Cover

Das Buch

Sein ganzes Leben lang hat Thomas Hockenberry, Professor für Philosophie an der University of Indiana, die Ilias studiert, Homers Versepos über den Trojanischen Krieg. Diese Aufgabe setzt er nach seinem Tod fort – wenn auch wider Willen: die Muse Kalliope hat ihn auserwählt, ihr als Kriegsberichterstatter zu dienen. Ausgestattet mit Hightech-Ausrüstung, die ihn in Sekundenbruchteilen nach Troja und wieder zurück bringt und sein Aussehen verändern kann, reist Hockenberry wieder und wieder zu den Schauplätzen des Trojanischen Krieges. Er kennt die Ilias genau, und schon bald muss er feststellen, dass das, was er sieht, und das, was Homer beschreibt, zwei verschiedene Dinge sind. Hat sich der Epiker mehr dichterische Freiheiten genommen als bisher gedacht? Oder befindet sich der Professor etwa im falschen Krieg? Die Wahrheit ist weitaus erschreckender: Hockenberry wurde nicht auf dem griechischen Olymp wiedererweckt, sondern auf dem Olympus Mons, dem höchsten Berg des Mars. Und es hat ihn nicht in die Antike, sondern in eine ferne Zukunft verschlagen, in der schon vor Jahrhunderten das nackte Grauen Einzug gehalten hat …

Der Autor

Dan Simmons wurde 1948 in Illinois geboren. Nach dem Studium arbeitete er einige Jahre als Englischlehrer, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Simmons ist heute einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller der Gegenwart. Seine Romane »Terror«, »Die Hyperion-Gesänge« und »Endymion« wurden zu internationalen Bestsellern, die Verfilmung von »Terror« ist eine der erfolgreichsten TV-Serien unserer Zeit. Der Autor lebt mit seiner Familie in Colorado.

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diezukunft.de

DAN SIMMONS

ILIUM

ROMAN

Aus dem Amerikanischen von
Peter Robert

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

ILIUM

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Redaktion: Wolfgang Jeschke

Copyright © 2003 by Dan Simmons

Copyright © 2019 der deutschen Ausgabe und
der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 29, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,
nach einem Originalentwurf von Ervin Serrano
Umschlagillustration: Gary Ruddell

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-14925-3
V004

www.diezukunft.de

Den Geist zieht es, von minderen Freuden,

Indes zu eigenen Seligkeiten;

Den Geist – dies Meer, wo jeder Art

Sogleich ihre Entsprechung harrt;

Doch er schweift weiter, bildet selbst

Ganz neue Meere, neue Welt,

Und nichtet alles, was geschaffen,

Zu grüner Schau in grünem Schatten.

– Andrew Marvell, »Der Garten«

Denn wohl lassen sich fette Schafe und Rinder erbeuten,

Dreifußkessel und Rosse mit falben Köpfen gewinnen,

Doch eines Menschen Wiederkehr wird nicht erbeutet

Noch gewonnen, sobald es verließ das Gehege der Zähne.

– Achilles in Homers Ilias, 9. Gesang, 406-409

Ein verbittertes Herz, das abwartet und beißt

– Caliban in Robert Brownings »Caliban über Setebos«

Dieser Roman ist dem Wabash College gewidmet –
seinen Angehörigen, seinem Lehrkörper
und seinem Vermächtnis

1    Die Ebene von Ilium

Zorn.

Singe mir, o Muse, des Peleussohnes und Männertöters Achilles Unheil bringenden Zorn, der tausend Leid den Achäern schuf und viele stattliche Seelen zum Hades hinabstieß. Und wenn du schon dabei bist, Muse, singe auch den Zorn der launischen, mächtigen Götter hier auf ihrem neuen Olymp, den Zorn der Nachmenschen, auch wenn sie vielleicht tot und begraben sind, und den Zorn jener wenigen echten Menschen, die es noch gibt, auch wenn sie vielleicht egozentrisch und überflüssig geworden sind. Und während du singst, o Muse, singe auch den Zorn jener nachdenklichen, empfindungsfähigen, ernsthaften, aber nicht sonderlich menschlichen Wesen, die draußen unter dem Eis von Europa träumen, in der Schwefelasche von Io sterben und in den kalten Falten des Ganymed geboren werden.

Ach, und von mir singe auch, o Muse, von dem armen, gegen seinen Willen wiedergeborenen Hockenberry – dem armen, toten Thomas Hockenberry, Doktor der Philosophie, Hockenbush für seine Freunde; Freunde, die schon längst zu Staub geworden sind in einer Welt, die es schon lange nicht mehr gibt. Singe meinen Zorn, ja, meinen Zorn, o Muse, so unbedeutend dieser Zorn auch sein mag, gemessen am Groll der unsterblichen Götter oder verglichen mit der Wut des Gottestöters Achilles.

Aber wenn ich es mir recht überlege, o Muse, singe mir gar nichts. Ich kenne dich. Man hat mich wider Willen zu deinem Diener gemacht, o Muse, du Miststück sondergleichen. Und ich traue dir nicht, o Muse. Kein bisschen.

Wenn ich in dieser Geschichte schon als unfreiwilliger Chor fungieren soll, dann kann ich mit der Erzählung beginnen, wo ich will. Und ich will hier beginnen.

Es ist ein Tag wie jeder andere in den über neun Jahren seit meiner Wiedergeburt. Ich erwache in der Scholikerkaserne, an diesem Ort aus rotem Sand, blauem Himmel und riesigen Steingesichtern, werde von der Muse gerufen, von den mörderischen Zerberiden beschnüffelt und durchgelassen und von der gläsernen Hochgeschwindigkeitsrolltreppe am Osthang brav die fünfundzwanzig senkrechten Kilometer zu den grasbewachsenen Gipfeln des Olymps hinaufbefördert; erhalte, nachdem ich mich in der leeren Villa der Muse gemeldet habe, meine Instruktionen von dem Scholiker, dessen Schicht zu Ende ist, lege meine Morphausrüstung und die Stoßpanzerung an, stecke mir den Taserstab in den Gürtel und qte dann zur abendlichen Ebene von Ilium.

Falls Sie jemals versucht haben, sich ein Bild von der Belagerung Iliums zu machen, so wie ich es von Berufs wegen über zwanzig Jahre lang getan habe, dann muss ich Ihnen sagen, dass Ihre Vorstellungskraft der Aufgabe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht gewachsen war. Meine war es jedenfalls nicht. Die Wirklichkeit ist viel wunderbarer und schrecklicher, als sie uns selbst der blinde Dichter zeigen wollte.

Zuallererst ist da die Stadt, Ilium, Troja, eine der großen bewaffneten Poleis der Antike – mehr als drei Kilometer von dem Strand entfernt, auf dem ich jetzt stehe, aber dennoch gut sichtbar auf ihrer Anhöhe, schön und gebieterisch, die hohen Mauern von Tausenden von Fackeln und Feuern erhellt, die Türme nicht ganz so unermesslich hoch, wie Marlowe uns glauben machen wollte, aber immer noch Staunen erregend – hoch, rund, fremdartig, imposant.

