Der rundliche Rheinländer Altfried Janich findet nach der Wiedervereinigung eine Stelle im »Ostschloß«, einem alten Barockbau, der neuerdings eine psychiatrische Anstalt beherbergt. Hier hält er es für seine Aufgabe, seinen Patienten gegenüber die Sonnenposition einzunehmen, ihnen eine Orientierung zu geben. Als sein Freund Odilo durch einen rätselhaften Autounfall zu Tode kommt, gerät er selbst auf die Nachtseite der Dinge. Patienten rücken ihm zu nahe, Erinnerungen bedrängen ihn, seine Familiengeschichte holt ihn ein. Alle Geschichten seines Lebens scheinen hier zu enden, und bald stellt sich die Gewißheit ein, dass er aus dem Schloß nicht mehr wegkommen wird.

Ein Roman über die Macht der Zeit, über Erinnerung und zeitlose Verbundenheit. Ein Roman über fragile Identitäten, über den schönen Schein und die Suche nach dem inneren Licht – funkelnd, glasklar und von subtiler Spannung.

Marion Poschmann, 1969 in Essen geboren, studierte Germanistik, Philosophie und Slawistik und lebt heute in Berlin. Für ihre Prosa und Lyrik wurde sie vielfach ausgezeichnet, zuletzt erhielt sie 2011 den Peter-Huchel-Preis und 2013 den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis.

Marion Poschmann

Die Sonnenposition

Roman

Suhrkamp

Die Arbeit der Autorin am vorliegenden Buch wurde vom Deutschen Literaturfonds e.V. sowie vom Land Berlin gefördert.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4546

© Suhrkamp Verlag Berlin 2013

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Umschlagabbildung: Cecilia Paredes

Umschlaggestaltung: Göllner, Michels

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eISBN 978-3-518-73460-5

www.suhrkamp.de

Inhalt

1 Prolog: Sol invictus

I Furor

2 Pompes funèbres

3 Tapeten eines Lebens

4 Glühbirnengleichnis

5 Verblendklinker

6 Dunkelbilder

7 Methoden der Jagd

8 Auerhähne

II Patientia oder Das Ostschloß

9 Anstaltskost

10 Tarnungsfehler

11 Spiegelsaal

12 Die Ursachen – Fallgeschichten

Flüssigstrümpfe

Demiurgenwahn

Der Tod im Schrank

Kreide fressen

Gefahren des Realismus

13 Schlafversager

14 Erlkönigjäger

15 Mischwesen

III Memoria

16 Gewittertiere

17 Glanzapparate

18 Rückenfiguren

19 Gedächtnispaläste

20 Sonnenstein

21 Weiße Maulbeeren

22 Wasserspeier

IV Splendor

23 Die Folgen – Fallgeschichten

Ruhekissen

Doppelgängergeschenke

Die Schönheit des Staubs

Blumenmumien

Die Wolkenformel

24 Die Arbeit an Gott

25 Irrgärten

26 Leuchtmäuse

27 Doppelsonnen

28 Die rotierenden Orte

29 Schwarze Maulbeeren

30 Epilog: Aurora borealis

1 Prolog: Sol invictus

Die Sonne bröckelt. Wenn im Speisesaal Betrieb herrscht, versetzen die schweren Schritte alles in Schwingung, und von der Decke fällt Stuck. Aus der Sonnenmitte hängt das Kabel für den Kronleuchter, ein Modell aus DDR-Zeiten. Messingstäbe spreizen sich von einer Mittelachse, an den Enden verdecken Milchglastrichter die Glühbirnen bis auf die Kuppe, sie sind geformt wie kleine Füllhörner, die Strahlen aussenden, Sonnenimitate.

Die Stucksonne darüber ist nur noch halb vorhanden. Bei jeder Mahlzeit rieseln Gipsteile herab, einmal fiel ein Placken einem Patienten in die Suppe, seitdem hat man die Tische umgestellt, und der Platz in der Mitte ist frei. Nach jedem Essen liegen dort weiße Stückchen auf dem Linoleumboden, ein feiner Puder, manchmal größere Brocken, nach jedem Essen wird der Raum gewischt.

Formlose graue Putzlappen trocknen auf den Heizkörpern; ein verlöschendes, alles auslöschendes Grau, das jahrelang den Staub geschluckt hat, ihn beständig weiterschluckt, nur in den Pausen schlapp und feucht über der Heizung hängt. Neben den ausgebreiteten Lappen erheben sich auf den weißlackierten Rippen metallene Pflanzenreliefs, altertümlich elegante Ranken, an denen sich Schwebstoffe ablagern, so daß ihnen der festsitzende Schmutz eine fast schon wieder edle Schattierung und Tiefe verleiht. Harte Akanthusgirlanden, schwer zu reinigen, es bedürfte eines Dienstmädchens, das täglich mit einem Federwedel zwischen die Rippen fährt, Flaumteile fliegen läßt, oder mit einer jener kunststoffborstigen Stangen stochert, die aussehen wie vergrößerte Flaschenreiniger, in Neonfarben leuchtend, kirmeshaft, und in ihrer Sterilität vielleicht passender für eine Einrichtung wie die unsere.

Das Schloß ist unbedeutend und heruntergekommen. Kein königliches, ein gräfliches Anwesen, für 1 DM stand es eine Weile zum Verkauf. Als sich kein privater Investor fand, hat das Land hier eine Heil- und Pflegeanstalt eingerichtet. Notdürftig vorerst, mit der endlosen Verzögerung und plötzlichen Hektik bürokratischer Beschlüsse, sind wir hier eingezogen, in ein stark renovierungsbedürftiges Gebäude. Mit der Sanierung, die eine akribische Restaurierung sein wird, kann erst begonnen werden, wenn die Fördergelder bewilligt sind. Bis dahin besitzt die Anlage den Charme eines Spukschlosses, verwildert, eingesponnen, verwunschen. Wer von den Bewohnern aus dem Westen kommt wie ich, mag von der Romantik schwärmen, den filmreifen Kulissen, der sichtbaren Vergangenheit, welche bei uns ja nach Kräften bereinigt ist, zu glatt wiederhergestellt oder gänzlich getilgt wurde. Wer von den Bewohnern aus dem Westen kommt wie ich, hat sein Glück in der Umbruchsituation gemacht, denn in den neuen Bundesländern waren plötzlich Stellen frei.

Im Ostteil des Landes war es die Regel, die verfügbaren Schlösser, Herrenhäuser, Burgen, die gräflichen Jagdsitze zu Sanatorien, Nervenkliniken, Altenheimen und Gefängnissen umzunutzen. Auch im Westteil werden Barockpaläste und Klostergebäude von sogenannten Insassen bewohnt, weil es praktisch ist, weil man die Leute unterbringen muß, weil das Gebäude sonst leerstünde. Im Ostteil ist man nicht nur aus praktischen Erwägungen so verfahren, sondern aus Prinzip. Das Hohe sollte niedrig werden. Das Feudale proletarisch. Das Schöne banal, das Vornehme allgemein verfügbar.

