Gescheitert in den Wäldern hinter Trier – so enden die Darstellungen der Wüstenväter-Geschichte im allgemeinen nicht. Üblich ist jene glorreiche Perspektive, die ich einmal in einer italienischen Abtei als Wandbild hangen sah:
Ein gewaltiger Baum. Die Wüstenväter als tiefe, knorrige Wurzeln. Dann der unerschütterliche Stamm des benediktinischen Mönchtums. Darüber, weitverzweigt bis ins sattgrüne Laub, alle großen Schulen westlicher Spiritualität.
Von Franz von Assisi bis zu Theresia von Avila die halbe europäische Kultur. Alles fruchtbar erwachsen und erblüht aus der »Weisheit der Wüste«.
Mir sagt die Torheit der Wüstenväter mehr. Und ihr frühes Scheitern. In der Verwahrlosung gescheitert sind die frühen Eremiten um Antonius. Im Militarismus gescheitert ist Pachomius. In der byzantinischen Groteske gescheitert sind die Jünger Simeons. Aber spricht das gegen sie?
Gescheiterten Experimenten verdanken Wissenschaft und Wirtschaft allen Fortschritt. Warum soll ausgerechnet in den göttlichen Dingen, die doch ganz ungewiss sind, nichts anderes gelten als die zwangsneurotische Erwartung des Fehlerfreien? Warum soll ein moderner Mensch nicht, um »zu sich selbst zu kommen«, so viele Experimente wagen dürfen wie ein frühkatholischer Wandermönch?
Wie in der Religion, so in der Sexualität. Darf Männlichkeit wirklich nur bestehen im ach so bemühten Streben nach »echter Partnerschaft«? Warum nicht Männlichkeit experimentell? Männlichkeit als Freiheit und als Abenteuer? »Fliehe den Bischof und die Frau!«
Das Beste an den Experimenten der Wüstenväter ist, dass sie historisch weit von uns entfernt sind. Zwanghaft kopieren können wir sie gar nicht mehr, dafür haben sich die Lebensumstände zu sehr verändert. Um so anregender ist das antike Abenteuer für das freie Spiel moderner Lebensphantasie.
Eine Prognose: Die Zukunft gehört dem Modell Simeon. Der Papst bei uns oder die großen protestantischen Fernseh-Prediger in Amerika sind als TV-Kultfiguren vermutlich nur die Vorläufer einer kommenden Generation von gigantischen Medienheiligen, unter deren elektronischen Säulen sich, wie einst unter Simeons Säule, ein »Ozean von Menschen« drängen wird. Einsamkeit eines Stars als Spektakel für alle. Das ist, vermutlich, das Zukunftsmodell.
Persönlich halte ich es mit dem Archetyp Antonius: Alleinsein als ungezähmtes Abenteuer, Religion als elementare Begegnung mit einem Älteren, der im sokratischen Umgang mit sich selbst etwas mehr Erfahrung hat als ich. Hätte jeder von uns gelegentlich in seiner Nähe einen »Abba«, einen etwas erfahreneren Menschen, der kolossale Betreuungsbetrieb der christlichen Kirchen wäre so überflüssig wie der uferlose Jahrmarkt esoterischer Sinntiefe.
Mir selber hat es genügt, ein einziges Mal einem solchen Abba zu begegnen. Ein alter Franzose war das, ein Mitbruder im Dominikanerorden, über achtzig schon. Da mir sein gallischer Schädel gefiel, trat ich an ihn heran.
Wäre ich ein junger Ägypter des 3. Jahrhunderts gewesen, so hätte ich nur gesagt: »Abba, gib mir ein Wort!« Da ich aber ein junger Europäer des 20. Jahrhunderts war, begann ich, ihm meine »religiösen Probleme« zu erzählen. Mit spürbarem Verdruss hörte mir der Alte zu. Schließlich unterbrach er mich: »Du bist einer, der wenig kann und wenig weiß. Mach es deshalb wie ein Handwerker, der wenig kann und wenig weiß. Beschränke dich auf das Allereinfachste und auf das ganz Elementare.«
In der Nachfolge der Wüstenväter beschränke ich mich auf das Allereinfachste und ganz Elementare: Ich versuche, Antonius von Ägypten nachzufolgen in die gleiche Landschaft und in den gleichen Tod.
Die klassischen Wüsten Ägyptens sind heute, bis auf erbärmliche Reste, zerstört. Auch der sakrale Betrieb in den koptischen Klöstern ist, freundlich gesagt, meine Sache nicht. Aber warum denn nach Ägypten?
Großartig sind die modernen Möglichkeiten, den Wüstenvätern nachzufolgen ins landschaftliche Erlebnis der Gottheit. In der Sahara und in Namibien, in Arizona, in Alaska, in Australien, in Tibet habe ich fast alle Wüsten der Erde so erlebt wie Charles de Foucauld: »Ich kann nicht hinsehen, ohne Gott anzubeten.«
In sommerlichen Nächten lege ich mich daheim aufs flache Dach meines Hauses und schaue hinauf in die grenzenlose Weite des Himmels. Mit Augen. Wie Antonius, wenn er vor seiner Höhle über dem Roten Meer saß. »Mir genügt die Physis der geschaffenen Dinge« (Antonius). Ganz physisch ist der Himmel ein Schauspiel Gottes. Er ist maßlos schön.
Allerdings bin ich nicht der Einzige, dem in der lebenslangen Beschäftigung mit Antonius ein Verdacht gekommen ist. War er wirklich »der Große«? Wie, wenn wir die wirklich Großen unter den Wüstenvätern gar nicht kennten?
Noch war der Orient, verglichen mit heute, wenig bevölkert, die Wüste unerforscht und grenzenlos. Wer wirklich wollte, konnte ganz verschwinden. Ohne Knäckebrot-Spuren. Ohne Fan-Gemeinde. Ohne als »der Große« gefeiert zu werden. Er konnte leben, wie Antonius gestorben ist.
Im Land des denkbar größten Totenkultes, im Ägypten der Mumien und der Pyramiden, stirbt Antonius als erster, spurlos und anonym, den modernen Tod.
Unter vielen Milliarden Mitmenschen müssen wir heute so sterben: Wir verschwinden spurlos und anonym. Antonius ist uns vorausgegangen ins Namenlose und Unbekannte, nicht bedrückt und verzweifelt, sondern freiwillig, bewusst und gelassen.