Dann sind da die Achäer, Danaer und die anderen Invasoren – genau genommen noch keine »Griechen«, weil diese Nation erst in über zweitausend Jahren entstehen wird, aber ich werde sie trotzdem Griechen nennen –, die sich kilometerweit hier an der Küste ausgebreitet haben. In meinen Ilias-Seminaren habe ich den Studenten erklärt, der trojanische Krieg sei trotz seines homerischen Ruhms in Wirklichkeit wahrscheinlich nur ein kleines Scharmützel gewesen – ein paar Tausend griechische Krieger gegen ein paar Tausend Trojaner. Selbst die kenntnisreichsten Mitglieder der Scholia – jener seit fast zweitausend Jahren existierenden Gruppe von Ilias-Forschern – haben auf Grundlage des Versepos geschätzt, dass nicht mehr als 50000 Achäer und andere griechische Krieger in ihren schwarzen Schiffen an der Küste aufgezogen sind.

Sie haben sich geirrt. Neuesten Schätzungen zufolge sind es mehr als 250000 griechische Angreifer und ungefähr halb so viele Verteidiger Trojas, einschließlich ihrer Verbündeten. Offenbar ist jeder Kriegsheld der griechischen Inseln zu dieser Schlacht herbeigeeilt – eine Schlacht ist nämlich gleichbedeutend mit Plünderung – und hat seine Soldaten, Verbündeten, Gefolgsleute, Sklaven und Konkubinen mitgebracht.

Es ist ein fantastischer Anblick: Kilometer um Kilometer erleuchteter Zelte, Lagerfeuer und Verteidigungsanlagen aus angespitzten Pfählen, dazu lange Gräben im harten Boden oberhalb der Strände – nicht um sich darin zu verstecken und niederzukauern, sondern zur Abschreckung der trojanischen Kavallerie –, und das Licht, das diese kilometerlange Ansammlung von Zelten und Männern beleuchtet und auf polierte Lanzen und glänzende Schilde fällt, stammt von Tausenden hell loderndern Freudenfeuern, Kochfeuern und Scheiterhaufen.

Scheiterhaufen.

In den letzten paar Wochen hat sich eine schleichende Seuche in den Reihen der Griechen ausgebreitet. Ihre ersten Opfer waren Esel und Hunde, dann hat sie hier einen Soldaten und dort einen Diener zu Fall gebracht, bis sie sich in den vergangenen zehn Tagen schließlich zu einer Epidemie ausgewachsen hat, die mehr achäische und danaische Helden getötet hat als die Verteidiger Iliums seit Monaten. Ich nehme an, es ist Typhus. Die Griechen sind davon überzeugt, dass es Apollos Zorn ist.

Ich habe Apollo von Weitem gesehen, sowohl auf dem Olymp als auch hier. Er ist ein ganz übler Bursche. Apollo ist der Gott der Bogenschützen, der Herr des silbernen Bogens, »der Fernhintreffer«, und obwohl er auch der Gott der Heilung ist, ist er ebenso der Gott der Krankheit. Mehr noch, er ist der oberste göttliche Verbündete der Trojaner in dieser Schlacht, und wenn es nach Apollo ginge, würden die Achäer ausgelöscht. Ob die Typhusepidemie nun von den leichenverseuchten Flüssen und anderem vergiftetem Wasser ausgelöst wurde oder von Apollos silbernem Bogen, die Griechen glauben zu Recht, dass er ihnen Böses will.

In diesem Augenblick finden sich die »Fürsten und Könige« der Achäer – und jeder dieser griechischen Helden ist in seiner Provinz und in seinen eigenen Augen eine Art Fürst oder König – gerade zu einer öffentlichen Versammlung bei Agamemnons Zelt ein, um darüber zu beraten, wie man dieser Seuche ein Ende bereiten kann. Ich gehe langsam, fast widerwillig dorthin. Dabei sollte diese Nacht nach meiner nunmehr über neunjährigen Wartezeit der aufregendste Moment meiner langen Tätigkeit als Kriegsbeobachter sein. Heute Nacht beginnt Homers Ilias in der Wirklichkeit.

Oh, ich habe viele Elemente des Epos miterlebt, die Homer mit dichterischer Freiheit zeitlich anders eingeordnet hat, etwa den sogenannten Schiffskatalog, jene Aufstellung und Auflistung sämtlicher griechischer Truppen aus dem zweiten Gesang der Ilias, die sich jedoch schon vor über neun Jahren beim Aufmarsch dieser Militärexpedition bei Aulis versammelt hatten, an der Meerenge zwischen Euböa und dem griechischen Festland. Oder die Epipolesis, die Heerschau, die Agamemnon im vierten Gesang von Homers Epos abhält, die ich jedoch kurz nach der Landung der Truppen hier bei Ilium stattfinden sah. Darauf folgte die Teichoskopia, wie ich sie in meinen Seminaren immer genannt habe, die »Mauerschau«, bei der Helena dem Priamos und den anderen trojanischen Führern die verschiedenen achäischen Helden zeigt. Die Teichoskopia kommt im dritten Gesang des Poems vor, ereignete sich im wahren Ablauf der Geschehnisse jedoch kurz nach der Landung und der Epipolesis.

Sofern es hier einen wahren Ablauf der Geschehnisse gibt.

Jedenfalls findet heute Abend jene Versammlung bei Agamemnons Zelt statt, bei der es zum Streit zwischen Agamemnon und Achilles kommt. Mit ihr beginnt die Ilias, und eigentlich sollte ich all meine Kräfte und beruflichen Fähigkeiten auf sie konzentrieren, aber in Wahrheit ist sie mir scheißegal. Sollen sie sich doch in die Brust werfen. Sollen sie sich aufplustern. Soll Achilles ruhig nach seinem Schwert greifen – nun, ich gestehe, es würde mich schon interessieren, das zu sehen. Wird Athene wirklich erscheinen, um ihn aufzuhalten, oder war sie nur eine Metapher dafür, dass Achilles wieder zur Vernunft kam? Ich habe mein Leben lang darauf gewartet, die Antwort auf eine solche Frage zu finden, und nun werde ich sie in ein paar Minuten bekommen, aber seltsamerweise ist … es … mir … definitiv … scheißegal.

Die neun Jahre der schmerzhaften Wiedergeburt, der langsamen Rückkehr der Erinnerung, des permanenten Krieges und der unablässigen heroischen Posen, ganz zu schweigen von meiner Versklavung durch die Götter und die Muse, haben ihren Tribut gefordert. Momentan hätte ich nichts dagegen, wenn eine B-52 käme und eine Atombombe auf die Griechen und Trojaner würfe. Zur Hölle mit all diesen Helden und den Holzkähnen, in denen sie hierher geschippert sind!

