist fünf, trägt nur ein bestimmtes T-Shirt (davon hat er mittlerweile 15 Stück), isst nur von dem Teller mit der Mickymaus drauf, und regelmäßig hat er kleine Zusammenbrüche. So sehr sich Frank auch anstrengt, Max zu verstehen: Manchmal möchte er einfach ein ganz normales Kind sein und nicht der mit dem bekloppten Bruder.

Und nun wird auch noch Mama sehr krank …

Zum Glück bekommen die beiden Brüder jedoch viel Hilfe auf der Suche nach einem Platz in ihrem ganz eigenen Universum. Und Frank merkt schließlich, dass er trotz allem unheimlich stolz auf seinen kleinen Bruder ist.

 

Für meine Eltern, und für Patrick

Ich bin zehn und Max ist fünf. In sechsundzwanzig Tagen kommt Max in die Schule, und wir wollen neue Schuhe für die neue Schule kaufen. Wir haben sein hartes Plastikbuch mit den kleinen laminierten Klettbildern angeschaut, die ihm zeigen, was jetzt und als Nächstes passiert. An dem Buch ist so ein blaues, seidig weiches Band, mit dem er es sich um den Hals hängen kann, wenn wir unterwegs sind und er wissen muss, was als Nächstes kommt. Aber ihn stört das Gewicht und das Klackern der Plastikseiten, deshalb trägt Mum es immer für ihn. Sie hat ihm die Bilder mit den Schuhen und dem Geschäft gezeigt und wir sind mit Google Street View durch die Straßen gekurvt, damit er sich den Schuhladen schon mal ansehen kann, aber der war nicht zu finden, und jetzt macht sie sich Sorgen Sorgen Sorgen. Ich war dann noch mit Google Street View in Ägypten und wollte ihm die Pyramiden zeigen, aber er ist die ganze Zeit nur auf und ab gehopst, deshalb konnte er sie sich nicht ansehen. Jetzt sitzen wir im Auto. Neue Schuhe neue Schule, sagt Mum zu Max. Max sagt nichts, weil er nie was sagt, und er hört auch nicht auf zu summen, obwohl ich sage, er soll aufhören.

Ich komme nicht auf eine neue Schule, kriege aber trotzdem neue Schuhe. Ich denke, dass Max das vielleicht verwirrend findet, deshalb sage ich zu ihm, dass ich auf keine neue Schule komme. Nur du, sage ich. Du kommst auf eine neue Schule. Max summt immer weiter. Ich sage zu ihm, dass er still sein soll, und Mum sagt ausnahmsweise nicht, Frank, hör auf, ihm zu sagen, dass er still sein soll, weil sie sich wegen neue Schuhe neue Schule Sorgen macht.

Wir kommen beim Schuhladen an und Mum parkt so dicht an einer Mauer, dass ich warten muss, bis sie Max aus seinem Sitz geholt hat. Sie legt ihm seinen Laufgurt an und ich sage Hü-hott!, aber sie lacht nicht. Max flattert mit den Händen, und Mum zeigt ihm sein Spezialbuch und ich sage neue Schuhe!, aber Max gefällt das alles nicht. Mum zeigt ihm Worte mit den Händen, sie sagt neu und erst Schuhe, dann Kekse, aber Max guckt gar nicht hin, also kann er auch nicht zuhören.

Wir gehen in den Laden und Max summt immer noch, deshalb gucken ihn die Leute an. Früher habe ich ihnen dann erzählt, er würde sprechen, aber das mache ich jetzt nicht mehr. Der Laden ist groß, zu groß für Max. Ich sehe niemanden, den ich kenne, und darüber bin ich froh, wenn auch nicht auf die Art, bei der man lächelt. Ich sehe mir ein paar coole Turnschuhe an, solche High-tops mit langen Schnürsenkeln, und halte sie hoch, und Mum sagt nicht Nein, weil sie gerade der Schuhverkäuferin erklärt, dass man Max’ Füße nicht anfassen darf, aber dass er jetzt ungefähr Größe 23 hat. Die Frau sagt, sie würde trotzdem lieber messen, schließlich wollen sie keine Schuhe verkaufen, die nicht passen, und ob das nicht einfacher wäre, als wenn wir sie dann umtauschen müssen? Mum lächelt, aber nicht so richtig, und sagt, dass sie einfach nur die gleichen Schuhe haben will, die Max schon anhat, nur größer, und wenn wir sie dann umtauschen müssen, kommen wir eben noch mal her.