Persönlich stärker bewegt als die große »Vita Antonii« des Athanasius hat mich deshalb die kleine Geschichte einer Nonne, die Palladius in der Historia Lausiaca erzählt:
In einem der beiden Frauenklöster des Pachomius, Tabennesi gegenüber am andern Ufer des Nils, lebte »eine Nonne, die Torheit und Besessenheit vorgab«. Nur die gemeinsten Arbeiten durfte sie verrichten und nicht mit den anderen zusammen essen. Nach den Mahlzeiten gehörte es zu den Vergnügungen der anderen Nonnen, »über die Spinnerin das Spülwasser auszugießen«. Doch der Eremit Piterum erkannte, dass dies die einzige Heilige in jenem Kloster sei. Er ging hin und fiel ihr zu Füßen: »Segne mich!«
Jene aber ertrug diese Ehrung nicht. Wenige Tage später verließ sie das Kloster. »Wohin sie gegangen ist«, schließt Palladius, »wo sie sich versteckt hat, und welches ihr Ende war, weiß niemand. «
Die Literatur über die Wüstenväter, urteilt der französische Historiker Jacques Lacarrière, »ist außerordentlich dürftig«. Das stimmt so nicht. Ein winziger Kreis von Mönchen und Professoren produziert eine staunenswerte Fülle unlesbarer fachhistorischer Geheimliteratur. Fast unauffindbar sind dagegen, jedenfalls auf deutsch, Bücher, die der Allgemeinheit etwas sagen wollen oder gar können.
Palladius: Historia Lausiaca. Die frühen Heiligen in der Wüste. Herausgegeben und aus dem Griechischen übertragen von Jacques Lager. Zürich 1987.
Das ist der leicht und geistreich geschriebene Bericht über die Wüstenväter, den Palladius um 420 für den byzantinischen Hofkämmerer Lausus verfasst hat. Dank ausgezeichneter Übersetzung ein großer Lesespaß.
Wer Sinn hat für die Schönheit des Gruseligen, ruhe nicht, bevor er die Regel des heiligen Pachomius gelesen hat. Aber Achtung: Übersetzung kann schönen. Jesuitenpater Bacht übersetzt »nates« mit »die Oberschenkel«, obwohl zwei lateinische »nates« in alle Ewigkeit nichts anderes sind als ein deutscher »Arsch«:
Die Regel des Pachomius (lateinisch-deutsch), in: Heinrich Bacht: Das Vermächtnis des Ursprungs. 2. Band: Pachomius – Der Mann und sein Werk. Seiten 9 – 288. Würzburg 1983.
Von allen antiken Quellen heute noch am spannendsten sind die Reportagen des Syrers Theodoret über die Wüstenväter seines Landes. Die Übersetzung ist ältlich, um so köstlicher dafür die Einführung durch einen deutschen Benediktiner der Kaiserzeit:
Theodoret von Cyrus: Historia religiosa oder Geschichte der Gottesliebe. Unter dem Titel »Des Bischofs Theodoret von Cyrus Mönchsgeschichte« als Band 50 in der BKV 2 (Bibliothek der Kirchenväter, neuere Reihe) erschienen. Einführung von Chrysostomus Baur. München 1926.
Allgemeinverständlich schrieben früher wilhelminische deutsche Professoren, heute nur noch einige französische Historiker. Jacques Lacarrière, ein Atheist, erzählt brillant die große byzantinische Legende der Wüstenväter. Die religiöse und soziale Realität kümmert ihn etwas weniger:
Jacques Lacarrière: Les hommes ivres de Dieu. Paris 1975. Auf Deutsch erschienen unter dem Titel: Die Gott-Trunkenen. Wiesbaden 1967.
Eine ideale Ergänzung zu Lacarrière ist das gleichfalls hervorragend lesbare Buch des Benediktiners Lucien Regnault über den »Alltag der Wüstenväter in Ägypten im 4. Jahrhundert«:
Lucien Regnault: La vie quotidienne des pères du désert en Egypte au IVe siècle. Paris 1990.
Von den Klassikern der evangelischen deutschen Geschichtsschreibung verdient trotz seiner berüchtigten Trockenheit als erster gelesen zu werden:
Karl Heussi: Der Ursprung des Mönchtums. Tübingen 1936.
Die neueste Forschung über die Wüstenväter ist unter dem Stichwort »Koptologie« zu suchen. Sie steht stark im Zeichen der Archäologie sowie einer ägyptozentrischen Variante der Befreiungstheologie. Ein sehr guter Überblick (mit Bibliografien) findet sich in einer umfangreichen Doppelnummer einer französisch-ägyptischen Fachzeitschrift:
Le monachisme égyptien (dossier), in: Le Monde copte. Revue semestrielle de culture égyptienne. Nr. 21 – 22. Limoges 1993.
Eine kauzige Synthese aus Common sense und Fachwissen ist einem britischen Historiker gelungen:
Derwas J. Chitty: The Desert a City. An Introduction to the Study of Egyptian and Palestinian Monasticism under the Christian Empire. Oxford 1966.
Zu Pachomius und den ersten Klöstern gibt das bereits erwähnte Werk des deutschen Jesuiten Heinrich Bacht den heutigen Stand der Forschung umfassend und zuverlässig wieder. In Details überholt, dafür unübertrefflich klar, aufgeklärt und kurz schreibt ein wilhelminischer Protestant:
Georg Grützmacher: Pachomius und das älteste Klosterleben. Ein Beitrag zur Mönchsgeschichte. Freiburg i. B. 1896.
Syrien war französisches Mandatsgebiet. Deshalb stammen die beiden einzigen wirklich aufschlussreichen Untersuchungen über die Säulenheiligen von französischen Historikern:
Hippolyte Delehaye: Les saints stylites. Brüssel und Paris 1923.
Ferner:
A. J. Festugière: Antioche païenne et chrétienne. Paris 1959.
Wer zum Schluss die Nase voll hat von Asketen, Wüstenvätern, Mönchen und Säulenheiligen und sich nach sexual correctness zurücksehnt, der lese zur antiklerikalen Erfrischung und Erbauung:
Peter Brown: Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit im frühen Christentum. München 1994.