Unser Schloß hat im Zweiten Weltkrieg als Lazarett gedient, dann als Unterkunft für Zwangsarbeiter, als Materiallager, als Chemielabor. Jetzt ist es Teil der Psychiatrischen Kliniken, die nach der Wende ausgeweitet wurden. Die Zahl der Fälle hat vorerst nicht zugenommen. Aber man gesteht den Leuten mehr Platz zu. Sie müssen nicht mehr zu zehnt im Schlafsaal nächtigen. Sie dürfen im Bewußtsein der übrigen Bevölkerung vorkommen. Man gesteht ihnen zu, daß es sie gibt.

Die Patienten sind im Nebengebäude, im ehemaligen Kavaliershaus, untergebracht. Dort sind die Fenster vergittert, die Ausstattung ist schlichter. Im Schloß befinden sich die Aufenthaltsräume und Behandlungszimmer, hier wohnen die Ärzte, und aus der ehemaligen Empfangshalle hat man eine Turnhalle gemacht.

Viele der Patienten pflegen nervtötende Gewohnheiten oder nehmen sie augenblicklich an, sobald sie hier einquartiert werden. Sie kratzen mit den Fingernägeln nach und nach den Lack von den Fensterrahmen, sie zerschaben das Linoleum, weil sie auf ihrem Stuhl, festgeklammert am Sitz, langsam und hartnäckig den ganzen Tag von einem Ende ihres Zimmers zum anderen reiten. Was der Zahn der Zeit in langen Jahren abnagt, schaffen sie in wenigen Monaten. Sie beschleunigen den Verfall, als hätte sich die Macht der Zeit in ihnen konzentriert, als besäßen sie mehrere Leben auf einmal, die miteinander um einen Ausweg aus dem engen Körper ringen, als bräche die Energie der Zerrüttung, die sonst kaum merklich ihr stetiges Werk verrichtet, immer wieder geballt aus ihnen heraus, unbeherrschbar, unsinnig, gegen die Norm.

Die Sonne scheint durch die staubigen Fenster in den Speisesaal. Die Falten in den Gesichtern gewinnen an Tiefe, sie graben sich grauschattige Furchen, die vorher nicht auffielen, als sei das Alter über Nacht eingekehrt und jetzt etwas, das sich unwiderruflich festgesetzt hat: eine Vergangenheit, aus den Körpern nicht mehr herauszukriegen. Unsere Arbeit ist es, mit dem umzugehen, was bei Sonne an den Tag kommt, das Unausweichliche, vor dem wir des Nachts in Träume, Wahngebilde fliehen. Die Patienten blinzeln, wenn ein Strahl sie trifft, sie kneifen die Augen zu, ducken sich weg. Unsere Aufgabe ist es, mit dem zu operieren, was der Alltag sonst wie eine Wolkenschicht gnädig verdeckt.

Die Sonne bringt das dickwandige weiße Geschirr zum Glänzen, und sofort zieht Herr P. sein Ärmelbündchen über den Handballen und beginnt, seine Tasse an den Stellen, wo Reflexe funkeln, abzuwischen.

Das stumpfe Klicken, mit dem sich die Tassen und Untertassen, der schneidende Sang, mit dem sich Bestecke und Teller berühren.

Heilen – wovon? Vom Aufgang und Untergang der Sonne, vom Licht, das morgens durch die östlichen Fenster auf die Tische fällt, seine unausweichliche Runde macht, abends von Westen kommt, fatalistisch, wachsam, unhintergehbar?

Es dreht einmal durch den Saal, beleuchtet die Sprelacart-Tische und die einfache Bestuhlung, die halbblinden Spiegel, die zwischen die Fenster montiert sind und dadurch verwirren, daß man beim Blick in ein und dieselbe Richtung zugleich aus dem Raum hinaus und auch in ihn hinein sieht: Stücke von ausgewucherten Buchsbaumhecken, ungepflegte Rasenflächen, verwilderte Eibenpyramiden. Stücke von Teewagen, mit benutztem Anstaltsgeschirr behäuft, die von schlaffen Armen vorübergeschoben werden.

Es beleuchtet die opulenten Ölgemälde, die vielleicht deshalb noch vorhanden sind, weil man auf ihnen kaum etwas erkennt: stark nachgedunkelte Blumen- und Obstbuketts, Kirschen mit eckigen Glanzlichtern, schwarz gewordener Wein und erlegte Pelztiere, die mit dem Fond verschmelzen.

Die Bilder zumindest scheinen stabil zu bleiben und geben auch uns ein Gefühl von Stabilität, als verändere sich nichts, als sei die Gegenwart bereits die Ewigkeit, und als gleite die Zeit wie ein dünner Wasserstrom säuselnd über die Körper, als sei die Zeit den Körpern ein Reinigungsritual, das ihren Zustand unversehrt bewahrt, ja auffrischt, und nicht etwas, das sie permanent durchdringt, sich in ihnen ablagert, sie deformiert, umformt und auflöst, den Kaninchenkörper, der an den Hinterläufen hängt, den runden funkelnden Leib der Orange zwischen den Gläsern, den Körper des Kochs, der mit neckischem Kopfneigen ein Tablett präsentiert, verdreht und gebeugt auf Würdigung wartet. Als sei solches Warten die vordringliche Maßnahme in einer Zeit, die den Körper bildet und ausformt, ein Warten auf die Zukunft, in der dieser Körper endlich seinen Platz einnehmen wird, ein Warten auf den schmalen, feuchten Ort, wo er zur Ruhe kommt.

Ich liege in meinem Bett im Bereitschaftszimmer. Der Kühlschrank im Korridor rattert, der Boden vibriert. Feine Zuckungen übertragen sich auf das Bettgestell, elektrisieren mich, halten mich wach wie eine Vollmondnacht. Meine Nachttischlampe mit dem Plastikschirm, der Leinwand nachahmt, habe ich angelassen. Mein klösterliches Bett mit seinem hohen, schnitzverzierten Kopfteil, den schweren Sprungfedern, dem Birnenfurnier knarrt, auch wenn ich mich nicht bewege. Eine schwarzlackierte Leiste rahmt es ein, als schliefe ich in meiner eigenen Todesanzeige.

Mein Fenster steht offen. Aus dem Nebengebäude schallt der Patientenfernseher durch den Park. Es herrscht die Tendenz, das schlechte Bild durch maximale Lautstärke auszugleichen. Auch ich verfüge über einen alten Schwarzweißfernseher, dessen Empfang nicht optimal ist. Er zeigt mehrere Programme gleichzeitig, ein vordergründiges, durch das Schatten, Silhouetten, Unschärfen huschen. Die hintergründigen, die manchmal deutlicher werden und den Rest unkenntlich machen. Oft schlagen die Patienten deswegen Lärm. Immer wieder wird der Zivildienstleistende aufs Dach geschickt, um die Antenne zu verstellen und das Bild zu regulieren. Die Verbesserungen sind minimal, aber die Patienten beruhigen sich für eine Weile, sie haben das Gefühl, daß man sich für sie einsetzt, sich um sie bemüht, daß etwas geschieht.