Max summt immer lauter und seine Hände flattern unten an den Seiten, nicht oben in der Luft, deshalb müssen wir bestimmt bald gehen. Mum spricht mit den Händen mit Max und gibt ihm einen Ball zum Kneten, weil das Flattern dann manchmal aufhört. Ich sehe mir immer noch Turnschuhe mit Häkchen drauf an statt Schuhe für die Schule, weil ich heute eh keine mehr kriege, weil es Max hier nicht gefällt.

Die Verkäuferin ist nicht zufrieden und sagt zu Max, er soll mal herkommen, damit sie sich seine Füßchen ansehen kann. Ich würde gern sagen, dass sie den Mund halten soll, aber eigentlich will ich gar nichts sagen, also sehe mir weiter all die knöchelhohen Häkchen-Turnschuhe an und suche mir welche mit blauen Schnürsenkeln aus. Ich nehme sie aus dem Regal und schaue nach der Größe, und es ist genau die richtige. Die Verkäuferin sagt Viele kleine Jungs lassen sich nicht gern die Füße messen, aber dass er doch bestimmt ein braver, kleiner Junge ist und kein Theater macht, und brave kleine Jungs kriegen auch einen Sticker, und ob er Fußball mag, wir haben nämlich auch Fußballsticker, und ob er Fußball spielt oder eine Lieblingsmannschaft hat, und ob er Match Attax-Karten mag, die sind doch bei allen kleinen Jungs der Renner, oder? Und dann sind es einfach zu viele Worte und Max hat seinen Meltdown.

Ich weiß auch nicht, warum das alle immer »Meltdown« nennen. Auf Deutsch heißt das »Kernschmelze«, was eigentlich unlogisch ist, denn wenn etwas schmilzt, wird es weich und läuft zu einer Pfütze zusammen, aber wenn Max schmilzt, wird er das Härteste, was es gibt auf der Welt, und man denkt, gleich sprengt er sich sämtliche Knochen aus dem Körper. Er beißt und beißt und beißt auf seinen Fäusten herum und sein Summen wird ein Schrei von ganz unten aus Brust und Nase und Mund. Er besteht nur noch aus Wut und ist ganz weit weg, weg von sich und von uns und von allem.

Alle Leute im Laden starren den wütenden, beißenden Jungen an, obwohl sie erwachsen sind und es sich nicht gehört, jemanden anzustarren, und die Verkäuferin ist endlich still. Ich starre ihn nicht an. Mum sagt wieder mit den Händen vorbei vorbei vorbei, und sie sagt es auch mit dem Mund. Sie hebt Max hoch, weil er ganz steif und klein und keine Pfütze ist, aber er schlägt und tritt und windet sich sssssss wie eine Schlange. Er steckt die Finger in die Ohren, weil er seine eigenen Geräusche nicht mag, und dann schieben sie sich beide durch die Tür und Mum hält seine Zügel, während er losgaloppiert.

Ich stelle die Häkchen-Turnschuhe mit den blauen Schnürsenkeln zurück.

Vorbei vorbei vorbei.

Mum ist stinksauer auf die Schuhverkäuferin, aber das sagt sie nicht. Ich bin auch stinksauer auf die Schuhverkäuferin, weil sie Max angesprochen hat, als der über einen Abgrund balanciert ist, und sie hat ihn runtergeschubst, immer tiefer und tiefer. Wir versuchen es noch mal, sagt Mum. An einem anderen Tag. Was bedeutet, dass Dad irgendwann losfährt und alles besorgt, während Max zu Hause bleibt und sich dreht, bis ihm schwindelig wird, und dann zuguckt, wie sich alles andere um ihn rum dreht.

Mum nimmt die Spezialklettbilder mit den Schuhen drauf aus dem Spezialbuch von Max und steckt sie in einen Plastikordner, der randvoll ist mit Bildern, die Max nicht mag, und dann gibt sie ihm seinen Spezialspielzeugkäfer, der brummt, wenn man ihm auf die Nase drückt.