Aber ich stapfe zu Agamemnons Zelt. Das ist nun mal mein Job. Wenn ich es versäume, die Szene zu beobachten und der Muse davon zu berichten, heißt das nicht, dass ich meine Stelle verliere. Nein, die Götter werden mich in die Knochensplitter und die staubige DNS verwandeln, aus denen sie mich wieder erschaffen haben, und das war’s dann, wie man so sagt.

2    Ardis Hills, Ardis Hall

Daeman materialisierte in dem Faxportal in der Nähe von Adas Haus und blinzelte benommen in die rote Sonne am Horizont. Der Himmel war wolkenlos, und das untergehende Tagesgestirn brannte zwischen den hohen Bäumen auf der Kammlinie und brachte den P-Ring und den Ä-Ring, die sich am kobaltblauen Himmel drehten, zum Leuchten. Daeman war desorientiert, weil es hier Abend war; dabei war er erst vor ein paar Sekunden von Tobis Zweiter-Zwanziger-Party in Ulanbat weggefaxt, wo es früher Vormittag war. Sein letzter Besuch bei Ada lag Jahre zurück, und außer bei jenen Freunden, die er sehr regelmäßig besuchte – Sedman in Paris, Ono in Bellinbad, Risir in ihrem Haus auf den Klippen von Chom sowie ein paar andere –, wusste er nie, auf welchem Kontinent oder in welcher Zeitzone er sich wiederfinden würde. Aber er kannte die Namen und die Lage der Kontinente ohnehin nicht, geschweige denn die Konzepte geografischer oder chronometrischer Zonen, sodass ihm seine Unwissenheit nichts ausmachte.

Es war trotzdem verwirrend. Er hatte einen Tag verloren. Oder gewonnen? Jedenfalls roch die Luft hier anders – feuchter, würziger, wilder.

Daeman schaute sich um. Er stand in der Mitte eines ganz normalen Faxknoten-Feldes – der übliche Kreis aus Permbeton und eleganten Eisenpfosten mit einer gelben Glaspergola darüber, und am Pfosten in der Nähe des Kreismittelpunkts befand sich das unvermeidliche kodierte Zeichen, das er nicht lesen konnte. In dem Tal war kein anderes Bauwerk zu sehen, nur Gras, Bäume, ein Fluss in der Ferne und die langsame Drehung der beiden Ringe, die wie die Räder eines riesigen, langsamen Gyroskops über ihn wegzogen.

Es war ein warmer Abend, feuchter als in Ulanbat, und das Faxpad lag mitten auf einer grünen Wiese, die von niedrigen Hügeln umgeben war. Sechs Meter von dem kreisrunden Feld entfernt stand eine uralte einrädrige, offene Zweierkarriole; ein ebenso alter Servitor schwebte über der Fahrernische, und ein einzelner Voynix stand zwischen den hölzernen Deichseln. Es war über zehn Jahre her, dass Daeman Ardis Hall besucht hatte, aber jetzt fiel ihm wieder ein, wie primitiv und unbequem die ganze Sache gewesen war. Absurd, sein Haus nicht auf einem Faxknoten zu haben.

»Daeman Uhr?«, erkundigte sich der Servitor, obwohl er offensichtlich wusste, wen er vor sich hatte.

Daeman grunzte und hielt ihm seine ramponierte Reisetasche hin. Der winzige Servitor schwebte näher heran, nahm das Gepäck mit seinen gepolsterten Greifern und lud es in den Segeltuchkasten der Karriole, während Daeman einstieg. »Warten wir noch auf jemanden?«

»Sie sind der letzte Gast«, antwortete der Servitor. Er schwebte summend in seine halbkugelförmige Nische und schnalzte einen Befehl; der Voynix packte die Deichseln der Karriole und setzte sich in Bewegung, auf die untergehende Sonne zu. Seine rostigen Peds und das Rad der Karriole wirbelten auf der Schotterstraße nur sehr wenig Staub auf. Daeman ließ sich in das grüne Leder sinken, stützte beide Hände auf seinen Spazierstock und genoss die Fahrt.

Er war nicht gekommen, um Ada zu besuchen, sondern um sie zu verführen. Das war Daemans Lieblingsbeschäftigung – junge Frauen verführen. Und Schmetterlinge sammeln. Dass Adas Erster Zwanziger noch nicht lange zurücklag und Daeman bereits auf seinen Zweiten Zwanziger zuging, war ihm gleichgültig, ebenso wie die Tatsache, dass Ada seine Cousine ersten Grades war. Inzesttabus waren schon vor langer Zeit zerbröckelt. »Gendrift« war Daeman kein Begriff, aber selbst wenn, hätte er darauf vertraut, dass die Klinik die Sache schon wieder in Ordnung bringen würde. Die Klinik brachte alles wieder in Ordnung.

Daeman hatte Ardis Hill vor zehn Jahren als Adas Cousin besucht – und aus lauter Langeweile versucht, ihre Cousine Virginia zu verführen, die so attraktiv war wie ein Voynix. Damals hatte er Ada zum ersten Mal nackt gesehen. Auf der Suche nach dem Frühstückswintergarten war er einen der endlosen Korridore von Ardis Hall entlanggegangen und dabei am Zimmer des Mädchens vorbeigekommen; die Tür hatte einen Spaltbreit offen gestanden, und in einem hohen, verzogenen Spiegel war Ada zu sehen gewesen, die mit leicht gelangweilter Miene splitterfasernackt an einem Waschbecken stand und sich mit einem Schwamm wusch – Ada war vieles, aber bestimmt nicht übermäßig sauber, wie Daeman festgestellt hatte –, und ihr Spiegelbild, diese junge Frau, die gerade dem Kokon des Kindesalters entschlüpfte, hatte ihn innehalten lassen, diesen erwachsenen Mann, der zu jener Zeit nur ein wenig älter gewesen war als Ada jetzt.

Selbst damals, als ihren Hüften, Oberschenkeln und Brüsten mit den winzigen Brustwarzen noch ein Hauch Babyspeck angehaftet hatte, war Ada ein Anblick gewesen, für den sich das Stehenbleiben lohnte. Mit ihrer blassen Haut, die immer von einem weichen, pergamentenen Weiß war, ganz gleich, wie lange sie sich im Freien aufhielt, ihren grauen Augen, himbeerroten Lippen und pechschwarzem Haar war sie der Traum eines Amateurerotikers. Zu jener Zeit war es Mode gewesen, dass Frauen sich die Achselhöhlen rasierten, aber die junge Ada hatte dem nicht mehr Beachtung geschenkt als den meisten anderen kulturellen Usancen (und Daeman hoffte aufrichtig, dass ihr erwachsenes Gegenstück es ebenso wenig tat). Eingefroren in dem hohen Spiegel damals (und jetzt aufgespießt und ausgestellt im Schaukasten von Daemans Gedächtnis) waren jener noch mädchenhafte, aber bereits sinnliche Körper, die schweren, bleichen Brüste, die sahnige Haut, die wachen Augen, all jene Blässe, die von den vier Tupfern schwarzen Haares durchsetzt war – das wellige Fragezeichen ihres Schopfes, den sie immer achtlos hochgesteckt trug, außer wenn sie spielte (wie meistens), die beiden Kommata in ihren Achselhöhlen und das perfekte, noch nicht zu einem Delta gereifte schwarze Ausrufezeichen, das zu den Schatten zwischen ihren Schenkeln führte.

