»Potzblitz!« Schnaubend stellte Polly sich auf die Zehenspitzen und tastete das alte Holzregal ab. Wo steckte das verflixte Kostüm nur? Hatte Tante Winnie nicht gesagt, dass sie es genau hier finden würde, hier im obersten Fach des morschen Dachbodenschranks?

Angestrengt fuhren Pollys Finger über das Holz. Aber nein. Hier war nichts! Nichts außer Staub, noch mehr Staub und einer Spinne, die so groß war, dass Pollys Vater vor Schreck mit Sicherheit bis auf den Mond springen würde. Mist! Polly musste Winnies altes Schafskostüm unbedingt finden!

In einer halben Stunde fand die Probe für das große Weihnachtsfest in der Schulaula statt. In diesem Jahr war Pollys Klasse für die Feier verantwortlich und die Kinder fieberten dem großen Tag schon seit Wochen entgegen. Kein Wunder, immerhin wurden nicht nur unzählige Gäste erwartet, nein, es ging auch um einen guten Zweck. Die Spenden, die bei der großen Weihnachtssause eingesammelt werden würden, sollten nämlich einer kleinen Pension für ausgesetzte Haustiere zugute kommen.

Pollys Klasse hatte sich vorgenommen, so viele Spendengelder wie nie zuvor einzunehmen. Während die meisten Kinder Waffeln und Basteleien verkaufen wollten und andere Weihnachtslieder trällern würden, hatte Polly sich gemeinsam mit ihrem Freund Paul und den Zwillingen Hilly und Hanna ein lustiges kleines Theaterstück ausgedacht. Es handelte von drei Engeln, die sich um ein Schäfchen stritten. Polly sollte das Schaf spielen, und wenn sie nicht ganz bald Tante Winnies Kostüm fand, würde sie in die Verkleidung aus Eierkartons schlüpfen müssen, die die strenge Frau Hammelheim zusammengeklebt hatte. Pah! Niemals würde Polly als wandelnder Eierkarton über die Bühne laufen, immerhin würde auch ihre Familie von der Ostsee anreisen – mit Pollys weltallerbester Freundin Leni!

Entschlossen rückte Polly sich eine alte Truhe vor den Schrank. Sie würde dieses Wollkostüm finden, oh ja, selbst wenn sie die ganze Welt dafür auf den Kopf stellen müsste!

Polly Schlottermotz war nämlich kein normales Mädchen, nein. Sie war ein Vampirkind, und weil jeder ihrer Vampirzähne eine Zauberkraft mit sich brachte, lebte sie mittlerweile bei ihrer Tante Winifred auf einem Hausboot in Hamburg.

Winnie war selbst ein Vampir und hatte während ihrer verrückten Karriere als Tierentdeckerin ein ganzes Jahr lang als Schaf bei den Lämmern am Titicacasee gelebt. Aus dieser Zeit stammte auch ihr berühmtes Schafskostüm, das Polly jetzt um jeden Preis finden musste!

Doch kaum hatte sie sich auf die knarzende Truhe gestellt und die Hände in die Höhe gereckt, knallte plötzlich die Dachbodentür auf. Potzblitz!

Mit einem schrillen Quieken klatschte ein Lappen von hinten an Pollys Kopf. Polly verlor vor Schreck das Gleichgewicht – und purzelte mit einem lauten Schrei auf den Boden …

»Adlerauge?! Bist du verrückt geworden?« Verärgert zupfte Polly den aufgebrachten Fledermäuserich aus ihren Haaren.

»Polly, Polly, Polly!« Der kleine Flatterich schüttelte sich und schlang seine zerknitterten Flügel erleichtert um Pollys Gesicht. »Endlich hab ich dich gefunden! Du musst mich re-he-heeeeetten!«

»Retten?« Entschlossen griff Polly nach ihrem kleinen Freund und setzte ihn auf der Truhe ab. »Die Einzige, die hier gerettet werden muss, bin ich – und zwar vor dir!« Vorsichtig richtete Polly sich auf.

Potzblitz! Sie hatte sich bei dem Sturz den Ellenbogen aufgeschlagen!

Wütend funkelte sie Adlerauge an. »Deinetwegen muss ich jetzt nicht nur als Eierkarton über die Bühne krabbeln, sondern sehe auch noch aus wie ein Prügelschaf!«

Der Flatterwicht schnäuzte sich und blinzelte unschuldig. »Ich kann nichts dafür, Polly, das musst du mir glauben! Ich hab unten am Kanalufer für meinen großen Auftritt geübt, da wurde ich aus dem Hinterhalt angegriffen. Oh ja, aus einem ganz hinterhältigen Hinterhalt!«

»Auftritt?« Verwundert runzelte Polly die Stirn. »Was hast du denn für einen Auftritt?«

Eingeschnappt rückte Adlerauge sich die Brille aus Kontaktlinsen zurecht, die Paul ihm geschenkt hatte. »Das weißt du doch! Mein Auftritt bei eurer Weihnachtsfeier!« Stolz straffte er die Schultern und schob die Brust nach vorne. »Ich singe den Part der Königin der Nacht aus Mozarts Zauberflöte! Und einen kleinen Stepptanz habe ich auch vorbereitet. Willst du mal sehen?«

Während Adlerauge sofort seine kleinen Pfoten über die Fensterbank tanzen ließ, konnte Polly sich ein Lachen nicht verkneifen. Eine steppende Fledermaus? Das war einfach zu komisch …

Empört hielt der kleine Flatterich inne. »Lachst du mich etwa aus?«

Polly biss sich schnell auf die Lippe. »Würd ich nie tun!« Behutsam tätschelte sie das Köpfchen ihres flauschigen Freundes. »Aber du kannst bei unserer Weihnachtsfeier nicht auftreten. Tut mir leid …«

Adlerauge ließ die Flügel sinken. »Aber … ich hab wochenlang geübt! Mein Auftritt ist überwältigend, ich bin für die Bühne geboren!«

»Das weiß ich doch.« Mitleidig lächelte Polly ihn an. »Aber Frau Hammelheim organisiert das Bühnenprogramm. Und du willst doch nicht, dass sie dich wieder an eine Fensterscheibe schleudert, oder?«

Erschrocken zuckte Adlerauge zusammen. In der Tat war seine erste Begegnung mit Pollys strenger Lehrerin nicht besonders erfreulich verlaufen. Aber sollte er sich deshalb von seiner großen Show verabschieden? Nein, ein Fledermäuserich ließ sich nicht so leicht abschrecken! »Ich könnte auch den Schwanensee tanzen«, versuchte er Polly zu überzeugen. »Oder etwas rappen? Ja genau, ich kann rappen wie der weltallerübelste Gangsterrapper!«

Der Gedanke daran, wie der kleine, schreckhafte Adlerauge über einen holprigen Sprechgesang stolpern würde, brachte Polly schon wieder zum Lachen. Ein kurzer Blick auf die Uhr aber erinnerte sie an etwas anderes.

»Die Probe! Ich muss los! Am besten du singst und tanzt ein bisschen für die Tiere am Kanal. Es machen sicher nicht alle Winterschlaf.« Hastig öffnete sie das Fenster und wies ihren flatternden Freund hinaus.