Für Ben und Ella,
die in Geschichten großes Vertrauen setzen
WENN DU EIN DREIECK ZEICHNEST UND dann einen Kreis über die Spitze des Dreiecks, erkennt niemand, dass das ein Mädchen in einem Kleid ist. Du kannst auch noch einen Halbkreis über den Kreis zeichnen, das sind dann die Haare. Wenn du es so machst, schöpft niemand Verdacht. Alle denken, du würdest nur kritzeln.
In der dritten Klasse habe ich rausgefunden, wie ich Prinzessinnen zeichnen kann, ohne dass jemand es merkt. Seitdem zeichne ich seit mehr als drei Jahren immer wieder das Gleiche an den Rand meiner Schulhefte.
Ich schaue zur Tafel. Mr Finnegan hat uns fast schon eine ganze Seite abschreiben lassen, mehr als alle anderen Lehrer, aber das macht mir nichts aus. Seine Unterrichtsstunden sind die besten überhaupt. Außerdem kann ich beim Mitschreiben nebenbei zeichnen. Ich kritzle ein Dreieckskleid in mein Heft, darüber einen Kreis und dann den Halbkreis fürs Haar. Ich betrachte die Zeichnung und stelle mir vor, ich sähe sie zum ersten Mal, denn ich will sichergehen, dass keiner auf die Idee kommt, es könnte eine Prinzessin sein. Aber ich habe es gut gemacht – niemand wird sie erkennen.
Ich benutze einen Glitzerstift. Einen silbernen. In meinem Rucksack steckt auch noch ein goldener. Die Stifte in Lila und Pink lasse ich immer zu Hause in der Schublade bei meinen anderen Malsachen. Falls jemand fragt, behaupte ich einfach, ich hätte den silbernen und den goldenen Stift in der Turnhalle auf dem Boden gefunden oder so. Sicher fragt sowieso keiner. Ich würde das Kleid gern silbern ausmalen und ihr große Augen, ein Lächeln und lange glänzende Haare zeichnen, doch das geht nicht, weil Jungs so etwas nicht tun. Ich kneife die Augen fest zusammen, damit ich die Prinzessin so sehen kann, wie ich sie mir vorstelle. Aber ich erkenne nur silberne Umrisse, sonst nichts, daher stütze ich den Kopf in die Hand und schaue zum Fenster hinaus.
Draußen donnert ein großer Lastwagen die Straße entlang und ein Stadtbus biegt hupend um die Ecke. Mrs Frank, die Turnlehrerin, führt ein paar jüngere Schüler auf das Fußballfeld, wo sie Seil hüpfen und über den Rasen rennen. Jenseits des Felds erstreckt sich die Skyline der Stadt. Obwohl das Laub sich bereits verfärbt, fühlt es sich immer noch nach Sommer an, denn im Klassenzimmer ist es viel zu heiß. Meine knallgelbe Basketballhose klebt an meinen Oberschenkeln. Ich streiche mir die Haare aus der Stirn und rücke mein Schweißband zurecht.
Finn, wie wir ihn heimlich nennen, ist fantastisch. Ich bin froh, dass ich ihn als Lehrer für Geschichte und Literatur habe, vor allem, weil die andere Lehrerin für dieses Fach, Mrs Tell, ungefähr hundert Jahre alt ist und echt schrecklich sein soll. Mein Cousin Jack hatte sie letztes Jahr und hat ziemlichen Ärger mit ihr gekriegt. Er hat gesagt, es lag daran, dass sie so langweilig ist, aber in letzter Zeit kriegt er überall Ärger. Außerdem ist das, was er so von sich gibt, meist sowieso einfach nur Mist.
Als Finn Anthony bittet, den Absatz über den Holocaust laut vorzulesen, schaue ich wieder in mein Heft. Ich denke an meine Zeichenblöcke, die zu Hause in der obersten Schreibtischschublade liegen. Meistens zeichne ich die Schlösser und Landschaften riesengroß, die Menschen dagegen winzig klein, sodass sie kaum auffallen – die Königin, den König und die kleine blonde Prinzessin. Meine Mom war Künstlerin, und ich frage mich zum millionsten Mal, was sie wohl über meine Bilder zu Hause und meine Zeichnungen in den Schulheften denken würde und was sie selbst in meinem Alter gezeichnet hat. Als ich noch klein war, hat sie ein Bild extra für mich gemacht. Darauf ist unser Planet zu sehen, voller Bäume und lächelnder Tiere. Hinter der Erde ist der Himmel, an dem das erste Tageslicht dämmert, und ganz oben fliegt ein Vogel, den sie rot, gelb und blau gemalt hat.
Das Bild hängt an der Wand neben meinem Bett. Jeden Abend beim Einschlafen schaue ich es an, besonders den Vogel. Jeden Morgen ist es das Erste, was ich beim Aufwachen sehe.
Finn schreibt die Namen von europäischen Städten an die Tafel. Ich schlage eine leere Seite auf. »Ich möchte mit euch über Menschen reden, die an diesen Orten ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um Juden bei ihrer Flucht vor den Nazis zu helfen«, beginnt Finn. Er setzt sich auf den Schreibtisch und wartet, bis wir alles abgeschrieben haben.