STAAT UND KIRCHE: | WÜSTENSZENE: | ||
---|---|---|---|
249 – 251 | Decius Kaiser. Christenverfolgung | 251 | Antonius von Ägypten geboren |
271 | Antonius wird Asket | ||
284 | Diokletian wird Kaiser | 285 | Antonius in Pispir (2. Einsiedelei) |
292 | Pachomius geboren | ||
303 – 311 | Letzte römische Christenverfolgung | 313 | Antonius in der Höhle von Kolzim (3. Einsiedelei) |
313 | Edikt von Mailand | 320 | Pachomius gründet das Kloster Tabennesi |
324 | Konzil von Nizäa. Konstantin Alleinherrscher | 330 | Amun und Makarius in der Nitrischen Wüste |
328 | Athanasius Erzbischof von Alexandrien | ||
337 | Konstantins Taufe und Tod | 345 | Mordanschlag auf Pachomius |
346 | Pachomius stirbt an einer Seuche | ||
356 | Tod des Antonius | ||
357 | Athanasius schreibt die Vita Antonii | ||
361 – 363 | Julianus Apostata Kaiser | ||
373 | Erzbischof Athanasius stirbt | 373 – 375 | Melania und Rufin reisen nach Ägypten |
386 | Augustinus bekehrt sich | 383 | Paula und Hieronymus reisen nach Ägypten. Evagrius Ponticus reist nach Ägypten. Kassian reist nach Ägypten |
392 | Kaiser Theodosius verbietet alle heidnischen Kulte | ||
389 | Simeon der Säulenheilige geboren | ||
394 | Griech.-röm. Wüstenexpedition (lateinischer Bericht von Rufin) | ||
410 | Die Westgoten plündern Rom | 404 | Hieronymus übersetzt die Regel des Pachomius |
407 – 408 | Verwüstung Nitriens. Moses ermordet | ||
412 | Simeon der Große bricht aus dem Kloster aus | ||
431 | Konzil von Ephesus | 419 | Reisebericht des Palladius (Historia Lausiaca) |
421 | Kassian beginnt seine Buchserie über die Wüstenväter | ||
451 | Konzil von Chalzedon. Attila auf Katalaunischen Feldern besiegt | 450 | Theodorets Buch über die syrischen Wüstenväter |
451 | Daniel der Säulenheilige kommt nach Byzanz | ||
455 | Die Wandalen plündern Rom | ||
457 | Leo der Große wird Kaiser | 459 | Simeon der Säulenheilige stirbt |
493 | Daniel stirbt auf der Säule in Byzanz | ||
529 | Kaiser Justinian schließt die letzte heidnische Philosophenschule in Athen | 529 | Benedikt gründet Kloster Monte Cassino |
565 | Bischof Magnerich von Trier zerstört die Säule des Wulflaicus | ||
Nicht zu vergessen: | |||
570 | Mohammed geboren |
, , , , , | Alain et Evelyne Chevillat, Lyon |
, , | Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin |
, | Rembrandt, Der hl. Hieronymus am Fuße eines Baumes lesend, Öffentliche Kunstsammlung Basel, Kupferstichkabinett, Foto Martin Bühler |
, , | Biblioteca Vaticana |
Andere Abbildungen privat
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»Siebenmal standen wir im Angesicht des Todes.« So schildert ein Teilnehmer die Gefahren jener religiösen Expedition in die ägyptische Wüste, zu der im Jahr 394 eine verwegene Gruppe von Griechen und Römern von Palästina aus aufgebrochen war. An Ort und Stelle, mitten in der Wüste, wollten sie selber nachsehen, was wirklich dran war an den unglaublichen Gerüchten, die ganz Europa in Bann schlugen, den griechischen Osten und den lateinischen Westen. Ob es sie wirklich gebe, jene religiösen Abenteurer, denen in der tiefsten Einsamkeit der Wüste Ägyptens Erlebnisse nachgesagt wurden, wie sie so extrem nie zuvor ein Mensch an Leib und Seele erfahren hatte.
Die Wüstenväter!
Sie in Fleisch und Blut zu sehen und sie ganz persönlich zu interviewen war das erklärte Ziel der siebenköpfigen Expedition. Doch vor dem Ziel kam der Weg. Er erwies sich, wie so häufig in der Religion, als zum Verzweifeln lang und schwer. Rufin von Aquileja, der die lateinische Fassung des Expeditionsberichts besorgt hat, hält wörtlich fest: »Das erste Mal gerieten wir in Todesgefahr, als wir fünf Tage und fünf Nächte lang zu Fuß hin und her durch die Wüste zogen. Fast wären wir da an Hunger und an Durst gestorben.« Doch schlimmer als die Sandstürme waren die Salzdünste der Wüsten westlich vom Nil: »Das zweite Mal war es, als wir in einem Salz-Sumpf den Weg verloren. Wie zu Pfählen ist dieses Salz versteinert, und zwar so spitz, dass es uns die Füße aufschlitzte. Grauenhaft schmerzten unsere Wunden, und wir waren nahe daran, das Leben zu verlieren.«
In der nächsten Salzpfanne half nur noch Beten: »Beim dritten Mal versanken wir bis zu den Hüften im stinkenden, fauligen Morast. Dem Tode nahe schrien wir wie David: ›Herr, komm zu Hilfe, die Wasser gehen uns ans Leben. Wir gehen unter im tiefen Schlamm, und unsere Kraft versagt.‹«
Von Menschenbrüdern kein Beistand in der Not: »Das vierte Mal gerieten wir in Todesgefahr, als wir der Küste entlang einen Weg suchten und dabei Räubern in die Hände fielen. Mit ihren Schwertern uns zu töten gelang ihnen nicht. Doch wir starben fast an den Erschöpfungen der Flucht. Mehr als zehn Meilen weit rannten die Banditen hinter uns her.«
Auch hatte niemand die sieben Griechen und Römer gewarnt, wie leicht der Reisende in Ägyptens Wüste ein nasses Grab findet: »Das fünfte Mal war es, als wir in jener Wasserwüste fast ertranken, die von der Flut des Nils zurückzubleiben pflegt. Drei Tage brauchten wir, bis es uns unter äußerster Not gelang, den Wassermassen wieder zu entkommen.« Auch der Gedanke, die Wüstenfahrt zu Schiff fortzusetzen, erwies sich rasch als Fehlentscheidung: »Das sechste Mal gerieten wir auf dem Nil selber in Todesgefahr, als das Boot, mit dem wir segelten, kenterte.«
Die falsche Jahreszeit war es auch: »Anfang Januar wollten wir, östlich von Alexandrien, den Mariotis-See überqueren. Da drohte uns ein siebtes Mal der Tod. Zwischen allen Papyrus-Stauden ließ uns ein Orkan auf einer einsamen Insel stranden. Drei Tage und drei Nächte saßen wir dort hilflos unter freiem Himmel im eiskalten Sturm.«
»Siebenmal im Angesicht des Todes.« Das, so fährt Rufin in modern anmutender Ironie fort, »müsste eigentlich reichen«. Doch da war ein achtes Mal. Das war der Schrecken schlechthin.
Beim achten Mal kamen die Krokodile.
»Eine Höhle war da, die voll Wasser stand. Am Rand dieser Höhle aber sonnten sich drei ungewöhnlich große Krokodile.« So reglos lagen sie da, dass die Reisegruppe dem frommen Irrtum verfiel, die Reptilien seien tot: »Wir schlichen also näher auf sie zu, um die maßlose Größe dieser Bestien zu bestaunen. Doch die Geräusche, die wir dabei machten, weckten sie. Und mit gewaltiger Kraft rannten sie hinter uns her.«
Wieder rannte die Expedition um ihr Leben. Doch diesmal rannte sie in die richtige Richtung. Dort nämlich, wo selbst Krokodile schaudernd kehrtmachten, tief im Wadi Natrun, und tiefer noch in der Wüste, wohin selbst Räuberbanden die Fremden zu verfolgen sich nicht mehr getrauten, planlos herumirrend und doch von Gottes Vorsehung wunderbar geleitet, erreichte die griechisch-römische Expedition im Jahr 394 ihr ägyptisches Ziel:
Die Wüstenväter!