Daeman lächelte in seiner Karriole. Er hatte keine Ahnung, weshalb Ada ihn nach all den Jahren zu dieser Geburtstagsfeier eingeladen hatte – oder wessen Zwanziger sie feierten –, aber er war davon überzeugt, dass es ihm gelingen würde, die junge Frau zu verführen, bevor er wieder in seine wirkliche Welt der Partys, der ausgedehnten Besuche und der beiläufigen Affären mit weltlicheren Frauen zurückfaxte.

Der Voynix trabte mühelos dahin und zog die Karriole hinter sich her. Nur das Zischen des Schotters unter seinen Peds und das leise Summen uralter Gyroskope in der Karosserie der Kutsche waren zu hören. Schatten krochen über das Tal, aber die schmale Straße führte aufwärts über einen Kamm, erhaschte das letzte bisschen Sonne – die vom nächsten Kamm im Westen halbiert wurde – und führte dann in ein breiteres Tal hinunter, wo sich zu beiden Seiten von niedrigen Pflanzen bewachsene Felder ausdehnten. Die Pflegeservitoren schossen über den Feldern hin und her wie ein Haufen levitierender Krocketbälle, dachte Daeman.

Die Straße bog nach Süden ab – von Daeman aus gesehen nach links –, überquerte in Gestalt einer überdachten Holzbrücke einen Fluss, wand sich dann im Zickzack einen steilen Hang hinauf und führte in einen älteren Wald. Daeman erinnerte sich undeutlich daran, dass er in diesem uralten Wald vor zehn Jahren – in den späteren Stunden jenes Tages, an dem er die junge Ada nackt im Spiegel gesehen hatte – auf Schmetterlingsjagd gegangen war. Er erinnerte sich an seine Erregung, als er bei einem Wasserfall ein seltenes Exemplar eines Trauermantels gefangen hatte, und die Erinnerung vermischte sich mit der Erregung beim Anblick der blassen Haut und des schwarzen Haars des Mädchens. Er erinnerte sich jetzt an den Blick, den ihm Adas Spiegelbild zugeworfen hatte – desinteressiert, weder erfreut noch zornig, schamlos, aber nicht unverschämt, beinahe kühl analysierend –, als sie beim Waschen aufgeblickt und den auf dem Gang draußen vor Lust erstarrten, siebenundzwanzigjährigen Daeman ganz ähnlich angesehen hatte wie Daeman selbst seinen gefangenen Trauermantel.

Die Karriole näherte sich Ardis Hall. Es war dunkel unter den alten Eichen, Ulmen und Eschen auf den letzten Metern zur Kuppe des Hügels, aber an der Straße waren gelbe Laternen aufgestellt worden, und im Wald funkelten Reihen farbiger Laternen, die vielleicht Spazierwege markierten.

Der Voynix trabte aus dem Wald, und ein vom Abendlicht erfüllter Anblick tat sich auf: Ardis Hall, leuchtend auf seiner Hügelkuppe; weiße Schotterwege und Straßen, die sich in alle Richtungen schlängelten; die ausgedehnte Rasenfläche, die vor dem Herrenhaus fast einen halben Kilometer weit sanft abfiel, bis ein weiterer Wald dem Grün den Weg versperrte; der glänzende Fluss dahinter, der noch das sterbende Licht im Himmel spiegelte; und durch eine Lücke in den südwestlichen Hügeln der flüchtige Blick auf weitere bewaldete Hügel – schwarz, lichtlos – und dann noch mehr Hügel dahinter, bis die schwarzen Kämme mit schwarzen Wolken am Horizont verschmolzen.

Daeman fröstelte. Erst jetzt fiel es ihm wieder ein: Adas Haus lag in der Nähe der Dinosaurierwälder auf diesem Kontinent. Er erinnerte sich, dass er bei seinem letzten Besuch schreckliche Angst gehabt hatte, obwohl Virginia und Vanessa und alle anderen ihn beruhigt hatten, dass es im Umkreis von achthundert Kilometern keine gefährlichen Dinosaurier gebe – alle anderen, hieß das, außer der fünfzehnjährigen Ada, die ihn nur mit jener berechnenden, leicht amüsierten Miene angesehen hatte, die sie, wie er bald erfahren sollte, üblicherweise zur Schau trug. Damals hatten ihn nur die Schmetterlinge zu einem Spaziergang aus dem Haus locken können. Heute würde dazu mehr nötig sein. Obwohl er wusste, dass ihm angesichts all der Servitoren und Voynixe in der Umgebung nichts passieren konnte, verspürte Daeman nicht den geringsten Drang, von einem ausgestorbenen Reptil gefressen zu werden und mit der Erinnerung an diese Schmach in der Klinik aufzuwachen.

Die riesige Ulme am oberen Ende des Hangs vor Ardis Hall war mit Dutzenden von Laternen geschmückt; Fackeln säumten die kreisrunde Auffahrt und die weißen Schotterwege, die vom Haus in den Garten führten. Wach-Voynixe standen an den Hecken neben der Auffahrt und am Rand des dunklen Waldes. Daeman sah, dass in der Nähe der Ulme ein langer Tisch aufgestellt worden war – Fackeln flackerten in der abendlichen Brise überall um die festliche Szenerie herum – und dass sich dort bereits ein paar Gäste zum Abendessen versammelten. Mit seinem üblichen Anflug von erfreutem Snobismus bemerkte er auch, dass die meisten Männer hier noch mit schmutzig weißen Gewändern, Burnussen und Abendoveralls in Erdfarben bekleidet waren, ein Stil, der in den wichtigeren gesellschaftlichen Kreisen, in denen Daeman verkehrte, schon vor Monaten aus der Mode gekommen war.

Der Voynix trabte auf der runden Auffahrt bis vor die Eingangstüren von Ardis Hall, blieb in dem herausfallenden gelben Lichtstrahl stehen und setzte die Deichseln der Karriole so sanft ab, dass Daeman nicht einmal einen Stoß spürte. Der Servitor flitzte nach hinten, um seine Tasche zu holen, während Daeman ausstieg, froh, seine Füße auf dem Boden zu spüren; ihm war noch ein bisschen schwindlig vom heutigen Faxen.

Ada kam schwungvoll zur Tür heraus und die Treppe herunter, um ihn zu begrüßen. Daeman blieb wie angewurzelt stehen, ein dummes Grinsen im Gesicht. Ada war nicht nur schöner, als er sie in Erinnerung hatte; sie war geradezu unvorstellbar schön.