Die Nächte unterscheiden sich durch die Träume. Die Tage sind gleich.

Nichts hat sich verändert, schon ist wieder Nacht. Ich ziehe mir die Schuhe an und hänge mir den Arztkittel über den Schlafanzug.

Ich durchquere den Speisesaal auf leisen Sohlen. Auch nachts, wenn niemand da ist, riecht es noch nach verschwitzten Trainingsjacken. Die Insassen tragen viel Sportkleidung, als handele es sich hier um ein Ferienlager, womöglich ein Trainingslager. Sie tragen bequeme Kleidung, die den Körper nicht einengt, wohl weil der Körper in diesen Mauern eingeengt genug ist, er wird betreut, beschützt, kontrolliert, er stößt an die Grenzen eines geregelten Ablaufs, den andere festlegen.

Neben dem Speisesaal liegt das Billardzimmer. Ehemals das Ankleidezimmer der Gräfin, hängt hier jetzt eine Garderobe aus dünnen Metallstangen an der Wand, Haken und Hutablage in funktionaler Schlichtheit, niemand hat sie jemals benutzt. Das Billardzimmer ist unbeliebt, hierhin zieht der Hauch der Sanitäranlagen, die seit Jahrzehnten nicht erneuert worden sind, deren Kabinen sich nicht abschließen lassen, in deren Rohren die Gerüche der vergangenen Jahre gespeichert scheinen. Die Sanitäranlagen werden weiterhin benutzt, das Billardzimmer meidet man. Nur der Zivildienstleistende kommt gelegentlich hierher, stößt eine Billardkugel über das Tuch, setzt sich auf den Stuhl neben der Yuccapalme, um der Gesellschaft der Patienten für eine Weile zu entfliehen.

Die allgemeinen Räume gehen ineinander über, sie sind allesamt Durchgangszimmer, die man in einem Kreis durchschreiten kann. Ich betrete das Billardzimmer und verlasse es, ich erreiche die Bibliothek, drei karge Regale in einem Saal. Blanke Fangarme wehen über meinem Kopf. Der Kronleuchter hängt hier nicht in der Mitte des Zimmers unter der Stuckrosette, sondern ein Stück versetzt, so daß er die Leseecke ausleuchtet. Aus dem Rosettenherz führt ein Kabel an der Decke entlang und senkt die Lampe mit ihren geschliffenen Glastropfen wie eine leuchtende Kronenqualle in den Raum, eine Qualle, deren harte Glastentakel mit einem schütteren Klirren aneinanderstoßen, wenn jemand die Tür aufreißt. Es ist ein einfacher Luftzug, der den spätbarocken Lüster bewegt, aber mir kommt es vor wie ein Beben, die stumme Erregung, die jeder menschliche Körper für gewöhnlich in sich selbst verschließt und die die Gegenstände an diesem Ort aufnehmen, als herrsche hier Sturm.

Nachts stehe ich mindestens einmal auf und geistere durch die verlassenen Säle. Ich schalte die Lampen an und aus, ich setze die Füße vorsichtig auf, um kein Geräusch zu verursachen. Eine peinigende Unruhe treibt mich um. Als müsse ich der Versehrtheit nachgehen, die sich in diesen Räumen hält. Eine Versehrtheit, die ich nicht fassen kann, die zu fassen ich aber, seit ich hier bin, für meine Aufgabe halte.

Der Kristallüster in der Bibliothek ist eines der wenigen beweglichen Inventarstücke, die die Kriege, Besatzungen, Plünderungen, Ausverkäufe unbeschadet überstanden haben. Die Vasensammlung ist erst später hierhin umgelagert und vergessen worden. Die schloßeigenen wertvollen Möbelstücke, Polsterstühle, Rokoko-Anrichten, Marmortischchen, Intarsienschränke befinden sich in Rußland. Ich imaginiere allnächtlich die fehlenden Teile, es fühlt sich fade und falsch an, es entwertet die Dinge, die da sind.

Ich mache die Runde, ich kehre in mein Zimmer zurück, hänge den Kittel an den Haken auf dem Türblatt, stelle die Schuhe unters Bett, lege mich wieder hin.

Bei meinem Einzug saßen große Kreuzspinnen zwischen den Doppelfenstern meines Zimmers. Ihre Radnetze spannten sich zwischen den Rahmen, sie waren von berückender Schönheit, von einem filigranen Gleichmaß wie das hauchdünne Porzellan im chinesischen Kabinett. Ich wagte nicht, mich zu rühren, ich stand, meinen Koffer noch an der Hand, versteinert in der Tür, während die Pflegerin, die mich begleitete, energisch vortrat, die Fenster umstandslos öffnete, eine Spinne nach der anderen in ihre hohlen Hände nahm und behutsam nach draußen warf. Manche von ihnen liefen in Panik von der Fensterbank in den Raum; die Pflegerin fing sie ein. Sie fegte mit einem Handfeger die Netze weg, fast tat es mir leid um die Arbeit der Tiere. Inzwischen haben sie ihr Werk erneuert, nicht ganz so umfangreich wie zu Beginn, so daß ich das eine Fenster öffnen kann. Im anderen beobachte ich sie. Sie arbeiten nachts.

Beständig hängt hier ein Pilzgeruch in der Luft; man hat es bisher vermieden, die Tapeten abzureißen, um zu kontrollieren, ob sich dahinter Schimmel gebildet hat. Man kann sie nicht einfach ersetzen, man müßte sie abnehmen und restaurieren. Der pilzige Geruch verwandelt sich im Mund in einen modrigen Geschmack. Und es scheint, als zerfalle das Schloß in meiner Mundhöhle, als zerfalle es, je mehr ich davon spreche, immer weiter, rieselnder Putz, Sonnentrümmer, Gipspulver. Ich knirsche nachts mit den Zähnen. Ich schlafe schlecht.

Draußen geht die Sonne auf und unter. Im Schloß verfallen die Kränze und Kreise. Die Stuckrosetten schwinden, das Deckengemälde Aurora verrottet, in die strahlig angelegten Achsen im Park frißt sich Gras. Draußen geht die Sonne auf und unter, während all unsere Nachahmungen nicht von Dauer sind. Gescheiterte Sonnen, untergegangene Sonnen – überall im Schloß sammeln sich die irdischen Reste, verdüsterte Sonnen aus grau gefaßtem Lindenholz über den Eingängen zum Speisesaal, Türklinken, die einmal vergoldet waren und jetzt ermattet sind, abgegriffene Sonnen, blind gewordene Sonnen, vor allem aber die angelaufenen Sonnenkopien in der muffigen Anstaltskapelle, sie umgeben die Kanzel und sind fast schwarz von dem Ruß in der Luft, dem feuchten Atem, der sich als düstere menschliche Schicht über den Glanz legt, das Feuer dämpft, es soweit verdunkelt, daß man sehenden Auges hineinblicken kann, ohne also Schaden zu nehmen, aber wohl auch, ohne entzündet zu sein.