Die Augen liefen ihnen über, den sieben Griechen und Römern, so verblüffend übertraf gleich bei der ersten Begegnung die Wirklichkeit der Wüstenväter alle Phantasie. Gewiss sahen die ägyptischen Eremiten so aus, wie man sie sich in den großen Städten rings ums Mittelmeer vorstellte: knochenhager, schmutzstarrend und zerlumpt. Doch zu gleicher Zeit waren sie, ganz augenscheinlich, bei fabelhafter Gesundheit. So kerngesund wie der heilige Kopres. Obwohl schon neunzig Jahre alt, empfing er die Expedition nicht nur in heiterster Laune, sondern auch in bester Form. In derart jugendlicher Form war der Wüstenvater Kopres, dass er nicht nur vor seinen staunenden Gästen ein Wunder nach dem andern wirkte, sondern ganz nebenbei noch etwa fünfzig junge Möchtegern-Wüstenväter im Wüsten-Survival – materiell und spirituell – trainierte.
Abraham sei auferstanden, dachte die Expedition zuerst, als sie den heiligen Johannes von Diolcus traf. So biblisch alt sah er aus. Mit einem Bart so lang und schön wie Aarons Bart. Dabei wirkte er ebenso munter und gesund wie Kopres. Und auch er war damit beschäftigt, zahlreiche lerneifrige Jünglinge im Wüsten-Survival zu trainieren.
Woran lag das, die verblüffende Gesundheit von Männern, die sich doch allen Entbehrungen der Einsamkeit aussetzten, und das in einer Landschaft von äußerster Menschenfeindlichkeit?
Es hatte etwas mit der Ernährung zu tun. Obwohl sie untereinander über die richtige Diät stritten, waren die ägyptischen Einsiedler alle eines: radikale Vegetarier. Der Wüstenvater Elias zum Beispiel erzählte der Expedition, er sei 110 geworden und werde noch viel älter, weil er, seit vielen Jahren schon, täglich nur drei Unzen Brot esse und, als Nachtisch, drei Oliven. Der Wüstenvater Or dagegen, trotz seinem »schneeweiß leuchtenden Bart« erst neunzig, schrieb seine Gesundheit der ausschließlichen Ernährung mit »Kräutern und süßen Wurzeln« zu. Radikaler noch war der Wüstenvater Johannes, den die Expedition nur mit Mühe fand, weil er, versessen auf bestimmte Kräuter und Gräser, den festen Wohnsitz aufgegeben hatte und quer durch die Wüste, wie ein Hirsch, »weidete«.
Nicht dass sich die Wüstenväter selber als »Vegetarier« bezeichnet hätten. Ihrer Zeit entsprechend sprachen sie von »askesis«. Der Sinn dieses griechischen Wortes hat sich seit dem Mittelalter zur »Askese« verengt und verdünnt. Damals, in der späten Antike, war »askesis« aber noch ein alltägliches Wort. Es hieß soviel wie »Training«. Einübung also in irgendein Können, vor allem sportliches Training. Erklärter Zweck des christlichen Trainings in der Wüste war es, Körper und Geist zu trainieren für die Erfahrung der göttlichen Wirklichkeit.
Sinn und Ziel jeglichen Trainings ist der Erfolg. Wie aber konnte die griechisch-römische Expedition überprüfen, ob die ägyptischen »Athleten Gottes«, allein in der Wüste, tatsächlich Gott erfahren hatten? Ganz einfach. Wie heute noch bei den Hindus, so gab es dafür im Jahr 394 für Heiden und für Christen ein klares, leicht überprüfbares Kriterium: Wer Gott wirklich erlebt hat, besitzt hinfort selber göttliche Kraft. Das heißt: Er ist fähig, Wunder zu wirken. Von einem ägyptischen Einsiedler zum andern reisend, wurden die griechisch-römischen Expeditionäre, zunehmend fassungsloser, Zeugen unglaublicher Wunder.
Am unglaublichsten war das lockere Understatement, mit dem die Wüstenväter ihre Wunder vollbrachten. »Ja gewiss«, sagte der heilige Kopres, »wir machen Blinde wieder sehen und Lahme wieder gehen. Aber ist das ein Wunder? Es sind Kleinigkeiten, vollbracht von kleinen Männern. Auch Ärzte können so etwas.«
Was echte Wunder sind, erfuhr die Expedition in der Eremitage des heiligen Patermuthius. Dieser ehemalige Mörder und Grabschänder hatte sich nach seiner Bekehrung zum Wüstenvater nicht ohne guten Grund auf die Auferweckung von Toten spezialisiert. So viele Tote hat Patermuthius auferweckt, dass er nach einer Weile vorsichtig wurde und den jeweiligen Toten lieber vorher fragte, ob er denn überhaupt auferweckt werden wolle. In jenen beiden Fällen, die Rufins Expeditionsbericht im Detail schildert, kam aus der Tiefe des Grabes laut und deutlich der Bescheid: »Nein, lieber nicht!«
Wie findet einer, der allein und einsam weit draußen in der Wüste lebt, überhaupt Gelegenheit, Tote zu erwecken? Anders als ein Kranker kann ein Toter schließlich nicht auf ein Kamel steigen und den Wüstenvater besuchen. Nun. Wie so viele Wüstenväter war Pathermutius ein Mann von wundersamer Mobilität. So wie Jesus über den See Genezareth, so wandelte er, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, trockenen Fußes über den Nil. Als Patermuthius gar, um einem anderen Wüstenvater einen Kurzbesuch abzustatten, hoch durch Ägyptens Luft geflogen kam, wusste die Expedition nicht mehr, wo ihr der griechisch-römische Kopf stand. Rufin von Aquileja schreibt: »Hier sind so viele Wunder, dass wir es aufgeben, sie alle aufzuschreiben. «
Es war der 90-jährige Johannes von Lykopolis, einer der berühmtesten Einsiedler in der Thebäischen Wüste, der es übernahm, die in allzu wundersame Wunder abgeflogene Expedition wieder auf den Sand der asketischen Tatsachen zurückzubringen. Gewiss, groß seien die Wundertaten, zu denen die Askesis befähige, räumte Johannes ein. Doch allen übernatürlichen Gaben zum Trotz bleibe bei den meisten »athletae Domini« ein schwacher Punkt.
Gebannt hingen die sieben Griechen und Römer am Mund des 90-jährigen Ägypters: Was ist das, der schwache Punkt aller Askese?
Seit vierzig Jahren schon, berichtete Johannes seinen Gästen, lebe er mit Bedacht so tief in der Wüste, dass er gar keine Möglichkeit habe, eine Frau zu sehen. Und doch sei ihm, kürzlich erst, etwas Verrücktes passiert.
Urplötzlich nämlich, mitten durch die Wüste, kam »eine bildschöne Frau« auf seine Einsiedelei zugewandert. Nicht weil sie so schön war, ließ der Heilige sie in seine Höhle, sondern weil sie zum Erbarmen jammerte. Wortreich erzählte sie ihm, wie sie sich in der Wüste verirrt habe. »Auf diese Weise«, berichtet Rufins Protokoll, »zog sie die Unterhaltung in die Länge und drängte allmählich zur Liebe. Weiter ging die Plauderei, es wurde gelacht und geflirtet. Mit ihrem vielen Reden verwirrte sie ihn. Dann streichelte sie gar seine Hand, seinen Bart und seinen Hals. Schon war er nicht mehr bei Verstand, zum geilen Hengst war er geworden. «
Wie wird es weitergehen in der Einsiedelei des heiligen Johannes?