3    Die Ebene von Ilium

Die griechischen Truppenführer haben sich zusammen mit einem Haufen interessierter Zuschauer vor Agamemnons Zelt versammelt, und der Streit zwischen Agamemnon und Achilles kommt allmählich in Schwung.

Ich sollte erwähnen, dass ich inzwischen die Gestalt von Bias angenommen habe – nicht die des gleichnamigen pylischen Hauptmanns aus Nestors Truppen, sondern die des Hauptmanns, der Menestheus dient. Der arme Athener ist zurzeit an Typhus erkrankt, und obwohl er überleben wird, um im 13. Gesang zu kämpfen, verlässt er kaum jemals sein Zelt, das ein gutes Stück weiter unten an der Küste steht. Als Hauptmann hat Bias immerhin einen so hohen Rang, dass die Lanzenkämpfer und die neugierigen Zuschauer ihm Platz machen, sodass ich Zugang zum Kreis in der Mitte bekomme. Aber niemand wird erwarten, dass Bias in der bevorstehenden Debatte das Wort ergreift.

Ich habe den größten Teil des Dramas verpasst, bei dem Kalchas, Sohn des Thestor und »von den Vogelflugdeutern der beste«, den Achäern den wahren Grund von Apollos Zorn enthüllt hat. Ein anderer Hauptmann, der neben mir steht, flüstert mir zu, Kalchas habe vor seiner Rede Immunität gefordert – er habe Achilles’ Schutz verlangt, falls der versammelten Menge und den Königen nicht gefalle, was er zu sagen habe. Achilles sei einverstanden gewesen. Kalchas habe der Gruppe erzählt, was alle schon halb vermutet hätten: dass Chryses, der Priester des Apollo, um die Rückgabe seiner gefangenen Tochter gebeten und Agamemnons Weigerung den Gott erzürnt habe.

Agamemnon sei wütend über Kalchas’ Deutung gewesen. »Er hat quadratische Ziegenkacke geschissen«, flüstert der Hauptmann mit einem Lachen, das seine Weinfahne zu mir herüberträgt. Wenn ich mich nicht irre, heißt dieser Hauptmann Orus und wird in ein paar Wochen von Hektor getötet, wenn der trojanische Held anfängt, Achäer en gros zu massakrieren.

Orus erzählt mir, Agamemnon habe sich gerade eben bereit erklärt, die Sklavin Chryseis zurückzugeben – »Ich ziehe sie nämlich sogar meiner Gemahlin Klytämnestra vor, denn sie ist nicht schlechter als jene«, habe der Sohn des Atreus gerufen –, aber dann habe der König Ersatz in Gestalt einer ebenso schönen Gefangenen verlangt. Dem sternhagelvollen Orus zufolge hat Achilles gerufen: »Nicht so hastig, Atreussohn, Besitzbegierigster aller!«, und dann erklärt, dass die Argeier – ein weiterer Name für die Achäer oder Danaer, die verdammten Griechen mit ihren vielen Namen – gegenwärtig nicht in der Lage seien, ihrem Führer weitere Beute auszuhändigen. Aber wenn sich das Schlachtenglück eines Tages wieder zu ihren Gunsten wende, versprach der Männertöter Achilles, werde Agamemnon sein Mädchen bekommen. Fürs Erste solle er jedoch Chryseis ihrem Vater zurückgeben und die Klappe halten.

»Da hat Fürst Agamemnon, des Atreus’ Sohn, ganze Ziegen zu scheißen begonnen«, lacht Orus. Er spricht so laut, dass sich mehrere Hauptleute umdrehen und uns finstere Blicke zuwerfen.

Ich nicke und schaue auf die inneren Kreise. Agamemnon steht wie immer im Mittelpunkt des Geschehens. Der Sohn des Atreus sieht von Kopf bis Fuß wie der oberste Feldherr aus – hochgewachsen, den Bart in klassische Locken gedreht, die Stirn eines Halbgotts und durchdringender Blick, geölte Muskeln, in die feinste Rüstung, das feinste Tuch gekleidet. Ihm steht im offenen Zentrum des Kreises Achilles gegenüber. Stärker, jünger, schöner noch als Agamemnon, spottet Achilles beinahe jeder Beschreibung. Als ich ihn beim Schiffskatalog vor über neun Jahren zum ersten Mal gesehen habe, dachte ich, Achilles müsse der gottähnlichste Mensch sein, der unter diesen vielen gottähnlichen Menschen wandelte, so beeindruckend war die körperliche Erscheinung dieses gebieterischen Mannes. Seither ist mir klar geworden, dass Achilles trotz all seiner Schönheit und Kraft ziemlich dumm ist – eine Art Arnold Schwarzenegger, wenn auch tausendmal attraktiver.

Um diesen innersten Kreis herum stehen jene Helden, die in meinem anderen Leben jahrzehntelang Gegenstand meiner Seminare waren. Man erlebt keine Enttäuschung, wenn man sie leibhaftig vor sich sieht. Nahe bei Agamemnon, aber in dem entbrannten Streit offenbar nicht auf seiner Seite ist Odysseus – einen ganzen Kopf kleiner als Agamemnon, aber mit breiterer Brust und breiteren Schultern bewegt er sich unter den griechischen Fürsten wie ein Widder unter Schafen; Intelligenz und Schläue leuchten aus seinen Augen und sind in die Falten seines wettergegerbten Gesichts eingekerbt. Ich habe noch nie mit Odysseus gesprochen, aber ich würde es gern noch tun, bevor dieser Krieg vorüber ist und er zu seinen Reisen aufbricht.

Zur Rechten Agamemnons steht sein jüngerer Bruder Menelaos, Helenas Gemahl. Ich wünschte, ich bekäme jedes Mal einen Dollar, wenn ich einen Achäer mosern höre: Wäre Menelaos ein besserer Liebhaber gewesen – »hätte er einen größeren Schwanz«, wie es Diomedes vor drei Jahren in meiner Hörweite einem Freund gegenüber formulierte –, dann wäre Helena nicht mit Paris nach Ilium ausgebüxt, und die Helden der griechischen Inseln hätten die letzten neun Jahre nicht mit dieser verfluchten Belagerung vergeudet. Links neben Agamemnon steht Orestes – nicht Agamemnons zu Hause gebliebener verzogener Sohn, der den Mord an seinem Vater eines Tages rächen und sich damit sein eigenes Theaterstück verdienen wird, sondern nur ein loyaler Lanzenkämpfer gleichen Namens, den Hektor während der nächsten großen trojanischen Offensive niedermacht.

Hinter König Agamemnon steht Eurybates, Agamemnons Herold – nicht zu verwechseln mit dem Eurybates, der Odysseus’ Herold ist. Neben Eurybates steht Ptolemäus’ Sohn, Eurymedon, ein gut aussehender Junge, Agamemnons Wagenlenker – nicht zu verwechseln mit dem weit weniger gut aussehenden Eurymedon, der Nestors Wagen lenkt. (Manchmal, das gebe ich zu, würde ich all diese glorreichen Patronymika gern gegen ein paar simple Nachnamen austauschen.)