Als ich fertig bin, schaue ich ihn an. Wie immer wirkt er sehr entspannt. Sein weißes Hemd steckt ordentlich in seiner dunklen Jeans, und in der Hand hält er einen speziellen roten Stift für die Tafel.
»Diese Leute mussten geheimhalten, dass sie Mitglieder des Widerstandes waren.«
Er geht zur Tafel und schreibt das Wort, das er betont hat, ganz oben hin.
Ich zeichne noch eine Prinzessin und kritzle einen gezackten Kreis drum herum.
»Stellt euch vor, ihr müsstet ein großes, lebensbedrohliches Geheimnis vor euren Freunden, euren Nachbarn und vielleicht sogar vor eurer eigenen Familie geheimhalten«, fährt Finn fort.
Ich bücke mich und hole einen goldenen Glitzerstift aus dem Rucksack. Seine Frage führt mich weg vom Holocaust, und ich denke stattdessen daran, wie ich in der Grundschule jahrelang in der Pause alleine auf den Stufen gesessen und den anderen beim Spielen zugeschaut habe. Ich zeichne goldene Flammen um den gezackten Kreis. Das Feuer schließt die Prinzessin ein und sie erstickt.
Die Uhr an der Wand tickt und irgendjemand hinter mir hustet. Ansonsten ist die Klasse still.
»Grayson? Was meinst du dazu?«, fragt Finn schließlich. Wenn keiner sich meldet, ruft er meistens mich auf. Wahrscheinlich weil ich immer irgendetwas zu sagen weiß. »Wie würdest du dich fühlen«, fährt er fort, »wenn du nach außen hin ein normales Leben führst und dabei Tag für Tag ein gefährliches Geheimnis für dich behalten müsstest?«
Ich versuche, so ruhig wie immer zu wirken, aber mein Herz fängt an zu rasen. Unentschlossen starre ich auf mein Heft.
»Ich nehme an, ich würde mich vorsichtshalber von anderen fernhalten«, platze ich heraus. Finn wartet darauf, dass ich weiterspreche, aber ich hoffe, dass er vielleicht jemand anderen aufruft.
»Kannst du das genauer erklären?«, fragt er.
Wieder rücke ich mein Schweißband zurecht. Es fühlt sich feucht an.
»Na ja«, sage ich. »Ich würde mich von anderen fernhalten, weil ich Angst hätte, aus Versehen mein Geheimnis auszuplaudern.« So wie ich es sage, hört es sich eher wie eine Frage an. Ich spüre, wie meine Ohren rot werden, und streiche mein Haar glatt, damit man sie nicht sieht.
Die Klasse schweigt. Ich schaue auf meine Glitzerstifte, die Stille hört gar nicht mehr auf.
»Okay«, sagt Finn langsam. Nach einer Sekunde fügt er hinzu: »Interessant. Möchte jemand etwas zu Graysons Vorschlag sagen?«
Ich weiche seinem Blick aus, meine Augen schweifen über die Gesichter meiner Klassenkameraden, die ich schon seit dem Kindergarten kenne.
Zuerst schaue ich nur die Dinge an, nicht die Menschen. Haileys dünnen Zopf, der an der Seite herabhängt und unten von einem dieser kleinen herzförmigen Haarclips zusammengehalten wird. Megans pinkfarbenen Rucksack auf dem Boden neben ihrem Pult. Die glänzenden Holzbänke.
Dann richte ich meine Aufmerksamkeit bewusst auf die Schüler, zum Beispiel auf Ryan, der ein totaler Idiot ist. Er sitzt in meiner Reihe, auf der anderen Seite des Gangs. Als er in meine Richtung blickt, schaue ich weg. Direkt neben mir sitzt Lila, die gerade dabei ist, ihre langen braunen Haare hochzustecken. Sie wirkt eher zurückhaltend, aber bei den Mädchen hat sie das Sagen. Dann fällt mein Blick auf Amelia, die erst letzte Woche an unsere Schule gekommen ist. Sie sieht aus, als würde sie in die Highschool gehen und nicht in die sechste Klasse. Ihre langen rötlichen Haare fallen über ihren Busen. Langsam hebt sie die Hand.
Sie tut mir ein bisschen leid, denn sie scheint sehr nervös zu sein. Bestimmt ist es nicht leicht, mitten im Jahr an eine neue Schule zu kommen, besonders nicht an unsere, wo die meisten von Anfang an in einer Klasse zusammen waren.
»Ich würde mit sehr vielen Leuten Freundschaft schließen«, sagt sie leise, als Finn sie aufruft. »Sich von anderen fernhalten könnte Verdacht erregen. Ich würde einfach versuchen, mich ganz normal zu verhalten, so wie alle anderen auch.« Ihre blassen, sommersprossigen Wangen röten sich.
»Also«, sagt Finn. »Da ist zum einen Graysons Vorschlag, sich von allem abzuschotten, und da ist Amelias Idee, sich mit möglichst vielen Leuten zu umgeben, um keinen Verdacht zu erregen.« Neben das Wort geheimhalten schreibt er in seiner schnellen, etwas krakeligen Handschrift Isolation vs. Integration.