»Plötzlich schrie sie laut auf, entwand sich seinen Armen, war nicht mehr zu sehen und entschwand wie ein Schatten. In der Luft aber hörte er das schallende Hohngelächter der Dämonen. Sie lachten ihn aus, weil es ihnen gelungen war, ihn mit dem verführerischen Trugbild zum Narren zu halten.«
Einen Augenblick schwieg Johannes von Lykopolis. Das, gestand der Ägypter sodann seinen europäischen Gästen, sei eben der schwache Punkt der Askese. Die eigentliche Verkörperung des Fleisches sei die Frau. Gerade dann, wenn der Mann sie fliehe, weit draußen in der Wüste, dränge sie sich der männlichen Phantasie übermächtig auf. Der 90-jährige Asket wörtlich: »Unauslöschlich ist die Erinnerung an ihren Anblick und an die Unterhaltung mit ihr.«
Staunend hörte die Expedition den erotischen Erzählungen des Wüstenvaters zu. Staunend und ein bisschen ungläubig. Wer hielt da eigentlich wen zum Narren? Der Teufel den Wüstenvater oder der Wüstenvater die Expedition? Der Mann war schließlich neunzig. Wollte ein steinalter Ägypter sich vielleicht nur lustig machen über sieben Griechen und Römer, die, weithergereist aus den sexgläubigen Großstädten rund ums Mittelmeer, ihr Leben riskiert hatten, um ihn als asketische Sensation zu bestaunen?
Ein Wort ging um unter den Einsiedlern Ägyptens. Ein Spruch oder, wie damals auch die Ägypter auf griechisch sagten, ein »Apophthegma«. Der Altvater Os, der große Lehrer der Eremiten im Wadi Natrun, hat es als Erster ausgesprochen. So bedeutsam, als wäre er der Anfang aller Weisheit, ging in der Wüste dieser Spruch von Mund zu Mund: »Entweder fliehe gründlich die Menschen, oder verspotte die Welt und die Menschen, indem du dich selber, soviel als möglich, zum Narren machst.«
Verwirrt zog die Expedition weiter. Doch als sie ankamen an ihrem nächsten Etappenziel, in der Einsiedelei des heiligen Isidorus, verloren die sieben Griechen und Römer endgültig die Fassung.
Einen Einsiedler stellt man sich einsam vor. So wirr und widersprüchlich die Gerüchte sein mochten, die in Konstantinopel und in Rom über die Wüstenväter Ägyptens im Umlauf waren, in einem war sich doch die antike Welt einig: Was diese Männer auszeichnete, war das Abenteuer extremer Einsamkeit. »Eremitae« nannte man sie deshalb in Rom, von griechisch »eremos« für »einsam, isoliert«. Ein zweites Wort war »anachoretae«, das heißt etwa »Aussteiger«. Am gebräuchlichsten aber war das Wort »monachi« von griechisch »monos« für »allein«. Daraus ist unser Wort »Mönch« geworden. Im Jahr 394 aber war »monachus« noch kein sakral erstarrtes und verengtes Wort, sondern entsprach in der Bedeutung unserem Wort »Single«.
Menschen ganz allein in tiefster Einsamkeit: Mit dieser selbstverständlichen Vorstellung im Kopf war die griechisch-römische Expedition losgezogen nach Ägypten. Schon beim heiligen Kopres und beim heiligen Johannes von Diolcus hatte sie sich ein bisschen gewundert. So sehr waren beide in ihren Einsiedeleien von Jüngern umlagert. Jetzt, in der Einsiedelei des heiligen Isidorus, liefen ihr die Augen über: Gut tausend einsame Männer lebten, rund um den heiligen Isidor, auf einem Haufen zusammen in dieser »Einsiedelei«.
In der nächsten Etappe dann, am Moeris-See, wollte die Expedition zum heiligen Serapion. Doch hatte sie große Mühe, zu ihm persönlich vorzudringen. Unter dem Einsiedlerchef Serapion, so die Schätzung des Expeditionsberichts, lebten in dieser »Einsiedelei« etwa »zehntausend Brüder«. Rufin von Aquileja fassungslos: »Einen wirtschaftlichen Großbetrieb hatte er mit der Arbeit der Brüder aufgebaut.«
Der Einsiedler als Unternehmer? Die Einsiedelei als »wirtschaftlicher Großbetrieb«?
Je tiefer die Expedition vordrang in die Wüste Ägyptens, desto dichter wimmelte es in der Einöde von einsamen Männern. Wahrscheinlich, schätzt Rufin von Aquileja, gebe es inzwischen so viele Einsiedler in der Wüste »wie Menschen in den großen Städten« ums Mittelmeer. An das ursprüngliche Ziel der Expedition, nämlich »alle Wüstenväter zu besuchen«, sei unter diesen Umständen nicht mehr zu denken, »selbst wenn einer das ganze Leben lang in der Wüste herumzöge«.
Einsiedler ohne Zahl. Doch eins fällt auf: Kreuz und quer durch alle Wüsten Ober- und Unterägyptens ziehend, hat die Expedition zwar – Rufin gebraucht das Wort – »eine Armee« von Wüstenvätern gefunden, doch eines nicht: Sie traf keine einzige Wüstenmutter.
Ist die Sehnsucht nach Einsamkeit etwas genuin Männliches? Oder hat die Expedition des Jahres 394 nicht sorgfältig genug geforscht? Warum enthält Rufins Bericht kein Wort über Maria von Ägypten, die große Wüstenmutter, die noch einen Goethe »hinangezogen« hat?
Wir werden eine eigene Expedition ausrüsten müssen. Alle Wüsten Ägyptens und Syriens wollen wir durchkämmen auf der Suche nach den Wüstenmüttern. Finden werden wir sie, die Wüstenschwestern unserer Seelen, ob sie selber, tief in der Wüste, gefunden werden wollen oder nicht.
Die Expedition des Jahres 394 hatte anderes in ihrem antiken Männerkopf. Sie wollte, auf dem Rückweg schon, in die Nitrische Wüste. Das ist eine Salzsenke etwas südwestlich vom Nildelta. Dort war kurz zuvor schon Palladius, ein religiöser Tourist aus Konstantinopel, auf »etwa fünftausend« Einsiedler gestoßen. Inzwischen waren es noch mehr. So viele Einsiedler, dass in der Nitrischen Wüste bereits verdächtig ähnliche Probleme herrschten wie in einer deutschen Eigenheim-Siedlung.
In Höhlen hatten die ersten nitrischen Einsiedler gehaust. Längst waren alle Höhlen besetzt. Jetzt wurde gebaut. Am laufenden Band. Als Baulöwe in der Wüste tat sich der Wüstenvater Ammonius hervor. Er entwickelte, berichtet der staunende Rufin, ein Schnellbauverfahren für Einsiedeleien: »Und an einem Tag waren die Zellen fertig«.