In Agamemnons Hälfte des Kreises stehen heute Abend auch der große und der kleine Ajax, die die Truppen aus Salamis und Lokris anführen. Diese beiden wird man nie verwechseln, außer vom Namen her, weil der große Ajax wie ein weißer Profi-Linebacker und der kleine wie ein Taschendieb aussieht. Euryalos, der zweite, stellvertretende Befehlshaber der Kämpfer von Argolis, steht neben seinem Chef, Sthenelos, einem Mann, der so furchtbar lispelt, dass er seinen eigenen Namen nicht aussprechen kann. Agamemnons Freund und Oberbefehlshaber der Kämpfer von Argolis, der freimütige Diomedes, ist ebenfalls zugegen; heute Abend ist er nicht heiter gestimmt, er schaut finster zu Boden, mit verschränkten Armen. Der alte Nestor – »der tönende Redner von Pylos« – steht dicht an der Mittellinie des inneren Kreises und schaut noch unglücklicher drein als Diomedes, während Agamemnon und Achilles sich so richtig in ihre Wut und ihre gegenseitigen Beschimpfungen hineinsteigern.

Wenn sich alles Homers Schilderung entsprechend entwickelt, wird Nestor in ein paar Minuten seine große Rede halten und vergeblich an Agamemnon und den wütenden Achilles appellieren, sich wieder zu vertragen, bevor ihr Zorn den Trojanern in die Hände spielt, und ich gestehe, dass ich Nestors Rede hören möchte, und sei es nur wegen seiner Anspielung auf den alten Krieg gegen die Kentauren. Kentauren haben mich schon immer interessiert, und Homer lässt Nestor in nüchternem Ton von ihnen und dem Krieg gegen sie sprechen; die Kentauren sind eines von nur zwei mythischen Tieren, die in der Ilias erwähnt werden; das andere ist die Chimaira. Ich freue mich schon darauf, ihn von den Kentauren sprechen zu hören, aber vorerst achte ich darauf, dass Nestor mich nicht sieht, denn Bias, dessen Identität ich beim Morphen angenommen habe, ist einer der Untergebenen des alten Mannes, und ich will nicht in ein Gespräch verwickelt werden. Momentan besteht allerdings kein Anlass zur Sorge – Nestors Aufmerksamkeit richtet sich wie die aller anderen auf den heftigen, Speichel sprühenden Wortwechsel zwischen Agamemnon und Achilles.

Nahe bei Nestor und offenbar auf Neutralität bedacht stehen Menesthios (der in ein paar Wochen von Paris getötet werden wird, wenn Homers Darstellung der Realität entspricht), Eumelos (Führer der Thessalier aus Pherai), Polyxeinos (Mitanführer der Epeier), Polyxeinos’ Freund Thalpios, Thoas (Befehlshaber der Ätoler), Leonteus und Polypoites in ihrer charakteristischen argissanischen Tracht, außerdem Machaon und sein Bruder Podaleirios, hinter denen ihre diversen thessalischen Leutnants stehen, Odysseus’ treuer Freund Leukos (dem es bestimmt ist, in ein paar Tagen von Anthiphos getötet zu werden), und andere, die ich mit den Jahren gut kennengelernt habe, nicht nur vom Sehen, sondern auch vom Klang ihrer Stimme her und durch ihre jeweils typische Art zu kämpfen, zu prahlen und den Göttern Opfergaben darzubringen. Falls ich es bisher noch nicht erwähnt habe: Die alten Griechen, die hier versammelt sind, tun nichts halbherzig – sie bieten bei allem ihr ganzes Können auf und laufen bei jeder ihrer Unternehmungen »das volle Risiko des Scheiterns«, wie es ein Wissenschaftler des zwanzigsten Jahrhunderts einmal ausgedrückt hat.

Gegenüber von Agamemnon und rechts von Achilles stehen Patroklos – der beste Freund des Männertöters, dessen Tod durch Hektors Hand Achilles’ wahren Zorn und das größte Gemetzel in der Geschichte des Krieges auslösen wird – und Tlepolemos, der schöne Sohn des mythischen Helden Herakles, der den Onkel seines Vaters getötet hat, daraufhin von zu Hause geflohen ist und bald von Sarpedons Hand sterben wird. Zwischen Tlepolemos und Patroklos steht der alte Phönix (Achilles’ treuer Freund und ehemaliger Lehrer) und flüstert dem Sohn von Diokles, Orsilochos, etwas zu, der schon sehr bald von Äneas getötet werden wird. Links vom zornbebenden Achilles ist Idomeneus, ein viel besserer Freund des Männertöters, als ich nach dem Epos vermutet hatte.

Im innersten Kreis stehen natürlich noch mehr Helden, und zahllose weitere befinden sich in der Menge hinter mir, aber Sie verstehen schon, worauf ich hinauswill. Niemand bleibt namenlos, weder in Homers Versepos noch in der Alltagswirklichkeit hier auf der Ebene von Ilium. Jeder Mann trägt den Namen seines Vaters, seine Geschichte, seine Ländereien, Frauen, Kinder und Leibeigenen beständig mit sich herum, bei allen kriegerischen wie auch rhetorischen Begegnungen. Das kann einen schlichten Wissenschaftler schon manchmal zermürben.

»Sinne mir nicht so auf Trug, gottgleicher Achilles, der du beim Würfeln, im Krieg und die Frauen betrügst!«, ruft Agamemnon. »Mich hintergehst du nicht! Du hast die Sklavin Briseis, eine der schönsten Frauen, die wir je geraubt haben; sie ist genauso schön wie meine Chryseis. Du selbst willst dein Ehrengeschenk behalten, und ich soll leer ausgehen? Niemals! Lieber würde ich den Oberbefehl über unser Heer Ajax hier übergeben … oder Idomeneus … oder dem listenreichen Odysseus dort … oder dir, Achilles … dir … statt derart betrogen zu werden.«

»Nur zu«, höhnt Achilles. »Es wird Zeit, dass wir einen richtigen Anführer bekommen.«

Agamemnon wird dunkelrot. »Also schön. Lass ein schwarzes Schiff zu Wasser, belade es mit Ruderern und Opfern für die Götter … nimm Chryseis mit, wenn du es wagst … aber du wirst die Opfer bringen müssen, Achilles, o Töter der Männer. Wisse, dass ich mir als Ersatz ein Ehrengeschenk nehmen werde – und dieses Ehrengeschenk wird deine liebreizende Briseis sein.«

Achilles’ hübsches Gesicht ist wutverzerrt. »Von Unverschämtheit Strotzender, voller Gewinnsucht! Hundsäugiger Feigling!«

Agamemnon tritt einen Schritt vor, wirft sein Szepter zu Boden und legt die Hand an sein Schwert.