Ich schaue zur Uhr. Die Zeit ist fast um, ich kann es kaum erwarten, dass die nächste Stunde anfängt. Rasch schreibe ich die letzten Worte von der Tafel ab. Die Glocke läutet und ich stehe mit den anderen auf.
»Wir werden morgen weiter darüber sprechen«, ruft Finn über das Rascheln der Hefte hinweg. Er blickt in meine Richtung.
Ich konzentriere mich auf meine Schuhe und gehe zur Tür.
NACH UNTERRICHTSSCHLUSS VERLASSE ich sofort die Schule, so wie immer. Andere Kinder haben noch Wahlkurse oder Sport, ich nicht. Onkel Evan, Tante Sally und meine Lehrer haben immer wieder auf mich eingeredet, in den Debattierclub oder den Chor oder sonstwohin zu gehen, aber irgendwann haben sie es aufgegeben und mich in Ruhe gelassen. Ich habe keine Lust, vor Publikum über irgendein Thema zu diskutieren, und obwohl ich eine ziemlich gute Stimme habe, werde ich garantiert nicht im Chor mitsingen.
Auf dem Weg zum Bus sehe ich mich um. Die Straßen sind leer und vor der Schule ist es ziemlich ruhig. Ich atme durch. Jack spielt in der Herbstsaison Football und Brad geht mit ein paar Freunden aus der zweiten Klasse zum Nachmittagsclub, sie kommen also erst später heim. Zum Glück sind wir die Einzigen, die mit dem 60er-Bus nach Hause fahren, und wenn Jack und Brad nachmittags in der Schule bleiben, sitzt niemand im Bus, den ich kenne.
Mein gelbes T-Shirt ist am Rücken durchgeschwitzt, deshalb setze ich mich an der Haltestelle auf die Bank im Schatten und rutsche bis zur Kante vor, damit mein Riesenrucksack zwischen mich und die Lehne passt. Ich schleppe Bücher mit nach Hause, die ich eigentlich nicht brauche, aber wenn ich einfach alles mitnehme und in den Rucksack packe, bin ich nach der Schule schneller draußen. Ich blinzle in die Sonne und meine Gedanken wandern zum Widerstand gegen die Nazis.
Die Straße vor meinen Augen löst sich in Nichts auf und ich sehe stattdessen ein junges Mädchen in meinem Alter. Es kauert allein auf einer schmutzigen Decke im dunklen, kalten Keller des Hauses, in dem ich mit meinen Eltern wohne. Sobald die Welt schläft und ich zu dem Versteck schleichen kann, klopfe ich leise an die Kellertür und bringe etwas zum Anziehen und ein Stück altes Brot, das wir übrig haben. Das Mädchen ist dünn und zittert vor Kälte. Ich schaue in ihre tiefen, dunklen Augen und gebe ihr mein graues Wollkleid.
»Hey, Grayson«, sagt eine leise Stimme. Mein Kopf schnellt hoch. Amelia steht neben der Bank. Sie sieht mich fragend an. »Nimmst du den 60er?«
Ich springe auf und stoße versehentlich mit der Schulter gegen ihre Brust. Oh mein Gott.
»Tut mir leid«, murmle ich. Sie senkt den Blick und macht einen kleinen Schritt zurück. »Ja. Ähm, du auch?«, frage ich nervös.
Sie wird rot.
»Ja, wir wohnen am Ende der Randolph Street, gegenüber vom See.«
»Echt? Welche Adresse?«
»Nummer hundertfünfundzwanzig«, antwortet sie.
»Ich wohne direkt gegenüber.« Vom Fenster unseres Esszimmers kann man das Haus sehen, in dem Amelia wohnt.
»Oh, cool. Ich fahre heute zum ersten Mal mit dem Bus«, sagt sie. »Meine Mom hat mich bisher mit dem Auto hergebracht. Sie meinte, sie würde mich so lange fahren, bis ich mich eingewöhnt habe. Reizend! Sie glaubt echt, damit könnte sie alles wiedergutmachen …« Amelias Worte klingen sarkastisch und sie beendet den Satz nicht. Sie streicht ihr rotes Haar zurück. Der warme Wind umweht uns und wird sogar noch heißer, als der 60er-Bus vor uns hält.
Mir fällt nichts ein, was ich sagen könnte, also ringe ich mir nur ein Lächeln ab und fische meine Fahrkarte aus dem Rucksack. Amelia öffnet den Reißverschluss ihrer Umhängetasche, holt eine kleine, knallpinke Geldbörse heraus und kramt ihre nagelneue, unbenutzte Fahrkarte hervor. Wir steigen in den Bus und ich gehe sofort zu einem leeren Sitzplatz. Als der Bus anfährt, folgt Amelia mir schwankend und setzt sich neben mich. Ich starre zum Fenster hinaus auf die vorbeifahrenden Lastwagen und Autos.
Die Busfahrt dauert nicht lange, es wird also bald vorbei sein. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Amelia mich anschaut. Ich wette, sie will Freunde finden. Niemand möchte gerne einsam sein – es sei denn, ihm bleibt nichts anderes übrig. Es sei denn, er hat keine andere Wahl. Ich hole tief Luft und drehe mich zu ihr.
»Und, wie findest du unsere Schule?«
Sie wirkt erleichtert.