Das Wort »kellion« (»Zelle«) klingt heute nach Reihenbau. Ganz so schlimm war es im Jahr 394 aber noch nicht. Immerhin war das Gedränge unter den Einsiedlern schon so stark, dass für Neuankömmlinge regelrechte Bauvorschriften erlassen wurden: Zwischen den einzelnen Einsiedeleien solle wenigstens so viel Abstand bleiben, dass kein Einsiedler den andern »leicht beobachten«, dass vor allem »keiner hören kann, was der andere redet«.
Die Wüste als »civitas«. Als Stadt. Eine Frage drängte sich der antiken Expedition auf, die sich auch uns durch dieses ganze Buch immer neu stellen wird: Gibt es vielleicht auf Erden nichts, was so eng und dauerhaft Gemeinschaft stiftet wie das Erlebnis der Einsamkeit?
Oder ist das bloßer Tiefsinn und somit Unsinn? Seit es die Menschheit gibt, ist sie mit Dummheit geschlagen. Die allerälteste Dummheit ist, dass einer dem andern nachläuft. Ist es da nicht die allerdümmste Dummheit, wenn einer dem andern nachläuft in die Einsamkeit?
Dies schlüssig zu erkunden, kam die Expedition des Jahres 394 zu spät. Eine Generation zuvor schon war er gestorben. Er, der als erster und allein, auf eigene Gefahr, das Abenteuer radikaler Einsamkeit gewagt hatte. Er, der wahre »monachos«, der wahrhaft Einsame, dem Unzählige nachfolgen sollten in das Erlebnis der Wüste:
Antonius der Große!
Das Antoniuskloster heute
Als Antonius im Jahr 313 ein drittes Mal das Niltal verließ und hinauszog in die Wüste, diesmal ostwärts bis hin zu einer Höhle am Berg Kolzim, schon fast am Roten Meer, da, so berichtet sein Freund und Biograph Athanasius, überkam ihn eine neue, ungeahnte Empfindung: »Antonius begann den Ort zu lieben.«
Diesen Ort heute zu besuchen ist nicht schwer. Von Kairo aus sind es im Auto drei Stunden. Auch wer abends erst, in der Dunkelheit, ankommt, kann sein Ziel nicht verfehlen: Als wäre es ein Casino in der Wüste von Las Vegas, so feenhaft beleuchtet taucht das koptische Antoniuskloster in der Wüste auf.
Vor dem Kloster ein immenser Parkplatz. Der größte Parkplatz von Ägypten, sagen manche. Für die vielen Autobusse voll koptischer Familien aus Kairo und aus Oberägypten. Dazwischen die Leihwagen mit bildungsbeflissenen TouristInnen von allen Badestränden am Roten Meer. Eine unabsehbare Prozession wimmelt, noch zu dieser späten Stunde, auf dem frisch betonierten Pilgerweg bergwärts zur »Höhle des heiligen Antonius«. Wo die Einsiedelei, hoch da droben, liegen mag, ist auch in der Dunkelheit leicht zu erraten. Eine Lichterkette aus vielen schwankenden Taschenlampen markiert den Weg verspäteter Wallfahrer etwa so wie bei uns in sommerlichen Nächten den Abstieg verspäteter Wanderer vom Matterhorn.
Dem Rat ägyptischer Freunde folgend, habe ich den Sonnenaufgang abgewartet und einen anderen Weg gewählt. Östlich vom Antoniuskloster führt der schmale Pfad zuerst durch ein Geröllbett und dann durch ein wüst zerklüftetes Wadi steil empor ins Galala-Gebirge. Oben in einer tiefen Felsspalte unversehens ein winziges Holzfenster, daneben eine offene Tür. Und unter der Tür, in der knöchellangen schwarzen Kutte koptischer Mönche, mich argwöhnisch musternd, der Einsiedler. Ein Ägypter mittleren Alters, der hier, im 21. Jahrhundert, das gleiche Leben zu führen versucht wie einst Antonius im 4. Jahrhundert. Er deutet auf seinen über und über mit Mörtel bekleckerten Rock: »Ich bin am Renovieren.«
Dann wieder ein argwöhnischer Blick: »Welchem Bischof gehorchst du?« Nicht immer fällt einem gleich die beste Antwort ein. »Ich gehorche dem Bischof von Rom.« Der Eremit wendet sich zu seiner Höhle zurück. »Segne mich!«, sagt er, offenkundig darauf bedacht, der östlich-westlichen Begegnung ein zwar christliches, aber schnelles Ende zu bereiten. Doch dann, als bereue er den unfreundlichen Empfang, packt er mich am Ärmel, zieht mich vor den Eingang und deutet hinauf zu einer kleineren Höhle weiter oben unmittelbar unter einer hohen senkrechten Felswand: »Meine zweite Zelle. Geh da hin!«
Die Zweitwohnung des Einsiedlers erweist sich aus der Nähe nicht als Höhle, sondern eher als eine Felsnische, wie man sie in den Bergen arabischer Länder als Lagerplatz von Schafhirten findet. Gut einen Meter ist sie tief und etwa zwei Meter breit. Vorn eine Steinmauer zum Schutz gegen den Wind. Sonst nichts weiter als eine hölzerne Rückenlehne, ein paar Lumpen zum Schlafen und ein kleines Holzkreuz.
Grandios aber ist die Aussicht. Auf der Stelle erinnert sie mich an jenen Satz, den ein moderner Schüler der ägyptischen Wüstenväter, der Franzose Charles de Foucauld, niederschrieb, als er, allein mitten in der Sahara, den Assekrem bestieg, auf der Suche nach der gleichen Landschaft wie Antonius, nach der gleichen Einsamkeit, nach derselben Transzendenz: »Das Panorama«, schrieb er nach Paris, »ist unaussprechlich, unvorstellbar schön. Ich kann nicht hinsehen auf dieses Meer von Gipfeln und von wild zerklüfteten Felsen, ohne Gott anzubeten.«
Etwa zwei Kilometer westlich, auf gleicher Höhe und zu gleicher Zeit, ein aberwitziges Gewühl. Hinein in die berühmte »Höhle des Antonius« drängen alle. Und alle wollen wieder hinaus. Der Eingang zu der Höhle aber ist ein so schmaler Engpass, dass immer nur einer durchkommt.
Drinnen stinkt es zum Erbrechen vom ungelüfteten Schweiß unzähliger Besucher. Draußen lassen die Pilgerhorden zur Feier der gelungenen Wallfahrt Knallfrösche in die Felsen steigen. Das ist der Ort, wo Antonius nichts anderes gesucht hat als das Abenteuer extremer Einsamkeit.
Ist es wirklich der Ort? Es gibt hier oben im Galala-Gebirge ein paar Dutzend solcher Höhlen. In einer von ihnen hat Antonius gelebt. Welche es war, weiß nur der Aberglaube exakt. Wir brauchen es nicht zu wissen. Exaktheit ist keine religiöse Kategorie.