Max hat nämlich jede Menge spezielle Sachen.

Er hat

sein Spezialbuch mit den Plastikseiten und den laminierten Klettbildern, die ihm zeigen, was jetzt und als Nächstes passiert

seine Spezialplastikkarten, mit denen Angelique ihm gerade beibringt, sie gegen Sachen einzutauschen, die er haben will

seine Spezialkiste mit lauter Sachen drin, die sich drehen oder blinken oder sonst irgendwie leuchten

seine Spezialknetbälle und -glitzerstäbe und -brummkäfer, die ihm helfen, ein ruhiges Kind zu sein.

Ich habe

meine Fußballpokale

mein knallrotes Fahrrad mit den 21 Gängen

meine Bücher über Detektive und Geheimcodes und das Weltall

ein Schloss an meiner Zimmertür

Als Dad von der Arbeit kommt, fährt er noch mal los und kauft die Schuhe. Ich bleibe zu Hause, weil’s schnell gehen soll, und Max bleibt zu Hause und rotiert. Mum presst sich die Finger gegen die Schläfen, wie immer, wenn ihr fast der Schädel platzt.

Max kriegt die gleichen Schuhe wie schon immer und ewig, und meine sind schwarz, mit Schnürsenkeln, die so rau sind, dass sie mir die Finger wund reiben, und ich wünschte, sie wären anders.

Noch einundzwanzig Tage, bis die Schule anfängt. Max war noch nie auf einer richtigen Schule. Mit drei ist er in den Kindergarten gekommen, aber da ist er jeden Tag immer nur geschmolzen und geschmolzen und geschmolzen. Sein Gesicht war ständig geschwollen, vom Weinen und Sich-selber-Schlagen, und um die Augen rum war alles voller blauer Flecke. Dann hat er ein anderes Kind gebissen und der Kindergarten hat zu Mum gesagt, sie soll ihn abholen. Danach hat sie geweint und Granny M ist vorbeigekommen und war die Ruhe selbst und hat erst mal einen Tee gekocht.

Granny M ist die Mutter von Mum und manchmal finde ich es komisch, dass Mum selbst noch eine Mutter hat, die vorbeikommt und ihr einen Tee kocht. Granny M sieht immer aus wie ein kleiner Vogel, mit den dünnen Ärmchen in ihren Schlabberpullovern und der grauen Hose, aber untendrunter ist sie manchmal wie Stahl, zum Beispiel, wenn die Leute Max anstarren oder wenn ich meine Hausaufgaben nicht gemacht habe. Mum hat ihr erzählt, was im Kindergarten passiert ist, und ich habe zugehört, auch wenn ich so getan habe, als würde ich in meinem Heft an Geheimcodes arbeiten. Ahmed, Jamie und ich hatten uns ein ganzes neues Alphabet aus stachligen Zeichen und Punkten und Linien ausgedacht, und ich habe gerade versucht, all die neuen Buchstaben in meinen Kopf zu kriegen, damit wir uns in der Schule geheime Botschaften schicken konnten. Ich bin mit dem Gesicht ganz nah ans Papier gegangen und habe nicht einmal zu ihnen rübergeschaut, aber ich habe trotzdem kein einziges Wort geschrieben.

Mum hat geweint, mit so kleinen Schluckauf-Schluchzern, und erzählt, Kelsey im Kindergarten hätte gesagt, sie bräuchte eine Sonderausbildung, wenn sie Max weiter betreuen soll. Mum hat immer wieder gesagt Er hat noch nie ein Kind gebissen, nicht mal Frank. Aber ich dachte an die kleinen grünen und blauen Daumenabdrücke auf meinen Armen, die davon kommen, wenn Max mal wieder zu aufgeregt oder zu wütend oder zu warm angezogen ist, und ich fand, dass das Nicht-Beißen eigentlich keinen so richtigen Unterschied machte. Mum hat versucht, ihren Tee zu trinken, und hat sich verschluckt, und Granny M hat ihr auf den Rücken geklopft, und dann hat Mum wieder angefangen zu weinen und gesagt, vor lauter Aufregung könnte sie nicht mal ihren Tee trinken, und wozu ist man eigentlich Britin, wenn man in einer Krise nicht mal abwarten und Tee trinken kann? Und dann hat sie gelacht, aber es klang immer noch wie Schluchzen. Danach ist Max nicht mehr in den Kindergarten gegangen und er und Mum hingen wie die Kletten aneinander.