»Ganz okay«, erwidert sie. »Es ist schwer zu sagen. Bisher ist alles genauso wie an meiner alten Schule.«
Ich nicke.
»Woher kommst du?«
»Boston«, antwortet sie. »Meine Mom wurde befördert, deshalb sind wir umgezogen.«
»Oh.« Ich schaue auf Amelias Hände und überlege krampfhaft, was ich noch sagen könnte. Ihre Fingernägel sind genauso abgekaut wie meine. Ich spüre, wie sie neben mir durchgerüttelt wird, als der 60er-Bus über die Straße rattert. Einige Minuten lang sitzen wir schweigend da, und ich tue so, als würde ich total interessiert aus dem Fenster schauen.
»Hier müssen wir raus«, erkläre ich ihr, als der Bus langsamer wird. Gemeinsam stehen wir auf und gehen zum Ausgang. Die Türen öffnen und schließen sich wieder hinter Amelia und mir. An der Straßenecke bleiben wir stehen und verabschieden uns mit einem »Bis morgen«. Dann geht sie weiter.
Ich überquere langsam die Straße und richte den Blick auf meine Schuhe. Abgesehen von kurzen Gesprächen über den Unterricht war das wahrscheinlich die längste Unterhaltung, die ich seit der zweiten Klasse mit jemandem aus der Schule geführt habe.
Auf der anderen Straßenseite angekommen, drehe ich mich noch einmal um und sehe, wie Amelia in ihrer Eingangstür verschwindet, dann gehe ich selbst ins Haus.
Im fünfzehnten Stock schließe ich die Tür zu unserem leeren Apartment auf. Drinnen ist es kühl, die Klimaanlage summt vor sich hin. Ich gehe in mein Zimmer, schließe die Tür und stelle mich vor den Spiegel. Vom Tragen meines vollgestopften grauen Rucksacks tun meine Schultern weh. Ich schaue mir im Spiegel dabei zu, wie ich den Rucksack ans Fußende des Betts fallen lasse.
Mein Haar, das bis über die Ohren reicht, ist vom Wind ganz zerzaust. Ein paar Strähnen haben sich aus dem weißen Schweißband gelöst. Ich nehme es ab, greife nach der Bürste auf meinem Tisch und kämme die Knoten aus. Dann streife ich das Schweißband wieder über, damit es wie ein Reif die Haare aus dem Gesicht hält. Aber ich weiß, dass ich es so nicht lassen kann, also nehme ich es wieder ab und werfe es aufs Bett, wo es fast lautlos landet, obwohl ich es richtig weggeschleudert habe. Forschend mustere ich mein dichtes, glattes sandblondes Haar und meine blauen Augen. Ich bin so dünn, dass ich in meiner gelbglänzenden Basketballhose und dem T-Shirt fast versinke, aber mein Kinn ist nicht mehr so spitz wie früher und meine Schultern zeichnen sich inzwischen deutlicher unter meinem Shirt ab. Ich schaue auf meine Hände und denke an Jacks Hände und an die von Onkel Evan, und dann denke ich rasch an etwas anderes.
Ich starre in den Spiegel und versuche, noch einmal das zu sehen, was ich heute Morgen beim Anziehen gesehen habe – das lange, goldglänzende Kleid und das Mädchen, das dieses Kleid anhatte –, aber das Bild hat sich bereits aufgelöst. Ich habe schon damit gerechnet. Seit ich in der sechsten Klasse bin, passiert das jeden Tag. Meine Vorstellungskraft ist nicht mehr so groß wie früher. Die Basketballhose und das T-Shirt, die ich anstelle des wunderschönen Kleids im Spiegel sehe, sind schrecklich langweilig.
Ich kann beinahe hören, wie das Blut durch meine Adern rauscht. Tante Sally und Onkel Evan haben mir gesagt, dass ich furchtbare Wutausbrüche hatte, als ich hierher zu ihnen kam. Ich habe Vorhänge von den Fenstern gerissen, meinen Schreibtischstuhl durchs Zimmer geschleudert und alles zerschmettert, was mir in die Finger kam. Alles, bis auf die alten Spielsachen und Bilder auf meinem Bücherregal. Es waren die einzigen Dinge, die ich unangetastet ließ.
Der Drang, meinen Gefühlen Luft zu machen, überwältigt mich auch jetzt wieder. Ich würde am liebsten irgendetwas in den Spiegel werfen, bis ich darin zu einer Million Einzelteile zerspringe. Aber ich bleibe starr vor meinem Spiegelbild stehen und befehle mir, zu atmen und mich mehr anzustrengen.
Langsam drehe ich mich um die eigene Achse. Meine weiten Hosenbeine bauschen sich wie Segel auf. Ich sehe mir selbst dabei zu. Es ist und bleibt eine Hose, und bei dem Gedanken wird meine Brust ganz eng.
Ich drehe mich wieder, nicht wie eine anmutige Prinzessin, sondern wie ein Tornado. Vor lauter Drehen wird mir schon ganz schlecht. Mir ist schwindelig, aber das kümmert mich nicht. Wie durch das Schwenken eines Zauberstabs, der Glitzerstaub nach sich zieht, verschwimmt das Gold, und mein Blut rauscht noch heißer und der Luftzug bauscht Hose und T-Shirt auf und verwandelt sie in ein Kleid, so wie all die Jahre zuvor.