Vielleicht hat er dort gesessen, wo ich jetzt sitze. In völliger Stille und Einsamkeit. Von Zeit zu Zeit nur ein leises Rauschen des Winds. Und die Flügelschläge der Raben. Die berühmten Raben, die in den byzantinischen Legenden den ägyptischen Eremiten Gesellschaft leisten. Ganz von selber kommen mir vier Raben zugeflogen.
So kristallklar ist hier oben die Luft der Wüste, dass jeder Lungenzug zum großen Genuss wird. Zu einem Rausch königlicher Freiheit, wie ihn Saint-Exupery erlebt hat auf seinen Flügen allein über der nordafrikanischen Wüste.
Von Ägypten nach Palästina, nach Arabien und bis hinauf nach Tibet ist die Wüste der »lieu naturel«, der wesenseigene Ort der Gottes- und der Selbsterfahrung. Um dies zu verstehen, bedarf es keiner christlichen Offenbarung und keiner buddhistischen Erleuchtung. Es genügt, allein hinaufzuwandern zu einer der Felshöhlen im Galala-Gebirge, dort einen Tag allein schweigend zu verweilen und – ganz physisch – den Blick hinausschweifen zu lassen in die Wüste.
Diese Landschaft erinnert an etwas.
Sie erinnert an Fernsehbilder, die Sonden aus dem Weltall zurückgesendet haben: Bilder vom Mond, vom Mars. Alles Bilder von kosmischen Wüstenlandschaften. Nichts anderes ist der Planet Erde als eine winzigkleine grüne Oase in der grenzenlosen Wüste des Alls.
Diese mikroskopische Oase ist unsere Welt. Religion aber ist das grenzüberschreitende Gefühl, dass jenseits der winziggrünen Welt, die uns birgt, das Erlebnis einer maßlos anderen Welt beginnt. »Transzendenz« ist ein abstraktes Wort für diese ungleich größere Wirklichkeit jenseits der unseren. Die Menschen der Antike, Heiden wie Christen, zogen es vor, viel sinnenhafter vom »Himmel« zu sprechen. Wer sinnenhaft hinauswill, aus der grünen Oase unserer beschränkten Welt hinaus in jene grenzenlos andere Wirklichkeit des Himmels, der ziehe allein in die Wüste und wage das Experiment der Einsamkeit. Antonius der Große hat es als Erster gewagt.
Gekommen ist er, wie du und ich, aus einer gänzlich anderen Welt. Er kam aus Kome. Das ist das heutige Qeman, ein Fellachendorf am mittleren Nil im Regierungsbezirk Beni Suef, etwa 95 Kilometer südlich von Kairo. Alle Fachhistoriker vermerken dieses Dorf als den Ort, wo Antonius im Jahr 251 geboren wurde. Keiner beschreibt es.
Nach mühseligem Zureden erklärt sich ein ägyptischer Freund in Kairo bereit, mit mir nach Qeman zu fahren. Der Weg führt über die Agricultural Road am westlichen Nilufer südwärts, dann einem schmalen Kanal entlang in die tiefgrünen Felder. Von Minute zu Minute steigert sich die Beklemmung meines Begleiters: »Was wir hier tun, ist unmöglich. Man kann in ein solches Dorf nicht einfach hinein. Das ist gefährlich. Es sei denn, man kennt dort eine Familie und besucht sie.«
Jetzt eine steinerne Brücke über den Kanal. Wir sind in Qeman. Und es ist ein Bild nicht aus dem Jahr 251, sondern älter, viel älter noch. Ein Spektakel wie aus dem Alten Testament.
Mitten durch das Dorf, vom einen Ende bis zum andern, eine breite Straße aus gestampftem Nilschlamm. In dieser Straße ein abenteuerliches Gewimmel von Eseln, Tauben, Ziegen, Hühnern, Hunden, Fahrrädern, Gänsen, Wasserbüffeln und Menschen jedes Alters. Ein Bild von biblischer Fülle und Harmonie.
Nur eines stört in Qeman. Wir. Zwei Fremde sind gekommen.
Etwa bis zur Dorfmitte sind wir gegangen. Dann hat mein ägyptischer Freund die Nerven verloren: »Jeden Augenblick kann einer kommen und fragen, was wir hier wollen. Was soll ich dann sagen? Spürst du nicht, wie gefährlich das ist? Weg. Sofort weg.«
Qeman am mittleren Nil: ein Dorf schön wie die Arche Noah, doch zugleich, gerade deshalb, Archetyp der geschlossenen Gesellschaft. Hier ist Antonius als Sohn eines Fellachen aufgewachsen.
Das Wort Fellache klingt in unseren Ohren nach bitterer Armut. Nicht unbedingt zu Recht. Die Familie des Antonius, schreibt Athanasius, besaß »dreihundert Aruren Land, fruchtbar und schön anzuschauen«. Umgerechnet sind das etwa achtzig Hektar. Die Zahl mag orientalisch aufgerundet sein. Zweifellos aber war der Vater des Antonius einer der reichen Bauern von Kome.
Über das Dorf hinaus aber reichte der Horizont der Familie nicht. Dafür gibt es einen untrüglichen Beweis: Der junge Antonius hat nie Griechisch gelernt. Wenn ihn später Bildungstouristen aus Alexandrien in seiner Wüstenhöhle heimsuchten, musste sein Jünger Cronios Satz für Satz übersetzen. In die Bauernsprache Koptisch. Sonst verstand Antonius nicht. Auch seine eigene Sprache konnte er weder lesen noch schreiben und blieb, auf koptisch wie auf griechisch, zeit seines Lebens Analphabet.
Griechisch war aber nicht nur Bildungssprache der Ägypter. Es war auch die Sprache von Handel und Verkehr. Griechisch war die Weltsprache der späten Antike. Ein junger Ägypter, der nicht Griechisch lernte, wuchs damals so beschränkt auf wie heute ein junger Deutscher, der nicht Englisch lernt. Die keineswegs unberechtigte Frage Nathanaels zur Herkunft Jesu, »Wie kann aus Nazareth etwas Gutes kommen?« (Johannes 1,46), ist steigerungsfähig: Wie kann aus Kome etwas Neues kommen?
Alles Neue kam aus Alexandrien. Noch heute wirkt die Hafenstadt am Mittelmeer ungleich europäischer als andere Städte Ägyptens. Damals war sie eine griechisch geprägte Stadt und der intellektuelle Mittelpunkt des Römischen Reiches. Aller Handel und Wandel Ägyptens, alle neuen Strömungen und Trends, Ideen und Spekulationen kamen aus Alexandrien. Während Kome in provinzieller Horizontlosigkeit vor sich hinbrütet, ist, ein paar Tagesreisen weiter nördlich, in der Großstadt Alexandrien eine Kulturrevolution losgebrochen, die das europäische Leben für viele Jahrhunderte ebenso auf den Kopf stellen wird wie in ein paar Jahren schon das Leben dieses unbekannten ägyptischen Fellachen.