Noch zwanzig Tage, bis Max in die Schule kommt, und ich sitze in meinem Zimmer und höre zu, wie er schreit und rotiert und schmilzt. Der Schall hallt durch die Dielen zu mir rauf, also steige ich die Treppe zum Dachboden hoch, immer weiter, bis ich sein Gebrüll nicht mehr höre. Die Stufen ächzen und quietschen, aber das liegt daran, dass unser Haus so abgewrackt ist. Sagt Dad jedenfalls immer. Dabei rollt er das r mit der Zunge und schnickt es dann mit der Spitze raus. Max lacht jedes Mal, wenn er das sagt, deshalb sagt er es ziemlich oft. Meine Frau und meine Söhne in unserem abgewrackten Haus. Bei Dad klang das wie was Schönes, aber als ich abgewrackt nachgeschlagen habe, stand da in schlechtem Zustand, heruntergekommen, deshalb dachte ich erst, ich hätte das falsche Wort erwischt.

Unser Haus hat wirklich so merkwürdig bröselige Stellen, und die Wände neigen sich auf uns zu, und die Dielen knarzen, wenn Max sich dreht. Bei Regen riecht das Zimmer ganz oben am Ende der Treppe immer feucht und vermodert, aber außer mir geht da sowieso keiner mehr rauf, deshalb ist das egal. Unsere Haustür ist leuchtend rot gestrichen, weil ich die Farbe aussuchen durfte, als ich fünf war, und ich Rot so schön fand, und überall an den schrägen Wänden hängen gerahmte Bilder, die ich im Kindergarten gemalt habe, und ein paar Bleistiftkritzeleien von Max, als er noch kleiner war, von denen Dad immer sagt, das wäre ganz klar moderne Kunst. Es gibt auch ein paar Bilder von Mum, die sie gemalt hat, bevor wir auf die Welt gekommen sind und die Zeit, die sie sonst immer für sich alleine hatte, auf einmal weg war.

Bevor Max auf die Welt kam, war sie nämlich Malerin, und dieser muffig riechende Raum war ihr Atelier, weil sie immer gesagt hat, das Licht, das durch die schrägen Dachfenster fällt, wäre einfach perfekt. Sie hat das Universum gemalt. Sterne und Himmel und riesige Galaxien, die sich jedes Mal, wenn man hinguckt, ein bisschen verändern und verschieben, sodass sie manchmal irgendwie ganz weit weg aussehen und dann wieder wie etwas, das man schon sein Leben lang kennt.

Früher hat sie ihre Bilder in Galerien ausgestellt und die Leute haben viel Geld dafür bezahlt, und jedes Mal, wenn sie eins verkauft hatte, hat Dad eine Flasche Champagner aufgemacht, und sie sind durch die Küche getanzt und haben aus hohen dünnen Gläsern getrunken. Einmal hat Mum ihren Finger ins Glas gestippt und mir zum Probieren hingehalten, und es hat geprickelt und gebrannt, und ich habe die Zunge rausgestreckt und gerufen, dass ich das nicht mag, und da haben sie beide gelacht. Dann hat Mum mich in die Arme genommen und hochgehoben, fast bis zur Decke, und wir sind zu dritt auf den kalten Küchenfliesen im Kreis getanzt.

Als ich klein war, sogar noch kleiner als Max, ist Mum immer noch jeden Morgen diese Treppe hochgegangen, während ich mit Granny M oder Dad oder der Kinderfrau, deren Namen ich nicht mehr weiß, Raumschiff gespielt habe. Mum hat jeden Morgen ein sauberes blaues Hemd angezogen, immer ein hellblaues Hemd, und wenn sie die Treppe wieder runterkam, waren auf ihrem Hemd und ihrer Haut alle Farben von ihrem neuen Bild zu sehen. Dad hatte immer einen Anzug an, aus irgendeinem dunklen, kratzigen Zeug, und ein Hemd, das den ganzen Tag sauber blieb, und manchmal auch eine Krawatte mit so spitzen Enden wie eine Schlangenzunge, die er zu einem total komplizierten Knoten binden konnte.