Sonnenschiffe, Sonnenbrocken, Barocksonnen. Ihre gefilterten Strahlen um den Altar, ihre Schattenstrahlen, die aus imaginären Wolken brechen; den Staub, der gemeinhin in ihnen tanzt, haben sie auf ihre Oberfläche gezogen und sich mit ihm bedeckt: eine weiche graue Bemäntelung, um sich dem Irdischen soweit wie möglich anzugleichen.

Draußen geht die Sonne auf und unter. Wo ist draußen, frage ich mich, wenn ich nach dem Dienst müde das Gelände verlasse. Am Giebel des Torhauses bewacht ein steinernes Auge Gottes in seinem Dreieck meine Ein- und Ausfahrten.

Oft weiß ich selbst nicht, ob ich mich als Arzt oder als Patient hier aufhalte. (So geht es allen hier, nehme ich an.) Die Unterschiede verwischen, wenn man feststellen muß, daß nur der Status, den man einnimmt, die Macht, über die man verfügt, das Bild einer gefestigten Persönlichkeit hervorbringt, und daß es einer rätselhaften Vorsehung zu verdanken ist, daß ich den weißen Kittel trage und die anderen nicht.

Ich erzähle von der Sonnenwarte aus. Allsehendes Auge des Arztes.

Eine Position der Ferne, des generellen Überblicks. Ich behellige die Dinge mit meiner gleichmäßigen Aufmerksamkeit. Und doch entgeht mir mindestens die Hälfte, die Nachtseite, die Stellen, auf die der Schatten fällt. Das Interessante dabei ist die Hälfte, die im Dunklen bleibt. Die Sonne bescheint nur die Oberfläche. Und was sie sieht, ist nicht unbedingt das Entscheidende. Nicht das, worauf es ankommt. Nicht das, was eine Geschichte vorantreibt: daß sich die Körper vermischen, daß Intimität stattfindet, Auslöschung, Liebe und Haß.

Ein sonnenhafter Erzähler, rundlich gebaut, sonnigen Gemüts, der sich erlaubt, sich gegebenenfalls auch künstlicher Beleuchtung zu bedienen, mit Straßenlaternen zu operieren, Taschenlampen, Scheinwerfern, der Durchleuchtung anstrebt und doch achtgeben muß, daß ihm das Objekt seines Interesses dabei nicht abhanden kommt.

Wer des Nachts in ein Gebüsch leuchtet, scheucht Tiere auf und spielt ihnen Tag vor, er wird sie nie schlafend erwischen. Schatten läßt sich nur ableiten. Schatten ist da, wohin mein Blick nicht fällt. Dennoch weiß ich um ihn, denn das Licht entsteht aus der Finsternis.

I Furor

2 Pompes funèbres

Der schwarze Lack spiegelte stark, warf das Licht zurück und blendete mich. Die Sonne brannte an diesem Morgen wie auf einem Mafiabegräbnis, auf dem Parkplatz schimmerten teure dunkle Wagen wie hohe Wellen, ich setzte meinen roten Opel hinzu und schritt über den Schotterboden zum Friedhofstor, gehemmt, gebremst, mit schweren Beinen wie unter Wasser, mit den Armen ein prekäres Gleichgewicht errudernd, Gang über Meeresgrund.

Odilo war tot.

Ein ähnlicher schwarzer Wagen war über ihm zusammengeschlagen, hatte sich mit ihm eingerollt und ihn mitgerissen in die Nacht, über die Leitplanke, einen Hang hinab. Er war angeschnallt, der Airbag hatte funktioniert, aber ab einem bestimmten Maß der Gewalteinwirkung sind die Sicherheitseinrichtungen im Innern eines Gefährtes nur noch kosmetisch. Er war nüchtern, oder jedenfalls hatte er keinen Alkohol getrunken. Er fuhr schnell, es gab keine Geschwindigkeitsbegrenzung auf dieser Strecke, die er hätte unzulässigerweise überschreiten können. Es war eine dunkle Nacht, mondlos, Schichtwolken. Er fuhr ohne Licht.

Diese Tatsache hatte mir seine Mutter am Telefon mitgeteilt. Sie berichtete die Fakten, sie wirkte gefaßt.

Jetzt stand sie am Friedhofstor, ihre Augen glitten unstet hinter den dünnen Schleiern, die von ihrem Hut fielen und jeden fremden Blick vor ihrem Gesicht zerstreuten, in oszillierende Muster auflösten, vernichteten.

Sie gab mir die Hand, eine schmale kühle Hand, besteckt mit mehreren klobigen Ringen, ich bemühte mich, sie nur sanft zu drücken.

Frau Leonberger. Es tut mir sehr leid.

Altfried.

Ihre Stimme klang freundlich wie immer, sachlich, wie sie auch am Telefon geklungen hatte, verbindlich, als sei ich tatsächlich ein Freund der Familie und nicht nur eine hartnäckige Laune ihres Sohnes, ein nicht ganz standesgemäßer Kumpel, mit dem er sich von seinem sonstigen Leben zu entspannen pflegte.

Altfried. Noch einmal von ihren Lippen, die in grellem Rot geschminkt waren, Signalrot, wie eine Warnung, in ihre Nähe zu kommen, ein Abstandhalter, der zu ihrem alltäglichen Erscheinungsbild gehörte, an diesem Tag aber leicht hysterisch wirkte, als sei die Lippenfarbe clownesk verschmiert, aber sie war nicht im geringsten verschmiert, vergewisserte ich mich, sie war wie sie sein sollte, wie alles an dieser Frau, sie war exakt.

Altfried. Beschwörend, beruhigend, beschwichtigend.

Ich weiß, daß mein Name tröstet. Ich bin benannt nach dem heiligen Altfried, Bischof von Hildesheim. Altfried, mit langem katholischen Dehnungs-E, das sich absetzt von der nordischen, heidnischen, altdeutsch-germanischen Schreibweise Altfrid, die eine Zeitlang wieder beliebter war, weil sie reckenhafter klang, kämpferischer, während in meinem Namen der Friede das entscheidende Element bildet, etwas harmlos, etwas bieder, aber seltsam tröstlich, was ich oft daran merke, daß meine Patienten dem Klang dieses Namens vertrauen und ihn manchmal mantraartig vor sich hinsprechen, obwohl es mein Vorname ist und wir uns in der Klinik mit den Patienten nicht duzen. Die Patienten sind meist darauf aus, dem Therapeuten nahezukommen, alle Grenzen, die sie überschreiten können, überschreiten sie, und die Kenntnis meines Vornamens, das Aussprechen meines Vornamens, einfach so, sinnierend, wie um ihn sich besser einzuprägen, ist eine Strategie der Machtergreifung, der Selbsterhöhung, ein typisches magisches Ritual.