In Kleopatras eigener Stadt ist, als letzter Schrei der Avantgarde, die Keuschheit ausgebrochen. Die christliche Askese.
Ursprünglich ist das kein christlicher Begriff. Griechische Philosophen hatten den sportlichen Begriff des »Trainings« umgemünzt auf eine Lebensführung der bewusst trainierten Beherrschung des menschlichen Körpers durch den menschlichen Geist. Pythagoras mit seinen aufsehenerregenden vegetarischen Rezepten (Bohnen statt Sex), Diogenes in seinem Fass (»Geh mir aus der Sonne«) verkörpern nur exzentrisch, was antiker Common sense war: Wer zu sich selber kommen will, der lerne zuerst sich selbst beherrschen, im Reden und im Tun, beim Essen und beim Trinken und, natürlich, in der Sexualität. Seneca, der römische Philosoph, der den antiken Common sense verkörpert, spricht vom sexuell unbeherrschten Mann stets nur mit einer Geringschätzung, die ihm über die lateinischen Lippen selbstverständlich kommt. Die deutschen Wörter »Tugend«, »Tüchtigkeit« und »Männlichkeit« sind ja im Lateinischen alle ein Wort: »virtus«.
Seneca hat noch erlebt, wie sich das Römische Reich immer weiter nach Osten ausweitete, bis an die Grenze Persiens, bis hinauf nach Oberägypten. Dass das religiöse Folgen haben würde, hat in Rom kein Mensch bedacht: Auf umgekehrtem Weg drangen nämlich jetzt, an keiner Schranke mehr aufgehalten, eine Fülle von östlichen »Mysterienkulten« auf den gemeinsamen spirituellen Markt des Römischen Reiches. Einer dieser Mysterienkulte war das Christentum.
Es ist das Wesen eines Mysteriums, dass man es schlecht beurteilen kann. Je unübersichtlicher der spirituelle Markt im späten Römischen Reich wurde, desto dringender wurde das allgemeine Bedürfnis nach einem handfesten Kriterium, an dem man die vielen, allzu mysteriösen Angebote allesamt kritisch messen konnte. In der zeitlosen Sprache der Waschfrau lautet dieses simple Kriterium: »Ja aber, wie leben die denn eigentlich?« In der klassischen Diktion gebildeter Griechen und Römer hieß das: »Wie steht es bei euch um die Askese?«
Unter diesem Gesichtspunkt schnitten die Christen nicht unbedingt am besten ab. Besonders über das Mysterium der »Nächstenliebe« in den christlichen Gemeinden gab es unter Heiden, nachlesbar, die zweideutigsten Gerüchte. Und die Heiden täuschten sich nicht. Clemens von Alexandrien, einer der glaubwürdigsten christlichen Schriftsteller des 2. Jahrhunderts, klagt über die schamlosen Orgien, die unter dem wirren Vorwand der »göttlichen Liebe« in gewissen Gemeinden stattfänden. Daher der doppelte Angstruf, mit dem der Kirchenvater Tertullian aus Karthago warnt, ohne entschiedenere Anstrengungen in der Askese sei der christliche Kampf gegen die übermächtige Konkurrenz von Isis-Kult und Mithras-Kult verloren: »Habent et virgines, habent et continentes! – Die haben auch Jungfrauen, die haben auch Männer, die sich beherrschen können!«
Zu schweigen von den Juden. Alexandrinische Juden, die sich »Therapeuten« nannten, überboten ihre christlichen Zeitgenossen mit einer asketischen Lebensführung, die Philo von Alexandrien folgendermaßen rühmt: »Die Tafel bleibt rein vom Fleisch, Brot ist die Nahrung, mit Salz gewürzt oder auch, für die Feinschmecker unter ihnen, mit Hysop. Die gesunde Vernunft rät ihnen, nüchtern zu leben, den Priestern rät sie, nüchtern zu opfern. Wein ist nämlich ein Gift, das toll macht, und köstliche Leckerbissen reizen das unersättliche Geschöpf zur Begierde.«
Griechische, jüdische, römische Askese, Isis-Askese, Mithras-Askese, Dionysos-Askese gar: Im esoterischen Gewimmel der Weltstadt Alexandrien kam alles zusammen. Barfuss durch Alexandrien läuft, zu Beginn des 3. Jahrhunderts, ein junger christlicher Intellektueller, den selbst seine ärgsten Kritiker als »überragendes Genie« (Peter Brown) feiern werden: Origenes, der Sohn eines Märtyrers. Wo einst Kleopatra Normen setzte (mindestens hundert Männer in einer Nacht), predigt jetzt Origenes vor einem selekten Publikum von reichen Damen und avantgardistischen Intellektuellen einen neuen Lifestyle, der alle konkurrierenden Askesen christlich zusammenfasst, überbietet und siegreich übertrumpft: den »bios angelikos«. Böse Zungen haben das, nicht ganz korrekt, aber dafür – wie alles Böse – leicht verständlich, mit »Keuschheit der Engel« übersetzt. Gute Zungen sprechen lieber von der »christlichen Askese«.
So überwältigend war der Publikumserfolg des Origenes, dass aus allen Städten des Römischen Reiches, tausendfach, Kopien seiner Askese-Predigten angefordert wurden. Origenes brauchte ein Schreibbüro. Mit einem halben Dutzend Sekretärinnen. »Schönschreiberinnen«, sagte man in Alexandrien. Schön wie die Engel müssen sie gewesen sein, die Schönschreiberinnen, denen Origenes die Keuschheit der Engel diktierte. Mitten im Diktat erlag er der Versuchung.
Origenes war der brillanteste Intellektuelle des 3. Jahrhunderts. Doch Selbstironie war ihm fremd. Von rasender Reue gepeinigt, schnitt sich der große Keuschheitsprediger von Alexandrien das Glied, mit dem er gesündigt hatte, ab.
Sich durch empirische Fehlschläge entmutigen zu lassen gehört nicht zur Logik der Religion. Rund ums Mittelmeer, rühmt Eusebius von Cäsarea, gewinne die Keuschheit des Origenes »Myriaden von Nacheiferern«. So leicht und schnell breitete sich diese neue christliche Single-Szene auf dem Seeweg von Großstadt zu Großstadt aus, dass es niemandem auffiel, wie sie, mit Verspätung, auf dem Landweg in eine ganz andere Richtung drang. Von der Welt unbemerkt, begann die Keuschheit des Origenes aus der Metropole Alexandrien, wie es der deutsche Historiker Karl Heussi ausdrückt, südwärts »abzusickern« zu den »Eingeborenen«. In die vergessenen Dörfer der ägyptischen Provinz.
»Achtzehn oder zwanzig Jahre alt« war Antonius nach dem Bericht des Athanasius, als die neue christliche Askese aus Alexandrien nach Korne durchgesickert kam. Doch vorher war dort etwas geschehen, was einen jungen ägyptischen Fellachen ungleich stärker zu erschüttern vermochte als jede noch so aufregende spirituelle Mode aus Alexandrien.