Vor Max war er immer so früh zu Hause, dass er mich ins Bett bringen und mir noch was vorlesen konnte, von einem tollkühnen Astronauten, der vor einem rabenschwarzen Himmel durch die Milchstraße schwebt, und von Tim & Struppi, wo Tim alle möglichen Rätsel löst und Codes knackt und damit Verbrecher fängt. Ich fand diese Geschichten alle toll, weil am Ende immer alles zusammenpasste und gut ausging. Dad hat damals gesagt, wenn ich alt genug bin, bringt er mir einen speziellen Computercode bei, weil er das ja auch den ganzen Tag auf der Arbeit macht, aber jetzt bin ich alt genug und warte immer noch darauf.

Irgendwann wölbte sich Mums blaues Hemd dann immer weiter vor, weil in ihrem Bauch ein Baby wuchs, und sie ging nicht mehr ganz so oft die Treppe rauf. Stattdessen hat sie mir geholfen, Sternkarten auf meine Wände zu übertragen und Papierplaneten zu malen, um sie an meiner Zimmerdecke aufzuhängen. Als Max dann auf der Welt war, ist sie gar nicht mehr nach oben gegangen und hat auch keine Bilder mehr verkauft. Und Dad trug seinen Anzug plötzlich so oft, dass der schon aussah wie angewachsen, und es gab auch keine Gutenachtgeschichten mehr, weil er zu spät von der Arbeit kam und Mum sich um Max kümmern musste.

Und jetzt sitze ich auf dem Boden in Mums Atelier, umgeben von ausgetrockneten Farbtuben, die schon lange nicht mehr nach Farbe riechen, und schreibe meine verschlüsselten Worte auf eine riesige, leere, schneeweiße Leinwand. Mein Lieblingscode ist die Zahlen-Abc-Spirale, auch wenn das so ungefähr die einfachste Chiffrierung im ganzen Universum ist, aber ich mag sie trotzdem am liebsten. Chiffrierung ist eigentlich nur ein anderes Wort für Code, aber es klingt so schön, finde ich. Ich weiß nicht, was der schwierigste Code im Universum ist, aber ich will derjenige sein, der ihn irgendwann erfindet. Und keiner soll ihn knacken können, denn mit dem schreibe ich dann alles auf, was an Tagen wie heute in mir brennt.

Noch neunzehn Tage, bis Max in die Schule kommt. Dad ist eben erst von der Arbeit gekommen, dabei hatte er versprochen, zum Abendessen zu Hause zu sein, aber die Essenszeit ist längst vorbei. Mum streitet sich flüsternd und zischend mit ihm über Max und was das Beste ist. Das ist der lauteste Streit, seit Max ihr mal ein blaues Auge verpasst hat, obwohl er eigentlich gar nicht zuschlagen wollte. Hat er dann aber doch, und ihre Wange ist ganz dick geworden, und um ihre Schläfe rum sind lauter kleine blaue Pünktchen aufgetaucht, wie eine Sternengalaxie aus Tränen.

Ich spähe durchs Treppengeländer, während Max friedlich in seinem Zimmer sitzt und eine Murmel in einem Erdnussbutter-Plastikdeckel kreisen lässt, immer rum und rum. Dad steht aufrecht wie ein Soldat, aber die Hände hat er so tief in die Hosentaschen gestopft, dass man die Nähte krachen hört. Mum dagegen breitet die Arme so weit aus, als wollte sie sie gleich mehrmals um ihn rumwickeln, aber stattdessen fängt sie an zu weinen. Sie schluchzt, dass sie so gern mal mit uns irgendwo hinfahren würde, wo es schön ist. Dad macht solche komischen, beruhigenden Zwitschergeräusche und klingt eher wie ein Vogel als wie ein Mensch, aber Mum merkt gar nicht, dass ein Vogelmann in ihrem Wohnzimmer steht. Er muss ihr helfen. Das sagt sie immer wieder. Ihre Augen sind ganz voll und schimmerig und sie ringt nach Luft, als wäre sie kurz vorm Ertrinken.