Frau Eleonore Leonberger hat mich stets beim Vornamen genannt. Ich war zwar schon volljährig, als ich Odilos Bekanntschaft machte, aber in ihren Augen noch ein Kind, etwas unbeholfen, zu dick, aus einfacheren Verhältnissen, was sie meinen Manieren, meiner Kleidung, meiner Ausdrucksweise anmerkte und was mir erst in ihrer Gegenwart zum ersten Mal bewußt geworden war. Mein Vorname aus ihrem Munde war wohl eine noble Geste, eine familiäre Zuvorkommenheit, die mich eingemeinden sollte, dennoch empfand ich es als unpassend, weit mehr als bei meinen Patienten, und in ihrem Fall wäre es mir lieber gewesen, sie hätte Herr Janich zu mir gesagt.

Ihre Lippen verzogen sich jetzt zu einem Lächeln, ihre Augen konnte ich nicht sehen, sie wies mir den Weg zur Kapelle und begrüßte weitere Trauergäste, die mit dünnen Sohlen den Kies zum Knirschen brachten und feinen weißen Staub aufwirbelten.

Mir schien, ich hatte während des gesamten Begräbnisses diesen hellen Staub vor Augen. Steinstaub, von schweren Schritten, vom strengen Wind hochgewirbelt, ich mußte unablässig blinzeln, um nichts in die Augen zu bekommen, und doch oder gerade deswegen tränten sie, ich sah alles verschwommen, dabei hatte ich mir vorgenommen, mich zu konfrontieren, mir den Tod genau anzusehen.

Ein Märzmorgen, der warm zu werden versprach, die Sonne stach schon, stach um so mehr, als noch kein grünes Blatt vorhanden war, sie abzuschirmen. Den Weg zur Kapelle säumte eine Rotdornallee. Die Knospen schwollen, in der Luft hingen bereits Blütendüfte, auch wenn man keine Blüten sah, auf dem Kiesweg zeichneten sich die scharfen Schatten kahler Äste ab, harkten wippend, wenn ein Windstoß kam.

Von den Gräbern war die Winterdekoration bereits entfernt worden, in den Behältern für Pflanzenabfälle häuften sich Fichtenzweige und lädierte Gestecke mit hartem weißen Islandmoos, aus denen rote Schleifen hervorblinkten. Auf den frisch geharkten Gevierten stachen Primeln ins Auge, fast schmerzte es, diese Frühblüher zu sehen in ihren Plakatfarben, feuerrot, dottergelb, passionsviolett, die unbeweglich blanken Tulpen in flaschengrünen Steckvasen, die künstlich anmutenden Narzissenbündel, in denen an Holzstäbchen bunte Plastikeier steckten.

Im älteren Teil des Friedhofs war aus den Grabfeldern ein Wald gewachsen. Verwitterte Steintafeln hingen schief im Boden und drohten umzustürzen, wurden von abgebrochenen, bemoosten Ästen in ihrer Schieflage gehalten, an rostigen Gittern bröckelten die stilisierten Lilien, die eisernen Mohnkapseln, die Ranken und Rosenblüten unter dem feinen Flechtenschimmer, der aufgeklebt aussah, wie der Rasenstaub einer Modelleisenbahn. Auf dem Waldboden der Hauch von ungezählten Sibirischen Blausternen, ein himmlisches Blau, das einlud, dort zu lagern, sich mit einer Picknickdecke hinzubetten, das mich, bevor ich die Kapelle betrat, für einen Moment erfreute.

Die klamme Kühle saugte mich ein, der Geruch brennender Kerzen, die schwüle Süße der Lilienblüten. Vor dem Sarg bordeten die Blumenkränze über, in vornehmem Weiß gehalten, als habe man sich abgesprochen. In den Bänken saßen einzelne Trauergäste, die noch ein Gebinde auf dem Schoß hielten, es in raschelndem Blumenpapier verborgen hielten, auf den passenden Zeitpunkt der Übergabe wartend, sich mit beiden Händen am leichten Knitterpapier, seiner Luftigkeit festhaltend.

Ich stellte mich hinter der letzten Bank auf, die Hände gefaltet, ohne Blumenstrauß. Ich war kein naher Verwandter des Verstorbenen. Meine Trauer hielt sich in vernünftigen Grenzen, ich hatte Odilo in den letzten Jahren seltener gesehen, in meinem Alltag spielte er keine Rolle, und sein Hinscheiden würde in meinem Leben kaum eine Veränderung bringen. Dennoch ist das Faktum des Todes ein gemahnendes: an die eigenen Versäumnisse, mögliche Lieblosigkeiten, die ganz persönliche Hinfälligkeit.

Natürlich wäre es nötig gewesen, mich mehr um ihn zu kümmern. – Ein Satz, den ich innerlich testete, den mir meine Erziehung wie automatisch eingegeben hatte, den ich auf alle ähnlichen Fälle hätte anwenden können, auf Odilo nicht. Man kümmerte sich nicht um ihn. Man widmete ihm Aufmerksamkeit, eine ganze Menge sogar, aber er wußte es stets so einzurichten, daß der andere von ihm abzuhängen schien, seiner Gegenwart bedürftiger schien als umgekehrt. Er hat mir immer das Gefühl gegeben, daß seine Anwesenheit in meinem Leben eine Gnade war, und ich glaube, zu meiner Beerdigung wäre er nicht gekommen.

Als die Musik einsetzte, senkte ich den Kopf. Durch Musik bin ich leicht zu erschüttern. Gegen Musik errichte ich keinen inneren Schutzwall, noch die trivialste Untermalung eines Werbespots erreicht mich, jeden Country-Song summe ich mit, mein fülliger Leib zuckt allen Beats nach, selbst wenn ich mich in der Öffentlichkeit bemühe, nicht rhythmisch mit dem Kinn zu nicken. Frau Leonberger hatte ein Streichquartett engagiert, es spielte einen getragenen Satz von Schostakowitsch, eine demonstrative, düstere, leidende Musik, die in der Kapelle erst zu leise, dann zu laut war, laut gegen die Wände schwappte, an denen auf weißen Fackelattrappen elektrische Kerzen brannten, ewige Elektroflammen, die nicht einmal flackerten, wie man es von italienischen Inszenierungen kennt, von jeder Krippenbeleuchtung, nein, diese Flammen standen starr, wie Frau Leonberger starr stand, die in der ersten Reihe ihren Platz gefunden hatte, wie alles starr stand, da man jetzt die Türen schloß.

Ein Redner trat an den Ambo, ich hörte ihm nicht zu.