Achilles tritt ihm entgegen und packt das Heft seines eigenen Schwertes. »Die Trojaner haben uns nie Schaden zugefügt, Agamemnon, wohl aber du! Nicht der Lanzen werfenden Trojaner wegen kamen wir an diese Küste, sondern deinet- und deiner Habgier wegen – wir kämpfen für dich, Schamlosester. Wir sind dir hierher gefolgt, um deine Ehre vor den Trojanern zu retten, deine und die deines Bruders Menelaos, eines Mannes, der nicht einmal seine Gattin im Schlafzimmer halten kann …«

Nun tritt Menelaos vor und ergreift sein Schwert. Die Hauptleute und ihre Männer gruppieren sich jetzt um den einen oder anderen Helden, sodass sich der Kreis bereits in drei Lager aufgelöst hat – diejenigen, die für Agamemnon kämpfen werden, diejenigen, die für Achilles kämpfen werden, und diejenigen um Odysseus und Nestor herum, die so angewidert dreinschauen, als könnten sie alle beide umbringen.

»Ich ziehe mit meinen Männern heim«, schreit Achilles, »zurück nach Phthia. Lieber gehe ich mit einem leeren Schiff unter, das geschlagen heimfährt, als hierzubleiben und als Missachteter dir Vermögen und Reichtum zu häufen.«

»Meinethalben kannst du von dannen ziehen!«, brüllt Agamemnon. »Oder vielmehr desertieren. Ich mag dich nicht bitten, um meinetwillen zu bleiben und für mich zu kämpfen. Du magst kraftvoll sein, Achilles, aber was heißt das schon? Es ist eine Gabe der Götter und nicht dein Verdienst. Du liebst den Kampf und das Blut, es macht dir Freude, deine Feinde niederzumetzeln, also nimm deine kriecherischen Myrmidonen und zieh heim!«

Achilles vibriert geradezu vor Wut. Man sieht ihm an, dass er hin- und hergerissen ist zwischen dem Drang, auf dem Absatz kehrtzumachen, seine Männer zu holen und Ilium ein für alle Mal hinter sich zu lassen, und dem überwältigenden Wunsch, sein Schwert zu ziehen und Agamemnon wie ein Opferlamm auszuweiden.

»Aber höre meine Drohung, Achilles«, fährt Agamemnon fort, und sein Gebrüll sinkt zu einem schrecklichen Flüstern herab, das all die Hunderte hier versammelten Männer hören können, »ob du nun gehst oder bleibst, ich verzichte nur darum auf meine Chryseis, weil der Gott, Apollo, darauf besteht – doch an ihrer statt hole ich mir deine Briseis, damit jeder sieht, wie viel höher ich stehe als du, der kleine Nörgler Achilles!«

Jetzt verliert Achilles jegliche Selbstbeherrschung und macht ernsthafte Anstalten, sein Schwert zu ziehen. Und hier hätte die Ilias geendet – mit Agamemnons, Achilles’ oder beider Tod –, die Achäer wären heimgefahren, Hektor hätte seinen Lebensabend genossen, und Ilium wäre noch tausend Jahre stehen geblieben und vielleicht genauso prächtig geworden wie Rom, doch in diesem Moment erscheint die Göttin Athene hinter Achilles.

Ich sehe sie. Achilles wirbelt mit verzerrtem Gesicht herum und sieht sie offenbar auch. Niemand sonst kann sie sehen. Ich verstehe nichts von dieser Tarnmantel-Technik, aber sie funktioniert, wenn ich sie benutze, und bei den Göttern funktioniert sie auch.

Nein, unmittelbar darauf wird mir klar, dass dies mehr als ein Tarnmantel ist. Die Götter haben wieder einmal die Zeit angehalten. Auf diese Weise sprechen sie am liebsten mit ihren Favoriten – unter vier Augen –, aber ich habe es nur ein paarmal miterlebt. Agamemnons Mund steht offen – ich sehe im Flug eingefrorene Spucke –, aber kein Ton kommt heraus, seine Kinnpartie und seine Muskeln sind versteinert, die dunklen Augen blinzeln nicht. Alle im Kreis sind erstarrt, mit faszinierter oder nachdenklicher Miene. Ein Vogel hängt reglos am Himmel. Wellen türmen sich auf, brechen jedoch nicht am Ufer. Die Luft ist dick wie Sirup, und alle Anwesenden sind erstarrt wie Insekten in Bernstein. Die Einzigen, die sich in diesem stillgestellten Universum bewegen, sind Pallas Athene, Achilles und ich – obwohl ich mich nur ein klein wenig vorbeuge, um besser zu hören.

Achilles’ Hand liegt noch am Heft des Schwertes, das er bereits halb aus der wunderschön gearbeiteten Scheide gezogen hat, aber Athene hat ihn an den langen Haaren gepackt und mit körperlicher Gewalt zu sich herumgedreht, und jetzt wagt er es nicht, das Schwert ganz zu ziehen. Damit würde er nämlich die Göttin selbst herausfordern.

Aber seine Augen funkeln vor Zorn – sie sind fast schon ein bisschen wahnsinnig –, und er ruft in die verdickte, sirupartige Stille hinein, die solche Zeitstillstände begleitet: »Warum! Verdammt, verdammt, weshalb jetzt! Weshalb kommst du jetzt zu mir, Göttin, Tochter des Zeus? Bist du gekommen, um mit anzusehen, wie ich von Agamemnon gedemütigt werde?«

»Füge dich!«, gebietet ihm Athene.

Wenn Sie noch nie einen Gott oder eine Göttin gesehen haben, kann ich Ihnen nur sagen, dass sie überlebensgroß sind – buchstäblich, denn Athene misst bestimmt weit über zwei Meter –, außerdem schöner und eindrucksvoller als jeder Sterbliche. Ich nehme an, das ist ein Produkt ihrer Nanotechnik und ihrer DNS-Rekombinationslabors. Athene vereinigt in sich eine weibliche Schönheit, eine göttliche Macht und eine pure Kraft, von deren Existenz ich nicht einmal etwas geahnt hatte, bevor ich im Schatten des Olymp wieder zum Leben erweckt wurde.

Sie hält Achilles weiterhin an den Haaren gepackt, biegt ihm den Kopf zurück und zwingt ihn, sich von dem erstarrten Agamemnon und seinen Lakaien wegzudrehen.

»Nie und nimmer füge ich mich!«, ruft Achilles. Selbst in dieser erstarrten Luft, die jedes Geräusch dämpft und bremst, ist die Stimme des Männertöters voller Kraft. »Dieses Schwein, das sich für einen König hält, wird für seinen Hochmut mit dem Leben bezahlen!«

»Füge dich«, sagt Athene zum zweiten Mal. »Die weißellbogige Göttin Hera hat mich gesandt, um deinem Zorn Einhalt zu gebieten. Füge dich!«

Ich sehe ein leichtes Zögern in Achilles’ verrückten Augen. Hera, die Gattin des Zeus, ist die mächtigste Verbündete der Achäer auf dem Olymp und Achilles’ Gönnerin seit dessen seltsamer Kindheit.