Ich will das nicht mehr sehen, aber wenn ich mich jetzt bewege, merken sie das sofort, deshalb bleibe ich ganz still sitzen, bis ich selber kaum noch Luft kriege. Mum wischt sich die Augen und schnieft und sagt Es wird schon alles gut werden, oder? Ich wünschte bloß, wir könnten hier mal für eine Weile raus. Und in dem Moment wünsche ich mir, dass in meinem Sparschwein, das wie ein Fußball aussieht, mehr als elf Pfund siebenundvierzig drin wären, denn dann könnte ich mit ihr in den Urlaub fahren, weit weg von diesem abgewrackten Haus.

Noch achtzehn Tage, bis Max in die Schule kommt. Dad sagt, dass er sich ab jetzt mehr um Max und mich kümmern will, und wär das nicht nett, ein bisschen mehr Zeit miteinander? Mum ist in letzter Zeit oft so müde, weißt du, da müssen wir halt ein bisschen mehr mit anpacken. Dabei guckt er ein bisschen schuldbewusst und zerrt an seiner Krawatte, sodass der Knoten immer enger wird.

Er versucht, Max und mich ins Bett zu bringen, aber das klappt überhaupt nicht. Max macht beim Baden Theater, und das macht er zwar immer, aber Dad singt nicht das Badewannenlied und plätschert auch nicht mit der Hand durchs Wasser, um zu zeigen, dass es wirklich genau richtig ist. Und zum Einschlafen stellt er auch nicht den Projektor an, der den Sternenhimmel an Max’ Zimmerdecke wirft und sein kleines Gesicht im Universum badet. Alles geht schief und ich sitze senkrecht im Bett und lausche auf das Gebrüll, das von Zimmer zu Zimmer hallt, bis sich irgendwann Mums sanfte Stimme darüber erhebt und ein Schlaflied singt, das die Geräusche von Max in seinen Mund zurückscheucht.

Ich putze mir die Zähne, ziehe meinen Schlafanzug an, lese vier Seiten in meinem Buch und spiele meine halbe Stunde auf dem iPad, dessen Bildschirm einen Sprung hat, seit Max es mal die Treppe runtergeschmissen hat, zack rumms. Ich stelle selber die Zeit ein, aber weil keiner mir sagt, dass sie rum ist, spiele ich stattdessen eine Dreiviertelstunde, und dann mache ich von alleine das Licht aus, weil mir das auch keiner sagt.

Ich höre, wie Dad sich unten aus Max’ Zimmer schleicht und auf Socken bis vor meine Zimmertür tappt. Als er den Kopf durch die Tür steckt, tue ich so, als würde ich schon schlafen. Ich blinzele durch meine halb geschlossenen Lider, und auch wenn alles ganz verschwommen ist, sehe ich, dass er weint.

Noch siebzehn Tage, bis Max in die Schule kommt, und Mum und ich fahren zum Flohmarkt, um nach Schätzen zu stöbern. Mum weckt mich ganz früh, noch früher als für die Schule, und die Sonne malt orangene Streifen an den Himmel. Wir gehen los, als Dad und Max noch am Frühstückstisch sitzen, und laufen zum Bahnhof, nur wir zwei, ohne einen Max, der in seinem Riesen-Buggy festgeschnallt ist oder neben mir herflattert und -trippelt und mir den ganzen Platz wegnimmt. Nur Mum und ich, und sie fasst mich bei der Hand, obwohl ich schon zehn bin.

Am Bahnhof bestellt sie mir einen Kakao mit extra viel Sahne, die sich wie eine Wolke über der Tasse auftürmt, und auf dem Bahnsteig redet sie mit mir über meine Lieblingssachen. Wir reden über den Weltraum und dass es achthundert Jahre dauern würde, um mit einem Flugzeug zum Pluto zu fliegen, und wie es kommt, dass der Sonnenuntergang auf dem Mars blau ist. Wir müssen keine Lieder singen oder mit den Händen sprechen oder die von Max festhalten, wenn er wieder schmilzt und losbrüllt, weil der Zug so laut über die Schienen rattert. Als wir im Zug sitzen, tippt sie mir unseren Geheimcode in die Hand und ich tippe ihn zurück.