Ich hole tief Luft. Meine Augen brennen, weil ich weiß, dass mein erfundenes Kleid nicht sehr lange halten wird. Ich setze mich an meinen Schreibtisch und öffne die obere Schublade. Das Schloss auf meinem Zeichenblock ist fast fertig. Ich spitze meinen grauen Buntstift, beuge mich über den Zeichenblock und schraffiere die weißen Stellen. Ich zeichne den König und die Königin im Garten, wie sie sich an den Händen halten. Dann male ich ins oberste Fenster des Schlosses, so klein, dass man sie kaum sehen kann, die blonde Prinzessin.
Plötzlich fliegt meine Zimmertür auf und Jack stürmt herein. Schnell schlage ich meinen Zeichenblock zu. Ich hatte gar nicht gehört, wie die anderen heimgekommen sind.
»Komm zum Abendessen, Loser«, sagt er zu mir.
Benommen stehe ich auf. Ich bin Cinderella. Ich folge meinem bösen Stiefbruder ins Esszimmer und trage dabei ein goldenes Kleid, das nur ich allein sehen kann.
DIE WARMEN OKTOBERTAGE VERBLASSEN zu einem faden November. Draußen vor den frisch geputzten Fenstern der Schule klammern sich noch einige Blätter an die Zweige. Sie leuchten feurig orange, rot und gelb vor einem grauweißen Himmel. Sie sind wie kleine Flammen, die an Bäumen hängen – wie etwas, das man sonst nur auf einem Gemälde sieht.
Ich sitze an meinem Platz und kritzle den Rand meiner Schulhefte voll.
»Heute fangen wir mit einem neuen Lesestoff an«, sagt Finn. Ich schaue hoch und sehe, wie er begeistert einen Stapel Bücher vom Regal zu seinem Pult trägt.
»Müssen wir darüber einen Aufsatz schreiben?«, ruft Lila. Sie sieht sich im Klassenzimmer um, will wissen, ob sie auch wirklich alle Blicke auf sich zieht. Das tut sie, mehr oder weniger.
»Gute Frage, Lila, vielen Dank«, erwidert Finn lächelnd. »Die Antwort lautet: Ja!«
Alle stöhnen.
Meagan, die direkt vor mir sitzt, streicht ihre dünnen schwarzen Haare hinter die Ohren und starrt Lila an, die immer noch nach Aufmerksamkeit sucht. Meagan wirkt interessiert, scheint aber auch verärgert zu sein. Sie und Lila sind schon seit Ewigkeiten beste Freundinnen. Plötzlich frage ich mich, was sie wohl wirklich von ihr hält.
»Unsere Lektüre bietet jede Menge Diskussionsstoff«, fährt Finn fort. »Ab jetzt werden alle meine Schüler sich bis zum Ende des Jahres zu Paaren zusammentun. Ihr seid die Ersten und dürft deshalb die Tische anordnen, wie ihr wollt. Bildet Zweiergruppen, damit ihr einen Diskussionspartner habt.«
Ich hebe rasch den Kopf, dann senke ich den Blick sofort wieder. Meine Hände werden feucht.
»So«, fährt Finn fort, »jetzt hoch mit euch und sucht einen Partner! Dann schiebt ihr eure Tische zusammen und stellt sie in Reihen auf.«
Inzwischen muss er fast schreien, weil es in der Klasse so laut ist. Man könnte fast meinen, jemand hätte eine Piñata aufgeschlagen und alle würden wie verrückt nach den Süßigkeiten schnappen. Alle, außer mir. Ich erhebe mich langsam, bleibe aber an meinem Platz stehen. Was soll die Aufregung?, würde ich am liebsten rufen. Aber ich bin wie erstarrt.
Es ist ja nicht das erste Mal. Die Lehrer an unserer Schule verlangen andauernd, dass wir für irgendwelche Projekte in Zweiergruppen arbeiten und uns für Diskussionen zu Gruppen zusammenfinden. Inzwischen weiß ich, was ich tun muss. Ich bleibe einfach stehen und sehe zu, wie die anderen sich verrückt aufführen. Sie sehen dabei total bescheuert aus. Ich warte, bis der Lehrer am Ende vorschlägt, dass ich mich mit Keri oder Michael oder sonst jemandem, der übrig geblieben ist, zusammentue.
Auf der anderen Seite des Klassenzimmers winkt Ryan Sebastian zu sich. Hailey und Lila schieben bereits ihre Bänke zusammen und lachen über irgendetwas. Amelia steht in der Mitte und schaut sich nervös um. Im Bus sitzt sie jetzt immer neben mir. Ich werde plötzlich ganz zappelig. Amelia sagt etwas zu Maria, dann blickt sie mit rotem Gesicht zu Boden. Nach einem Augenblick hebt sie erneut den Kopf und schaut sich um. Sie scheint den Tränen nahe.