»Lass ab von diesem Streit, und zwar sofort!«, befiehlt Athene. »Nimm die Hand vom Schwert, Achilles. Schmähe Agamemnon mit Worten, wenn es sein muss, aber töte ihn nicht. Gehorche uns, und ich verspreche dir – ich weiß, dies ist die Wahrheit, Achilles, nur ich sehe dein Geschick und kenne die Zukunft aller Sterblichen –, wenn du uns jetzt gehorchst, werden dir eines Tages dreimal so herrliche Gaben wegen der heutigen Schmach bereitstehen. Aber wenn du dich uns widersetzt, stirbst du noch in dieser Stunde. Gehorche uns beiden – Hera und mir –, und du wirst es nicht bereuen.«

Achilles schneidet eine Grimasse und entwindet sich mit mürrischer Miene Athenes Griff, stößt sein Schwert jedoch wieder in die Scheide zurück. Athene und er sind wie zwei lebendige Gestalten inmitten eines Haufens von Statuen. »Euch beiden, Göttin, kann ich mich nicht widersetzen, auch wenn ich noch so erzürnt bin«, sagt Achilles. »Denn so ist es besser. Wer den Göttern gehorcht, den pflegen auch sie zu erhören.«

Ein ganz leises Lächeln zuckt um Athenes Mundwinkel, dann verschwindet sie – qtet zurück auf den Olymp –, und die Zeit läuft weiter.

Agamemnon beendet seine flammende Rede.

Mit dem Schwert in der Scheide tritt Achilles in den leeren Kreis. »Du besoffener Weinschlauch in Menschengestalt!«, schreit der Männertöter. »Du ›Anführer‹ mit dem Blick eines Hundes und dem Herz eines Hirsches, der du uns niemals in den Kampf geführt oder dich mit den Besten der Achäer in einen Hinterhalt gelegt hast – du, dem der Mut fehlt, Ilium zu plündern, und der lieber die Zelte seiner Soldaten plündert – du ›König‹, der du nur über die Nichtigsten unter uns herrschst – dir schwöre ich an diesem Tag mit mächtigem Eid …«

Die Aberhundert Männer um mich herum schnappen fast wie ein Mann nach Luft; dieser versprochene Fluch schockiert sie mehr, als wenn Achilles Agamemnon einfach wie einen Hund niedergestreckt hätte.

»Ich schwöre dir, alle Söhne Achäas in sämtlichen Heeren werden sich noch nach Achilles sehnen«, schreit der Männertöter mit so lauter Stimme, dass in hundert Metern Umkreis sämtliche Würfelspiele in der Zeltstadt zum Erliegen kommen. »Und du wirst ihnen nichts nützen, Atride, sosehr du dich abhärmst, wenn sie vom männertötenden Hektor niedergemäht werden wie Weizenhalme; du aber wirst dich im Innern zernagen und grämen, weil du den Besten aller Achäer nicht geehrt hast!«

Und damit macht Achilles auf dem Absatz kehrt, verlässt den Kreis, schreitet mit knirschenden Schritten über den Kiesstrand und verschwindet in der Dunkelheit zwischen den Zelten. Ich muss gestehen, es ist ein grandioser Abgang.

Agamemnon verschränkt die Arme und schüttelt den Kopf. Andere Männer unterhalten sich in schockiertem Ton. Nestor tritt vor, um seine »In den Tagen des Kampfes gegen die Kentauren haben wir alle zusammengehalten«-Rede zu halten. Das ist eine Abweichung – bei Homer ist Achilles noch da, als Nestor spricht –, und mein wissenschaftlich geschulter Verstand bemerkt es wohl, aber mit den Gedanken bin ich ganz woanders.

Ich denke an den mörderischen Blick, den Achilles Athene zugeworfen hat, kurz bevor sie ihm die Haare nach hinten zerrte und ihn so einschüchterte, dass er sich unterwarf, und in diesem Augenblick eröffnet sich mir ein so kühner, so offensichtlich zum Scheitern verurteilter, selbstmörderischer und gleichzeitig wundervoller Aktionsplan, dass mir einen Moment lang die Luft wegbleibt.

»Ist alles in Ordnung mit dir, Bias?«, fragt Orus neben mir.

Ich schaue den Mann nur groß an. Einen Moment lang weiß ich nicht mehr, wer er ist oder wer dieser »Bias« sein soll; ich habe meine gemorphte Identität vergessen. Mit einem Kopfschütteln bahne ich mir einen Weg aus der dichten Menge der ruhmreichen Mörder.

Der Kies knirscht auch unter meinen Füßen, aber ohne den heldenhaften Nachhall von Achilles’ Abgang. Ich gehe zum Wasser hinunter und lege, sobald ich außer Sichtweite bin, die Identität von Bias ab. Wer mich jetzt erblicken würde, sähe Thomas Hockenberry, einen Mann mittleren Alters mit Brille und so weiter, angetan mit dem absurden, schweren Kostüm eines achäischen Lanzenkämpfers; Wolle und Fell bedecken meine Morphausrüstung und meine Stoßpanzerung.

Das Meer ist dunkel. Weindunkel, denke ich, kann aber nicht darüber lachen.

Nicht zum ersten Mal verspüre ich den überwältigenden Drang, mithilfe meines Tarnmantels und Schwebegeschirrs fortzufliegen – ein letztes Mal über Ilium hinwegzugleiten, auf seine Fackeln, seine todgeweihten Bewohner hinunterzuschauen und dann nach Süden und Westen über das weindunkle Meer – die Ägäis – zu segeln, bis ich zu den noch-nicht-griechischen Inseln und zum Festland gelange. Ich könnte bei Klytämnestra und Penelope, bei Telemachos und Orestes vorbeischauen. Professor Thomas Hockenberry ist als Kind wie als Mann immer besser mit Frauen und Kindern zurechtgekommen als mit Männern.

Doch diese proto-griechischen Frauen und Kinder hier sind mordlustiger und blutrünstiger als sämtliche Männer, die Hockenberry in seinem anderen, unblutigen Leben gekannt hat.

Sparen wir uns das Wegfliegen also für einen anderen Tag auf. Oder vielmehr, verzichten wir ganz darauf.

Die Wellen rollen heran, eine nach der anderen, mit ihrem beruhigenden, vertrauten Rhythmus.

Ich werde es tun. Die Entscheidung bringt mir das berauschende Gefühl des Fliegens – nein, nicht des Fliegens, sondern jenes erregenden, kurzen Augenblicks der Schwerelosigkeit, der sich einstellt, wenn man sich aus großer Höhe in die Tiefe stürzt und weiß, dass es kein Zurück auf festen Boden mehr gibt. Sinken oder schwimmen, fallen oder fliegen.

Ich werde es tun.