Schwarzlackierte Autos, schwarzlackierte Schuhe, schwarzlackierter Sarg. Frau Leonberger hatte auch mich gebeten, eine Rede zu halten. Rückblick, nannte sie das, Lebensrückblick, ich als sein guter Freund, zudem Psychiater, wisse doch sicher manches, was der Familie entgehe, eine tiefgründige Analyse und Würdigung erhoffte sie sich, und ich hatte nicht die Kraft, das Ansinnen abzuschlagen, aber dann saß ich nächtelang vor dem weißen Blatt und fand keinen Anfang, überhaupt keinen Ansatz, ich wußte nichts über Odilo, gar nichts, und es lag mir nicht, die glänzende Fassade, an der er sein Leben lang gearbeitet hatte, diese Fassade, die sein Leben war, nun meinerseits noch einmal nachzuarbeiten. Am Telefon deutete Frau Leonberger meine Verwirrung, meine Beklemmung, den nur mühsam unterdrückten Ärger als von Trauer überwältigt und meine belegte Stimme als tränenerstickt, und sie sah sich gezwungen, meine Verweigerung zu akzeptieren, ja mir in besonderer Weise Mut zuzusprechen für meinen weiteren Lebensweg, der ohne ihren Sohn nur ein unbedeutender, farbloser, verzweifelter sein konnte.

Erfolgreich abgeschlossen, schmetterte der Redner, hochgebildet, brillierte in, Eleonore Leonberger hatte ihn gut instruiert.

Auf den schwarzen Autos, den Lackschuhen, dem Sarg lag diese blendende Schicht, diese irritierende Spiegelung, ein Lichtermeer, ein Abglanz, etwas Helles, Grelles, das ich nicht ansehen konnte, ohne daß mir die Augen tränten.

Odilo Leonberger, geboren, gestorben, promoviert, Biologe, aussichtsreiche Karriere, ledig, mutmaßlich kinderlos.

Ein paar Urkunden, ein paar Vortragstexte, ein paar bahnbrechende Forschungsergebnisse. Von seinem Leben war nichts übriggeblieben.

Noch einmal ergriffen die Streicher ihre Instrumente, das Publikum ballte die Faust ums Papiertaschentuch, ich war derjenige, der sich bereits nach den ersten Tönen hemmungslos schneuzte.

Heulen und Zähneklappern um den Sarg, während seine polierte Oberfläche wie undurchdringlich lächelte, ein körperloses Lächeln, das den unansehnlichen Körper im Innern ersetzte oder verschleierte, der Schmelz lenkte von ihm ab, er war verführerisch, beweglich, ließ sich nicht fixieren, er lockte und blendete, eine sinnlose Korona um den unsichtbaren Schmerzensmann oder vielmehr seine zerquetschten Reste, die man mit einem Schneidbrenner aus dem Blech hatte trennen müssen und niemandem mehr zeigte. Ich habe diesen Körper also nicht mehr gesehen, einmal kurz habe ich versucht, ihn mir vorzustellen, um das Bild dann rigoros zu verdrängen – als sei all der psychische Druck, der auf Odilo sein Leben lang gelastet hat, ins Physische umgeschlagen, und als habe sich daran wieder gezeigt, daß das Fleisch schwächer ist als der Geist, konnte sein Körper dem, was die sogenannte Seele über Jahre hinweg ohne merklichen Schaden ertragen hatte, in keiner Weise standhalten.

Ich hatte meine schwarzen Lacklederschuhe am Vorabend besonders gründlich geputzt. Es sind meine Beerdigungsschuhe. Normalerweise trage ich Braun, Schwarz steht mir nicht, es nimmt mir den Schwung. Während der Redner sprach, blickte ich andächtig auf meine Schuhe. Es störte mich, daß sie vom Staub des Kieswegs überpudert waren, fast kam es mir vor, als mache dieser Staub die ganze Feierlichkeit zunichte. Ich stellte versuchsweise einen Fuß auf die gepolsterte Kniebank, brachte es aber nicht über mich, mich vorzubeugen und den Schuh mit meinem Taschentuch abzuwischen. Ich würde keuchen müssen bei dieser Operation, ich würde mit rotem Gesicht von der Kniebank auftauchen, es lag mir nichts daran, den Nebenstehenden ein pietätloses Schauspiel zu bieten, daher hob ich den Fuß verstohlen an die Wade und wischte das Schuhleder an meiner Anzughose ab.

Die schwarzglänzenden Gegenstände dieses Vormittags, der gewölbte Spann der Schuhe, die Kühlerhauben und Kotflügel, der geschwungene Deckel des sogenannten letzten Gefährts schoben sich übereinander und rundeten sich. Schwarze Kugelform, Reichsapfel, Weltkugel, barocke Gottesform, die einzige Form, die man dem an sich Formlosen grundsätzlich zugestand, in der man sich die Engel dachte, sphärisch, harmonisch, in sich selbst zurückführend, autonom; schwarze Sonne, die kein Licht ausstrahlte, die das Licht vielmehr in sich zurücknahm, in die auch Odilo sich jetzt zurückgezogen hatte, unangreifbar, perfekt. Selbst in seinem Tod schien er es so einzurichten, daß man ihn beneidete.

Die Trauergäste wie in einem Spiegelkabinett: peinlich verzerrt, gestreckt und gestaucht, Figuren in einer Blase, mit übermäßigen Bäuchen, langen Hälsen, die Rundungen in Regenbogenstreifen schillernd, Menschen in Anzügen und Kostümen durch einen Wassertropfen gesehen, ich konnte niemanden von ihnen erkennen.

Meine Schwester sah ich erst am Ausgang. Sie wartete auf mich, etwa dort, wo zu Beginn Odilos Mutter gestanden hatte.

Ich möge sie mitnehmen, verlangte sie, zu meinem Erstaunen in einem Ton, als habe sie alles Recht der Welt, in diesem Moment Forderungen zu stellen, als sei sie von uns beiden die Hauptleidtragende und nicht ich. Mein Erstaunen über ihren fordernden Ton verdeckte zunächst mein Erstaunen darüber, sie überhaupt hier anzutreffen. Erst als wir im Auto saßen, begann ich mich darüber zu wundern, daß sie der Beerdigung meines Freundes beigewohnt hatte. Daß ich sie während der gesamten Zeremonie nicht bemerkt hatte. Daß sie mich offenbar durchaus bemerkt und mich am Ende abgepaßt, aber während der Bestattung meine Nähe nicht gesucht hatte. Um mich in meiner Trauer nicht zu stören? Üblicherweise hielt man seinem Bruder, wenn man schon da war, bei solchen Gelegenheiten die Hand.

Mila neben mir auf dem Beifahrersitz krallte die Finger um den Sicherheitsgurt an ihrer Schulter. Dabei traten ihre Knöchel weiß hervor, sie strangulierte den Gurt. Kurz vor der Kreuzung, an der sie sich entscheiden mußte, ob ich sie zum Bahnhof oder zu unseren Eltern bringen sollte, hob ich fragend die Brauen.

Fahr mich nach Hause, sagte sie.

Mila lebte in Berlin, wir allerdings befanden uns in einem Vorort von Köln.