Jetzt kommt sie auf mich zu. Mein Herz fängt an zu rasen. Diesmal läuft nichts so wie sonst. Der Lärm um mich herum verstummt, als hätte jemand den Lautstärkeregler am Radio heruntergedreht. Jetzt höre ich nur noch ein nerviges Summen. Plötzlich beobachte ich mich dabei, wie ich sonst die Klasse beobachte. Als sei ich ein Vogel, der auf einem der hohen Holzregale kauert, die sich an den Wänden reihen. Ich sehe mich unten stehen und auf meine Unterlippe beißen und ungeschickt das übergroße graue Sweatshirt losbinden, das ich mir um die Hüfte geschlungen habe. Ich sehe, wie ich mit gesenktem Kopf das Sweatshirt neu zurechtrücke und daran ziehe, damit es meine Hüfte ganz bedeckt. Ich sehe, wie ich auf den schmalen Spalt vorne starre. Für einen Rock ist das Sweatshirt nicht groß genug. Und während ich oben auf dem Regal sitze, bemerke ich plötzlich, dass ich selbst beobachtet werde wie ein Vogel im Käfig. Ich schaue hinüber zu Finn. Er sitzt auf seinem Pult und hat den Kopf zur Seite gelegt. Er blickt auf mein Sweatshirt und dann in meine Augen.
Mit einem Plumps lande ich wieder auf dem Boden des Klassenzimmers. Amelia steht vor mir. Die Lautstärke ist wieder aufgedreht. Bänke und Stühle werden quietschend über den Boden geschoben.
Amelia blickt mich unsicher an.
»Ähm, hast du schon einen Partner?«, will sie wissen.
»Nein«, murmle ich.
»Wollen wir uns zusammentun?«, fragt sie rasch.
Mir fällt kein Grund ein, Nein zu sagen, also nicke ich zögernd.
»Ja, okay.«
Wir schieben unsere Tische bis ganz nach hinten ins Klassenzimmer, noch hinter Ryan und Sebastian, und setzen uns. Finn wirbelt durch den Raum und dirigiert die Zweiergruppen mal hierhin, mal dorthin. Ich glätte meine Haare und starre auf meine Fingernägel. Ich spüre förmlich, wie Amelia mich ansieht.
»Ich habe dich noch nie beim Mittagessen gesehen«, sagt sie. Ich zucke zusammen, ihre Stimme ist so laut, dass sie den Lärm der Klasse übertönt. »Hast du vielleicht zu einer anderen Zeit Mittagspause oder so?«
Ryan und Sebastian grinsen sich an und drehen sich zu uns um. Sebastian rückt seine Brille zurecht und sagt: »Seit der dritten Klasse verbringt er seine Mittagspausen nur noch in der Bibliothek.«
Ich versuche, keine Regung zu zeigen, und sehe Amelia stumm an. Sie errötet.
»Ach so«, erwidert sie leise.
»Jede Wette, er macht Fleißarbeiten«, sagt Ryan hämisch. »Dabei ist er doch sowieso schon der kleine Liebling aller Lehrer. Was für ein Freak.«
Ich starre wieder auf meine Fingernägel.
Finn steht vorne an der Tafel vor dem umgeräumten Klassenzimmer und fordert laut unsere Aufmerksamkeit ein.
Ryan und Sebastian schauen zur Tafel, und ich werfe Amelia aus dem Augenwinkel einen Blick zu. Ihre Wangen sind rosig und sie schaut starr geradeaus.
»Wir haben nur noch eine Minute«, sagt Finn, als die Klasse endlich zur Ruhe gekommen ist. »Hier sind eure Bücher. Bitte lest bis morgen die ersten drei Kapitel.« Er zählt laut die Reihen durch und gibt dann die Bücherstapel weiter.
Sebastian reicht zwei Bücher an mich weiter, ohne sich dabei umzudrehen. Ich gebe eines davon Amelia und sie steckt es in ihren Rucksack. Ich mache das Gleiche.
Die Glocke läutet. Als Ryan und Sebastian außer Hörweite sind, dreht Amelia sich zu mir um und sagt fast flüsternd: »Ich finde, wir sollten uns nach der Fünften in der Cafeteria treffen. Dann könnten wir zusammen essen.«
Plötzlich muss ich an die zweite Klasse denken, als Emma noch nicht weggezogen war und wir immer an einem Tisch in der Ecke gemeinsam Mittag gegessen haben. Ich schaue in Amelias rundes Gesicht mit den Grübchen.
Ich merke, wie ich wieder aus mir heraustrete.
»Okay«, sage ich, ohne es eigentlich zu wollen. »Ich warte dort auf dich.«
ICH BIN SCHON SEIT EWIGKEITEN NICHT mehr in der Cafeteria gewesen. Dort tobt ein Höllenlärm. Kein Wunder, fast die ganze Schule findet sich hier ein. Überall herrscht Chaos. Schüler beugen sich über Tische, werfen mit zusammengeknüllten Papiertüten, stehen auf, setzen sich, rufen, lachen. Der Geruch von lauwarmem Essen und alten Sandwiches ist eklig. Ich schau zu dem Tisch mit Siebtklässlern, um rauszufinden, ob Jack da sitzt, aber zum Glück ist er nirgendwo zu sehen.
Die Cafeteria ist hoch, und drei Wände haben lange, rechteckige Fenster, durch die grelles Sonnenlicht hereinfällt. Die Geräusche flippern wie eine Million unsichtbarer Ping-Pong-Bälle vom Boden zur Decke hoch, zu den Fenstern und Tischen und wieder zurück.