Unser Code ist das Morsealphabet, das vor über hundert Jahren erfunden wurde, bevor es Telefon und SMS und E-Mail gab, aber dafür hatten die Leute damals solche Geräte, mit denen man Nachrichten, die nur aus langen und kurzen Klopfzeichen bestanden, über Tausende von Meilen verschicken konnte. Mit der Taschenlampe kann man auch morsen, indem man sie lang oder kurz aufblinken lässt, aber Mum und ich morsen nur, wenn wir direkt nebeneinander sind, deshalb ist das was Spezielles, das nur uns beiden gehört. Wir tippen mit den Fingern, das hat Mum mir beigebracht, als ich noch kleiner war und wir gelernt haben, mit Max in Gebärdensprache zu sprechen. Wir mussten alle lernen, wie man mit den Händen vorbei sagt und Danke und Keks. Aber wenn ich Angst hatte oder wütend war oder einsam oder traurig, hat Mum manchmal meine Hand genommen und kurzkurzkurzkurz langkurzkurz kurzlangkurzkurz getippt, das heißt hab dich lieb. Nur zwischen uns.

Auf dem Flohmarkt laufen wir durch eine Wolke aus Farben, Formen und Geräuschen und müssen nicht dafür sorgen, dass es aufhört, weil Max nicht dabei ist. Es kommt mir vor, als hätte jemand die Welt angeknipst. Es riecht nach Staub und alten Sachen, und als ein Mann einen Stuhl umwirft, müssen wir nicht gleich wieder nach Hause fahren, weil das zu laut war. Mum entdeckt einen ganzen Stapel Beano-Comics für mich, die ersten, die je erschienen sind, und das Papier ist nach all den Jahren zwar schon ziemlich vergilbt, hat aber keinen einzigen Knick. Ich stelle mir vor, wie vorsichtig das Kind, dem die Hefte damals gehört haben, die hauchdünnen, blütenzarten Seiten umgeblättert haben muss, und ich halte sie in der Hand, als wären sie aus Glas.

Mum erkennt ein Schnäppchen noch auf hundert Meter Entfernung, und als wir uns durch die schmalen Gänge voller Menschen schieben, die in Bergen von Kleidung und Krimskrams wühlen, ist sie die Erste, die das Schillern ganz unten in einem durchnässten Karton entdeckt. Vorsichtig steckt sie die Hand hinein und gräbt sich immer tiefer, bis sie ihre Beute hervorziehen kann. Sie hält ein kleines Stück Licht in der Hand, eine bunt schimmernde Kugel voller Wirbel und Blasen, in denen sich die ganze Welt ringsum spiegelt. Mum sagt, so was nimmt man als Briefbeschwerer, aber für mich sieht es aus wie eine magische Kugel. Sie leuchtet in immer neuen Farben, wie ein Zauberkünstler, der ein Taschentuch nach dem anderen aus dem Ärmel zieht. So einer ist bei Jamies achtem Geburtstag aufgetreten, und ich wollte ihn unbedingt auch bei meinem Geburtstag haben, aber am Ende sind wir dann ins Kino gegangen und Dad musste ja sowieso mit Max zu Hause bleiben.

Als wir nach Hause kommen, legt Mum den Briefbeschwerer auf das Regal in meinem Zimmer, wo auch die Fußballpokale stehen, und sein Licht huscht über das Weltall an meinen Wänden, wo die Sternbilder leuchten und funkeln. Max darf nicht in mein Zimmer, weil hier alle meine Schätze drin sind. Ich habe ein Vorhängeschloss an der Tür, das ich abschließen kann, wenn ich nicht da bin, er aber schon, und das man nur mit einem Zahlencode aufkriegt. Der lautet 2302, weil das mein Geburtstag ist und Max das nicht weiß.

Jetzt finde ich mein Zimmer noch besser als vorher. Mum tritt einen Schritt zurück und sagt, die Glaskugel sähe hier genau richtig aus, wie für unser Haus und für mein Zimmer gemacht. Sie hat ihren Platz gefunden wie ein fehlendes Puzzleteil und ich glühe von innen, weil mir das wie Magie vorkommt und Mum sie nur für mich gekauft hat und sie hier genau richtig aussieht.