Etwas in ihrem Ton hinderte mich, auch nur eine Frage zu stellen. Mila war die Jüngere von uns beiden, sie hat meine Rolle als älterer Bruder, klüger, erfahrener, niemals in Frage gestellt, im Gegenteil hat sie mich bewundert, obwohl ich nicht hübsch war wie sie, nicht sportlich, nicht im jugendlichen Sinne imposant. Ich war dicklich, vorlaut, ein Eigenbrötler, sie aber hat meine Schwächen nicht gegen mich verwendet, und sie hat es nie für sich ausgenutzt, daß ich sie vergötterte.

Ich fuhr Richtung Autobahn, ich stellte keine Frage, ich rief die Eltern nicht an, mit denen ich den Abend hatte verbringen wollen, ich rechnete mir selbstbetrügerisch aus, daß ich nachts gegen eins zurück sein konnte.

Wir hatten die Trauerfeier als erste verlassen. Wir waren im Pulk der Gäste zum Tor geschwemmt worden, dort hatten wir uns abgesetzt, ich für meinen Teil, ohne mich zu verabschieden, was mir unangenehm war, da Frau Leonberger auf Etikette Wert legte, während die anderen sich auf die schwarzen Wagen verteilten und zu einem nahegelegenen Restaurant fuhren, in das auch ich eingeladen worden war, um dort ein Menü zu mir zu nehmen, das ich später erlesen hätte nennen können, wenn ich Lust gehabt hätte, meiner Chefin von meinem Wochenende zu berichten.

3 Tapeten eines Lebens

Wer von einer Beerdigung kommt, sieht überall Särge.

Wir fuhren durch das erzbischöfliche Köln. Durch das römische Köln, durch das kölsche Köln. Im Innenstadtbereich wurden Kisten umherkutschiert. Ich überholte einen Schrank, der auf offener Ladefläche fuhr. Neben uns an der Ampel hielt ein Transporter mit polnischer Aufschrift, durchgestrichene Ls, zungenbrecherische CZs, für mich keinerlei Hinweis, worin die Ladung bestand. Rostige Waggons eines Güterzugs glitten über den Rhein. Hartnäckig verschlossene Kisten bewegten sich im Straßennetz, Kisten, die sich zu Ketten aneinanderreihten, die sich in langen Prozessionen voranbewegten, sich über die Fahrspuren schlängelten, abrissen und sich neu verbanden.

Schon am Mittag überfüllte Abfallkörbe, ein Stapel Pappkartons vor einer Altpapiertonne, ein Koffer, aus dem Kleidung quoll. Verworfene Geschenke, verschnürte Fetische, Reliquien in ihren Behältern. Mieter hockten in ihren Raumkapseln, Flaschen fielen in Glascontainer, Postsendungen in Briefkästen, minimalistische Verstecke.

Auch wir fuhren in einer solchen beklemmenden Kiste, von der wir uns Halt versprachen und Sicherheit.

Ich war in eigenartiger Verfassung, ich wollte auf keinen Fall, daß Mila es bemerkte, die wohl ebenfalls in eigenartiger Verfassung war, sie sprach nicht, sie starrte geradeaus, Kistenträume. Odilo war mein erster Toter, nicht der erste Verstorbene, den ich gekannt hatte, aber der erste Verstorbene in meinem Alter, erst jetzt, sagte ich mir, war in meinem Leben ein Einschnitt gemacht, der erste Tote aus meiner Generation, es mußte mich daher betreffen, mir Mahnung sein oder Stimulans. Natürlich kam mir mein Leben verfehlt vor, so gehörte es sich nach einer Beerdigung, Rückschau und Buße, natürlich fühlte ich mich verdammt dazu, ein enttäuschender Inhalt in einer enttäuschenden Verpackung zu sein.

Ich hatte mein Leben damit verbracht, in Kisten zu sitzen, lebendig begraben in schön ausgekleideten Kisten, den Blick auf Tapeten gerichtet. Ich habe Tapeten angestarrt, auch rohe Wände, aber meistens Tapeten, ich habe mich auf die Wandverkleidungen konzentriert, als könnte ich so besser erfassen, was sich zwischen diesen Wänden ereignete.

Rauhfasertapete

Klinisch weiß, nahm sie das Leben in der Klinik vorweg. Ich bewohnte ein 12-qm-Zimmer in einem Studentenwohnheim, das an einen Friedhof mit altem Baumbestand grenzte und immer im Schatten blieb. Mein Zimmer war im Erdgeschoß gelegen, und ich blickte, wenn ich von den Büchern aufsah, auf einen Rhododendronbusch, der das wenige Tageslicht, welches die Bäume noch durchließen, schluckte.

Das Weiß der Tapete setzte dem wenig entgegen. Es war angegraut von den Ausdünstungen disziplinierter Medizinstudenten, viele von ihnen aus China oder dem Iran, die keine Zeit verschwendeten, die keine Freizeit kannten. Der Reiskocher in der Gemeinschaftsküche. Die Dusche auf dem Flur. Ich wusch mich am Waschbecken in meinem Zimmer. Vor diesem Waschbecken erlernte ich den Gebrauch des Waschlappens, den ich seit Kindheitstagen nicht mehr benutzt hatte, neu, ich lernte den Waschlappen zu schätzen, er machte mich unabhängig. Ich hatte es nicht nötig, im Bademantel über den Flur zu laufen, zufälligen Blicken ausgesetzt, ich kam nicht in die Verlegenheit, fremde Haare in den Abfluß brausen zu müssen. Ich fuhr am Wochenende zu unseren Eltern, um zu duschen, ich saß mit ihnen auf der Terrasse und aß Kirschkuchen, während die Waschmaschine im Keller meine Wäsche schleuderte, ich brachte ausgelesene Bücher mit und lagerte sie in meinem Jugendzimmer, ich nahm jede Woche ein Glas selbstgekochte Marmelade mit zurück.

Die Rauhfasertapete war durchstochen. Sie trug unzählige Stecknadelspuren von Vorgängern, die sich ihre Klause mit Kalendern und Kunstdrucken geschmückt hatten. Ich hängte nichts auf, mich elektrisierte vielmehr die Kargheit, ich konzentrierte mich auf die Erhebungen der Tapete, schiefe Perlen, über die ich die Finger gedankenverloren gleiten ließ, Noppen, die Körperkontakt erforderten, die mich zu unwillkürlichen Kerbungen mit dem Fingernagel verleiteten, ich stellte Kerbtiere aus Perlen her, Käfer, die massenhaft auf den Wänden wimmelten, wahnhafte Käfer, mit denen ich mich professionell zu befassen begann.

Ich als der Ältere habe die Nachkriegssparsamkeit unserer Eltern geerbt. Meine Schwester ist davon schon nicht mehr betroffen, sie hat zu Geld ein vernünftiges Verhältnis, sie gibt es aus, ohne dabei zu übertreiben. Ich hingegen drehe auch heute noch jede Münze dreimal um, obwohl dies in Anbetracht meines Gehalts nicht erforderlich ist und obwohl mir klar ist, daß dieser Automatismus vor allem bei geringfügigen Summen einsetzt, während ich größere Beträge wesentlich lässiger behandele, als verlöre ich dort den Überblick, als sei in solchen Dimensionen jede Realität überschritten und bräuchte nicht mehr berücksichtigt zu werden, als sei mir in Geldangelegenheiten ab einem gewissen Punkt plötzlich alles egal.