Ich stehe an der Tür und fühle mich total krank. Ich überlege, wo Jack wohl ist. Der Riemen meines Rucksacks schneidet in meine Schulter. Es ist kaum zum Aushalten. Ich mache kehrt, um in die Bibliothek zu gehen. Aber schon nach dem ersten Schritt renne ich fast in Amelia rein.
»Gut, da bist du ja«, sagt sie. »Komm mit.« Sie geht voraus, in die Cafeteria. Ich schaue mich noch einmal kurz um, dann folge ich ihr.
Langsam geht sie den Mittelgang entlang und schaut sich jeden Tisch genau an, bis sie schließlich an einem fast leeren Tisch ganz weit hinten stehen bleibt. Lila, Meagan, Hannah und Hailey sitzen in einem kleinen Grüppchen in der Mitte des langen Tisches. Sie haben ihre Brotboxen vor sich stehen und das Essen auf dem Tisch ausgebreitet.
»Setzen wir uns hierher«, sagt Amelia rasch und stellt ihren Rucksack am Rand des Tischs ab. »Kaufst du dir was zum Essen?«
Ich rutsche auf die Bank und öffne den Reißverschluss meines Rucksacks.
»Nein, ich habe mir was mitgebracht.« Ich nehme die Tüte heraus, die Tante Sally für mich gestern Abend gepackt hat.
»Ja, ich auch«, sagt Amelia und holt eine pinkfarbene Brotdose aus ihrem Rucksack. »Hier würde ich nie was Warmes essen.« Sie wirft einen kurzen Blick auf die Mädchen und sieht mich dann wieder an.
Ich folge ihrem Beispiel, um herauszufinden, was so interessant ist, aber die Mädchen sitzen nur da, essen und reden.
»Ja, ich auch«, sage ich und lächle ein bisschen. Ich sehe zu, wie sie ihr Sandwich auspackt. Sie beißt hinein, und ich frage mich, mit wem sie sonst zu Mittag gegessen hat. Wahrscheinlich mit niemandem.
Ich habe ein flattriges, hohles Gefühl im Magen. Bis zur zweiten Klasse haben Emma und ich jeden Tag zusammen zu Mittag gegessen. Auf der anderen Seite der Cafeteria sitzen ein paar Jungs aus der Achten an dem Tisch in der Nähe der Glastür, wo wir beide früher immer gesessen haben.
Als mein Blick an ihnen vorbei auf den leeren Pausenhof fällt, muss ich an unsere Freundschaftsbänder aus bunten Fäden denken und daran, wie Emma sich immer das T-Shirt in die Jeans gestopft hat, bevor wir kopfüber von den Klettergerüsten baumelten. Bei dem Gedanken an ihre wirren blonden Haare, die rot geränderte Brille und ihre Zahnlücken muss ich lächeln.
Ich habe das Gefühl, nicht hierher zu gehören, in diesen überfüllten Raum voller Geschrei und Lachen, aber ein Teil von mir – der Teil, der sich fragt, wie es Emma in Florida jetzt wohl geht, falls sie überhaupt noch dort wohnt – ist froh, hier zu sein.
Ich beiße in mein Sandwich, kaue langsam und überlege, was ich zu Amelia sagen könnte. Ihr Blick hüpft von einer Gruppe Sechstklässler zur nächsten, ehe er wieder zu Lila, Meagan und Hailey zurückkehrt. Diesmal lächelt sie. Als ich ihren Blicken folge, sehe ich, dass Lila ihr zuwinkt.
Amelia dreht sich um, sieht mich strahlend an und beißt wieder in ihr Sandwich.
»Ich finde es echt cool, dass Finn uns selbst unsere Partner aussuchen lässt«, sagte sie mit vollem Mund. »An meiner alten Schule durften wir das nie.«
»Ja«, sage ich, während ich in meiner Tüte nach der Wasserflasche krame. »Das macht er immer so.«
»Das ist toll«, sagt sie und reißt eine Tüte Bretzeln auf.
Sie fängt an, mir von Boston zu erzählen, und ich würde gerne wissen, ob sie in ihrer alten Schule viele Freunde hatte. Es kommt mir vor, als würde ich mich mit Amelia in einer Seifenblase befinden, an der das grelle Licht, der Lärm und die Gerüche abprallen.
Amelia redet immer noch, als die Pausenaufsicht an unserem Tisch vorbeikommt und uns auffordert, uns für die sechste Stunde an der Glastür aufzustellen.
Es ist ein merkwürdiger Gedanke, dass das Leben in der Cafeteria all die Jahre ohne mich weitergegangen ist, während ich ganz allein in der Bibliothek gegessen habe. Wieder frage ich mich, ob ich nicht einen Fehler mache. Aber dann lächle ich Amelia an, verstaue den Rest meines Mittagessens im Rucksack und folge ihr zur Tür.
Nach der Schule halte ich am Bushäuschen nach Amelia Ausschau. Sie kommt ein paar Minuten nach mir und wir steigen gemeinsam in den 60er Bus. Wir sitzen jetzt immer nebeneinander.
»Und was machst du so nach der Schule?«, platze ich heraus, dann schaue ich schnell aus dem Fenster. Ich will ihre Reaktion gar nicht sehen.