Damals allerdings verfügte ich über wenig Geld und schränkte mich ein. Ich frühstückte in Wasser gekochte Haferflocken mit einer Prise Salz und einem Löffel Zucker. Ich nannte diese Speise großspurig Porridge. Abends bereitete ich mir in der Gemeinschaftsküche Spaghetti mit einer Sauce aus Zwiebeln und Tomatenmark zu, Spaghetti al pomodoro e cipolla, ein klassisches Gericht, mit dem ich die reiskochenden Flurnachbarn allabendlich beeindruckte. Ich benutzte Teebeutel mehrmals hintereinander, bis sich die Flüssigkeit nicht mehr nennenswert färbte, ich verlängerte Mineralwasser mit Leitungswasser. Ich darbte nicht, im Gegenteil, ich nahm zu.

Bereits im ersten Semester hatte sich mein Verhältnis zu meiner Finanzsituation in eine Art sportlichen Ehrgeiz verwandelt, der sich darauf belief, die Ressourcen optimal zu nutzen. Die Heizkosten waren in der Zimmermiete inbegriffen, daher war ich nie gezwungen, mit Schal und Handschuhen am Schreibtisch zu sitzen, wie ich es von Kommilitonen hörte, die sich andernorts eingemietet hatten. Ich sparte nicht an Büchern, ich sparte in unserer Stadt allerdings an öffentlichen Verkehrsmitteln und fuhr bei jedem Wetter mit dem Rad. In der Kölner Bucht regnete es oft.

Diese Lebensweise behielt ich bei, als ich ein Begabtenstipendium der Studienstiftung erhielt. Ich führte mein bescheidenes Leben weiter und kaufte mir einen Kleinwagen. Ich begann, Erlkönige zu jagen.

Historische Makulaturtapete

Es waren die Jahre, in denen ich, einem äußerst gedrängten Stundenplan folgend, auf meinem Weg zu den Lehrveranstaltungen die immer gleichen Stadtstraßen abfuhr, Straßen mit überladenen Fassaden im Zuckerbäckerstil, Straßen, die mich mit ihrer adretten Häuslichkeit, ihrer Versuchsküchenhaftigkeit, ihrer Schulkochbuchmäßigkeit verseuchten, Jahre, in denen ich täglich am letzten Domizil des irre gewordenen Musikers Schumann vorbeikam, der Heilanstalt Endenich. Für einen angehenden Psychiater schien mir das ein Omen, wenn ich auch nicht sicher war, wofür. Meine künftige Tätigkeit kam mir angesichts der dürftigen Heilerfolge bei Geisteskrankheiten damals oft drückend und überflüssig vor. Robert Schumann, Ludwig van Beethoven, Friedrich Nietzsche – alle fähigen Personen, die mit Bonn in Kontakt kamen, endeten bekanntlich in völliger Zerrüttung.

Einem halb religiösen Bedürfnis folgend, nahm ich mir regelmäßig nach der Mensa eine Stunde Zeit und besuchte Schumanns Zimmer. Die Räume der Heilanstalt beherbergten inzwischen die Musikbibliothek der Stadt, nur Schumanns Zimmer im Obergeschoß hatte eine museale Konservierung erfahren. Ein honiggelb getünchtes, anheimelndes Zimmer mit angenehm knarrendem Holzboden; der Ausblick auf Bonn und den Kreuzberg, der zu Schumanns Zeit eine gewisse erleichternde Weite erbracht haben mußte, war inzwischen verbaut. Von den Tobezellen im Park (kleinen Häuschen, in denen die Patienten ans Bett gefesselt lagen, bis sie ruhiger wurden) war nichts mehr zu sehen, auch die winzigen Krankenkammern für weniger privilegierte Patienten, der Empfangsraum und das Untersuchungszimmer waren nicht mehr vorhanden. Noch erhalten: das Schumannsche Vorzimmer, in dem ein Pfleger über ihn gewacht hatte, sowie das Tafelklavier.

Im Schumannzimmer dominierte die honiggelbe Tapete, dominierte alles mit ihrem klebrigen Charme. Schumann hatte in diesem Zimmer keine Nahrung mehr zu sich genommen, weil er glaubte, sie sei vergiftet. Schumann war in den Rhein gesprungen, um sich das Leben zu nehmen. Schumann hörte geisterhafte Klänge, er wähnte sich von Geistern umgeben, die ihm Musik eingaben, himmlisch schöne sowie höllisch schreckliche Musik.

Waschbare Fondtapete mit bläulichen Streublumen

Lange Stunden habe ich an unserem Küchentisch gesessen und mit einem Buntstift auf kariertes Papier gezeichnet, immer wieder zur Tapete aufgeblickt, und wenn später in meinem Leben der Ausdruck blümerant fiel, dachte ich, er bezeichne dieses Tapetengefühl: dort gesessen zu haben seit meiner Säuglingszeit, seit der Kinderwagenaufsatz mit mir darin auf dem Tisch stand, meine Mutter mich aufrichtete und ich beidhändig, breit lachend, auf die Wand patschte; dieses Gefühl, seither, mit den Unterbrechungen eines anderen Lebens, in dieser Küche gesessen zu haben, vor meinen Schulheften, vor meinem Malblock, dort gesessen zu haben, solange ich denken kann.

Ich zeichnete an reglosen Nachmittagen die Gemüsewerbung aus den Wurfsendungen ab, ich zeichnete eine Stillebentapete mit Wildbret und Früchten, ich zeichnete Apfel- und Birnentapete, Kirsch- und Pfirsichdekor.

Meine Mutter besuchte alte Leute aus der Kirchengemeinde im Krankenhaus, und ich zeichnete einen Abwehrzauber, ich wollte Fülle und Opulenz beschwören, aber meine Kinderkritzeleien taugten nicht einmal für mich selbst. Ich saß vor spärlich hingeworfenen Blümchen, vor Armut, Gebet und Gehorsam – Klosterküche, blaublumige Küche, eine Küche wie aus dünnem Porzellan. Ich hatte Angst, mich in dieser Küche zu bewegen, ich fürchtete mich, die Töpfe und Teller zu berühren, als könnte ich eine Oberflächenspannung zerstören, die diesen Raum noch eine Weile in seiner Form hielt. Streublümchen, Mehlsuppen, Himbeersaft – was blieb, war die Himbeersafttapete meiner Kindheit, Milch mit Haut, weichgekochte Eier, Zichorienkaffee. Was blieb, waren Fastenspeisen, Enthaltsamkeit, Schonkost; als halte man sich zeitlebens inmitten einer Krankheit auf.

Korktapete

Ich war einer jener dicken kleinen Jungen, altklug und übereifrig, die heiße Sommertage in ihrem Kellerlabor verbringen und gegen Abend in weißem Kittel auf die Wiese rennen, ein