Ihr scheint die Frage aber nichts auszumachen.
»Außer Fernsehen und Hausaufgaben nicht viel. Meine Mom kommt ungefähr um sechs nach Hause und dann essen wir zu Abend.«
Ich stelle mir Amelia allein in ihrer schicken Marmorwohnung vor, und plötzlich tut sie mir leid. Es hört sich einsam an. Ich schaue in ihre Augen, um zu herauszufinden, ob sie wohl traurig ist.
»Wo wohnt dein Dad?«, frage ich sie.
»In der Nähe von Boston. Früher habe ich ihn jedes Wochenende besucht, aber jetzt, wo wir umgezogen sind, gehe ich nur noch in den Sommerferien zu ihm.« Sie sagt es, als würde sie über Mathehausaufgaben reden, als wäre es nichts Besonderes.
»Magst du ihn?«, frage ich sie.
»Wenn wir allein sind, ist er lieb, aber ich kann seine neue Frau nicht ausstehen. Außerdem habe ich zwei kleine Stiefschwestern, die einfach perfekt sind und nie was falsch machen.« Sie redet jetzt schneller. »Die beiden sind fünf und sieben und total verwöhnt. Und seine neue Frau nörgelt ständig und ist echt schrecklich. Ich kann sie alle kein bisschen leiden.« Sie spuckt den letzten Satz aus wie einen alten, widerlichen Kaugummi.
»Oh.« Ich schaue sie an. Bei jedem Ruckeln des Buses hopst sie im Sitz auf und ab. Sie trägt altmodische Jeans, eine dunkelpinkfarbene Fleece-Jacke und hat die Arme verschränkt, als wolle sie sich selbst festhalten. Ich stelle mir zwei perfekte kleine Mädchen in perfekt zueinander passenden Kleidchen vor, und weiß genau, dass Amelia sich wie eine Außenseiterin fühlt. Damit kenn ich mich aus.
Ich drehe mich zum Fenster, kneife die Augen zu und denke an die anderen in der Cafeteria, wie sie zusammensitzen und sich um ihre gemeinsamen Geheimnisse scharen.
Schließlich hole ich tief Luft und sage zu Amelia: »Magst du am Wochenende mit mir shoppen gehen? In Lake View gibt es einen tollen Secondhand-Laden, den ich mir schon immer mal anschauen wollte.«
Den Kopf zur Seite geneigt, schaut Amelia mich kurz an. Sie wirkt neugierig und überrascht.
»Echt jetzt?«, fragt sie.
»Ja!« Ich bin aufgeregt, versuche es mir aber nicht anmerken zu lassen. »Unsere Au-Pair hat uns früher immer dorthin mitgeschleppt, aber ich bin schon ewig nicht mehr da gewesen. Ich brauche Wintersachen.« Vor der Haltestelle wird der Bus langsamer. Wir stehen auf, gehen zur Tür und steigen aus. »Meine Tante und mein Onkel geben mir meist einfach das Geld und lassen mich alleine einkaufen gehen. Es ist ihnen egal, was ich damit mache.« Ich bin selbst von meinen Worten überrascht. Dabei weiß ich nicht genau, ob das wirklich so ist.
Schweigend sieht Amelia mir in die Augen, während der Bus weiterfährt. Sie streicht sich das Haar aus dem Gesicht.
»Du lebst bei deiner Tante und deinem Onkel?«
»Ja.« Ich vergrabe die Hände in meinen Taschen und schaue die Straße entlang, um Amelia nicht ansehen zu müssen. »Hör zu, ich muss jetzt nach Hause. Frag deine Mom, ob du mitkommen kannst. Morgen oder am Sonntag. Mir egal, wann. Ruf einfach an. Du hast doch die Nummer von der Klassenliste, oder?«
»Ja«, sagt sie. Dann leuchtet die Ampel auf und ich überquere schnell die Straße. Mein Riesenrucksack prallt bei jedem Schritt gegen meinen Rücken. Es fühlt sich an, als würden zwei kräftige Hände meine Schultern nach unten drücken. Am Ende des Wohnblocks hat der Wind vom See aufgefrischt und heult zwischen den hohen Gebäuden wie die Sirene eines Krankenwagens. An der Ecke drehe ich mich um und schaue durch meine langen, vom Wind zerzausten Strähnen zu Amelia. Sie steht noch genauso da wie eben. Langsam hebt sie die Hand und winkt. Ich lächle kurz, dann drehe ich mich um und gehe nach Hause.
ICH SCHLIEßE DIE TÜR ZU UNSERER verlassenen Wohnung auf, verziehe mich sofort in mein Zimmer und werfe meinen Rucksack aufs Bett. Aus dem Augenwinkel betrachte ich mich im Spiegel. Meine schwarze Jeans ist eine Jeans. Mein übergroßes, langärmeliges T-Shirt ist ein T-Shirt. Das Mädchen in Leggins und Kleid, das ich mir heute Morgen mit aller Kraft herbeigewünscht hatte, war bereits verschwunden, kaum dass ich mit dem Frühstück fertig war. Ich schlage die Tür hinter mir zu und gehe in die Küche, um ein Müsli zu essen. Du bist schon zu alt, um dir selbst etwas vorzumachen, ermahne ich mich.